Die Antworten Frankreichs auf Krise und Krieg in Europa
Frankreich kämpft gegen seinen ‚Niedergang‘ – und stärkt so Merkels Europa

Das krisen- und konkurrenzgeschädigte Frankreich konkurriert und kooperiert - mangels Alternative - nach den von Berlin durchgesetzten Richtlinien mit Deutschland um die Rolle einer Mit-Führungsnation bei der Durchsetzung eines verbindlichen Euro-Regimes. Und es konkurriert und kooperiert mit Berlin auch hinsichtlich einer europäischen Antwort auf die ‚Herausforderung‘, die der Ukraine-Krieg für den europäischen Weg der ‚Ost­erweiterung‘ bedeutet, der im Fall Ukraine in eine offene Gewaltaffäre gemündet ist. Den militärischen Einspruch Russlands gegen das Ausgreifen der EU will Paris nicht hinnehmen, aber auch nicht mit einer Strategie der militärischen Drohung und Eskalation unter Führung der USA beantworten – ein imperialistisches Drangsal, das Frankreich im Ringen um strategischen Führung in Europa schon wieder zur Zusammenarbeit mit Deutschland nötigt.

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Die Antworten der Grande Nation auf Krise und Krieg in Europa
Frankreich kämpft gegen seinen ‚Niedergang‘ – und stärkt so Merkels Europa

Vor 15 Jahren hat der damalige deutsche Außenminister Fischer in der EU eine „Finalitätsdebatte“ angestoßen. Sein Dringen darauf, die europäischen Politiker sollten definieren, worauf die fortschreitende Integration ihrer Staaten hinauslaufen soll, und dieses Ziel dann verfolgen, fand keine Resonanz: Zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ oder ähnlichem wollte und will sich bis heute keine der Mitgliedsnationen bekennen. Alle bestehen auf einer letzten nationalen Souveränität gegenüber den Gemeinschaftsinstitutionen, und das heißt ganz eindeutig: Sie bestehen darauf, dass der Nutzen ihres jeweiligen Vaterlands Bezugspunkt und Weiß-Warum ihrer Politik ist und dass sie die Union als Mittel ihres nationalen Fortschritts in der Konkurrenz mit ihren Nachbarn haben und nutzen, aber keineswegs sich als Staaten in die größere Union auflösen wollen. Der Entwurf einer europäischen Konstitution, die damals den Stand der Kooperation festschrieb und zugleich idealistisch in Richtung auf ein staatsähnliches Gebilde überhöhte, fiel in mehreren Volksabstimmungen – darunter in Frankreich – durch; ähnliches wurde seither nicht wieder versucht.

Inzwischen stellt die Dauerkrise der Volkswirtschaften, der Staatshaushalte und der Staatsschulden unter dem gemeinsamen Geld die Mitgliedsländer vor eine neue Lage: Vom Nutzen, der die Teilhabe an dem gemeinsamen Geld und dem Mitmachen in einer Wachstumszone national rechtfertigen würde, kann in den meisten Mitgliedsländern keine Rede mehr sein; sie konkurrieren gegeneinander um die Minderung der Schäden aus der Krise, um eine für ihre Nation aushaltbare Bewirtschaftung der Schulden bzw. um die Bewältigung der Lasten, die ihre verschuldeten Partner ihnen verursachen. Dabei müssen sie feststellen, dass der europäische Gemeinschafts-Kredit, verkörpert im Euro, es auch gar nicht mehr verträgt, dass eine Vielzahl von nationalen Besitzern ihn nach ebenso vielen verschiedenen nationalen Vorteilsrechnungen benutzt. Abzuwägen haben sie zwischen den Lasten und Schäden, die die Unterordnung unter die Erfordernisse der Währungsunion den Siegern wie den Verlierern der europäischen Krisenkonkurrenz auferlegt, und dem Zustand und den Mitteln ihrer Nation, die sie ohne oder außerhalb des Euro zu erwarten haben. Entweder sie anerkennen den Vorrang des Euro und seiner Ansprüche vor ihren nationalen Rechnungen mit ihm, ordnen ihre Haushaltspolitik und staatlichen Ambitionen seiner Verteidigung unter – oder sie geben ihn auf.

Eine ähnliche Entscheidung verlangt ihnen der Krieg ab, der infolge des Streits mit Russland um die Zugehörigkeit der Ukraine zur EU-Peripherie losgebrochen ist. Er droht nicht nur die Reichweite, sondern auch die Methode und die Eigenständigkeit des inneren und äußeren Imperialismus der EU zu zerstören. Die Konfrontation, die sie sich mit der russischen Antwort auf ihre Expansion eingehandelt hat, stellt sie vor die Alternative, entweder ihr Bündnis zum politisch einheitlichen, imperialistischen Machtblock in Europa fortzuentwickeln, der keine nationalen und konkurrierenden Rechnungen mit äußeren Mächten mehr erlaubt, oder es als politischen Faktor, der ihren Nationen Gewicht und Durchsetzungsfähigkeit verschafft, abzuschreiben.

Dem heute wieder sehr aktuellen Vorwurf, man könne eine Währungsunion doch nicht ohne und vor der politischen Union schaffen wollen, setzte Altkanzler Kohl seinerzeit die Versicherung entgegen, die politische Union werde ganz von selbst kommen, wenn erst die Währungsunion ein paar Jahre funktioniere. Der Spruch bewahrheitet sich ganz anders, als er gemeint war: Das angekündigte quasi sachzwangmäßige Zusammenwachsen auf Basis von immer mehr gemeinsamen Interessen zwischen den EU-Staaten lässt auf sich warten; stattdessen findet über Krisen und Katastrophen ein Kampf statt um die Unterordnung der Mitgliedsländer unter ihre Gemeinschaftsinstitutionen und unter die Nationen, die deren Inhalt und Programm bestimmen. Wenn in diesem Kampf die Androhung des Ausschlusses von der Währungsunion bzw. die Sorge vor deren Zerstörung ihre Wirkung entfalten, dann gewärtigen die kapitalistischen Nationen Europas, dass die Union vom Mittel, das sie konkurrierend für sich nutzen wollten, zu einer Existenzbedingung geworden ist, von der sich sich abhängig gemacht haben.

I. Frankreichs entscheidender, so nie geplanter Beitrag zur Unterordnung der Mitgliedsländer unter ihr gemeinsames Geld

Seit dem Wahlsieg des Präsidenten Hollande ringt seine sozialistische Mehrheitspartei um die Überwindung der Krise und die Wiedergewinnung von Wachstum: Ursprünglich sollte das, in Erfüllung der Wahlversprechen, über die Stärkung der Massenkaufkraft durch höhere Löhne geschehen, saftige Steuern für die ganz Reichen sollten dem Staat Geld einspielen und die Verschuldung begrenzen, für deren europa-kompatible Ausweitung man im Übrigen in den EU-Gremien warb. Diesem wirtschaftspolitischen Kurs stand immer eine mehr an den berüchtigten Arbeitsmarktreformen der deutschen Sozialdemokratie angelehnte Angebotspolitik gegenüber, die das Kapital zu Wachstum dadurch verführen will, dass es ihm mit politischen Mitteln die Kosten für Arbeit und anderes senkt. Nach knapp zwei Jahren des Misserfolgs fallen mit dem Austausch der Regierungsmannschaft und der Ernennung von Manuel Valls zum Premier endgültig die Würfel: Er und seine Leute diagnostizieren nun selbst die politischen Versäumnisse, die sie von außen schon länger vorgehalten bekommen: Frankreich habe über seine Verhältnisse gelebt, müsse die haushaltspolitische Handlungsfähigkeit erst wiedergewinnen, dafür die Ausgaben reduzieren und gleichzeitig für Wachstum sorgen. Reformen sollen einerseits den Staat verbilligen – die Departments sollen ganz abgeschafft und die Zahl der Regionen von 22 auf 13 verringert werden –, andererseits über Steuererleichterungen für die Wirtschaft, über Angriffe auf den Kündigungsschutz etc. die Rentabilität des Kapitals steigern.

