Die Niederlande und Finnland
Zwei Extreme bei der Suche nach einer Antwort auf das Ende ihrer europäischen Staatsräson
Mit der Krise haben Europas Staaten, jeder auf seine Weise, ihren guten Grund für die weitreichende Preisgabe hoheitlicher Verfügungsmacht über nationales Geld und Finanz- und Wirtschaftspolitik verloren: Die nationale Teilhabe an einer wachsenden gesamteuropäischen Wirtschafts- und Kreditmacht stellt keinen mehr zufrieden. Angesichts der negativen Ergebnisse, die sie als anspruchsvolle Standortverwalter in ihrer nationalen Reichtumsbilanzen registrieren, arbeiten sich alle Staaten an dem Widerspruch zwischen der eigenen Abhängigkeit vom erreichten Stand der Vergemeinschaftung und dem Bedürfnis nach Selbstbehauptung ab, weil ihnen ihre bisherige europäische Staatsräson verloren geht.
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Die Niederlande und Finnland
Zwei Extreme bei der Suche nach
einer Antwort auf das Ende ihrer europäischen
Staatsräson
Angeblich ist die aktuelle Flüchtlingskrise
der
Grund, weshalb Europa vor seiner größten
Zerreißprobe
steht und der Zusammenhalt der
europäischen Staaten gar endgültig zu zerbrechen
droht
. Sicher - möglich ist es schon, dass im
weiteren Verlauf dieser ‚Krise‘ auch die Erosion der EU
weiter vorankommt – aber bestimmt nicht deswegen, weil
beim europäischen Gemeinschaftsgeist nur bei der
Dislozierung von Flüchtlingscontainern Fehlanzeige zu
vermelden ist. Dass Streitigkeiten zu diesem Thema das
Zeug zu einer ‚Zerreißprobe‘ in sich bergen, hat seinen
Grund schon in der Krise, die sich in Europa
nunmehr ins achte Jahr schleppt, und da vor allem in den
Resultaten der Krisenkonkurrenz, zu denen es die
unierten Staaten bei ihrer Bewirtschaftung ihres
gemeinsamen Binnenmarktes mit einem vergemeinschafteten
Geld gebracht haben. Denn die laufen auf einen einzigen
Offenbarungseid in Bezug auf einen auch
gemeinschaftlichen Zugewinn hinaus, den sich
Europas Nationen mit ihrem Unionsprojekt erwartet haben,
und das wirft bei ihnen ernste Zweifel an der
weiteren Haltbarkeit ihrer europäisierten
kapitalistischen Staatsräson auf. Um ihres
Nutzens willen haben sie ja überhaupt nur
eingewilligt in die Preisgabe ihrer souveränen
Verfügungsmacht über ein eigenes Geld und einen eigenen
Haushalt, und wenn dieser Nutzen krisenbedingt ausbleibt,
geraten Europas Souveräne beim Blick auf ihr
Gemeinschaftswerk und ihre weitere Zukunft in diesem in
eine tiefe politökonomische Sinnkrise.
Die betrifft alle Staaten der EU, freilich in unterschiedlicher Weise. Die sogenannten Krisenstaaten sehen sich damit konfrontiert, dass die Hoheit über das Geld, das ihnen ihr nationales Wirtschaftsleben einbringt und mit dem sie alles bezahlen, was es zur kapitalistisch erfolgreichen Betreuung ihres Standorts braucht, einer gesamteuropäischen Rechtsaufsicht und Kontrolle unterliegt. Von Subjekten, die mit einem supranational geltenden Regelungswerk für den Umgang mit Geld und Kredit ihren eigenen Erfolg betreiben, sind sie zu Objekten geworden, an denen von europäischen Institutionen der unbedingte Geltungsanspruch dieser Regeln durchgesetzt wird: Als Verlierer der Konkurrenz in der Union von einem Euro-Regime bewirtschaftet zu werden – das ist bei diesen Staaten der vorläufige Endpunkt ihrer europäischen Karriere. Von so etwas bleiben die sogenannten ‚Krisengewinner‘ zwar verschont, doch auch sie sehen sich in der souveränen Handhabung ihres Herrschaftsmittels unangenehm beschnitten. Anstatt von wachsenden Geschäften mit ihren Partnern zu profitieren, werden sie für deren Misserfolg mit in Haftung genommen. Sie haben mit ihrem Kredit einzustehen für die Sicherung des Fortbestands einer Union, die sich für sie zusehends weniger rentiert, und dabei gleichfalls die Regularien einer supranationalen Behörde zu respektieren, in denen ihr Gemeinschaftswerk mittlerweile sein fest institutionalisiertes Eigenleben führt.
