Finnland
Ein europäisches Musterland wird zum eurokritischen Krisenfall

Das einzige skandinavische Euro-Land kämpft seit vier Jahren damit, dass seine Ökonomie nicht mehr wächst und beträchtliche Teile der nationalen Arbeitskraft nicht mehr beschäftigt werden. Vor gut zehn Jahren vom „World Economic Forum“ mehrfach zum Weltmeister in Sachen Wettbewerbsfähigkeit gekürt, wird Finnland mit seinem Wachstum inzwischen als „Schlusslicht in der EU“ noch hinter Griechenland verbucht. Der finnische Finanzminister selbst erklärt sein Land zum „kranken Mann Europas“, und in Anbetracht der Lage ist auch der nationale Konsens dahin, wonach der bisher verfolgte Kurs als Musterland der Eurozone der Erfolgsweg für Finnland sei.

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Finnland
Ein europäisches Musterland wird zum eurokritischen Krisenfall

Das einzige skandinavische Euro-Land kämpft seit vier Jahren damit, dass seine Ökonomie nicht mehr wächst und beträchtliche Teile der nationalen Arbeitskraft nicht mehr beschäftigt werden. Vor gut zehn Jahren vom „World Economic Forum“ mehrfach zum Weltmeister in Sachen Wettbewerbsfähigkeit gekürt, wird Finnland mit seinem Wachstum inzwischen als Schlusslicht in der EU noch hinter Griechenland verbucht. Der finnische Finanzminister selbst erklärt sein Land zum kranken Mann Europas, und in Anbetracht der Lage ist auch der nationale Konsens dahin, wonach der bisher verfolgte Kurs als Musterland der Eurozone der Erfolgsweg für Finnland sei. Mit der Partei „Die Finnen“ (früher: die „Wahren Finnen“) ist eine Truppe zu einer bestimmenden innenpolitischen, seit April 2015 mit ihrem Vorsitzenden Timo Soini als Außenminister auch in der Regierung vertretenen Kraft geworden, für die das nationale Interesse keineswegs mehr automatisch in der EU-Mitgliedschaft aufgehoben ist. Sie sieht im Gegenteil in diversen europäischen Errungenschaften Hindernisse für den nationalen Erfolg, gegen die sie sich entsprechend kritisch stellt. Anhänger der Finnen-Partei und andere nationalbewusste Finnen haben per Unterschriftensammlung gar eine Parlamentsdebatte über den Austritt aus der Eurozone erzwungen.

Den Absturz des Euro-Musterschülers Finnland, der sich doch als Champion der Strukturreform (Financial Times) lange Zeit so wohltuend und vorbildlich abhob von den südlichen Krisenländern mit ihrer selbstverschuldeten Misswirtschaft, erklären Wirtschaftsjournalisten gerne mit einem asymmetrischen Schock aufgrund finnischer Besonderheiten. Freilich sind es dieselben Besonderheiten – das Gewicht des Nokia-Konzerns und der Papierindustrie sowie des Russlandhandels für die finnische Wirtschaft –, die vor zehn Jahren noch als Erklärung für den eindrucksvollen Konkurrenzerfolg Finnlands galten. Damals bestätigten sie eben auf überzeugende Weise die propagierte Geschäftsgrundlage der Europäischen Währungsunion, dass alle ihre Mitglieder mittels des gemeinsamen Geldes mit ihren nationalen Standorten zwar schon gegeneinander, aber im Endeffekt stets zum gemeinschaftlichen Vorteil konkurrieren. Heute dürfen sie als Grund für die destruktiven Wirkungen herhalten, die Europas Krise einem auch noch so vorbildlich integrierten Unionsmitglied zweiter Garnitur beschert.

1. Finnlands europäischer Erfolgsweg: Nationale Errungenschaft des finnischen Volkscharakters

Dass Finnland alles richtig gemacht, sich deshalb aus eigener Kraft und ohne zweifelhafte politische Konzessionen, was die Einhaltung der Beitrittskriterien betrifft, für die Mitgliedschaft in der Eurozone qualifiziert hat, war bislang nicht nur Kernbestandteil der finnischen Staatsräson, sondern gehörte nachgerade zum nationalen Selbstverständnis: Schon vor dem EU-Beitritt hatte man sich den Ruf eines Japan des Nordens erworben.

Der war zwar ziemlich übertrieben. Dennoch: Aus der geografisch abgelegenen, im buchstäblichen Sinne waldursprünglichen, auf der Bewirtschaftung der primären Ressource Holz gründenden und ansonsten für den lokalen Bedarf produzierenden finnischen Industriebasis war dank staatlicher Subventionen und Kredite in den 1980er Jahren ein Industriestandort ganz anderen Zuschnitts geworden. Die finnische Wirtschaftspolitik entzog allem, was an Landwirtschaft und Kleinindustrie dem lokalen Bedarf diente, den staatlichen Schutz vor ausländischer Konkurrenz und verpflichtete das nationale Kapital durch Deregulierung im Innern und Marktöffnung über bilaterale Freihandelsabkommen darauf, sich konsequent auf die Konkurrenzbedingungen des europäischen Binnenmarkts einzustellen. Darüber betrieben die großen Unternehmen ihre Akkumulation auf ganz neuer Stufenleiter und rüsteten sich für den praktischen Test auf ihre Weltmarktfähigkeit auf: Firmen mit direkter und indirekter, über staatliche Banken gehaltener Staatsbeteiligung in der Industrie wurden per Fusion zu konkurrenzfähigen Kapitalgrößen zusammengeschmiedet und derart zurechtgemacht für eine Privatisierung. Die Kontrolle durch beherrschende Kapitalbeteiligungen behielt sich der Staat für die Schlüsselbranchen vor, deren Geschäft grundlegende nationale Standortbedingungen sind, also für Verkehrs- (Finnair) und vor allem Energieunternehmen (Fortum, Neste Oil). Zugleich liberalisierte Finnland wie die skandinavischen Nachbarn sein Bankwesen und öffnete seinen Kapitalmarkt uneingeschränkt dem internationalen Finanzkapital.

