Finnland
Ein europäisches Musterland wird zum eurokritischen Krisenfall
Das einzige skandinavische Euro-Land kämpft seit vier Jahren damit, dass seine Ökonomie nicht mehr wächst und beträchtliche Teile der nationalen Arbeitskraft nicht mehr beschäftigt werden. Vor gut zehn Jahren vom „World Economic Forum“ mehrfach zum Weltmeister in Sachen Wettbewerbsfähigkeit gekürt, wird Finnland mit seinem Wachstum inzwischen als „Schlusslicht in der EU“ noch hinter Griechenland verbucht. Der finnische Finanzminister selbst erklärt sein Land zum „kranken Mann Europas“, und in Anbetracht der Lage ist auch der nationale Konsens dahin, wonach der bisher verfolgte Kurs als Musterland der Eurozone der Erfolgsweg für Finnland sei.
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Systematischer Katalog
Gliederung
- 1. Finnlands europäischer Erfolgsweg: Nationale Errungenschaft des finnischen Volkscharakters
- 2. Die erhofften politischen Früchte bleiben aus
- 3. Vom selbsterarbeiteten Boom in die fremdverschuldete Krise: Das Kapital erfindet sich neu, der Standort rutscht ab, die europäische Staatsräson verfällt
- 4. Die politische Reaktion: Eurokritik im Namen des Konkurrenzprinzips der Eurozone
- 5. „Fixit“ oder nicht? Der nationale Weg aus der Krise wird gegen Europa definiert
Finnland
Ein europäisches Musterland wird zum
eurokritischen Krisenfall
Das einzige skandinavische Euro-Land kämpft seit vier
Jahren damit, dass seine Ökonomie nicht mehr wächst und
beträchtliche Teile der nationalen Arbeitskraft nicht
mehr beschäftigt werden. Vor gut zehn Jahren vom „World
Economic Forum“ mehrfach zum Weltmeister in Sachen
Wettbewerbsfähigkeit gekürt, wird Finnland mit seinem
Wachstum inzwischen als Schlusslicht in der EU
noch hinter Griechenland verbucht. Der finnische
Finanzminister selbst erklärt sein Land zum kranken
Mann Europas
, und in Anbetracht der Lage ist auch der
nationale Konsens dahin, wonach der bisher verfolgte Kurs
als Musterland der Eurozone der Erfolgsweg für
Finnland sei. Mit der Partei „Die Finnen“ (früher: die
„Wahren Finnen“) ist eine Truppe zu einer bestimmenden
innenpolitischen, seit April 2015 mit ihrem Vorsitzenden
Timo Soini als Außenminister auch in der Regierung
vertretenen Kraft geworden, für die das nationale
Interesse keineswegs mehr automatisch in der
EU-Mitgliedschaft aufgehoben ist. Sie sieht im Gegenteil
in diversen europäischen Errungenschaften
Hindernisse für den nationalen Erfolg, gegen die sie sich
entsprechend kritisch stellt. Anhänger der Finnen-Partei
und andere nationalbewusste Finnen haben per
Unterschriftensammlung gar eine Parlamentsdebatte über
den Austritt aus der Eurozone erzwungen.
Den Absturz des Euro-Musterschülers Finnland, der sich
doch als Champion der Strukturreform
(Financial Times) lange Zeit so wohltuend
und vorbildlich abhob von den südlichen Krisenländern mit
ihrer selbstverschuldeten Misswirtschaft
, erklären
Wirtschaftsjournalisten gerne mit einem asymmetrischen
Schock
aufgrund finnischer Besonderheiten
.
Freilich sind es dieselben Besonderheiten
– das
Gewicht des Nokia-Konzerns und der Papierindustrie sowie
des Russlandhandels für die finnische Wirtschaft –,
die vor zehn Jahren noch als Erklärung für den
eindrucksvollen Konkurrenzerfolg Finnlands
galten. Damals bestätigten sie eben auf überzeugende
Weise die propagierte Geschäftsgrundlage der Europäischen
Währungsunion, dass alle ihre Mitglieder mittels
des gemeinsamen Geldes mit ihren nationalen Standorten
zwar schon gegeneinander, aber im Endeffekt stets zum
gemeinschaftlichen Vorteil konkurrieren. Heute
dürfen sie als Grund für die destruktiven Wirkungen
herhalten, die Europas Krise einem auch noch so
vorbildlich integrierten Unionsmitglied zweiter Garnitur
beschert.
1. Finnlands europäischer Erfolgsweg: Nationale Errungenschaft des finnischen Volkscharakters
Dass Finnland alles richtig gemacht
, sich deshalb
aus eigener Kraft und ohne zweifelhafte politische
Konzessionen, was die Einhaltung der Beitrittskriterien
betrifft, für die Mitgliedschaft in der Eurozone
qualifiziert hat, war bislang nicht nur Kernbestandteil
der finnischen Staatsräson, sondern gehörte nachgerade
zum nationalen Selbstverständnis: Schon vor dem
EU-Beitritt hatte man sich den Ruf eines Japan des
Nordens
erworben.
Der war zwar ziemlich übertrieben. Dennoch: Aus der geografisch abgelegenen, im buchstäblichen Sinne waldursprünglichen, auf der Bewirtschaftung der primären Ressource Holz gründenden und ansonsten für den lokalen Bedarf produzierenden finnischen Industriebasis war dank staatlicher Subventionen und Kredite in den 1980er Jahren ein Industriestandort ganz anderen Zuschnitts geworden. Die finnische Wirtschaftspolitik entzog allem, was an Landwirtschaft und Kleinindustrie dem lokalen Bedarf diente, den staatlichen Schutz vor ausländischer Konkurrenz und verpflichtete das nationale Kapital durch Deregulierung im Innern und Marktöffnung über bilaterale Freihandelsabkommen darauf, sich konsequent auf die Konkurrenzbedingungen des europäischen Binnenmarkts einzustellen. Darüber betrieben die großen Unternehmen ihre Akkumulation auf ganz neuer Stufenleiter und rüsteten sich für den praktischen Test auf ihre Weltmarktfähigkeit auf: Firmen mit direkter und indirekter, über staatliche Banken gehaltener Staatsbeteiligung in der Industrie wurden per Fusion zu konkurrenzfähigen Kapitalgrößen zusammengeschmiedet und derart zurechtgemacht für eine Privatisierung. Die Kontrolle durch beherrschende Kapitalbeteiligungen behielt sich der Staat für die Schlüsselbranchen vor, deren Geschäft grundlegende nationale Standortbedingungen sind, also für Verkehrs- (Finnair) und vor allem Energieunternehmen (Fortum, Neste Oil). Zugleich liberalisierte Finnland wie die skandinavischen Nachbarn sein Bankwesen und öffnete seinen Kapitalmarkt uneingeschränkt dem internationalen Finanzkapital.