Dieser Politikwechsel geht über eine Änderung der Methoden der Wirtschafts-, Steuer-, Haushaltspolitik hinaus und vollendet den Abschied der Nation von ihrer herkömmlichen Manier, den kapitalistischen Erfolg durch mehr oder weniger direkte politische Anleitung herbeiregieren zu wollen: Beim (Wieder)Aufbau ökonomischer Potenzen in der Krise muss das nationale Kapital auf staatliche Beihilfen verzichten, soll seinen Erfolg „allein“ durch die Verbilligung der Arbeitermannschaft erreichen.[1]

Die europapolitische Wende

Die innere Wende der Wirtschaftspolitik ist zugleich eine europapolitische Weichenstellung: Frankreich gibt das jahrelange, für es unergiebige Ringen mit Deutschland um eine gemeinsame Währungs- und Finanzpolitik auf, die auch ihm nach seinen Vorstellungen nützen würde. Es hatte die Vergemeinschaftung der aufgelaufenen oder wenigstens der neuen Staatsschulden – Stichwort Euro-Bonds – gefordert, eine Abschwächung der Politik staatlicher Sparsamkeit verlangt und die europäischen Haushalte durch mehr schuldenfinanziertes Wachstum konsolidieren wollen; jedenfalls Deutschland, das es sich doch leisten könne, sollte Löhne und Schulden vermehren und mit mehr Investitionen und mehr Wachstum bei sich auch den Nachbarn zu verdienen geben. Nichts davon war und ist von Deutschland zu bekommen. Das besteht seinerseits auf der europäischen Rechtslage und verlangt vom linksrheinischen Partner – nicht anders als von anderen Problemländern der Eurozone –, den Staatshaushalt zurückzufahren und endlich die vereinbarten Grenzen für die Staatsverschuldung einzuhalten. Und was das Wachstum betrifft, soll Frankreich gefälligst die Wettbewerbsfähigkeit seines Standorts durch Maßnahmen fördern, die nichts kosten: durch die Verbilligung des Arbeitsvolkes und der Soziallasten.

Mit dem Beharren auf der Respektierung des „Fiskalpakts“, den Deutschland den Partnern während der Eurokrise 2013 abgezwungen hatte und der den älteren „Stabilitätspakt“ in puncto Rechtsverbindlichkeit wie bei den Verschuldungsgrenzen radikalisiert, besteht Deutschland auch Frankreich gegenüber darauf, dass die Souveränität der Euro-Staaten über ihre Haushaltsführung dort ihre Grenze hat, wo sie für die Finanzierung ihrer Ausgaben Zugriff auf Kredit in Euro nehmen. Neue Schulden machen dürfen sie in normalen Zeiten so gut wie gar nicht (0,5 %), in Krisenphasen höchstens in der Höhe von 3 % ihres Bruttosozialprodukts. Auf diese formelle Weise soll sichergestellt sein, dass in Euro aufgenommener Staatskredit solide, nämlich durch Wirtschaftskraft und Wachstum des jeweiligen Landes gerechtfertigt ist und dadurch zur internationalen Zuverlässigkeit des gemeinsamen Geldes beiträgt und sie nicht beschädigt.

An diesem Kriterium scheitert Frankreich bis heute Jahr um Jahr. Es bringt die Kapitalproduktivität der nationalen Wirtschaft, das heißt die Erträge der Ausbeutung seiner Bevölkerung, nicht auf das Niveau, das sie bräuchte, um sich auf dem europäischen wie dem Weltmarkt gegen die deutsche Konkurrenz durchzusetzen, genug Exporterfolg zu erzielen und genug Kapitalwachstum zu erzeugen, um die für die Staatsausgaben nötigen Schulden in den vereinbarten Grenzen zu halten und nach europäischer Definition als solide Schulden auszuweisen. Immer wieder sind Kommission und Deutschland zwar bereit, dem wichtigen Partner auf dem Weg zur Erfüllung der Fiskalpakt-Kriterien ein wenig Aufschub zu konzedieren; kein Zugeständnis aber gibt es beim Prinzip. Ein Euro ohne das Fiskal-Regime deutscher Prägung ist für Frankreich nicht zu haben.

Mit diesem kompromisslosen Bescheid nötigt Deutschland seinen großen, für den Bestand der EU unentbehrlichen Partner zu der selbstkritischen Prüfung, was er am Gemeinschaftsgeld, genauer: an einem Euro zu deutschen Bedingungen, hat. Und das ist tatsächlich nicht wenig. Im Euro verfügt Frankreich über ein gutes Geld: gut nicht bloß im Sinne einer stabilen Bewertung, die das erst zu Jahresanfang von seinem AAA-Rating heruntergestufte Frankreich mit seiner nationalen Wirtschaftskraft und seinem Weltmarkterfolg so nicht hinkriegen würde. Viel entscheidender ist seine von Frankreich allein keinesfalls zu schaffende Qualität als fast US-Dollar-gleiches Weltgeld: jene Eigenschaft, die es zum Repräsentanten unmittelbar weltweit einsetzbarer Kapitalmacht und deswegen aus darauf lautenden Staatsschulden fraglos anerkanntes Geldkapital macht. Als Bürge für diese Qualität fungiert derzeit zwar niemand anders als der Emittent, die EZB, mit ihrem Beschluss und Programm zum quasi unbegrenzten Aufkauf zirkulierender Euro-Staatsanleihen. Was den Euro auszeichnet, ist aber eben dies, dass die exzessive Geldschöpfungspolitik der Notenbank das Produkt nicht ruiniert, sondern beglaubigt. Das wiederum liegt nicht an der EZB, sondern an der Qualität des Kredits, den ihre Schöpfung repräsentiert; und das heißt: an der Wirtschaftsmacht, die mit ihrer Kapitalakkumulation die von der EZB finanzierte Kreditschöpfung rechtfertigt – am kapitalistischen Erfolg des intransigenten Partners auf der rechten Rheinseite. Dem verdankt Frankreich also seinen Zugriff auf fraglos anerkanntes Weltgeld, was sich für die französischen Haushaltspolitiker praktisch so geltend macht, dass sie für ihre Schulden nur minimale Zinsen zu zahlen haben. Und auch wenn sie diesen segensreichen Effekt nicht den Berliner Nervensägen, sondern dem Weitblick des italienischen Notenbank-Präsidenten zuschreiben: Dass weder der noch sie selbst die Weltgeltung der Gemeinschaftswährung gewährleisten, sondern die Deutschen mit der Größe und Wucht ihres Kapitalstandorts, ihren Exporterfolgen und ihrer „schwarzen Null“, das ist ihnen klar genug.

Klar genug jedenfalls, dass das Kalkül der französischen Regierung eindeutig zugunsten des Euro nach Maßgabe des deutschen Reglements ausfällt. Und das ist dann doch allerhand. Denn mit ihrer wirtschaftspolitischen Wende erkennt die französische Führung de facto an, dass das Land mit einem Kreditgeld wirtschaftet und von einem Kredit lebt, die nicht seiner nationalen Wirtschaftsleistung entspringen und entsprechen und die es selbständig gar nicht rechtfertigen kann. Indem sie den Euro weiter benutzt, macht sie die ökonomische Abhängigkeit des Geldes, mit dem ihre Unternehmen wirtschaften und mit dem sie regiert, vom Verbund mit Deutschland zur finanzkapitalistischen Sachlage. Und mit dem Schwenk ihrer Politik bekennt sie sich programmatisch zu den Konsequenzen: Sie entscheidet sich dafür, damit zurechtzukommen, dass Deutschland seine Ansprüche an die Solidität des Weltgeldes, das seine Wirtschaftskraft reflektiert und seinen Finanzierungsbedürfnissen entspricht, zum Lebensgesetz der Euro-Zone macht.

Diese Entscheidung kommt einer politischen Grundsatzentscheidung gleich, zu der Deutschland mit seinem Geldregime den großen Partner implizit genötigt hat: Die Grande Nation will auch und gerade in ihrer ökonomischen Zwangslage keinen Bruch mit den Deutschen riskieren, der absehbarerweise die Rückabwicklung der erreichten Integration der EU eingeleitet hätte; sie ringt sich dazu durch, in Abhängigkeit von Deutschlands Wirtschaftsmacht und zu Deutschlands Bedingungen Mit-Führungsmacht der EU sein und bleiben zu wollen. Und dieser Beschluss betrifft nicht bloß Frankreich selbst: Europas zweite Führungsmacht programmiert damit die Fortsetzung der Union, alternativlos unter der Bedingung einer haushaltspolitisch spürbaren Fremdbestimmung.