Damit konnte das finnische Kapital sich für seine weitere Expansion aus der Beschränktheit des nationalen Kreditmarktes lösen und sich zinsgünstig auf dem internationalen Kapitalmarkt verschulden, was es dann auch tat: Die umfassende Finanzmarkt-Liberalisierung schlug sich in einer heftigen Kreditausweitung mit jeder Menge auswärtiger (Fremdwährungs-)Verschuldung nieder. Als dann mit dem Ende des Haupthandelspartners Sowjetunion und der Bankenkrise im Nachbarland Schweden die Geschäfte weit hinter dem zurückblieben, was per Kredit antizipiert worden war, ein großes Stück Kapitalwachstum sich mithin als Überakkumulation erwies, sorgte die daraus resultierende Krise für die Schrumpfung der Ökonomie um fast 10 Prozent. Das finnische Bankenkapital wurde weitgehend annulliert, und auch seine Rekapitalisierung mit Staatsmitteln hat nicht verhindern können, dass es größtenteils in der skandinavischen Großbank Nordea aufging. Eine ganze Reihe großer Konglomerate sah sich gezwungen, per Zerlegung wie Fusion neue Verwertungsgrundlagen zu schaffen, andere mittlere und größere Kapitale gerieten an den Rand der oder in die Pleite und ein Fünftel der arbeitenden Finnen verlor seinen Job. Verallgemeinert wurde die Entwertung des finnischen Kapitals in all seinen Formen schließlich durch die Abwertung der Finnmark und damit auch der nationalen Kaufkraft um gut ein Drittel gegenüber ihrem bisherigen Kurs im Europäischen Währungssystem.

Was sich in der Krise als durch den finnischen Sozialstaat notdürftig verwaltete Massenarbeitslosigkeit und Verarmung großer Teile der Bevölkerung geltend machte, wurde nach dem Beitritt zur EU 1995 zu einer weiteren Glanzleistung des Finnentums und seines Nationalmythos verklärt: Allein durch Genügsamkeit, Selbstbeschränkung, Disziplin, Erfindungsreichtum und Unternehmergeist, in einem Wort: durch sisu, jene schon in Kriegs- und sonstigen besonderen Härtezeiten bewährte wichtigste nationale Charaktereigenschaft, hat sich das finnische Volk aus ihm von außen auferlegten widrigsten Bedingungen heraus zu einer der erfolgreichsten Nationen der EU emporgearbeitet.

Für die EU war der finnische Beitritt zum einen eine willkommene Erweiterung ihres imperialistischen Ausgreifens nach Osten – schließlich hatte das Land noch bis 1989 unter politischen Sondervorbehalten der Sowjetunion gestanden. Zum anderen konnte es fest als „Nettozahler“ verbucht werden, nachdem die EU jegliche Sonderwünsche Finnlands in Sachen Subventionen für seine Landwirtschaft und seine zurückgebliebenen Randgebiete abgeschmettert und auf uneingeschränkter Übernahme des EU-„Acquis“ bestanden hatte.[1] Im finnischen nationalen Selbstverständnis, wie es seit dem Beitritt gepflegt wird, wird dies zur nationalen Großtat überhöht, derzufolge das Land seine „Euro-Reife“, die für den Euro qualifizierende strikte Einhaltung der Maastricht-Kriterien, durch seine nationalen Leistungen der Krisenbewältigung selbst erarbeitet, sich für den Euro stark gemacht hat, statt wie andere Länder vom Euro die Überwindung der eigenen Schwäche zu erwarten. Sein Erfolgsweg als Euroland ist nicht dem Kredit anderer geschuldet, es steht selbst mit seinem Kredit für die Härte der europäischen Weltwährung und versteht sich so als EU-Musterland.

Durch die Mitgliedschaft in der Eurozone verschaffte sich der finnische Staat neue Freiheiten beim Zugriff auf Kredit und dem Wachstum seiner Unternehmen neue Märkte und eine erweiterte Kapitalbasis in einer anerkannten Weltwährung. Finnische Großkonzerne wurden auf ihrem Feld zu Weltmarktführern. Die Papierkonzerne Stora-Enso und UPM, selbst Endprodukte eines radikalen Zentralisierungsprozesses des in der finnischen Forst- und Papierindustrie investierten Kapitals, rollten den europäischen Markt auf, übernahmen die meisten großen Papierhersteller in der EU und rückten unter die Top 5 der Welt auf. Auch die Hersteller von Forstwirtschafts- und Papiermaschinen setzten sich auf dem EU-Markt durch. Das ehemalige Gemischtwarenunternehmen Nokia schließlich konzentrierte sich auf Handys und wurde damit zum Weltmarktführer, auf den allein über 4 Prozent des heimischen Bruttoinlandsprodukts entfielen. Umgekehrt wurden finnische Industrieunternehmen, wie z.B. der Schiffbau, zum profitablen Übernahmeziel für auswärtiges Kapital.

Die finnisch-russischen Handels- und Investitionsbeziehungen, schon in den 1970er und 80er Jahren wichtigste Grundlage für den Aufbau der Industrie, blieben derweil eine sichere Bank für die Geschäfte des finnischen Kapitals. Für die Papierfabriken war Russland nicht nur günstige Bezugsquelle von Holz, sondern auch stabiler Absatzmarkt. Industrie und Schiffbau lieferten ihre Spezialmaschinen und -schiffe an den allmählich wieder zahlungskräftiger werdenden Nachbarn. Die erfolgreich auf wettbewerbs- und damit exportfähige Produkte, hauptsächlich Milchwirtschaft, umgestellte Landwirtschaft fand im russischen Markt eine sichere Absatzsphäre. Mit der EU-Mitgliedschaft im Rücken gedachte Finnland, diese vielversprechend ausbaufähigen Wirtschaftsbeziehungen als besonderen eigenen Trumpf in die EU einzubringen, mit dem man sich als Brücke zu Russland anbieten und so sein eigenes Gewicht im europäischen Club und sein Interesse an der Inanspruchnahme von dessen imperialistischem Ausgreifen nach Osten für seine eigenen Geschäfte befördern wollte.

Für Finnland waren die „goldenen Jahre“ bis 2008 die selbstverdiente Krönung des Wegs der Integration in den europäischen Markt.