Damit konnte das finnische Kapital sich für seine weitere
Expansion aus der Beschränktheit des nationalen
Kreditmarktes lösen und sich zinsgünstig auf dem
internationalen Kapitalmarkt verschulden, was es dann
auch tat: Die umfassende
Finanzmarkt-Liberalisierung
schlug sich in einer
heftigen Kreditausweitung mit jeder Menge auswärtiger
(Fremdwährungs-)Verschuldung nieder. Als dann mit dem
Ende des Haupthandelspartners Sowjetunion und der
Bankenkrise im Nachbarland Schweden die Geschäfte weit
hinter dem zurückblieben, was per Kredit antizipiert
worden war, ein großes Stück Kapitalwachstum sich mithin
als Überakkumulation erwies, sorgte die daraus
resultierende Krise für die Schrumpfung der Ökonomie um
fast 10 Prozent. Das finnische Bankenkapital wurde
weitgehend annulliert, und auch seine Rekapitalisierung
mit Staatsmitteln hat nicht verhindern können, dass es
größtenteils in der skandinavischen Großbank Nordea
aufging. Eine ganze Reihe großer Konglomerate sah sich
gezwungen, per Zerlegung wie Fusion neue
Verwertungsgrundlagen zu schaffen, andere mittlere und
größere Kapitale gerieten an den Rand der oder in die
Pleite und ein Fünftel der arbeitenden Finnen verlor
seinen Job. Verallgemeinert wurde die Entwertung des
finnischen Kapitals in all seinen Formen schließlich
durch die Abwertung der Finnmark und damit auch der
nationalen Kaufkraft um gut ein Drittel gegenüber ihrem
bisherigen Kurs im Europäischen Währungssystem.
Was sich in der Krise als durch den finnischen
Sozialstaat notdürftig verwaltete Massenarbeitslosigkeit
und Verarmung großer Teile der Bevölkerung geltend
machte, wurde nach dem Beitritt zur EU 1995 zu einer
weiteren Glanzleistung des Finnentums und seines
Nationalmythos verklärt: Allein durch Genügsamkeit,
Selbstbeschränkung, Disziplin, Erfindungsreichtum und
Unternehmergeist, in einem Wort: durch sisu
, jene
schon in Kriegs- und sonstigen besonderen Härtezeiten
bewährte wichtigste nationale Charaktereigenschaft, hat
sich das finnische Volk aus ihm von außen auferlegten
widrigsten Bedingungen heraus zu einer der
erfolgreichsten Nationen der EU emporgearbeitet.
Für die EU war der finnische Beitritt zum einen eine willkommene Erweiterung ihres imperialistischen Ausgreifens nach Osten – schließlich hatte das Land noch bis 1989 unter politischen Sondervorbehalten der Sowjetunion gestanden. Zum anderen konnte es fest als „Nettozahler“ verbucht werden, nachdem die EU jegliche Sonderwünsche Finnlands in Sachen Subventionen für seine Landwirtschaft und seine zurückgebliebenen Randgebiete abgeschmettert und auf uneingeschränkter Übernahme des EU-„Acquis“ bestanden hatte.[1] Im finnischen nationalen Selbstverständnis, wie es seit dem Beitritt gepflegt wird, wird dies zur nationalen Großtat überhöht, derzufolge das Land seine „Euro-Reife“, die für den Euro qualifizierende strikte Einhaltung der Maastricht-Kriterien, durch seine nationalen Leistungen der Krisenbewältigung selbst erarbeitet, sich für den Euro stark gemacht hat, statt wie andere Länder vom Euro die Überwindung der eigenen Schwäche zu erwarten. Sein Erfolgsweg als Euroland ist nicht dem Kredit anderer geschuldet, es steht selbst mit seinem Kredit für die Härte der europäischen Weltwährung und versteht sich so als EU-Musterland.
Durch die Mitgliedschaft in der Eurozone verschaffte sich der finnische Staat neue Freiheiten beim Zugriff auf Kredit und dem Wachstum seiner Unternehmen neue Märkte und eine erweiterte Kapitalbasis in einer anerkannten Weltwährung. Finnische Großkonzerne wurden auf ihrem Feld zu Weltmarktführern. Die Papierkonzerne Stora-Enso und UPM, selbst Endprodukte eines radikalen Zentralisierungsprozesses des in der finnischen Forst- und Papierindustrie investierten Kapitals, rollten den europäischen Markt auf, übernahmen die meisten großen Papierhersteller in der EU und rückten unter die Top 5 der Welt auf. Auch die Hersteller von Forstwirtschafts- und Papiermaschinen setzten sich auf dem EU-Markt durch. Das ehemalige Gemischtwarenunternehmen Nokia schließlich konzentrierte sich auf Handys und wurde damit zum Weltmarktführer, auf den allein über 4 Prozent des heimischen Bruttoinlandsprodukts entfielen. Umgekehrt wurden finnische Industrieunternehmen, wie z.B. der Schiffbau, zum profitablen Übernahmeziel für auswärtiges Kapital.
Die finnisch-russischen Handels- und
Investitionsbeziehungen, schon in den 1970er und 80er
Jahren wichtigste Grundlage für den Aufbau der Industrie,
blieben derweil eine sichere Bank für die Geschäfte des
finnischen Kapitals. Für die Papierfabriken war Russland
nicht nur günstige Bezugsquelle von Holz, sondern auch
stabiler Absatzmarkt. Industrie und Schiffbau lieferten
ihre Spezialmaschinen und -schiffe an den allmählich
wieder zahlungskräftiger werdenden Nachbarn. Die
erfolgreich auf wettbewerbs- und damit exportfähige
Produkte, hauptsächlich Milchwirtschaft, umgestellte
Landwirtschaft fand im russischen Markt eine sichere
Absatzsphäre. Mit der EU-Mitgliedschaft im Rücken
gedachte Finnland, diese vielversprechend ausbaufähigen
Wirtschaftsbeziehungen als besonderen eigenen Trumpf in
die EU einzubringen, mit dem man sich als Brücke zu
Russland
anbieten und so sein eigenes Gewicht im
europäischen Club und sein Interesse an der
Inanspruchnahme von dessen imperialistischem Ausgreifen
nach Osten für seine eigenen Geschäfte befördern wollte.