Wie gesagt: Ihren guten Grund hatten Europas Staaten schon, sich beim souveränen Umgang mit dem eigenen Herrschaftsmittel einem übergeordneten Regime zu unterstellen. Gerechtfertigt schien ihnen die Preisgabe ihrer hoheitlichen Verfügungsmacht allemal durch den Erfolg, den ihre Integration in eine gesamteuropäische Wirtschafts- und Kreditmacht für sie abzuwerfen versprach. Mit der Krise ist dieser gute Grund entfallen – und entsprechend nehmen die Staaten das Ergebnis ihrer Vergemeinschaftung dann in der Hauptsache nur noch wahr: Als Souveränitätsverzicht in Geld- und allen anderen Hauptfragen der Bewirtschaftung ihres Standorts – das Kapitel ‚Flüchtlinge‘ eingeschlossen –, der ihnen wahlweise von einer Brüsseler Bürokratie, vom nationalen Egoismus ihrer Partner in der Union oder dem Zusammenspiel beider aufgezwungen wird.
Zu diesem Ergebnis ihrer Krisenkonkurrenz stellen sich Europas Staaten und arbeiten sich an den Widersprüchen ab, die sich auftun zwischen der eigenen Abhängigkeit vom Stand der erreichten Vergemeinschaftung auf der einen Seite und dem Bedürfnis nach Selbstbehauptung auf der anderen, das sich mit dem Wegbrechen ihrer europäischen Staatsräson bei ihnen unweigerlich regt. Was die europäische Union, in der sie verstaut sind, für sie jetzt heißt und in Zukunft heißen soll, das ist die Frage, die sich die Partner allesamt vorlegen und bei deren Beantwortung sie naturgemäß zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Was Europas ökonomische Führungsmächte betrifft, so waren deren Zukunftsprojekte in Sachen Vergemeinschaftung in dieser Zeitschrift schon mehrfach Thema.[1] Im Folgenden sind zwei politisch an den Rand geratene Staaten im europäischen Westen und Norden Gegenstand, die sich mit der Erfolgsperspektive befassen, die sie für sich selbst in der EU noch sehen und dabei zu ganz entgegengesetzten Ergebnissen gelangen:
Die Niederlande sind ein
Gründungsmitglied der Union, das sich von Anfang an und
während des gesamten Werdegangs der Gemeinschaft darauf
versteht, die Konkurrenz auf Basis einer
vergemeinschafteten Geschäftsordnung für sich zu nutzen
und sich die Partner der Union als Mittel des
eigenen Erfolgs zuzuordnen. Dieser Staat macht
in Europa erfolgreich Karriere, verdient ökonomisch mit
am Wachstum der anderen, macht sich seinerseits zum
unverzichtbaren Vehikel für deren Erfolg und erlangt
derart auch politisch hinreichend Gewicht, um seinen
Rechten gesamteuropäisch Geltung zu verschaffen.
Entsprechend fällt bei diesem Mitglied die Antwort auf
die Frage nach dem Quo vadis? in und mit der
Union aus, zu der die nationale Selbstbesinnung in der
Krise gelangt: Das Ende ihrer bisherigen europäischen
Staatsräson ist für diese Nation der Auftrag zur Gründung
einer neuen – und sie macht ihr erworbenes Recht auf
Mitgestaltung der europäischen Gemeinschaftsbelange in
der Forderung nach einem neuen
, nämlich für sie
besseren Europa
geltend.
Bei Finnland, diesem Kleinstaat an der nördlichen Peripherie Europas, klafft seit seiner Mitgliedschaft in der Union eine merkliche Lücke zwischen dem, was das Land sich mit dem eröffneten Zugriff auf den Binnenmarkt und den vergemeinschafteten Kredit an Erfolgen ausrechnet auf der einen Seite und dem, wozu es in der Konkurrenz um Geld und politisches Gewicht in Europa de facto gelangt, auf der anderen. Dieses Mitglied ist von Anfang an nicht und wird im Verlauf seiner EU-Karriere auch nicht das Subjekt, das seine europäischen Partner sich selbst und den eigenen Interessen zuordnen und damit dienstbar machen könnte. Vielmehr verdankt es umgekehrt ökonomisch wie politisch seinen Status ganz den Berechnungen, die seine potenteren europäischen Partner mit ihm anstellen – und entsprechend findet dieses Unionsmitglied minderen Gewichts und Mitspracherechts denn auch keine Antwort, mit der es sich zur Frage einer erfolgversprechenden Neugestaltung seiner europäischen Zukunft maßgeblich zu Wort melden könnte.
[1] Zuletzt in den Artikeln Frankreich kämpft gegen seinen Niedergang und stärkt so Merkels Europa in GegenStandpunkt 2-15 und Ein Hilfsprogramm für Deutschlands Europa-Projekt in GegenStandpunkt 3-15.