2. Die erhofften politischen Früchte bleiben aus

Diese ökonomische Erfolgsbilanz sollte auch die Grundlage abgeben für neue politische Ambitionen, deren Verwirklichung sich Finnlands Regierungen von der EU- und Eurozonen-Mitgliedschaft erwarteten, allem voran die Emanzipation vom minderen Status als kapitalistisches Peripherieland von sowjetischen Gnaden: Vom Namenspaten für das NATO-Schimpfwort der „Finnlandisierung“, das gegen alle Bestrebungen gerichtet war, sich mit dem Erzfeind Sowjetunion zu arrangieren, wollte man aufsteigen zum Mitmacher an allen Tischen der EU.[2] Durch die Mitgliedschaft im Euroverbund gedachte man in die Rolle eines in seiner Bedeutung für die Region anerkannten Staates hineinzuwachsen, der als Nettozahler zum EU-Haushalt und – mit dem AAA-Rating seines Staatskredits – Mitgarant der gemeinsamen Währung bei der Gestaltung der europäischen Politik seinen Einfluss geltend macht und endlich in einer neuen Gewichtsklasse[3] antritt.

Im vereinten Europa allerdings, so musste das Land erfahren, gelten andere Maßstäbe imperialistischer Schlagkraft – und erst recht andere Erfolgskriterien. Mit seinem EU-Beitritt 1995 hatte Finnland sein Konzept der „Nördlichen Dimension der EU“ eingebracht. Der finnische Anspruch, eine Art wirtschaftlicher Vormacht im europäischen Nordosten mit Sonderbeziehungen zu Russland zu werden, sollte damit die politisch-institutionelle und nicht zuletzt finanzielle Untermauerung durch die EU erhalten.[4] Die von der „Nördlichen Dimension“ erhoffte Regionalentwicklung und Belebung des Russlandgeschäfts, so die nationale Berechnung, würde endlich auch Land und Leuten in der vernachlässigten nordöstlichen Grenzregion den Segen kapitalistischen Wachstums zuteil werden lassen. Und den drei baltischen Staaten bot man sich zugleich als Betreuer und die „Nördliche Dimension“ als Vehikel für ihr Zurechtkommen in der EU an. Finnland definierte sich so als Subjekt des EU-Erweiterungsprozesses in seiner Region. Dafür sollte sich der neugewonnene Status als EU-Mitglied kraft eigener Potenz, also von besonderer Nützlichkeit für die Union, auszahlen.

Zwar konnte die finnische Regierung während ihrer ersten EU-Ratspräsidentschaft 1999 den gewünschten Beschluss des Europäischen Rats herbeiführen, Folgen hatte er allerdings nicht. Finnlands Bewährung als Euro-Musterland übersetzte sich eben keineswegs in das politische Gewicht, mit dem sich der ökonomische Erfolg der Nation weiter hätte ausbauen lassen. Das Konzept der Nördlichen Dimension der EU, das ihrem Betreiben die EU-offizielle Anerkennung verschaffen sollte, hat die EU selbst in die Hand genommen und als Werkzeug minderer Nützlichkeit im Instrumentenkasten ihres imperialistischen Aufbaus gegen Russland verstaut. Wie schon die Norderweiterung 1995 per Erledigung der Rest-EFTA ist auch die Erschließung des Ostens ihr Projekt, und Finnland hat darin genau den beschränkten Platz, der ihm als kleinem Land am Rande der EU und an der Grenze zu Russland zukommt. Finnlands Propaganda für die „Nördliche Dimension“ als Mittel seiner Durchsetzung in der EU hatte daher noch nicht einmal während seiner jeweiligen sechsmonatigen EU-Ratspräsidentschaft (1999 und 2006) greifbare Resultate.[5]

Was das Wachstum seiner Geschäfte mit Russland betraf, immer noch einer der größten Posten der finnischen auswärtigen Handels- und Kapitalbilanz, war die EU keineswegs wie gewünscht zu instrumentalisieren. Zwar ließ sie sich gegen Russlands Versuch, durch hohe Ausfuhrzölle auf seine Holzexporte – die vor allem an die finnische Papierindustrie gingen – den Ausbau der eigenen Papierindustrie zu befördern, handelspolitisch in Stellung bringen: Auf finnische Intervention hin zwang sie Russland durch die Drohung, die laufenden Beitrittsverhandlungen zur WTO zu blockieren, diesen Versuch aufzugeben. Im übrigen aber erfuhr Finnland, dass sein so wichtiges Russlandgeschäft für die EU nicht etwa als wichtiger Beitrag zu deren Erschließungs-, d.h. Vereinnahmungsprogramm von Russlands Markt und Ressourcen zählte, sondern als eine ziemlich periphere Geschäftsabteilung – die in der EU-„Russlandstrategie“ auch so behandelt, nämlich weitgehend ignoriert wurde.

Mit seinem freundschaftlichen Führungsanspruch gegenüber seinen baltischen Nachbarn kam Finnland gleichfalls nicht weit. Die finanzielle Unterstützung für Infrastrukturprojekte, die ihn hätten materiell untermauern können – ein Ostseetunnel zwischen Helsinki und dem estnischen Tallinn, ein finnischer Flüssiggas-Terminal zur Versorgung des Baltikums –, wurde von der EU verweigert, die Flüssiggas-Infrastruktur hat sich Finnland stattdessen mit Estland zu teilen. Und die baltischen Staaten wollten mit dem finnischen Angebot, sie als ihr Pate mit entsprechendem politischem und wirtschaftlichem Einfluss auf ihrem Weg in die EU zu unterstützen, nichts zu tun haben. Diese Staaten gehorchten ganz ihrem eigenen Gründungsmythos, avancierten durch härteste Anpassung an den ‚Aquis‘ zu wettbewerbs- und Euro-fähigen EU-Mitgliedern und konnten im Unterschied zu Finnland gar nicht schnell genug – noch vor dem EU-Beitritt – NATO-Mitglieder werden, weil sie nicht das geringste Interesse hatten, „Brücke zu Russland“ zu spielen, vielmehr ihre Staatsräson gerade auf bedingungslose Russlandfeindschaft gründeten.[6]