Für Finnland waren die „goldenen Jahre“ bis 2008 die selbstverdiente Krönung des Wegs der Integration in den europäischen Markt.
2. Die erhofften politischen Früchte bleiben aus
Diese ökonomische Erfolgsbilanz sollte auch die Grundlage
abgeben für neue politische Ambitionen, deren
Verwirklichung sich Finnlands Regierungen von der EU- und
Eurozonen-Mitgliedschaft erwarteten, allem voran die
Emanzipation vom minderen Status als kapitalistisches
Peripherieland von sowjetischen Gnaden: Vom Namenspaten
für das NATO-Schimpfwort der „Finnlandisierung“, das
gegen alle Bestrebungen gerichtet war, sich mit dem
Erzfeind Sowjetunion zu arrangieren, wollte man
aufsteigen zum Mitmacher an allen Tischen der
EU
.[2]
Durch die Mitgliedschaft im Euroverbund gedachte man in
die Rolle eines in seiner Bedeutung für die Region
anerkannten Staates hineinzuwachsen, der als Nettozahler
zum EU-Haushalt und – mit dem AAA-Rating seines
Staatskredits – Mitgarant der gemeinsamen Währung bei der
Gestaltung der europäischen Politik seinen Einfluss
geltend macht und endlich in einer neuen
Gewichtsklasse
[3] antritt.
Im vereinten Europa allerdings, so musste das Land
erfahren, gelten andere Maßstäbe imperialistischer
Schlagkraft – und erst recht andere Erfolgskriterien. Mit
seinem EU-Beitritt 1995 hatte Finnland sein Konzept der
„Nördlichen Dimension der EU“ eingebracht. Der finnische
Anspruch, eine Art wirtschaftlicher Vormacht im
europäischen Nordosten mit Sonderbeziehungen zu Russland
zu werden, sollte damit die politisch-institutionelle und
nicht zuletzt finanzielle Untermauerung durch die EU
erhalten.[4]
Die von der „Nördlichen Dimension“ erhoffte
Regionalentwicklung und Belebung des Russlandgeschäfts,
so die nationale Berechnung, würde endlich auch Land und
Leuten in der vernachlässigten nordöstlichen Grenzregion
den Segen kapitalistischen Wachstums zuteil werden
lassen. Und den drei baltischen Staaten bot man sich
zugleich als Betreuer und die „Nördliche Dimension“ als
Vehikel für ihr Zurechtkommen in der EU an. Finnland
definierte sich so als Subjekt des
EU-Erweiterungsprozesses in seiner Region. Dafür sollte
sich der neugewonnene Status als EU-Mitglied kraft
eigener Potenz
, also von besonderer Nützlichkeit für
die Union, auszahlen.
Zwar konnte die finnische Regierung während ihrer ersten
EU-Ratspräsidentschaft 1999 den gewünschten Beschluss des
Europäischen Rats herbeiführen, Folgen hatte er
allerdings nicht. Finnlands Bewährung als Euro-Musterland
übersetzte sich eben keineswegs in das politische
Gewicht, mit dem sich der ökonomische Erfolg der Nation
weiter hätte ausbauen lassen. Das Konzept der
Nördlichen Dimension der EU
, das ihrem Betreiben
die EU-offizielle Anerkennung verschaffen sollte, hat die
EU selbst in die Hand genommen und als Werkzeug minderer
Nützlichkeit im Instrumentenkasten ihres
imperialistischen Aufbaus gegen Russland verstaut. Wie
schon die Norderweiterung 1995 per Erledigung der
Rest-EFTA ist auch die Erschließung des Ostens
ihr Projekt, und Finnland hat darin genau den
beschränkten Platz, der ihm als kleinem Land am Rande der
EU und an der Grenze zu Russland zukommt. Finnlands
Propaganda für die „Nördliche Dimension“ als Mittel
seiner Durchsetzung in der EU hatte daher noch
nicht einmal während seiner jeweiligen sechsmonatigen
EU-Ratspräsidentschaft (1999 und 2006) greifbare
Resultate.[5]
Was das Wachstum seiner Geschäfte mit Russland betraf, immer noch einer der größten Posten der finnischen auswärtigen Handels- und Kapitalbilanz, war die EU keineswegs wie gewünscht zu instrumentalisieren. Zwar ließ sie sich gegen Russlands Versuch, durch hohe Ausfuhrzölle auf seine Holzexporte – die vor allem an die finnische Papierindustrie gingen – den Ausbau der eigenen Papierindustrie zu befördern, handelspolitisch in Stellung bringen: Auf finnische Intervention hin zwang sie Russland durch die Drohung, die laufenden Beitrittsverhandlungen zur WTO zu blockieren, diesen Versuch aufzugeben. Im übrigen aber erfuhr Finnland, dass sein so wichtiges Russlandgeschäft für die EU nicht etwa als wichtiger Beitrag zu deren Erschließungs-, d.h. Vereinnahmungsprogramm von Russlands Markt und Ressourcen zählte, sondern als eine ziemlich periphere Geschäftsabteilung – die in der EU-„Russlandstrategie“ auch so behandelt, nämlich weitgehend ignoriert wurde.