Kein Einknicken, sondern ein Neuanfang der „Grande Nation“

Die Regierung stellt also die Polemik gegen die „neoliberale Austeritätspolitik der Deutschen“ ein und hält sich an die zweite Forderung der Deutschen, die ihr wirklich niemand erst ins Pflichtenheft schreiben musste: Als Land – speziell gegenüber Deutschland – wettbewerbsfähig werden, das will jede französische Regierung schon immer; der Weg dahin ist nun freilich mit der Pflicht zur gleichzeitigen Haushaltskonsolidierung festgelegt: Frankreich muss seiner Währung gerecht werden – nicht umgekehrt; es muss sich mit gesteigerter Kapitalproduktivität im nationalen Maßstab – wie auch immer die hinzukriegen ist – an den vom deutschen Nachbarn vorgegebenen Maßstäben kapitalistischer Rentabilität bewähren. Umso entschiedener besteht die neue Regierungsmannschaft darauf, dass die unpopulären Schritte keine Kapitulation vor Brüssel oder Berlin darstellen, sondern dem ökonomischen Sachverstand und freien Entschluss einer autonomen europäischen Führungsnation entspringen: Das ist kein Abdanken, sondern ein Schritt zur Bewahrung und Vervollkommnung der Union und Frankreichs Rangstufe in ihr. Böses Blut zwischen den Hauptstädten verursachen nun nicht mehr deutsche Forderungen nach Haushaltsdisziplin und „Reformen“, sondern veröffentlichte Zweifel an der Freiwilligkeit und der entschlossenen Durchsetzung des neuen Kurses durch die französische Regierung: Die empörte Zurückweisung aller politischen Lager provoziert Schäuble, der sich immer frecher als Zuchtmeister der Währungsunion aufspielt, wenn er verlauten lässt, es bräuchte halt jemanden, der das französische Parlament zu den erforderlichen Korrekturen zwingt – und der sich dabei noch auf französische Ministerkollegen beruft, die ihm angeblich ihr Leid klagten. Höchst undiplomatisch setzt der Mann sich darüber hinweg, dass Frankreichs Entscheidung allemal noch das Resultat eines freien Kalküls ist. Und ganz und gar blendet er aus, was auch für sein Deutschland, nämlich für eine EU zu deutschen Bedingungen von Frankreichs Entscheidung abhängt.

Denn erst Hollandes Beschluss, sich hinter die deutschen Forderungen nach Haushaltsdiszipin zu stellen und diese auch seinem Land abzuverlangen, wertet die deutschen Ansprüche zu subjektlosen ökonomischen Erfordernissen der Währungsunion auf und macht sie praktisch zum Sachzwang für die übrigen Partner: Indem Frankreich seinen Widerstand aufgibt und sich den kaputten Nationen der Südschiene auch nicht mehr als Ansprechpartner und Anführer anbietet, der Korrekturen an den für sie ruinösen haushaltspolitischen Auflagen erfolgversprechend einklagen könnte, legt er sie auf die Unwidersprechlichkeit der deutschen Konditionen fest. Demonstrativ lässt die französische Diplomatie den freundlich empfangenen neuen griechischen Ministerpräsidenten, der mit seinem Antrittsbesuch zuerst eben Paris beehrte, mit leeren Händen wieder abreisen: Alternativen zu den mit der Troika ausgehandelten Vereinbarungen gibt es nicht. Außer dem national absolut ruinösen Ausscheiden aus der Eurozone, das auch Griechenland nicht will, bleibt nur die Unterordnung.

So leistet die französische Führung einen entscheidenden Beitrag zum Umbau der Union von einem Bündnis kapitalistischer Nationalstaaten, die sich mit Rechnung auf einen Zugewinn an Reichtum und Macht auf begrenzten Souveränitätsverzicht, nämlich die gemeinschaftliche Verwaltung ihrer Märkte und ihres Geldes eingelassen haben, hin zu einer Union, deren Mitglieder in diesen europäisierten Potenzen unverzichtbare Existenzbedingungen anerkennen müssen, denen sie gerecht zu werden haben und, die zu erhalten, vor allen nationalen Nutzenkalkulationen mit ihnen rangiert. Die Union scheidet sich dadurch in eine Mehrzahl gar nicht mehr so souveräner Staaten und in eine Führung, die den Inhalt des gemeinsamen, über den Mitgliedern stehenden Unionswillens definiert und verbindlich macht.

Frankreich sichert sich seine Rolle in dieser Führung, indem es sich an die Seite der deutschen Garantiemacht stellt und sich für die Durchsetzung der deutschen Vorgaben unverzichtbar macht: Sein Schulterschluss mit Berlin vollendet die deutsche Dominanz über die Eurozone und die weitere EU – und bürgt auf einer höheren Stufe der imperialistischen Formierung des Kontinents sogar noch dafür, dass er nicht einer deutschen, sondern der supranationalen Herrschaft seines Staatenkollektivs unterworfen wird.

II. Die Alternative des Front National: Ein souveränes Geld, ganz viel Patriotismus und „l’autorité de l’État“

Gegen diese Politik legt Frankreichs große rechte Oppositionspartei vehement Einspruch ein. Alle kapitalfreundlichen Rücksichtslosigkeiten, die die politische Führung ihren Franzosen zumutet, um das Land aus der Krise und zu alter Größe zu führen, ihm die nötigen finanziellen Ressourcen ebenso wie seine Führungsrolle in der Union zu sichern, werden von Rechts-Außen wahrgenommen als ein einziges Nachgeben, Buckeln vor auswärtigen Mächten, als Ausverkauf der Nation und Verspielen der glänzenden Position, die eine der fünf größten diplomatischen und militärischen Mächte der Welt[2] einst besetzt hatte. An diesem Bild der Grande Nation nimmt der Front National (FN) Maß und betrachtet es als Versagen der Politik, ja als Verrat am Recht der Nation, dass Frankreich heute eben nicht die eindeutig die EU beherrschende Macht ist, dass es sich nicht einmal mehr als gleichrangig mit dem großen Konkurrenten Deutschland verstehen kann, sondern um seinen Status als europäische Führungsnation konkurrieren muss – und zwar durch Anpassung an Maßstäbe, die nicht es selbst, sondern eben der deutsche Konkurrent setzt, dass es schließlich Welt- und Europapolitik wirksam nur an der Seite dieses Konkurrenten, nicht autonom und gar nicht als Gegengewicht zu ihm betreiben kann. Alles das findet der FN Frankreichs unwürdig, eine Demütigung, die sich diese große Nation nicht gefallen lassen muss und darf.

Die politökonomische Kritik des Front National

In seiner Ursachenanalyse geht der FN der Sache politökonomisch auf den Grund. Auch er überprüft kritisch, was Frankreich am europäischen Binnenmarkt im Allgemeinen, der Gemeinschaftswährung im Besonderen hat. In beiden Punkten gelangt er zu einem höchst negativen Befund:

„Die Europäische Union ist das Trojanische Pferd der ultraliberalen Globalisierung: Die europäischen Verträge verpflichten uns seit dem Maastricht Vertrag zum Dogma der freien und unverfälschten Konkurrenz. Sie untersagen aus ideologischen Gründen Staatshilfen an unsere Unternehmen ebenso wie jede Form von Protektionismus innerhalb der EU wie an ihren Außengrenzen, kurz jede Art von ökonomischem Patriotismus.“ (NP, 5) „Die Konsequenzen sind bekannt: Öffnung der Grenzen, die zu Betriebsverlagerungen führt, zu Arbeitslosigkeit, Diktatur der Märkte, Zerstörung der öffentlichen Dienstleistungen, sozialer Unsicherheit, Armut und massiver Immigration.“ (NP, 47)

Und wenn die patriotischen Ökonomen sich selbstkritisch fragen:

„Warum will uns in Frankreich nicht gelingen, wieder Wirtschaftswachstum zu schaffen?“ (Interview mit Marine Le Pen, Weser-Kurier, 29.11.2014)

dann finden sie folgenden speziellen Grund:

„Weil unsere Währung zu stark ist. ... Heute müssen wir mit einer Währung leben, die 20 bis 30 % zu teuer ist für unsere Wirtschaft, da liegt das Problem.“ (ebd.)

und ziehen daraus den Schluss:

„Es ist notwendig, dass Frankreich die Herrschaft über sein Geld wiedererlangt.“ (NP, 49) „Frankreich muss die Waffen wiederfinden, die ihm erlauben, in der Globalisierung zu kämpfen, sich mit einem Staat auszustatten, der fähig ist, schützend oder unterstützend in die Ökonomie einzugreifen, eine Politik des ökonomischen Patriotismus ins Werk zu setzen, was die Möglichkeit zu Protektionismus impliziert, wie es die überwiegende Mehrheit der Länder der Welt praktiziert.“ „Schließlich die Waffe des Geldes wiederzufinden, um wieder ein Geld zu haben, das zu unserer Ökonomie passt und das die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen wieder herstellt.“

Aus der Sicht empörter Vaterlandsliebe liegt es also eindeutig am falsch bewerteten Geld, dass Frankreichs Wirtschaft zu wenig davon verdient, um zu wachsen und den Staat mächtig, das Volk glücklich zu machen. Diese Diagnose bezieht ihre Gewissheit zwar nicht aus einer volkswirtschaftlichen Einsicht. Sie soll hier aber doch einmal als Aussage zur Sache ernst genommen werden; zum einen wegen des Rezepts zur Sanierung der Nation, das darin schon enthalten ist; zum andern im Hinblick auf den rückblickenden Befund, der die Kritik am Zahlungsmittel auch für weniger radikale Patrioten plausibel macht, nämlich dass Frankreich mit einer eigenen nationalen Währung früher doch immer ganz gut oder jedenfalls besser zurechtgekommen sei als heute mit dem harten Euro.