Finnlands eigener NATO-Beitritt, seit dem Ende der politischen Sonderbeziehungen zur Sowjetunion immer mal wieder zur Debatte gestellt, wurde mit der Ukraine-Krise und der folgenden Aufrüstung des Baltikums zum NATO-Vorposten gegen Russland wieder zu einem größeren innenpolitischen Streitthema. An diesem innerfinnischen Streit zeigt sich vor allem eines: Subjekt seiner Lage ist Finnland auch sicherheitspolitisch nicht, bestimmt wird diese Lage von den Entscheidungen anderer. Den Debatten in Schweden, ob eine formelle NATO-Mitgliedschaft der bisherigen informellen Kooperation mit dem Militärbündnis vorzuziehen sei, wird in Finnland die Bedrohung entnommen, dass das Land dann womöglich als einziges Nicht-NATO-Land in der Region in die sicherheitspolitische Isolierung geraten könnte. Und angesichts des Aufbaus der baltischen Staaten zu neuen Aufmarschgebieten der NATO gegen Russland wird sorgenvoll um die Frage gestritten, ob die implizite Sicherheitsgarantie durch die EU ausreicht oder ob eine förmliche Eingliederung in die militärische Front gegen Russland Vorteile bringt, die die daraus zu erwartende Schädigung der guten finnisch-russischen Wirtschaftsbeziehungen aufwiegen. Die Abwägung der letzteren Frage ist durch die EU-Sanktionen gegen Moskau erst recht aktuell geworden, wurde mit denen doch den finnischen politischen Berechnungen, wenigstens mit seinen engen Wirtschaftsbeziehungen zu Russland in der EU punkten zu können, vollends der Boden entzogen. Stattdessen sieht man sich wieder in die Position des kleinen Landes an der Peripherie des EU-Machtbereichs zurückgeworfen; statt als „Brückenland“ zum Agenten und Profiteur einer engeren Anbindung Russlands an die EU zu avancieren, ist Finnland zum unfreiwilligen Frontstaat geworden, seinerseits vereinnahmt für und subsumiert unter das imperialistische Aufbruchsprojekt der EU.

3. Vom selbsterarbeiteten Boom in die fremdverschuldete Krise: Das Kapital erfindet sich neu, der Standort rutscht ab, die europäische Staatsräson verfällt

Die aktuelle Krise der Eurozone, die Finnland inzwischen ans Ende der EU-Wachstumsstatistik hat rutschen lassen, hat den finnischen „Mythos“ vom nationalen Erfolg aus eigener Kraft in und mit Europa nachhaltig erschüttert.

Nicht eine von der Finanzkrise ausgelöste nationale Bankenkrise wie 1991 [7] hat den Kapitalstandort Finnland zum europäischen Krisenfall werden lassen, sondern gerade das ‚Erfolgsrezept‘ des finnischen Kapitals. Dessen erfolgreiche Zentralisation, seine Konzentration auf die Felder größter Wettbewerbsfähigkeit, durch die Finnland mit Handys, Papierprodukten, Spezialmaschinen und -schiffen vom regionalen Gemischtwarenproduzenten zum Global Player auf den Weltmärkten aufstieg, hat eine Vereinseitigung der Sphären finnischer Kapitalakkumulation hervorgebracht, die einen abrupten Nachfrageausfall in diesen Geschäftsabteilungen zu einem Großschaden für die gesamte Wirtschaft werden lässt. So treffen ein paar Veränderungen in den Konkurrenzverhältnissen auf den Märkten der finnischen Kernindustrien den Standort Finnland ins Mark: Die schrumpfende Nachfrage nach Zeitungs-, Zeitschriften- und Papier für Werbedrucksachen aufgrund der Abwanderung großer Teile des Anzeigengeschäfts ins Internet macht beträchtliche Teile des Kapitals der finnischen Forst- und Papierindustrie samt dazugehörigem Maschinenbau obsolet, die dort tätigen Arbeitskräfte selbstverständlich auch; und das Handygeschäft des Weltmarktführers Nokia bricht durch die Konkurrenz der Smartphones ab 2010 innerhalb von zwei Jahren komplett zusammen.

Die großen finnischen Kapitale selbst gehen mit dieser Krise kapitalistisch sachgerecht um. Ihre krisenbedingte Entwertung machen sie per Sphärenwechsel zur Grundlage neuer Akkumulation: Nokia setzt seine noch immer beträchtliche Kapitalmacht ein, um sich wieder einmal neu zu erfinden, wie begeisterte Wirtschaftsblätter vermelden. Das Handygeschäft wird 2013 noch halbwegs rechtzeitig für 5 Mrd. Euro an Microsoft verkauft; zwei Jahre später schreibt Microsoft den Kaufpreis auf Null ab, schließt die übernommenen finnischen Betriebe und entlässt ein paar tausend Leute. Nokias digitaler Kartendienst geht 2015 für 2,5 Mrd. Euro an deutsche Autokonzerne. Dafür kauft Nokia den Siemens-Anteil des gemeinsamen Geschäfts mit Telekommunikationsnetztechnik sowie den großen französisch-amerikanischen Branchen-Konkurrenten Alcatel-Lucent; und so wird aus dem früheren Handy-Weltmarktführer flugs der weltgrößte Anbieter von Netzwerkausrüstung für die Telekommunikation, der – versteht sich – mittels weiterer Einsparungen von 900 Mio Euro die chinesische Konkurrenz nicht nur durch die Größe, sondern mit der Profitabilität des angewandten Kapitals ausstechen will.

Auch die Papierindustrie will sich neu erfinden und entdeckt in Recycling und Biotreibstoffproduktion neue Geschäftsfelder, die künftige Milliardenumsätze versprechen. Auf dem Weg dahin werden diverse große Papierfabriken stillgelegt, seit Beginn der Krise über 10 000 Leute entlassen und ganzen finnischen Städten im ohnehin zurückgebliebenen Hinterland wird die bisherige wirtschaftliche Basis entzogen.

Der Staat selbst merkt an seinem Haushalt die drastischen Folgen dieser Manöver für Land und Leute und muss zu ihrer sozial- und standortpolitischen Bewältigung notgedrungen seinen Kredit einsetzen, was – nach den Überschüssen in den „goldenen Jahren“ bis 2008 – im Jahr 2015 zu einem Haushaltsdefizit von 3,3 Prozent und einer Verdoppelung der Staatsschulden seit 2008 auf über 60 Prozent des BIP führt und damit erstmals seit dem EU-Beitritt zur Verletzung der Maastricht-Kriterien. Das AAA-Rating gerät in Gefahr und Finnlands Reputation als Euro-Musterland ist beschädigt.