Mit seinem freundschaftlichen Führungsanspruch
gegenüber seinen baltischen Nachbarn kam Finnland
gleichfalls nicht weit. Die finanzielle Unterstützung für
Infrastrukturprojekte, die ihn hätten materiell
untermauern können – ein Ostseetunnel zwischen Helsinki
und dem estnischen Tallinn, ein finnischer
Flüssiggas-Terminal zur Versorgung des Baltikums –,
wurde von der EU verweigert, die Flüssiggas-Infrastruktur
hat sich Finnland stattdessen mit Estland zu teilen. Und
die baltischen Staaten wollten mit dem finnischen
Angebot, sie als ihr Pate mit entsprechendem politischem
und wirtschaftlichem Einfluss auf ihrem Weg in die EU zu
unterstützen, nichts zu tun haben. Diese Staaten
gehorchten ganz ihrem eigenen Gründungsmythos
,
avancierten durch härteste Anpassung an den ‚Aquis‘ zu
wettbewerbs- und Euro-fähigen EU-Mitgliedern und konnten
im Unterschied zu Finnland gar nicht schnell genug – noch
vor dem EU-Beitritt – NATO-Mitglieder werden, weil sie
nicht das geringste Interesse hatten, „Brücke zu
Russland“ zu spielen, vielmehr ihre Staatsräson gerade
auf bedingungslose Russlandfeindschaft gründeten.[6]
Finnlands eigener NATO-Beitritt, seit dem Ende der politischen Sonderbeziehungen zur Sowjetunion immer mal wieder zur Debatte gestellt, wurde mit der Ukraine-Krise und der folgenden Aufrüstung des Baltikums zum NATO-Vorposten gegen Russland wieder zu einem größeren innenpolitischen Streitthema. An diesem innerfinnischen Streit zeigt sich vor allem eines: Subjekt seiner Lage ist Finnland auch sicherheitspolitisch nicht, bestimmt wird diese Lage von den Entscheidungen anderer. Den Debatten in Schweden, ob eine formelle NATO-Mitgliedschaft der bisherigen informellen Kooperation mit dem Militärbündnis vorzuziehen sei, wird in Finnland die Bedrohung entnommen, dass das Land dann womöglich als einziges Nicht-NATO-Land in der Region in die sicherheitspolitische Isolierung geraten könnte. Und angesichts des Aufbaus der baltischen Staaten zu neuen Aufmarschgebieten der NATO gegen Russland wird sorgenvoll um die Frage gestritten, ob die implizite Sicherheitsgarantie durch die EU ausreicht oder ob eine förmliche Eingliederung in die militärische Front gegen Russland Vorteile bringt, die die daraus zu erwartende Schädigung der guten finnisch-russischen Wirtschaftsbeziehungen aufwiegen. Die Abwägung der letzteren Frage ist durch die EU-Sanktionen gegen Moskau erst recht aktuell geworden, wurde mit denen doch den finnischen politischen Berechnungen, wenigstens mit seinen engen Wirtschaftsbeziehungen zu Russland in der EU punkten zu können, vollends der Boden entzogen. Stattdessen sieht man sich wieder in die Position des kleinen Landes an der Peripherie des EU-Machtbereichs zurückgeworfen; statt als „Brückenland“ zum Agenten und Profiteur einer engeren Anbindung Russlands an die EU zu avancieren, ist Finnland zum unfreiwilligen Frontstaat geworden, seinerseits vereinnahmt für und subsumiert unter das imperialistische Aufbruchsprojekt der EU.
3. Vom selbsterarbeiteten Boom
in die
fremdverschuldete Krise
: Das Kapital erfindet
sich neu
, der Standort rutscht ab, die europäische
Staatsräson verfällt
Die aktuelle Krise der Eurozone, die Finnland inzwischen ans Ende der EU-Wachstumsstatistik hat rutschen lassen, hat den finnischen „Mythos“ vom nationalen Erfolg aus eigener Kraft in und mit Europa nachhaltig erschüttert.
Nicht eine von der Finanzkrise ausgelöste nationale Bankenkrise wie 1991 [7] hat den Kapitalstandort Finnland zum europäischen Krisenfall werden lassen, sondern gerade das ‚Erfolgsrezept‘ des finnischen Kapitals. Dessen erfolgreiche Zentralisation, seine Konzentration auf die Felder größter Wettbewerbsfähigkeit, durch die Finnland mit Handys, Papierprodukten, Spezialmaschinen und -schiffen vom regionalen Gemischtwarenproduzenten zum Global Player auf den Weltmärkten aufstieg, hat eine Vereinseitigung der Sphären finnischer Kapitalakkumulation hervorgebracht, die einen abrupten Nachfrageausfall in diesen Geschäftsabteilungen zu einem Großschaden für die gesamte Wirtschaft werden lässt. So treffen ein paar Veränderungen in den Konkurrenzverhältnissen auf den Märkten der finnischen Kernindustrien den Standort Finnland ins Mark: Die schrumpfende Nachfrage nach Zeitungs-, Zeitschriften- und Papier für Werbedrucksachen aufgrund der Abwanderung großer Teile des Anzeigengeschäfts ins Internet macht beträchtliche Teile des Kapitals der finnischen Forst- und Papierindustrie samt dazugehörigem Maschinenbau obsolet, die dort tätigen Arbeitskräfte selbstverständlich auch; und das Handygeschäft des Weltmarktführers Nokia bricht durch die Konkurrenz der Smartphones ab 2010 innerhalb von zwei Jahren komplett zusammen.
Die großen finnischen Kapitale selbst gehen mit dieser
Krise kapitalistisch sachgerecht um. Ihre krisenbedingte
Entwertung machen sie per Sphärenwechsel zur Grundlage
neuer Akkumulation: Nokia setzt seine noch immer
beträchtliche Kapitalmacht ein, um sich wieder einmal
neu zu erfinden
, wie begeisterte Wirtschaftsblätter
vermelden. Das Handygeschäft wird 2013 noch halbwegs
rechtzeitig für 5 Mrd. Euro an Microsoft verkauft; zwei
Jahre später schreibt Microsoft den Kaufpreis auf Null
ab, schließt die übernommenen finnischen Betriebe und
entlässt ein paar tausend Leute. Nokias digitaler
Kartendienst geht 2015 für 2,5 Mrd. Euro an deutsche
Autokonzerne. Dafür kauft Nokia den Siemens-Anteil des
gemeinsamen Geschäfts mit Telekommunikationsnetztechnik
sowie den großen französisch-amerikanischen
Branchen-Konkurrenten Alcatel-Lucent; und so wird aus dem
früheren Handy-Weltmarktführer flugs der weltgrößte
Anbieter von Netzwerkausrüstung für die
Telekommunikation, der – versteht sich – mittels weiterer
Einsparungen von 900 Mio Euro die chinesische Konkurrenz
nicht nur durch die Größe, sondern mit der Profitabilität
des angewandten Kapitals ausstechen will.
Auch die Papierindustrie will sich neu erfinden und entdeckt in Recycling und Biotreibstoffproduktion neue Geschäftsfelder, die künftige Milliardenumsätze versprechen. Auf dem Weg dahin werden diverse große Papierfabriken stillgelegt, seit Beginn der Krise über 10 000 Leute entlassen und ganzen finnischen Städten im ohnehin zurückgebliebenen Hinterland wird die bisherige wirtschaftliche Basis entzogen.