Zur wirklichen Bedeutung einer „zu starken“ resp. einer „angemessen schwachen“ Währung daher hier

ein kleiner Exkurs

In der Sache ist mit der Beschwerde über ein für linksrheinische Verhältnisse insgesamt zu gutes Geld ein Befund über die Produktivität des nationalen Kapitals zu Protokoll gegeben: Wenn die Unternehmen des Landes im Wettbewerb um das Geld, mit dem ausländische Konkurrenten gut verdienen, keine oder viel zu geringe Gewinne machen, um sich gehörig zu bereichern und dabei den Staatsbedarf zu finanzieren, dann steht es bei ihnen im Konkurrenzvergleich schlecht um das Verhältnis zwischen Kostenaufwand und Erträgen. Und wenn der Rückstand gegenüber der auswärtigen Konkurrenz, die mit dem Euro und seiner internationalen Bewertung gut zurechtkommt, am Geldwert ausgedrückt auf 20 bis 30 % beziffert wird, dann steht die national unpassende Maßeinheit des Geldes, von dem Frankreich mit seinen nationalen Produkten zu wenig einnimmt, in der Sache dafür, dass das Produzieren und Verkaufen die Unternehmen des Landes im Konkurrenzvergleich um ungefähr einen solchen Prozentsatz zu viel kostet, ihre Kosten also um so viel gesenkt werden müssten, damit das Kapitalwachstum im nationalen Maßstab wieder klappt.

Dasselbe von der Seite des Geldes her betrachtet: Im Geld einer Nation spiegelt sich – wie modifiziert und verzerrt auch immer – die Produktivkraft des nationalen Kapitals wider, i.e. seine Macht, aus dem Gebrauch der nationalen Arbeit Überschuss herauszuholen. Denn ein nationales Zahlungsmittel repräsentiert im modernen Kapitalismus den Kredit, der in einer Nation, unter der Obhut der nationalen Notenbank, geschöpft und teils vom Staat verbraucht, zum größeren Teil als Kapitalvorschuss verwendet wird. Es misst die Kapitalakkumulation im nationalen Maßstab, die mit diesem Kredit zustande gebracht und für die Zukunft, in der alle Schulden einschließlich der staatlichen kontinuierlich irgendwie bedient werden müssen, programmiert wird – letzteres der spekulative Faktor in der Bewertung des nationalen Kreditgeschäfts. Der im Währungstausch praktizierte, in den Wechselkursen bezifferte Vergleich der nationalen Kreditgelder drückt – einsilbig, begriffslos, der Sache entsprechend verzerrt, in letzter Instanz aber nichts anderes als – die Verhältnisse aus, in denen die kapitalistische Rechtfertigung des nationalen Kredits durch erfolgreiche Kapitalakkumulation in der einen Nation zu der in anderen Ländern steht. Verschiebungen in der wechselseitigen Bewertung der nationalen Gelder stehen für geringere bzw. schwindende Ertragskraft und Akkumulation der Unternehmen des Landes, dessen Währung verfällt, im Verhältnis zu dem Kredit, dessen Schöpfung das Land sich leistet. Daran ändert der Euro, diese aberwitzige Konstruktion eines der nationalen Geldhoheit entzogenen Gemeinschafts-Kreditgelds mehrerer konkurrierender Nationen, etwas Entscheidendes: Er setzt zwischen den so zusammengespannten Nationen den Effekt, dass die Bewertung des Geldes dem kapitalistischen Erfolg der Nation folgt, die es als ihr Kreditzeichen schöpft und benutzt, außer Kraft. Die Bewertung dieses supranationalen Geldes repräsentiert – noch immer – die Stärke, die vor allem der deutsche Kapitalismus diesem Geld verschafft; eine Stärke, die sich – davon war schon die Rede – nicht nur in dessen Wechselkurs äußert, sondern die allgemeine, weltweite Verwendung und die darin praktisch vollzogene Anerkennung dieses Kreditgelds als Weltgeld zum Inhalt hat. Für das Euro-Land Frankreich, dessen Kapital auf nationaler Stufe der Produktivität des Kapitals der stärksten Konkurrenten nicht gewachsen ist, folgt daraus, dass seine Wirtschaft nicht ein schlechter bewertetes, immer weniger Wert repräsentierendes nationales Geld, sondern vom besseren Weltgeld wenig und tendenziell immer weniger verdient. Für den Staat folgt aus der Übertragung seiner Geldhoheit an die supranationale Institution EZB, dass er seine Freiheit, immer mehr immer weniger kapitalistisch gerechtfertigten Kredit in Verkehr zu bringen und sein Geld, das diesen Kredit repräsentiert, und mit der Maßeinheit auch alle darin bezifferten Vermögenswerte zu entwerten, eingetauscht hat gegen die begrenzte und kontrollierte Verfügung über einen Kredit, den die ganze Welt als Geldkapital würdigt, und über ein entsprechend unverwüstliches Zahlungsmittel.

Man kann es im Übrigen auch ganz einfach ausdrücken: Es ist absurd, in der Maßeinheit den Grund für das Verhältnis zu suchen, das in dieser Maßeinheit – statt in einer anderen – gemessen wird. Die mangelnde Fähigkeit der französischen Wirtschaft, insgesamt gegen die weltweite Konkurrenz so viel Profit zu machen und Wachstum zu produzieren, wie sie und ihre nationale Herrschaft es wünschen und brauchen, liegt nicht an der Qualität des Geldes, von dem sie zu wenig verdient. Ohne die Bindung an das anerkannte Weltgeld Euro würde sich genau dieselbe Konkurrenzschwäche anders äußern, nämlich – wie in den Vor-Euro-Zeiten – so, dass das Land ein immer schlechteres Geld vermehrt und dem Staat die Verschlechterung seines Kredits mit dem in hohen Zinsen bezifferten Misstrauen der Käufer seiner Anleihen heimgezahlt wird.

Nicht ganz so absurd, dafür systemgemäß lohnfeindlich ist die Verheißung, die mit der Vorstellung verbunden ist, durch die (Wieder-)Einführung eines neuen nationalen Geldes, das den Vergleichswert und damit die kapitalistische Schlagkraft aller darin gemessenen Vermögen und in dem Umfang auch alle für die Unternehmen anfallenden internen, nationalen Kosten mindert, ließe sich die Konkurrenzlage der französischen Wirtschaft insgesamt durchgreifend verbessern. Der Effekt tritt nämlich dann, aber auch nur dann tatsächlich ein, wenn im Zuge der Abwertung des nationalen Geldes resp. der Einführung einer neuen minderwertigen Währung das Verhältnis zwischen Kostenaufwand und Erträgen des Kapitals zugunsten der Unternehmen verändert wird; wenn also fürs Kapital die Minderung des Geldwerts durch Vermehrung der Menge des eingenommenen schlechteren Geldes kompensiert wird und für alle diejenigen, die dem Kapital bei seiner Geschäftstätigkeit Kosten verursachen, nicht. Wer für diese segensreiche Wirkung überhaupt allein in Frage kommt, ist damit schon klar: Wenn das Geld, mit dem die Unternehmen wirtschaften, weniger wert ist als zuvor, dann steigert das deren Rentabilität, also ihre Gewinne im Verhältnis zu ihren Kosten nur dann, wenn sie von diesem wertloseren Geld mehr behalten als zuvor und ihre lohnabhängigen Dienstkräfte nicht entschädigt werden, die Kaufkraft der national gezahlten Lohnsumme also mit der Entwertung des Geldes sinkt. Das gilt auch, wenn ohnehin exportstarke Firmen sich in der Konkurrenz mit ausländischen Unternehmen dank verringerter heimischer Kosten leichter tun: Die Wirtschaft der Nation kann nur dann am Ausland nicht bloß nominell mehr, sondern real besser verdienen, wenn die nationale Belegschaft nominell gar nicht besser und real schlechter entgolten wird. Stichhaltig ist das auf Abschaffung des zu teuren Euro gegründete Sanierungsversprechen der politökonomischen Experten des FN also genau dann, wenn, und in dem Maße, wie die Absenkung des nationalen Lohnniveaus das herrschende Lohn-Leistungsverhältnis optimiert, sprich: die Ausbeutung der nationalen Arbeit effektiviert – im Endeffekt genau das, was die Regierung mit ihren vom FN so heftig angefeindeten „Strukturreformen“ unter Einsatz bescheidener Mengen von Euro-Kredit anstrebt.[3]