Finnlands Staatsräson, den nationalen Erfolg zu garantieren, indem man sich als vorbildliches EU- und Euro-Land bewährt, ist damit entschieden angegriffen. Nicht nur die eigenen politischen Berechnungen auf eine einträgliche Teilhabe am imperialistischen Programm der EU nach innen und außen sieht die Nation gescheitert, sondern auch deren Grundlage, ihren europäischen wirtschaftlichen Erfolgsweg. Diese Bilanz macht das Musterland zunehmend eurokritisch, das allerdings zunächst sehr musterlandgemäß.

4. Die politische Reaktion: Eurokritik im Namen des Konkurrenzprinzips der Eurozone

Zunächst hält man in Finnland fest am widersprüchlichen Ideal der Eurozone als dem nationalen Erfolgsrezept: Alle Euro-Staaten sollen ihre ganze Wirtschafts- und Finanzpolitik an dem Ziel ausrichten, sich aus eigener Kraft in der Konkurrenz der Euronationen kraft eigener Wettbewerbsfähigkeit gegen die anderen durchzusetzen. Zwar erfährt das Land gerade, was es in der Krise heißt, dem Euro-Club als peripherer Kleinstaat anzugehören, dessen dreieinhalb konkurrenzfähige Branchen zwar mit ihrem Geschäftserfolg vom EU-Binnenmarkt abhängen, von dem als Kapitalstandort umgekehrt aber gar nichts abhängt – im Unterschied zu einem imperialistischen Großstandort wie Deutschland, auf dessen Märkte und Kapitale sich alle anderen in ihrem Kampf um Konkurrenzerfolg beziehen und der dergestalt mit allen anderen in einem kapitalistisch produktiven Verhältnis steht, sie als seine Reichtumsquelle nutzt.

Für Finnland als Fanatiker des Wettbewerbs um nationalen Erfolg im Rahmen des Euroregimes ist allerdings etwas anderes nationale Gewissheit: Wenn die Teilnahme am – geforderten – Wettbewerb um Wettbewerbsfähigkeit das entscheidende Erfolgsrezept ist, wie man es ja selbst nach dem Beitritt bewiesen hat, der Erfolg des kompromisslosen Setzens auf die eigenen Stärken sich aber trotz eigener Anstrengungen und der entschlossenen Überwindung eigener ‚Strukturmängel‘ nicht einstellt, dann muss das daran liegen, dass die Wettbewerbsbedingungen verzerrt sind, andere sich nicht an die Regeln halten – nämlich die Euro-Staaten, die sich dem unabweisbaren Sachzwang dieses Wettbewerbs entziehen und aus der Eurozone etwas anderes machen wollen als eine Veranstaltung, in der souveräne Mitgliedstaaten mit gemeinsamem Geld gegeneinander um ihren nationalen Erfolg konkurrieren. Mit dieser Prinzipientreue gegenüber den Grundregeln der Konkurrenz in Europa wird Finnland zum Kritiker einer europäischen Krisenpolitik, die mittels immer neuer Kreditpakete Staatsbankrotte und das Scheitern von Staaten an der Eurozone partout nicht zulassen will, die – wie es Finnland sieht – Krisenländer subventioniert, die noch nie wirklich wettbewerbsfähig waren und sich auch nie angestrengt haben, es zu werden. Dafür darf der Euro nicht da sein und dafür will Finnland seinen eigenen Nationalkredit nicht strapaziert sehen. Man lässt sich für den eigenen Anteil an den Kreditgarantien der EU für Griechenland und Spanien von beiden Ländern nach zähem Gefeilsche eigens harte Sicherheiten einräumen und wird zum entschlossensten Verfechter der schärfsten Auflagen für die Krisenländer.

In doppelter Hinsicht sieht sich Finnland als schuldloses Opfer der Eurokrise: Einmal durch den krisenbedingten allgemeinen Nachfrageausfall auf seinen europäischen Märkten und zum anderen durch die notgedrungen mitgetragenen Kreditverpflichtungen zur Rettung der Zahlungsfähigkeit der Krisenländer. Das wird konsequenterweise dem geschäftsschädigenden Umgang der Krisenländer mit dem gemeinsamen Geld angelastet, und insoweit diesem Umgang durch die Eurozone nicht entschieden genug entgegengetreten wird, richtet sich die finnische Kritik gegen das Euro-Projekt insgesamt. Dazu reaktivieren Politiker aller Parteien entschlossen den „Sisu“-Mythos von 1991, die Beschwörung der nationalen Selbstbehauptung gegen eine feindliche internationale Umwelt:

„Bei uns klopfte (1991) der IWF an die Tür. Die Arbeitslosigkeit lag bei 18 %. Damals sagten wir uns ‚nie wieder!‘ und doch stecken wir jetzt hier in einer neuen Krise, an der andere schuld sind.“ (A. Stubb). „Wir haben unsere eigenen Banken aus der Pleite gerettet und jetzt, nach all der Lügerei, Unehrlichkeit und den Regelverstößen in Europa werden wir aufgefordert, deren Banken vor der Pleite zu retten. Das schlägt dem Fass den Boden aus.“ („Die Finnen“-Parteichef Timo Soini, The Telegraph, 19.8.12).