Der Staat selbst merkt an seinem Haushalt die drastischen Folgen dieser Manöver für Land und Leute und muss zu ihrer sozial- und standortpolitischen Bewältigung notgedrungen seinen Kredit einsetzen, was – nach den Überschüssen in den „goldenen Jahren“ bis 2008 – im Jahr 2015 zu einem Haushaltsdefizit von 3,3 Prozent und einer Verdoppelung der Staatsschulden seit 2008 auf über 60 Prozent des BIP führt und damit erstmals seit dem EU-Beitritt zur Verletzung der Maastricht-Kriterien. Das AAA-Rating gerät in Gefahr und Finnlands Reputation als Euro-Musterland ist beschädigt.
Finnlands Staatsräson, den nationalen Erfolg zu
garantieren, indem man sich als vorbildliches EU- und
Euro-Land bewährt, ist damit entschieden angegriffen.
Nicht nur die eigenen politischen Berechnungen
auf eine einträgliche Teilhabe am imperialistischen
Programm der EU nach innen und außen sieht die Nation
gescheitert, sondern auch deren Grundlage, ihren
europäischen wirtschaftlichen Erfolgsweg. Diese
Bilanz macht das Musterland zunehmend
eurokritisch
, das allerdings zunächst sehr
musterlandgemäß.
4. Die politische Reaktion: Eurokritik im Namen des Konkurrenzprinzips der Eurozone
Zunächst hält man in Finnland fest am widersprüchlichen
Ideal der Eurozone als dem nationalen
Erfolgsrezept: Alle Euro-Staaten sollen ihre ganze
Wirtschafts- und Finanzpolitik an dem Ziel ausrichten,
sich aus eigener Kraft in der Konkurrenz der Euronationen
kraft eigener Wettbewerbsfähigkeit
gegen die
anderen durchzusetzen. Zwar erfährt das Land gerade, was
es in der Krise heißt, dem Euro-Club als peripherer
Kleinstaat anzugehören, dessen dreieinhalb
konkurrenzfähige Branchen zwar mit ihrem Geschäftserfolg
vom EU-Binnenmarkt abhängen, von dem als Kapitalstandort
umgekehrt aber gar nichts abhängt – im Unterschied zu
einem imperialistischen Großstandort wie Deutschland, auf
dessen Märkte und Kapitale sich alle anderen in ihrem
Kampf um Konkurrenzerfolg beziehen und der dergestalt mit
allen anderen in einem kapitalistisch produktiven
Verhältnis steht, sie als seine Reichtumsquelle nutzt.
Für Finnland als Fanatiker des Wettbewerbs um nationalen
Erfolg im Rahmen des Euroregimes ist allerdings etwas
anderes nationale Gewissheit: Wenn die Teilnahme am –
geforderten – Wettbewerb um Wettbewerbsfähigkeit das
entscheidende Erfolgsrezept ist, wie man es ja selbst
nach dem Beitritt bewiesen hat, der Erfolg des
kompromisslosen Setzens auf die eigenen Stärken
sich aber trotz eigener Anstrengungen und der
entschlossenen Überwindung eigener ‚Strukturmängel‘ nicht
einstellt, dann muss das daran liegen, dass die
Wettbewerbsbedingungen verzerrt sind,
andere sich nicht an die Regeln halten
– nämlich die Euro-Staaten, die sich dem
unabweisbaren Sachzwang dieses Wettbewerbs entziehen und
aus der Eurozone etwas anderes machen wollen als eine
Veranstaltung, in der souveräne Mitgliedstaaten mit
gemeinsamem Geld gegeneinander um ihren nationalen Erfolg
konkurrieren. Mit dieser Prinzipientreue gegenüber den
Grundregeln der Konkurrenz in Europa wird Finnland zum
Kritiker einer europäischen Krisenpolitik, die mittels
immer neuer Kreditpakete Staatsbankrotte und das
Scheitern von Staaten an der Eurozone partout nicht
zulassen will, die – wie es Finnland sieht – Krisenländer
subventioniert, die noch nie wirklich wettbewerbsfähig
waren und sich auch nie angestrengt haben, es zu werden.
Dafür darf der Euro nicht da sein und dafür will Finnland
seinen eigenen Nationalkredit nicht strapaziert sehen.
Man lässt sich für den eigenen Anteil an den
Kreditgarantien der EU für Griechenland und Spanien von
beiden Ländern nach zähem Gefeilsche eigens harte
Sicherheiten
einräumen und wird zum entschlossensten
Verfechter der schärfsten Auflagen für die Krisenländer.
In doppelter Hinsicht sieht sich Finnland als schuldloses
Opfer der Eurokrise: Einmal durch den krisenbedingten
allgemeinen Nachfrageausfall auf seinen europäischen
Märkten und zum anderen durch die notgedrungen
mitgetragenen Kreditverpflichtungen zur Rettung
der Zahlungsfähigkeit der Krisenländer. Das wird
konsequenterweise dem geschäftsschädigenden Umgang der
Krisenländer mit dem gemeinsamen Geld angelastet, und
insoweit diesem Umgang durch die Eurozone nicht
entschieden genug entgegengetreten wird, richtet sich die
finnische Kritik gegen das Euro-Projekt insgesamt. Dazu
reaktivieren Politiker aller Parteien entschlossen den
„Sisu“-Mythos von 1991, die Beschwörung der nationalen
Selbstbehauptung gegen eine feindliche internationale
Umwelt:
„Bei uns klopfte (1991) der IWF an die Tür. Die Arbeitslosigkeit lag bei 18 %. Damals sagten wir uns ‚nie wieder!‘ und doch stecken wir jetzt hier in einer neuen Krise, an der andere schuld sind.“ (A. Stubb). „Wir haben unsere eigenen Banken aus der Pleite gerettet und jetzt, nach all der Lügerei, Unehrlichkeit und den Regelverstößen in Europa werden wir aufgefordert, deren Banken vor der Pleite zu retten. Das schlägt dem Fass den Boden aus.“ („Die Finnen“-Parteichef Timo Soini, The Telegraph, 19.8.12).