Die politische Kritik des Front National

Mit politischer Ökonomie hat es Frankreichs Rechte in Wahrheit sowieso nicht. Und dass das französische Arbeitsvolk für das große Glück, wieder in einem ganz eigenen, nationalen, überhaupt nicht fremdbestimmten Geld bezahlt zu werden und auch wenn arbeitslos damit bezahlen zu dürfen, auf einiges verzichten muss, was es sich davon ganz bestimmt nicht leisten kann, das dürfte das Letzte sein, was diese Partei irgendwie irritieren könnte. Versprochen ist ja nichts als die Befreiung der Wirtschaft von all dem, was der EU und dem Euro-Regime an feindlichen Übergriffen aufs französische Vaterland angekreidet wird, die Wiederauferstehung eines ganz und gar französischen Wirtschaftspatriotismus. Das Volk wird derweil mit dem dazu passenden ideellen Lohn verwöhnt: Es kommt in den Genuss einer satten polemischen Abrechnung mit einem vorgestellten Feind. Die milde Fassung geht so:

„Die Europäische Union, ursprünglich vereinbart zwischen Ländern verwandter Kulturen und Zivilisationen, mit vergleichbarem ökonomischen und sozialen Entwicklungsstand, auf der Grundlage des Prinzips der Vorzugsbehandlung europäischer Produkte, ist heute völlig von ihrer Zielen abgekommen.“ (NP, 47)

Aber natürlich geht es auch drastischer:

Die EU ist zum „Gefängnis“ der Nationen geworden, „in dem wir gerade noch die Farbe des Fußabtreters bestimmen dürfen.“ (Interview mit Marine Le Pen, Cicero, Juni 2014) „Wir sehen uns bestätigt, dass die EU immer offener einer Diktatur ähnelt, wo alle Drohungen dazu gut sind, demokratisch gewählte Regierungen zu beugen und ihnen eine Politik aufzuerlegen, die in Brüssel, Frankfurt und Berlin entschieden wird… Der Euro ist eine Diktatur, geschaffen im Interesse einiger Mächtiger zum Schaden der Mehrzahl. Die Ereignisse in Griechenland werden die Völker Europas dazu bringen, sehr ernsthaft zu bedenken, was sie für eine Zukunft wollen: zusammen dem Einheitsgeld ein Ende bereiten, um Freiheit, Demokratie und Wohlstand wiederzuerlangen, oder auf ewig einer ihren offensichtlichsten Interessen entgegengesetzten Ordnung unterworfen sein.“ (Presse Communiqué, Marine Le Pen, 5.2.15)

Deutlich wird da immerhin auch, dass der FN sich nicht in die Ecke engstirniger Europa-Feindschaft stellen lassen will. Angestrebt ist der schöne Widerspruch einer europäischen Internationale aller beleidigten und entrechteten Nationalisten:

„Ich werde alle meine Energie darauf verwenden, die anderen europäischen Länder davon zu überzeugen, dass man nicht so weitermachen kann. Dass der Euro ein Kadaver ist, den man versucht, mit Milliardenkosten künstlich am Leben zu erhalten. Deshalb ist es in unserem Interesse, diesen Ausstieg aus dem Euro zu organisieren und im Rahmen einer internationalen Absprache zu den nationalen Währungen zurückzukehren.“ (Marine Le Pen, Weser-Kurier, 29.11.2014) „Man muss im Rahmen des Artikels 50 des Vertrages der Europäischen Union eine Neuverhandlung der Verträge beginnen, um mit der dogmatischen und total gescheiterten europäischen Konstruktion zu brechen. Ab dann gilt es die Grundlagen eines Europas zu schaffen, das die Souveränität der Völker, die nationalen Identitäten, Sprachen und Kulturen achtet und wirklich für die Völker da ist.“ (NP, 48)

Das wird ein feines Europa, dessen Mitmacher ihren gemeinsamen Willen zum Bündnis darin sehen, dass sie sich von ihren Nachbarn in nichts reinreden, sich auf nichts verpflichten lassen, und jedes Mitglied frei und entschieden allein seinen nationalen Vorteil gegen die anderen sucht. Der FN hält es für gesund und natürlich, die jetzige supranational geregelte, ökonomisch entfesselte, politisch eingehegte Konkurrenz der Nationen neu zu politisieren und zur Machtfrage zu machen. Frankreich, meint Le Pen, hätte auf dieser Ebene des Staatenverkehrs nichts zu fürchten – vorausgesetzt, es wird endlich wieder richtig regiert. Denn:

„In den letzten Jahrzehnten haben alle Regierungen, eine nach der anderen, zur Herabstufung Frankreichs in Europa und in der Welt beigetragen. Ihre Politik hat unser inneres Gleichgewicht und unsere äußere Sicherheit in Gefahr gebracht. Sie hat unsere Freiheit schwer beschädigt. Sie hat zu einem Verlust unserer Stellung geführt.“ (NP, 50)

In Sachen ‚inneres Gleichgewicht‘ präsentiert der FN eine Liste der Notwendigkeiten, die von Zucht und Ordnung, Tolérance zéro bei Schulvergehen (NP, 19), und der Wiedereinführung der Todesstrafe oder lebenslangem Wegsperren der Kriminellen (NP, 20) bis zum Kampf gegen alle und alles, was nicht zu notre identité nationale gehört, gegen legale wie heimliche Einwanderung und gegen die immer sichtbarere Islamisierung des Landes (NP, 13), von der Durchsetzung des Zentralstaats gegen die Regionen, die sich allzu oft für kleine Republiken halten (NP, 9), bis zur Rettung der Familie als zentrales und fundamentales Kernstück der Gesellschaft insbesondere vor der Homo-Ehe als dem Vorzeichen einer dekadenten und egoistischen Gesellschaft (NP, 35) reicht – all die Sachen eben, die zum Wertekanon einer wild entschlossenen Befangenheit im nationalen Kollektivismus gehören.

In Sachen ‚äußere Sicherheit‘ und ‚Rangplatz‘ der Nation muss der FN erst recht Alarm schlagen:

„Unsere Verteidigungsanstrengungen waren noch nie so gering. Sie sind von 3,6 % des BIP Ende der 80er Jahre auf weniger als 1,6 % heute zurückgegangen.“ Das rührt daher, dass „unsere Regierung die nationale Verteidigung nur noch unter dem Blickwinkel von Haushaltseinsparungen oder der Teilnahme an abenteuerlichen multinationalen Einsätzen“ betrachtet, „bei denen das nationale Interesse nicht eindeutig“ ist. (NP, 3); nur zu folgerichtig ist das große Frankreich „total entwaffnet nach dreißig Jahren Untätigkeit und Zurückweichen vor der Globalisierung.“ (NP, 5)

Um Frankreichs Bedeutung als strategische Größe und um seinen Anteil am europäischen Imperialismus ist es in der Tat nicht gut bestellt. Aber am zu geringen Militärhaushalt liegt das auch wieder nicht: Es ist vertrackter.

III. Der Krieg in der und um die Ukraine: Herausforderung und Drangsal für eine Nation, die für eine selbständige Machtentfaltung der EU steht und einstehen will

Die atomar bewaffnete französische Weltmacht mit Sitz und Veto im UN-Sicherheitsrat bietet sich seit jeher den EU-Partnern als der militärische Arm und damit als politischer Führer einer Union an, die eine eigenständige Weltpolitik betreibt.

Unter der Parole von der „multipolaren Welt“ tritt die Grande Nation als Ordnungsmacht an, welche den USA die Rolle als einzige globale Aufsichtsmacht bestreitet. Wenn sie selbst auch als Mitglied der NATO agiert, dann um auf die Weise die französischen Interessen – und die europäischen gleich mit – zur Geltung zu bringen, innerhalb wie außerhalb des europäischen Kontinents. Im Ringen um autonome imperialistische Machtentfaltung richtet sie ihre Außen- und Sicherheitspolitik nicht an den amerikanischen Vorgaben aus, sondern erschließt sich „strategische Partnerschaften“ mit einflussreichen Mächten, auch mit solchen, die von Amerika als einzuhegende und klein zu haltende Rivalen betrachtet werden. Dazu gehört vor allem Russland, mit dem Frankreich eine intensive Kooperation pflegt, die sich auch und gerade auf den Rüstungssektor bezieht und durchaus ‚sensible‘ Bereiche wie Weltraumtechnik und moderne Hubschrauberträger umfasst, die an Moskau zu liefern Frankreich sich nicht scheut.