Überhaupt stellt sich den Verantwortlichen im Land die Frage, ob eine Eurozone, die den gemeinsamen Kredit, um dessen Solidität sich Finnland schließlich mit verdient gemacht hat, derart für den Erhalt von Verlierernationen aufs Spiel setzt, für Finnland nicht der falsche Club sei – Zeit jedenfalls für die Nation, sich gegen die verlogene EU auf sich selbst und ihre wahren Werte zurückzubesinnen. Radikalster Vertreter dieses Standpunkts ist die Partei „Die Finnen“, die „Arbeiterpartei ohne Sozialismus“, wie sie ihr Vorsitzender Timo Soini nennt. Immerhin 19 Prozent der Wähler hatten der bisherigen rechten Randpartei „Wahre Finnen“, die sich der „Anerkennung Finnlands als Nation und Kultur“, der Verteidigung der nationalen Identität verschrieben hat, schon 2011 den Aufstieg zur drittstärksten Partei verschafft. Seit den Wahlen vom April 2015 ist sie respektierte Regierungspartei, die mit Soini den Außen- und Europaminister stellt, in ihrer Eurokritik aber im Vergleich zu den anderen Regierungsparteien, Zentrum und Nationale Sammlungspartei, kein Alleinstellungsmerkmal besitzt: Für sie wie die anderen hat Schluss zu sein mit Kreditprogrammen für Südländer, zumal für das reformunwillige Griechenland; dem neuesten ESM-Kredit stimmt Finnland denn auch erst nach der Kapitulationserklärung von Tsipras gegenüber dem Reformdiktat der Eurozone noch einmal zu. Auch sonst gibt es für „Die Finnen“ wie für ihre Koalitionspartner an der EU jede Menge wettbewerbsbeschränkende Regelungen und Politiken zu entdecken, die Finnlands Kampf um seine Wettbewerbsfähigkeit erschweren, nicht zuletzt die Vorgaben zur Energie- und Klimapolitik.

Dass der eigene Staatskredit ausschließlich der Pflege des eigenen lädierten Standorts als Ort für rentable Kapitalinvestitionen zu dienen hat und nicht dem Erhalt der Eurozone, ist unstrittiger nationaler Konsens. Und wenn sich zu diesem Zweck auch noch russischer Kredit mobilisieren lässt, dann ist das gut und nicht schlecht. Gegen alle Energiewende-Beschlüsse andernorts treibt die staatseigene Energieindustrie konsequent den weiteren Ausbau der Stromerzeugung aus AKWs voran. Noch ist der Neubau in Olkiluoto nicht fertig, da wird bereits das nächste Kernkraftwerk in Angriff genommen, diesmal mit einer 40-Prozent-Kapitalbeteiligung des russischen Atomkonzerns Rosatom. Das passt zwar weder energie- noch außenpolitisch in die derzeitige EU-Linie und bringt Finnland den Vorwurf ein, russische Interessen vor die außenpolitischen Ziele der EU zu stellen (Financial Times, 16.7.15). Aber Minister Olli Rehn stellt klar: Der neue Reaktor bringt bedeutende Investitionen von sieben Milliarden Euro – in einem Land, in dem es derzeit nicht so viele Investitionen gibt (ebd.) –, ist also allemal kreditwürdig genug für die Mobilisierung derartiger Investitionssummen in den Standortfaktor ‚billiger Strom‘. Zwar soll das neue AKW nicht ausschließlich für den Stromexport produzieren, aber wenn es Überschüsse gebe, stünden die natürlich für den Export zur Verfügung – auch das ein Dokument souveränen Insistierens auf der Wettbewerbsfähigkeit des Standortes gegen die imperialistischen und Energiewende-Ambitionen der deutschen EU-Führungsmacht.

Durch die EU-Sanktionspolitik gegenüber dem Haupthandelspartner Russland sehen „Die Finnen“ ebenso wie die übrigen Regierungsparteien Finnland ohnehin seines wichtigsten geographischen Standortvorteils beraubt. Die Unterwerfung unter die EU-Bestrafungsaktion gegen Russland, von Merkel extra per Freundschaftsbesuch in Helsinki Ende März 2015 eingefordert, wird als kostspieliger zusätzlicher Beitrag zur Krisenverschärfung verbucht und allein deshalb vollzogen, weil ein isoliertes Ausscheren aus der EU-Front gegen Russland, also eine offensive Absage an den imperialistischen Ordnungsanspruch der EU-Führungsmächte, noch teurer käme.

Auch die jüngste Offensive Deutschlands, die den EU-Mitgliedern ein gemeinsames Quotensystem für die Aufnahme der Flüchtlinge und damit die Übernahme des deutschen Verständnisses der EU als globalisierter Ordnungsmacht aufnötigen will, ist für die finnische Regierung eine von außen oktroyierte Last, gegen deren Zumutung sie an ihrer eigenen Berechnung festhält: Einige Zehntausend werden aufgenommen (2015 waren es 30.000), aber dann ist Schluss und die Grenzen werden – wie die der skandinavischen Nachbarn – erstmal wieder kontrolliert und für Flüchtlinge weitgehend geschlossen. Die als nicht-asylberechtigt Identifizierten werden, dem schwedischen Vorbild folgend, abgeschoben. Da weiß sich die Regierung mit dem Rassismus des seine Reinheit verteidigenden Finnentums einig, dem die „Last“ der Flüchtlinge zunehmend als unerträglich gilt: Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte sind inzwischen so üblich wie in Deutschland, und auf die Flüchtlinge selber – nicht ihre Unterkünfte – passt eine wachsende Zahl faschistischer Bürgerwehren auf.

5. „Fixit“ oder nicht? Der nationale Weg aus der Krise wird gegen Europa definiert

Die EU ist kein Mittel des nationalen Erfolgs mehr, im Gegenteil: Nicht mehr, was Finnland in und mit der EU erreichen kann, ist Erfolgskriterium bei der Verfolgung des nationalen Interesses in Europa, sondern wie die von der EU bescherten Lasten abgewehrt, zumindest durch ein Besinnen auf die eigenen Kräfte bewältigt werden können. Das bestimmt die innenpolitischen Kontroversen: Austritt aus dem Euro, damit Finnland wie 1992 durch Abwertung seiner nationalen Währung wieder aus seiner Krise kommt – oder interne Abwertung durch massive Senkung der Kosten des Lebensunterhalts der Bevölkerung; also der Löhne und Sozialleistungen, heißen die Alternativen. In beiden Fällen geht der Weg aus der Krise über die rabiate Verarmung der Bevölkerung, gestritten wird darüber, ob sie von einem finnischen Souverän außerhalb oder innerhalb der Währungsunion vollzogen wird. Ob die Zugehörigkeit zur Währungsunion, der Verzicht auf die Souveränität über das eigene Geld, der größere Schaden für das Land ist als ein Ausstieg aus dem Euro, wird 2016 vom finnischen Parlament zu diskutieren sein; ein Volksbegehren für den Austritt aus dem Euro, den „Fixit“, das diese Debatte notwendig macht, hat im Herbst 2015 problemlos die nötigen 50 000 Unterschriften erreicht. Dass Schweden, ohnehin der ewige Maßstab, an dem sich Finnland misst, seit der Krise ohne Euro um über 8 Prozent gewachsen, Finnlands Wirtschaft dagegen mit dem Euro seit 2008 um 6 Prozent geschrumpft ist, sagt den Eurokritikern erst recht alles. Sie rechnen vor:

„Einer Studie des Euro-skeptischen Instituts EuroThinkTank zufolge würde eine Rückkehr zur eigenen Währung etwa 20 Milliarden Euro kosten, sich aber langfristig bezahlt machen.“ (Welt.de, 19.11.15)

Und der „Finnen“-Chef und Außenminister Timo Soini stellt fest, Finnland hätte nie dem Euro beitreten dürfen.