Überhaupt stellt sich den Verantwortlichen im Land die
Frage, ob eine Eurozone, die den gemeinsamen Kredit, um
dessen Solidität sich Finnland schließlich mit verdient
gemacht hat, derart für den Erhalt von Verlierernationen
aufs Spiel setzt, für Finnland nicht der falsche
Club
sei – Zeit jedenfalls für die Nation, sich gegen
die verlogene EU auf sich selbst und ihre wahren Werte
zurückzubesinnen. Radikalster Vertreter dieses
Standpunkts ist die Partei „Die Finnen“, die
„Arbeiterpartei ohne Sozialismus“, wie sie ihr
Vorsitzender Timo Soini nennt. Immerhin 19 Prozent der
Wähler hatten der bisherigen rechten Randpartei „Wahre
Finnen“, die sich der „Anerkennung Finnlands als Nation
und Kultur“, der Verteidigung der nationalen Identität
verschrieben hat, schon 2011 den Aufstieg zur
drittstärksten Partei verschafft. Seit den Wahlen vom
April 2015 ist sie respektierte Regierungspartei, die mit
Soini den Außen- und Europaminister stellt, in ihrer
Eurokritik aber im Vergleich zu den anderen
Regierungsparteien, Zentrum und Nationale
Sammlungspartei, kein Alleinstellungsmerkmal besitzt: Für
sie wie die anderen hat Schluss zu sein mit
Kreditprogrammen für Südländer, zumal für das
reformunwillige Griechenland; dem neuesten ESM-Kredit
stimmt Finnland denn auch erst nach der
Kapitulationserklärung von Tsipras gegenüber dem
Reformdiktat der Eurozone noch einmal zu. Auch sonst gibt
es für „Die Finnen“ wie für ihre Koalitionspartner an der
EU jede Menge wettbewerbsbeschränkende Regelungen und
Politiken zu entdecken, die Finnlands Kampf um seine
Wettbewerbsfähigkeit erschweren, nicht zuletzt die
Vorgaben zur Energie- und Klimapolitik.
Dass der eigene Staatskredit ausschließlich der Pflege
des eigenen lädierten Standorts als Ort für rentable
Kapitalinvestitionen zu dienen hat und nicht dem Erhalt
der Eurozone, ist unstrittiger nationaler Konsens. Und
wenn sich zu diesem Zweck auch noch russischer Kredit
mobilisieren lässt, dann ist das gut und nicht schlecht.
Gegen alle Energiewende-Beschlüsse andernorts treibt die
staatseigene Energieindustrie konsequent den weiteren
Ausbau der Stromerzeugung aus AKWs voran. Noch ist der
Neubau in Olkiluoto nicht fertig, da wird bereits das
nächste Kernkraftwerk in Angriff genommen, diesmal mit
einer 40-Prozent-Kapitalbeteiligung des russischen
Atomkonzerns Rosatom. Das passt zwar weder energie- noch
außenpolitisch in die derzeitige EU-Linie und bringt
Finnland den Vorwurf ein, russische Interessen vor die
außenpolitischen Ziele der EU zu stellen
(Financial Times, 16.7.15). Aber Minister
Olli Rehn stellt klar: Der neue Reaktor bringt
bedeutende Investitionen von sieben Milliarden Euro –
in einem Land, in dem es derzeit nicht so viele
Investitionen gibt
(ebd.) –, ist also allemal
kreditwürdig genug für die Mobilisierung derartiger
Investitionssummen in den Standortfaktor ‚billiger
Strom‘. Zwar soll das neue AKW nicht ausschließlich
für den Stromexport
produzieren, aber wenn es
Überschüsse gebe, stünden die natürlich für den Export
zur Verfügung – auch das ein Dokument souveränen
Insistierens auf der Wettbewerbsfähigkeit des Standortes
gegen die imperialistischen und
Energiewende-Ambitionen der deutschen EU-Führungsmacht.
Durch die EU-Sanktionspolitik gegenüber dem
Haupthandelspartner Russland sehen „Die Finnen“ ebenso
wie die übrigen Regierungsparteien Finnland ohnehin
seines wichtigsten geographischen Standortvorteils
beraubt. Die Unterwerfung unter die EU-Bestrafungsaktion
gegen Russland, von Merkel extra per
Freundschaftsbesuch
in Helsinki Ende März 2015
eingefordert, wird als kostspieliger zusätzlicher Beitrag
zur Krisenverschärfung verbucht und allein deshalb
vollzogen, weil ein isoliertes Ausscheren aus der
EU-Front gegen Russland, also eine offensive Absage an
den imperialistischen Ordnungsanspruch der
EU-Führungsmächte, noch teurer käme.
Auch die jüngste Offensive Deutschlands, die den
EU-Mitgliedern ein gemeinsames Quotensystem für die
Aufnahme der Flüchtlinge und damit die Übernahme des
deutschen Verständnisses der EU als globalisierter
Ordnungsmacht aufnötigen will, ist für die finnische
Regierung eine von außen oktroyierte Last, gegen deren
Zumutung sie an ihrer eigenen Berechnung festhält: Einige
Zehntausend werden aufgenommen (2015 waren es 30.000),
aber dann ist Schluss und die Grenzen werden – wie die
der skandinavischen Nachbarn – erstmal wieder
kontrolliert und für Flüchtlinge weitgehend geschlossen.
Die als nicht-asylberechtigt
Identifizierten
werden, dem schwedischen Vorbild folgend, abgeschoben. Da
weiß sich die Regierung mit dem Rassismus des seine
Reinheit verteidigenden Finnentums einig, dem die „Last“
der Flüchtlinge zunehmend als unerträglich gilt:
Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte sind inzwischen
so üblich wie in Deutschland, und auf die Flüchtlinge
selber – nicht ihre Unterkünfte – passt eine wachsende
Zahl faschistischer Bürgerwehren auf.
5. „Fixit“ oder nicht? Der nationale Weg aus der Krise wird gegen Europa definiert
Die EU ist kein Mittel des nationalen Erfolgs mehr, im
Gegenteil: Nicht mehr, was Finnland in und mit der EU
erreichen kann, ist Erfolgskriterium bei der Verfolgung
des nationalen Interesses in Europa, sondern wie die von
der EU bescherten Lasten abgewehrt, zumindest durch ein
Besinnen auf die eigenen Kräfte bewältigt werden können.