Gleichzeitig bemüht sich Frankreich nach Kräften, die Europäische Union auf den Weg zu einem auch militärisch potenten weltpolitischen Akteur zu bringen, der den Ansprüchen der eigenen Nation mittels einer ‚Bündelung der Kräfte‘ das fehlende strategische Gewicht verleiht. Die Bilanz, welche die französischen Regierungen hier ziehen müssen, zeugt nicht gerade von großem Erfolg. Mit wiederholten Militärinterventionen mitten in Afrika – zuletzt in Mali und Zentralafrika – stellt das Land seine autonome kriegerische Handlungsfähigkeit unter Beweis und will dies als Verteidigung europäischer Interessen und Sicherheit anerkannt bekommen. Der Dank der Partner bleibt überwiegend aus, sie fühlen sich von afrikanischen Unruhen nur wenig betroffen und sind nicht bereit, deretwegen die „postkolonialistischen Expeditionen“ der Grande Nation zu unterstützen, geschweige denn, eigene Soldaten zur Verfügung und unter französischen Oberbefehl zu stellen. Die lange Zeit forcierten Anstrengungen, die von Deutschland zunehmend zur strategisch-politischen Priorität gemachte und dominierte Ostexpansion der EU durch eine „Mittelmeer-Union“ auszubalancieren, in der Frankreich die Südstaaten der EU zu einem eigen- und zuständigen Subjekt der Kontrolle des ‚mare nostrum‘ und der nordafrikanischen Gegenküste formieren wollte, sind gescheitert. Erstens an den desaströsen Ergebnissen der z.T. von Frankreich mit geförderten ‚Arabellionen‘ und ‚Regimewechsel‘ (Libyen, Syrien …) sowie zweitens an der Unterminierung dieses Projekts, das der Bildung eines Gegengewichts gegen die deutsche Regie über den europäischen Machtzuwachs in Mittelosteuropa dienen sollte, durch eben dieses Deutschland. Und auch aus den immer wieder versuchten Anläufen, angesichts der ‚NATO-first‘-Orientierung des rechtsrheinischen Partners durch eine engere Militärkooperation mit der anderen europäischen Nuklearmacht, Großbritannien, die eigenen Ambitionen voranzubringen, wird keine ‚special relationship‘: Die behält sich England für das Verhältnis zu Amerika vor.

Ein zweifellos europäischer Krieg – und eine Herausforderung für die Militärmacht Frankreich

Jetzt gibt es in der Ukraine einen europäischen Krieg, der die gesamte EU definitiv etwas angeht. Und dieser Krieg ist eine besondere Herausforderung für die französische Nation.

Der gewaltsame Einspruch Russlands gegen den prowestlichen Umsturz in Kiew – die Annexion der Krim und die Übernahme der Kontrolle über Teile der Ostukraine mit Hilfe prorussischer Kräfte – blamiert die von der Europäischen Union verfolgte Methode der friedlichen Eroberung der staatlichen Nachbarn im Osten, deren Hauptbetreiber zwar Deutschland war, die aber auch Frankreich mitgetragen hat. Das ach so zivile Angebot, das die EU den Oststaaten serviert, besteht darin, ihnen materielle Existenzbedingungen kapitalistischer Nationen zugänglich zu machen – oder zu verweigern: Sie nutzt den großen Markt, den sie organisiert, und die Kapital- und Kreditmacht auf ihm, die sie allesamt als ihren exklusiven Besitzstand handhabt, als Waffen: Ohne Zugang zu diesem Markt, ohne Benutzung der Kaufkraft und der Verdienstgelegenheiten auf ihm, ohne den Import der dort akkumulierten Kapitalmacht und ohne den privaten und öffentlichen Kredit, der von dort zu haben ist, kann aus einem kapitalistischen Land auf diesem Kontinent sowieso nichts werden. Die EU benutzt den Kapitalbedarf der über den Systemwechsel wirtschaftlich mehr oder weniger ruinierten Länder, um die ökonomischen ‚Angebote‘ mit Vertragsverhältnissen und institutionellen Bindungen zu verknüpfen, die die Zuordnung dieser Staaten zu ihrem Raum und ihrem Interesse vom berechnenden, also auch unzuverlässigen Interesse der betreffenden Staatsführungen unabhängig und damit irreversibel machen. Und weil Frankreich sich hinter diese Expansionsstrategie der EU gestellt hat, bürgt es auch mit seiner Macht und seinem Einfluss für den Erfolg dieser Politik, die gerade in der Ukraine an ihre Grenze stößt. Anders gesagt: Seine Glaubwürdigkeit als Garant des europäischen Projekts steht mit auf dem Spiel.

Dabei besteht die Ironie der Sache darin, dass Frankreich, das sich als berufene militärische Führungs- und Schutzmacht Europas versteht, immer schon den bloß ‚zivilen‘ Imperialismus der Europäischen Union als grundlegenden Mangel betrachtet hat – und dass dieser Standpunkt jetzt durch den Putsch in Kiew und die Intervention des russischen Militärs den praktischen Beweis seiner Richtigkeit erhält. Für die ‚Einsicht‘ hat sich Paris ja gerade in der EU immer wieder starkgemacht: dass die staatliche Interessen- und Besitzstandswahrung bzw. -erweiterung in der Konkurrenz der Nationen und Wirtschaftsbündnisse in letzter Instanz auf den Gewaltpotenzen beruht, die diese mobilisieren können. Offenbar wird schließlich am Fall Ukraine, dass die berühmten friedlichen Methoden der auswärtigen Politik, also der Gewaltverzicht in internationalen Affären, in denen gegensätzliche Interessen aufeinandertreffen, selbst eine Frage der Gewalt ist – nämlich der militärischen Kräfteverhältnisse zwischen den beteiligten Nationen. Die Hinnahme von Maßnahmen und Forderungen, welche die eigenen Interessen schädigen, beruht auf der Anerkennung einer überlegenen Gewalt, die mitten im Frieden und in jedem ‚Angebot‘ als Drohung präsent ist – und im strategischen Vokabular ‚Abschreckungskapazität‘ heißt. Nur diese gewährleistet einen ‚Raum des Friedens und des Rechts‘ – wie ihn die EU mit ihrer NATO im Rücken beansprucht. Solange nämlich, wie die Ausweitung dieses ‚Raumes‘ auf die berechnende Duldung der geschädigten Macht trifft. Also: bis diese dagegenhält!

So wird die genuine Position der französischen Nuklearmacht, dass die Emanzipation Europas zu einer global respektierten Macht ohne weltmächtige kriegerische Potenzen scheitern muss, durch die Entzauberung der Methode der friedlichen Eingemeindung von Staaten im Prinzip ins Recht gesetzt. Allerdings kommt der französischen Regierung diese Klarstellung in Sachen gewaltsame Selbstbehauptung im Fall der Ukraine und der dort involvierten Kriegsakteure und Friedensparteien überhaupt nicht recht. Denn die französische Ambition, Europa zu einem eigenständigen Machtsubjekt zu befördern, wird hier in äußerste Verlegenheit gebracht.

Frankreich will keine gewaltsame Konfrontation, sondern eine strategische Kooperation mit Russland

Frankreich kann nicht hinnehmen, dass Russland sein verletztes Interesse an der Ukraine gewaltsam geltend macht. Es kommt also nicht umhin, sich gegen das russische Vorgehen zu stellen. Denn der Ausgang des Kräftemessens im Kampf um die Ukraine entscheidet über die künftige Reichweite der Macht der Europäischen Union. Aber – das ist das erste Drangsal – die Grande Nation will ihre militärischen Gewaltmittel gar nicht einsetzen für einen Kampf um die Ukraine und die ‚Befreiung‘ der Krim und der Ostukraine aus der Verfügungsmacht Russlands. Frankreich war schon keine treibende Kraft beim Ringen um die „Assoziierung“ der Ukraine ohne jedes Zugeständnis an die prorussische Seite in der Ukraine oder an den russischen Staat; das war vielmehr Deutschland im Verbund mit Polen und den anderen EU-Oststaaten mit streng antirussischer Staatsräson. Paris wollte die Zuspitzung der Konfrontation nicht, hat sich lange geweigert, die Sanktionspolitik mitzutragen und seine hochkarätige Rüstungskooperation – es ging um die vertraglich vereinbarte Lieferung zweier Helikopterträger – der „Bestrafung des russischen Aggressors“ zu opfern. Denn dieser Kriegsakteur, der sich mit seiner überlegenen Militärmacht gegen den kompletten Frontwechsel seines strategisch wichtigsten Nachbarlandes wehrt und damit gegen das Ausgreifen der EU (samt NATO) stellt, ist für Frankreich kein Feind, sondern ein bedeutender Kooperationspartner: Russland soll ja gerade mit seinen Rohstoff- wie militärstrategischen Potenzen sowie als potenzieller Bündnispartner in internationalen Ordnungsaffären für die eigenen imperialistischen Ambitionen nutzbar gemacht werden. Es fungiert insofern auch als positive strategische Option für die Emanzipation der EU aus der ewigen Abhängigkeit von der amerikanischen Führungsmacht. Diese Rechnung gibt Frankreich nicht einfach auf, schon gar nicht will es sich im Sinne der USA und NATO für eine militärische Eindämmung Russlands starkmachen.