Dem hält der gegenwärtige Finanzminister Stubb entgegen:

„Abwertung ist wie Doping im Sport. Es verschafft dir vielleicht einen kurzen Schwung, aber langfristig bringt es nichts. Wie alle anderen auch brauchen wir Strukturreformen, Strukturanpassung, müssen wir unsere Wettbewerbsfähigkeit steigern.“ (New York Times, 21.7.15)

Und bevor das Volk sein Votum abgibt, handelt die Regierung schon einmal in diesem Sinne: Sie verordnet ihrem Land eine Rosskur (FAZ, 9.11.15). Für sie ist die jetzige Krise des Landes vor allem ein Hinweis darauf, dass es in den „goldenen Jahren“ zu wenig Strukturreformen betrieben und ein strukturelles Leistungsdefizit (Wirtschaftsminister Olli Rehn) zugelassen hat. Und Ministerpräsident Sipilä stellt in einer Art Blut-, Schweiß- und Tränen-Fernsehansprache am 15.9.15 klar:

„Wir waren vorne dran beim Erteilen guter Ratschläge an die Griechen. Jetzt sollten wir selbst unseren Ratschlägen folgen. Es darf nicht dazu kommen, dass andere über unsere Angelegenheiten entscheiden.“ [8]

Vielmehr muss sich Finnland nicht nur gegen die von der EU angesagten Lasten wehren, sondern sich in der EU und gegen seine Konkurrenten wieder entschlossen behaupten und durchsetzen. Und dafür sind, so Sipilä, nationale Opfer zu bringen.

Erstens muss der Staat billiger werden:

„Ich weiß, dass staatliche Ausgabenkürzungen viele Leute böse treffen werden. Wenn wir sie aber nicht machen, dann werden wir in wenigen Jahren noch viel schmerzlichere Entscheidungen treffen müssen.“

Dabei muss es natürlich gerecht zugehen, sprich: Alle sind dran:

„Diejenigen, die nicht arbeiten – Studenten, Rentner, Arbeitslose – tragen bereits ihre eigene Last aufgrund von Sparbeschlüssen. Diejenigen, die Arbeit haben, müssen zum Wohle der Arbeitslosen ihren eigenen Beitrag leisten.“

Zweitens muss die Arbeit billiger werden, um 15 Prozent und mit klarem Bezugspunkt:

„Wir reformieren den Arbeitsmarkt, denn nur so können wir auf den globalen Märkten wieder mithalten mit konkurrierenden Ländern wie Deutschland, Schweden, Dänemark.“

Der Sozialpakt, seit Jahrzehnten nicht nur das quasistaatliche Vehikel der Lohnfestsetzung, sondern auch die tragende Säule des finnischen Sozialstaates, lässt für die finnische Regierung gemessen am deutschen Vorbild schwer zu wünschen übrig:

„Ich musste während der Sozialpaktverhandlungen feststellen, dass Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen in Finnland sich zu weit voneinander entfernt haben. Nach meiner Erfahrung denkt der deutsche Arbeitgeber vor allem daran, wie auch in der Zukunft in Deutschland produziert werden kann, und zugleich einigen sich deutsche Arbeitnehmer aus eigenem Antrieb in schwierigen Situationen mit ihrem Arbeitgeber. Von diesem Geist brauchen wir mehr in Finnland.“

Und weil sich der deutsche Geist in Finnland nicht einstellt, störrische Gewerkschaftsorganisationen dem regierungsamtlichen Vorschlag eines neuen Sozialpakts nicht folgen wollen, wird das neue Armutsniveau im Land auf dem Verordnungsweg etabliert: Kürzungen bei den öffentlichen Gehältern, Verlängerung der Arbeitszeit durch Streichung von Urlaubs- und Feiertagen, Kürzung bezahlter Krankheitstage, Kürzung von Sonntagsarbeitszuschlägen, beim Arbeitslosengeld, der Kinderbetreuung u.a.m. Sehen die Finnen das ein?, fragt die Süddeutsche Zeitung besorgt angesichts von massenhaften Streiks und Demonstrationen in dem solcher Aktivitäten seit langem entwöhnten Finnland – und angesichts des Umstands, dass im Zusammenhang dieser Reformen die Zustimmungsraten zur Euro-Mitgliedschaft von 75 Prozent vor der Krise auf 54 Prozent Ende 2015 sinken. Aber vielleicht eröffnet der neueste Plan der Regierung neue Perspektiven: Bei ihrem Anliegen, den Sozialstaat billiger zu machen und gewerkschaftlichen Widerstand auszuhebeln, will die finnische Regierung, jeder kommunistischen Anwandlung unverdächtig, das Lieblingsinstrument fortschrittlicher Systemreformer in Stellung bringen – das bedingungslose Grundeinkommen. In einigen Testgemeinden soll eine begrenzte Zahl von 10 000 bis 20 000 Bürgern ab 2017 ein solches Einkommen in Höhe von 800 Euro erhalten. Erwartet wird, dass erstens der Staat jede Menge Geld damit spart, weil die 800 Euro an die Stelle der bisher gewährten Sozialleistungen treten, und dass zweitens so das wichtigste Machtinstrument der Gewerkschaften, die Verwaltung der Arbeitslosenversicherung, obsolet wird. Und was die entscheidende Frage aller bürgerlichen Skeptiker angeht – „Hören dann die Leute nicht einfach zu arbeiten auf?“ – sind sich die finnischen Experten des Gegenteils ziemlich sicher:

„Tatsächlich beabsichtigt die finnische Regierung mit dem Grundeinkommen gerade die derzeit auf einem 15-Jahres-Hoch liegende Arbeitslosigkeit von 9,5 Prozent zu verringern. Ihr Kalkül geht dem Bericht zufolge so: Mit einem Grundeinkommen würden Menschen eher bereit sein, eine schlechter bezahlte Arbeit anzunehmen. Momentan sei dies hingegen mit verringerten Sozialleistungen verbunden.“ (FAZ, 7.12.15)

Diese Idee zur fortschrittlichen Demolierung des Sozialstaats samt Sozialpakt und seine Ersetzung durch einen per ganz viel „Eigenverantwortung“ aufgefrischten Zwang zur Arbeit für jeden Lohn finden nach jüngsten Umfragen beinahe 70 Prozent der Finnen gut. (FAZ) [9]

Es wäre eine schöne Ironie, wenn der frühere Euro- und Pisa-Musterstaat und derzeitige „kranke Mann Europas“ mit einem solcherart wegreformierten Sozialstaat zum neuen europäischen Billiglohn-Musterland aufstiege. Tatsächlich stehen diese wie alle anderen derzeit in Finnland ventilierten Ideen zur Volksverbilligung – ob durch Sozialstaatsdemolierung oder „Fixit“ und Abwertung des dann wieder eigenen nationalen Geldes – und zur außenpolitischen Orientierung in der Konfrontation zwischen EU und Russland vor allem für eines: für die Ausweglosigkeit, vor die sich der finnische Staat angesichts der ökonomischen und politischen „Sachzwänge“ gestellt sieht, mit denen Merkels Europa ihn konfrontiert.

[1] Vgl. Die Erweiterung der EU. Eine neue Etappe im Kampf um ein deutsch dominiertes Europa, GegenStandpunkt 2-94

[2] Als die Fesseln des Kalten Krieges gelöst waren, war die EU-Mitgliedschaft für uns politisch wie wirtschaftlich geboten. Wenn man an den geografischen Rändern der EU lebt, besteht der einzige Weg, zur Mitte zu gehören, darin, in den Institutionen mitzuspielen. Wir haben frühzeitig beschlossen, dass der beste Weg der ist, auf allen Integrationsebenen einschließlich des Euro dabei zu sein. Ich denke, die Dinge haben sich recht gut entwickelt für Finnland. (der damalige Außenminister A. Stubb, www.euractiv.com, 24.2.14).

[3] Die Mitgliedschaft in der Eurozone als AAA-Land has helped us to play above our weight in European circles (Stubb, ebd.)

[4] Die Nördliche Dimension ist eine partnerschaftlich orientierte EU-Politik, deren wichtigstes politisches Ziel die Einbindung Russlands in die europäische Integration im Hinblick auf eine engere Kooperation mit der Europäischen Union darstellt. (Erkki Tuomioja, damaliger Außenminister, 121. Bergedorfer Gesprächskreis, Helsinki 2001, www.koerber-stiftung.de)

[5] Auch Russland konnte im Hinblick auf seinen an Finnland grenzenden Nordwesten dem Konzept und den finnischen regionalpolitischen Berechnungen etwas abgewinnen. Darüber aber, dass jedenfalls von Seiten der EU die „Nördliche Dimension“ allenfalls als strategisches Instrument zu Lasten Russland, nicht zur gegenseitig nützlichen Wirtschaftszusammenarbeit mit Russland betrachtet wurde, machte man sich dort keine Illusionen:

Erstens war es der Wunsch Finnlands ..., Investitionen für ihre nördlichen Randgebiete anzuziehen; denn mit dem Beitritt zur Europäischen Union war die Wettbewerbsfähigkeit besonders der finnischen Landwirtschaft zurückgegangen, was zu einer Abwanderung der ländlichen Bevölkerung in die Stadt und zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führte. Zweitens … war Finnland bestrebt, Investitionen in die nordwestlichen Gebiete Russlands, die an die EU angrenzen, zu ziehen, um diese Regionen zu stabilisieren und damit auch die Handelsbeziehungen zu aktivieren. Der dritte Grund war, dass Finnland seine Rolle in der internationalen Politik und damit auch innerhalb der Europäischen Union stärken wollte.Die russische Führung hat sich gegenüber Finnland im Allgemeinen zustimmend zu dieser Initiative geäußert, aber in einigen Punkten Kritik geübt... Es ist nicht zu übersehen, dass die Nördliche Dimension in vieler Hinsicht vor allem darauf abzielt, europäische Investitionen in die Länder des Baltikums zu ziehen, um deren Beitritt zur EU vorzubereiten, und erst an zweiter Stelle stehen Investitionen in den Nordwesten Russlands. Überhaupt habe sie bisher erst geringe Ergebnisse vorzuweisen … da keiner der großen EU-Staaten die Nördliche Dimension in seine Prioritätenliste aufgenommen hat, auch Deutschland nicht, obwohl es wichtige Interessen in der Ostseeregion hat. (Vatanyar Yagya, St. Petersburg, ebd.)

[6] Siehe GegenStandpunkt 4-15: Das Baltikum: Drei Kleinstaaten mit großem Auftritt.

[7] In der Finanzkrise von 2008 ff. melden die finnischen Banken (die ohnehin überwiegend in ausländischer, vor allem schwedischer – NORDEA – Hand sind) keinen staatlichen Sanierungsbedarf an, lassen mithin den Staatskredit unbeeinträchtigt.

[8] Government Communications Department, Prime Minister Juha Sipilä’s speech on the Finnish Broadcasting Company YLE on 16 September 2015.

[9] Gegen diese Volksmeinung möchte auch das „Neue Deutschland“ nicht so recht etwas sagen: „Es geht um die Vereinfachung des Sozialsystems, das Arbeitslosigkeit, Unterbringung, Ausbildung und Elterngeld umfasst – letztlich steckt darin auch das Motiv, die Staatsausgaben zu verringern. Das Grundeinkommen könnte bei rund 800 Euro im Monat liegen – das allerdings in Finnland, wo ein Haushalt monatlich rund 3 000 Euro ausgibt, eine Art Armengeld wäre. Die ursprünglich aus dem linken Lager stammende Idee des bedingungslosen Grundeinkommens wird im Grundsatz mittlerweile von einem breiten politischen Spektrum in Finnland unterstützt.“