Das bestimmt die innenpolitischen Kontroversen: Austritt
aus dem Euro, damit Finnland wie 1992 durch Abwertung
seiner nationalen Währung wieder aus seiner Krise kommt –
oder interne Abwertung
durch massive Senkung der
Kosten des Lebensunterhalts der Bevölkerung; also der
Löhne und Sozialleistungen, heißen die Alternativen. In
beiden Fällen geht der Weg aus der Krise über die rabiate
Verarmung der Bevölkerung, gestritten wird darüber, ob
sie von einem finnischen Souverän außerhalb oder
innerhalb der Währungsunion vollzogen wird. Ob die
Zugehörigkeit zur Währungsunion, der Verzicht auf die
Souveränität über das eigene Geld, der größere Schaden
für das Land ist als ein Ausstieg aus dem Euro, wird 2016
vom finnischen Parlament zu diskutieren sein; ein
Volksbegehren für den Austritt aus dem Euro, den „Fixit“,
das diese Debatte notwendig macht, hat im Herbst 2015
problemlos die nötigen 50 000 Unterschriften erreicht.
Dass Schweden, ohnehin der ewige Maßstab, an dem sich
Finnland misst, seit der Krise ohne Euro um über
8 Prozent gewachsen, Finnlands Wirtschaft dagegen mit
dem Euro seit 2008 um 6 Prozent geschrumpft ist,
sagt den Eurokritikern erst recht alles. Sie rechnen vor:
„Einer Studie des Euro-skeptischen Instituts EuroThinkTank zufolge würde eine Rückkehr zur eigenen Währung etwa 20 Milliarden Euro kosten, sich aber langfristig bezahlt machen.“ (Welt.de, 19.11.15)
Und der „Finnen“-Chef und Außenminister Timo Soini stellt
fest, Finnland hätte nie dem Euro beitreten
dürfen.
Dem hält der gegenwärtige Finanzminister Stubb entgegen:
„Abwertung ist wie Doping im Sport. Es verschafft dir vielleicht einen kurzen Schwung, aber langfristig bringt es nichts. Wie alle anderen auch brauchen wir Strukturreformen, Strukturanpassung, müssen wir unsere Wettbewerbsfähigkeit steigern.“ (New York Times, 21.7.15)
Und bevor das Volk sein Votum abgibt, handelt die
Regierung schon einmal in diesem Sinne: Sie verordnet
ihrem Land eine Rosskur
(FAZ,
9.11.15). Für sie ist die jetzige Krise des Landes
vor allem ein Hinweis darauf, dass es in den „goldenen
Jahren“ zu wenig Strukturreformen
betrieben und
ein strukturelles Leistungsdefizit
(Wirtschaftsminister Olli Rehn)
zugelassen hat. Und Ministerpräsident Sipilä stellt in
einer Art Blut-, Schweiß- und Tränen-Fernsehansprache am
15.9.15 klar:
„Wir waren vorne dran beim Erteilen guter Ratschläge an die Griechen. Jetzt sollten wir selbst unseren Ratschlägen folgen. Es darf nicht dazu kommen, dass andere über unsere Angelegenheiten entscheiden.“ [8]
Vielmehr muss sich Finnland nicht nur gegen die von der EU angesagten Lasten wehren, sondern sich in der EU und gegen seine Konkurrenten wieder entschlossen behaupten und durchsetzen. Und dafür sind, so Sipilä, nationale Opfer zu bringen.
Erstens muss der Staat billiger werden:
„Ich weiß, dass staatliche Ausgabenkürzungen viele Leute böse treffen werden. Wenn wir sie aber nicht machen, dann werden wir in wenigen Jahren noch viel schmerzlichere Entscheidungen treffen müssen.“
Dabei muss es natürlich gerecht zugehen, sprich: Alle sind dran:
„Diejenigen, die nicht arbeiten – Studenten, Rentner, Arbeitslose – tragen bereits ihre eigene Last aufgrund von Sparbeschlüssen. Diejenigen, die Arbeit haben, müssen zum Wohle der Arbeitslosen ihren eigenen Beitrag leisten.“
Zweitens muss die Arbeit billiger werden, um 15 Prozent und mit klarem Bezugspunkt:
„Wir reformieren den Arbeitsmarkt, denn nur so können wir auf den globalen Märkten wieder mithalten mit konkurrierenden Ländern wie Deutschland, Schweden, Dänemark.“
Der Sozialpakt, seit Jahrzehnten nicht nur das quasistaatliche Vehikel der Lohnfestsetzung, sondern auch die tragende Säule des finnischen Sozialstaates, lässt für die finnische Regierung gemessen am deutschen Vorbild schwer zu wünschen übrig:
„Ich musste während der Sozialpaktverhandlungen feststellen, dass Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen in Finnland sich zu weit voneinander entfernt haben. Nach meiner Erfahrung denkt der deutsche Arbeitgeber vor allem daran, wie auch in der Zukunft in Deutschland produziert werden kann, und zugleich einigen sich deutsche Arbeitnehmer aus eigenem Antrieb in schwierigen Situationen mit ihrem Arbeitgeber. Von diesem Geist brauchen wir mehr in Finnland.“
Und weil sich der deutsche Geist in Finnland nicht
einstellt, störrische Gewerkschaftsorganisationen dem
regierungsamtlichen Vorschlag eines neuen Sozialpakts
nicht folgen wollen, wird das neue Armutsniveau im Land
auf dem Verordnungsweg etabliert: Kürzungen bei den
öffentlichen Gehältern, Verlängerung der Arbeitszeit
durch Streichung von Urlaubs- und Feiertagen, Kürzung
bezahlter Krankheitstage, Kürzung von
Sonntagsarbeitszuschlägen, beim Arbeitslosengeld, der
Kinderbetreuung u.a.m. Sehen die Finnen das ein?
,
fragt die Süddeutsche Zeitung besorgt angesichts von
massenhaften Streiks und Demonstrationen in dem solcher
Aktivitäten seit langem entwöhnten Finnland – und
angesichts des Umstands, dass im Zusammenhang dieser
Reformen die Zustimmungsraten zur Euro-Mitgliedschaft von
75 Prozent vor der Krise auf 54 Prozent Ende 2015 sinken.
Aber vielleicht eröffnet der neueste Plan der Regierung
neue Perspektiven: Bei ihrem Anliegen, den Sozialstaat
billiger zu machen und gewerkschaftlichen Widerstand
auszuhebeln, will die finnische Regierung, jeder
kommunistischen Anwandlung unverdächtig, das
Lieblingsinstrument fortschrittlicher Systemreformer in
Stellung bringen – das bedingungslose
Grundeinkommen
. In einigen Testgemeinden soll eine
begrenzte Zahl von 10 000 bis 20 000 Bürgern ab 2017 ein
solches Einkommen in Höhe von 800 Euro erhalten. Erwartet
wird, dass erstens der Staat jede Menge Geld damit spart,
weil die 800 Euro an die Stelle der bisher gewährten
Sozialleistungen treten, und dass zweitens so das
wichtigste Machtinstrument der Gewerkschaften, die
Verwaltung der Arbeitslosenversicherung, obsolet wird.