Die französische Militärmacht kann sich nicht als Schutzmacht Europas bewähren

Außerdem – und das ist das zweite französische Drangsal – ist Frankreich gar nicht in der Lage, sich als das bestimmende kriegspolitische Subjekt gegen Russland aufzustellen. Und das nicht deswegen, weil seine militärischen Mittel nicht reichen, sondern weil andere das Heft des Handelns schon in den Händen halten. Längst, nämlich als sofortige Reaktion auf die russische Aneignung der Krim, haben Amerika und die NATO sich zum herausgeforderten Subjekt der Verteidigung der ausgreifenden europäischen Sicherheitsinteressen erklärt und in Stellung gebracht. Damit hat genau jenes westliche Kriegsbündnis den Zugriff auf die ‚Gewaltfrage‘ genommen, dessen Zuständigkeit für die vitalen Interessen, sprich imperialen Fortschritte der Europäischen Union Frankreich überwinden will. Der amerikanische Freund entlarvt seine europäischen Verbündeten und damit die EU insgesamt als Papiertiger. Er demonstriert, dass die Europäer und der Erfolg ihres Projekts ganz an der überlegenen Gewalt und Führungsrolle Amerikas hängen.

Das hat Konsequenzen. Frankreich bekommt zu spüren, was es heißt, wenn die USA die Regie übernehmen und sich der Sicherung des Frontwechsels der Ukraine annehmen. Es sieht sich damit konfrontiert, dass die USA die Tatsache, dass Russland die Expansion der EU bis an die ukrainisch-russische Grenze gewaltsam stoppt, zum Beweis dafür machen, dass dieses Land nicht unter Kontrolle ist, noch immer als eigenmächtiger Akteur gegen die von Amerika vorgegebenen Richtlinien verstößt und deshalb auch 25 Jahre nach dem Selbstmord der Sowjetunion viel zu mächtig ist; dass Putins Staat also auf den Status einer „Regionalmacht“ reduziert gehört. Und die Staaten der EU sollen sich in der NATO und mit ihren ökonomischen Mitteln dafür starkmachen, d.h. diese Mittel auch opfern für den Zweck, Russland weiter zu entmachten. Dabei geht es den Amerikanern nicht allein um Russland. Sie nehmen die „russische Aggression“ als willkommene Gelegenheit, Europa von neuem in eine antirussische Front einzubinden und im transatlantischen Militärbündnis wieder die Disziplin durchzusetzen, die sie im Kalten Krieg so zu schätzen wussten. Die prompt verschärften Forderungen und Angebote aus Washington, die „Energie- und strategische Abhängigkeit“ der EU von Russland zu beenden, stehen für den Willen zur Unterordnung der europäischen Konkurrenten. Dieses Programm nimmt die französische Regierung als das, was es ist: als Angriff auf sein weltpolitisches Projekt, eine autonome europäische Weltmacht aufzubauen.

Sanktionen und Vermittlungsdiplomatie: Das neue Selbstbehauptungsprogramm Frankreichs an der Seite des deutschen Vorreiters der ‚friedlichen‘ europäischen Ostpolitik

Um die eine Konsequenz kommt Frankreich nicht herum: Es muss sich der von Washington initiierten und vorangetriebenen westlich-freiheitlichen Front gegen die „völkerrechtswidrige Aggression“ Putins anschließen.[4] Umso mehr setzt der französische Präsident darauf, an der Seite der deutschen Regierung eine Offensive zur Schadensbegrenzung zu starten. Der deutsche Hauptaktivist der friedlichen Methode des EU-Ausgreifens in die östlichen Randstaaten Europas, die Russland als sein „Nahes Ausland“ betrachtet, sieht sich seinerseits in dem Dilemma, dass diese seine ‚Erfolgsmethode‘ an ihre Grenze gestoßen ist, seit russische Waffen den deutsch-europäischen Ansprüchen Einhalt gebieten und die USA sich als die europäische Schutzmacht zu Wort melden und zur Tat schreiten. Unter der Parole „Dieser Konflikt kann mit militärischen Mitteln nicht gelöst werden“ verfolgt die Regierung Merkel das doppelte Programm, die definitive Eingemeindung des ‚souveränen Staats‘ Ukraine in den Herrschaftsbereich der EU zu vollenden und zugleich deren Hinnahme durch Russland zu erreichen – und so zur Methode der friedlichen Expansion zurückzukehren.[5] Dem Doppelprogramm entspricht die gut deutsche doppelbödige Strategie, als NATO-Partner an der Seite der USA die militärischen Abschreckungsmittel zu mobilisieren und an den Grenzen zur Russischen Föderation vom Baltikum bis nach Rumänien Stützpunkte einzurichten (die sog. „Speerspitze“, in der die Bundeswehr derzeit die Führung innehat, an der Frankreich sich hingegen nicht beteiligt!), um vor dem Hintergrund dieser Drohung das Angebot an Russland zu vermitteln, es solle die nicht zuletzt von Deutschland befürworteten Wirtschaftssanktionen als Einladung verstehen, ab sofort auf Gewalt zu verzichten und wieder auf den Weg konstruktiver und nützlicher Beziehungen zurückzufinden. Nur so könnten die USA und ihre scharfmacherischen Freunde im östlichen Teil der EU davon abgehalten werden, durch massive militärische Aufrüstung der ukrainischen Armee den Krieg zu eskalieren, sodass Russland endgültig nichts mehr zu gewinnen habe. Für die Durchsetzung dieser Linie in der Union und für ihre einigermaßen wirkmächtige Umsetzung gegenüber den Adressaten in der Ukraine und vor allem in Moskau und Washington braucht die Regierung Merkel die Unterstützung durch Frankreich. Die französische Militärmacht nimmt diese Rolle als Ko-Führungsmacht der EU zum Krisenmanagement an und stellt sich damit zugleich hinter die deutsche Strategie; und so beginnt die Zeit des „Duos“ Merkel/Hollande bzw. Steinmeier/Fabius im Rahmen der „Minsker Verhandlungen“.

Worum es der französischen Regierung dabei geht, spricht Mr. le président in seiner öffentlichen Begründung, warum die Ansprüche der großen französischen Nation an der Seite der Kanzlerin gut aufgehoben sind, im Klartext aus:

„Es gibt ein starkes Band zwischen Frankreich und Deutschland, weil – wenn Frankreich und Deutschland vereint sind – dann hat das nicht nur in Europa Gewicht, das hat überall auf der Welt Gewicht. Seitdem ich diese Verantwortung ausübe …, frage ich mich: Welche Nationen sind es, die in der Welt Gewicht haben? Wie viele sind es? Welche Mittel können sie einsetzen? Wer hat die Fähigkeit, eine Armee in Gang zu setzen? Wer kann eine für die ganze Welt relevante Entscheidung fällen? Wer hat die wirtschaftliche Stärke? Wenn wir, Franzosen und Deutsche, zusammen sind, dann haben wir alle Fähigkeiten zur Macht in globalem Maßstab. Die Europäer sollen sich dessen bewusst sein – sie wissen es – und die ganze Welt soll ebenfalls begreifen, was passieren wird.
Frankreich ist in der Ukraine nicht im Krieg. Es will in der Ukraine nicht im Krieg sein. Es will den Krieg vermeiden… Ich glaube, ... dass wir im Augenblick alles tun müssen, damit Diplomatie und Politik zu ihrem Recht kommen. Frankreich schließt sich der Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine nicht an. Deshalb unternehme ich mit Angela Merkel diese Reise. Frankreich ist nicht dafür und hat es immer gesagt – sowohl meine Vorgänger wie ich heute –, dass die Ukraine der Atlantischen Allianz beitritt. Das muss klar sein. Denn wir müssen allen Ländern um uns herum die Wahrheit sagen, was sie verlangen können – ich kenne ihr Vorgehen – und was wir nicht akzeptieren können. Auf jeden Fall ist das die französische Position. Ich sage es auch für die Russen, die immer beunruhigt sind und glauben, dass die Amerikaner dahinter stecken, als ob wir zu längst vergangenen Zeiten zurückgekehrt wären – also doch nicht so lange vergangen –, aber nein, ich glaube, dass wir diese Fragen, ich würde mal sagen, unter uns Europäern regeln müssen.“ (Elysée.fr, Les actualités, 5e conférence de presse du président François Hollande – Questions/Réponses, 5.2.2015)

Für Frankreichs Regierung ist die deutsch-französische Vermittlungsoffensive erklärtermaßen die – einzige – Option, das französische Interesse in diesem weltpolitische Weichen stellenden Konflikt zur Geltung zu bringen. Das Ziel dieser Verhandlungen besteht bezeichnenderweise darin, die kriegerischen Auseinandersetzungen vor Ort einzudämmen und auf Seiten der Kriegsparteien überhaupt den politischen Verhandlungswillen zu erzeugen, der eine ‚nicht-militärische Lösung‘ möglich machen könnte. Gemeinsam mit der Kanzlerin will Hollande so der akuten Gefahr entgegenarbeiten, dass aus der europäischen Ausbreitung nach Osten eine dauerhafte Feindschaft mit Russland wird, welche die Länder der EU wieder unter das Primat der NATO-Bündnisräson, also zur Unterordnung unter die amerikanische Führungsmacht zwingt. Denn damit wären alle französischen Anstrengungen zunichtegemacht, die EU zu einem wirklich eigenständigen Akteur weiterzuentwickeln, der sich nicht nur ökonomisch, sondern auch in imperialistischen Weltordnungsfragen das ihm ‚zustehende‘ Gewicht verschaffen kann. Mit der Vermittlungsinitiative des „Minsker Friedensprozesses“ bringt sich Frankreich zugleich als europäische Führungsnation wieder ins Spiel. Allerdings nicht als der Avantgardist, der Deutschland einlädt, sich an Frankreichs militärische Macht anzulehnen, wie es früher Usus war, sondern umgekehrt in der Rolle einer Ko-Führungsmacht, die zusammen mit Deutschland die europäische Methode der friedlichen Eroberung retten will, indem sie einen allseits akzeptierten Gewaltverzicht durchsetzt.

Eine neue Geschäftsordnung in der EU, die ‚gemeinsame Sicherheit‘ betreffend

Die ordentliche Portion diplomatische Anerkennung, die der eben noch „zaghafte und zaudernde“ „Krisen-Präsident“ Hollande plötzlich an der Seite der deutschen Kanzlerin genießt, verdankt er nicht den exquisiten Kriegsmitteln wie Atomwaffen und Flugzeugträgern, die er befehligt, sondern ausgerechnet der „engen Partnerschaft“ mit der Regierung Deutschlands, das sich herausgefordert und ermächtigt sieht, „mehr politische Verantwortung zu übernehmen“ in den laufenden weltpolitischen Gewaltaffären; das also mehr sein will als bloß die unbestrittene ökonomische Führungsmacht der Europäischen Union. Tatsächlich sorgt das politische Krisenmanagement Hollandes im Duo mit Merkel, mit dem Frankreich die von ihm beanspruchte imperialistische Regelungskompetenz zurückgewinnen will, für die Durchsetzung der deutschen Linie in der Ukraine-Russland-Politik als Generallinie der Europäischen Union und macht damit – wie schon in Sachen ökonomische Krisenpolitik – aus den deutschen Vorgaben so etwas wie eine allgemeine sicherheitspolitische Notwendigkeit für die Gemeinschaft, der sich kein Mitglied entziehen darf. Das ist nicht wenig, da dieser Verein außenpolitischer Souveräne gerade in der Frage von Konfrontation oder Partnerschaft mit Russland durch und durch gegensätzliche Interessen in sich vereint, die ein veritables Sprengpotential für die Union darstellen. Großbritannien, Polen und die baltischen Staaten sind längst auf dem Sprung, an der Seite der USA daran mitzuwirken, Russland in einen Abnutzungskrieg gegen eine NATO-gesponserte und modernisierte ukrainische Armee zu verwickeln. Auf der anderen Seite sehen Mitgliedsländer vor allem im Süden und Osten, die aus Russland ihre ganze Energieversorgung beziehen, nicht ein, warum sich die EU überhaupt mit dem großen und nützlichen Partner verfeindet, verstehen nicht, was an der Ukraine so wichtig und attraktiv sein soll, dass man ihretwegen die Kooperation mit Russland in die Brüche gehen lässt; ganz abgesehen davon, dass sie die wirtschaftlichen Schäden der Sanktionspolitik, je länger sie anhält, desto weniger aushalten können. Mit dem Verweis auf die zerstörerischen Folgen nationaler Alleingänge für die EU als europäische Macht verpflichtet das Duo Merkel/Hollande die Partner darauf, ihre nationalen Anliegen der Selbstbehauptung der EU unterzuordnen: Jetzt müssen die einen weiterhin die Sanktionen mittragen, damit die anderen nicht den Krieg ausweiten; und diese anderen müssen sich vorerst mit dem erreichten Zugewinn und der erreichten Zurückdrängung russischen Einflusses zufriedengeben, damit es keine Ausnahmen und Aufweichungen der Sanktionen gibt, die Russland ja ziemlich treffen. Auf diese Tour halten Frankreich und Deutschland die Sanktionsfront einstweilen gegen alle Widerstände zusammen.

Insofern sorgt die Wiederauferstehung der ‚deutsch-französischen Achse‘, auch und gerade in den Fragen von Krieg und Frieden, glatt für eine – ansonsten dauernd vermisste – ‚Handlungsfähigkeit‘ der EU. Deutschland und Frankreich entscheiden stellvertretend für die ganze Gemeinschaft, welche politisch-strategische Ausrichtung gilt, setzen diese ihre Entscheidungen selber in Taten um und vereinnahmen den Rest des Clubs dafür.

[1] So wird einem krisengeplagten Herzstück französischer Energie-und Militärpolitik, dem Atomkonzern Areva, der sich mehrheitlich in Staatsbesitz befindet, klargemacht, dass staatliche Finanzspritzen nicht vorgesehen sind. Worauf der sich zu Massenentlassungen entschließt und den Verkauf von Uranminen ins Auge fasst.

[2] Aus dem aktuellen Parteiprogramm: „Notre Projet, Programme Politique du Front National“, S. 3 (im Folgenden NP )

[3] Die weiteren wirtschaftspolitischen Programmpunkte – wenn man sie so nennen will – des FN: „Protektionismus“ und „Staatskredit“, beides mit dem Ziel der „Reindustrialisierung“ Frankreichs, bringen in der Sache nichts wirklich Anderes: Die mangelnde Akkumulation des Kapitals der Nation, die die finanzielle Macht der Regierung wirklich beschränkt, wird nicht überwunden, wenn der Staat nationale Unternehmen gegen auswärtige Konkurrenten in Schutz nimmt; verbessert wird die Lage der Nation nur, wenn das abgeschirmte Kapital seine Ausbeutungsleistungen auf Weltniveau bringt; sonst „protegiert“ der Staat nur den Konkurrenznachteil. Und was die vom FN reklamierte Freiheit des Staats betrifft, beim Schuldenmachen auf keine Maastricht-Kriterien und keinen Fiskalpakt Rücksicht nehmen zu müssen: Vermehrte Staatsschuld senkt den Wert des nationalen Kredits – nur dann nicht, wenn das Kapital damit eine effektivere Ausbeutung der nationalen Arbeit hinkriegt und sich damit auch auf dem Weltmarkt durchzusetzen vermag.

[4] Wie die französische Presse ausführlich berichtete, wurde die französische Regierung vor allem von den USA, England und Deutschland massiv unter Druck gesetzt, den bereits fertig gestellten Hubschrauberträger nicht wie vereinbart auszuliefern, sondern die Sanktionsfront gerade auf dem Sektor der Waffen zu stärken. Nationale Eigeninteressen müssten jetzt zurückstehen, wo es darum ginge, Russland zu bestrafen. Ab Mitte Oktober vorigen Jahres beugte sich Hollande den Pressionen, stornierte die Lieferung, ohne allerdings den Vertrag zu kündigen, um auf Basis der nun einheitlichen europäischen Sanktionslinie zusammen mit der bisherigen Protagonistin der Ukraine-Diplomatie, Kanzlerin Merkel, die Federführung im „Minsker Friedensprozess“ zu übernehmen.

[5] Zur europäischen Politik der friedlichen Eroberung und ihrer Entzauberung am Fall der Ukraine gibt es den Artikel Wem gehört die Ukraine in GegenStandpunkt 1-14. Zum selben Thema ferner: Herausforderung und Haltbarkeitstest für das NATO-Kriegsbündnis, in der Nr. 1-15.