Und was die entscheidende Frage aller bürgerlichen
Skeptiker angeht – „Hören dann die Leute nicht einfach zu
arbeiten auf?“ – sind sich die finnischen Experten des
Gegenteils ziemlich sicher:
„Tatsächlich beabsichtigt die finnische Regierung mit dem Grundeinkommen gerade die derzeit auf einem 15-Jahres-Hoch liegende Arbeitslosigkeit von 9,5 Prozent zu verringern. Ihr Kalkül geht dem Bericht zufolge so: Mit einem Grundeinkommen würden Menschen eher bereit sein, eine schlechter bezahlte Arbeit anzunehmen. Momentan sei dies hingegen mit verringerten Sozialleistungen verbunden.“ (FAZ, 7.12.15)
Diese Idee zur fortschrittlichen Demolierung des
Sozialstaats samt Sozialpakt und seine Ersetzung durch
einen per ganz viel „Eigenverantwortung“ aufgefrischten
Zwang zur Arbeit für jeden Lohn finden nach jüngsten
Umfragen beinahe 70 Prozent der Finnen gut
.
(FAZ) [9]
Es wäre eine schöne Ironie, wenn der frühere Euro- und Pisa-Musterstaat und derzeitige „kranke Mann Europas“ mit einem solcherart wegreformierten Sozialstaat zum neuen europäischen Billiglohn-Musterland aufstiege. Tatsächlich stehen diese wie alle anderen derzeit in Finnland ventilierten Ideen zur Volksverbilligung – ob durch Sozialstaatsdemolierung oder „Fixit“ und Abwertung des dann wieder eigenen nationalen Geldes – und zur außenpolitischen Orientierung in der Konfrontation zwischen EU und Russland vor allem für eines: für die Ausweglosigkeit, vor die sich der finnische Staat angesichts der ökonomischen und politischen „Sachzwänge“ gestellt sieht, mit denen Merkels Europa ihn konfrontiert.
[1] Vgl. Die Erweiterung der EU. Eine neue Etappe im Kampf um ein deutsch dominiertes Europa, GegenStandpunkt 2-94
[2] Als die Fesseln
des Kalten Krieges gelöst waren, war die
EU-Mitgliedschaft für uns politisch wie wirtschaftlich
geboten. Wenn man an den geografischen Rändern der EU
lebt, besteht der einzige Weg, zur Mitte zu gehören,
darin, in den Institutionen mitzuspielen. Wir haben
frühzeitig beschlossen, dass der beste Weg der ist, auf
allen Integrationsebenen einschließlich des Euro dabei
zu sein. Ich denke, die Dinge haben sich recht gut
entwickelt für Finnland.
(der
damalige Außenminister A. Stubb, www.euractiv.com,
24.2.14).
[3] Die Mitgliedschaft
in der Eurozone als AAA-Land has helped us to play
above our weight in European circles
(Stubb, ebd.)
[4] Die Nördliche
Dimension ist eine partnerschaftlich orientierte
EU-Politik, deren wichtigstes politisches Ziel die
Einbindung Russlands in die europäische Integration im
Hinblick auf eine engere Kooperation mit der
Europäischen Union darstellt.
(Erkki Tuomioja, damaliger Außenminister, 121.
Bergedorfer Gesprächskreis, Helsinki 2001,
www.koerber-stiftung.de)
[5] Auch Russland konnte im Hinblick auf seinen an Finnland grenzenden Nordwesten dem Konzept und den finnischen regionalpolitischen Berechnungen etwas abgewinnen. Darüber aber, dass jedenfalls von Seiten der EU die „Nördliche Dimension“ allenfalls als strategisches Instrument zu Lasten Russland, nicht zur gegenseitig nützlichen Wirtschaftszusammenarbeit mit Russland betrachtet wurde, machte man sich dort keine Illusionen:
Erstens war es der Wunsch Finnlands ...,
Investitionen für ihre nördlichen Randgebiete
anzuziehen; denn mit dem Beitritt zur Europäischen
Union war die Wettbewerbsfähigkeit besonders der
finnischen Landwirtschaft zurückgegangen, was zu einer
Abwanderung der ländlichen Bevölkerung in die Stadt und
zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führte. Zweitens
… war Finnland bestrebt, Investitionen in die
nordwestlichen Gebiete Russlands, die an die EU
angrenzen, zu ziehen, um diese Regionen zu
stabilisieren und damit auch die Handelsbeziehungen zu
aktivieren. Der dritte Grund war, dass Finnland seine
Rolle in der internationalen Politik und damit auch
innerhalb der Europäischen Union stärken wollte.
–
Die russische Führung hat sich gegenüber Finnland im
Allgemeinen zustimmend zu dieser Initiative geäußert,
aber in einigen Punkten Kritik geübt... Es ist nicht zu
übersehen, dass die Nördliche Dimension in vieler
Hinsicht vor allem darauf abzielt, europäische
Investitionen in die Länder des Baltikums zu ziehen, um
deren Beitritt zur EU vorzubereiten, und erst an
zweiter Stelle stehen Investitionen in den Nordwesten
Russlands.
Überhaupt habe sie bisher erst
geringe Ergebnisse vorzuweisen … da keiner der großen
EU-Staaten die Nördliche Dimension in seine
Prioritätenliste aufgenommen hat, auch Deutschland
nicht, obwohl es wichtige Interessen in der
Ostseeregion hat.
(Vatanyar
Yagya, St. Petersburg, ebd.)
[6] Siehe GegenStandpunkt 4-15: Das Baltikum: Drei Kleinstaaten mit großem Auftritt.
[7] In der Finanzkrise von 2008 ff. melden die finnischen Banken (die ohnehin überwiegend in ausländischer, vor allem schwedischer – NORDEA – Hand sind) keinen staatlichen Sanierungsbedarf an, lassen mithin den Staatskredit unbeeinträchtigt.
[8] Government Communications Department, Prime Minister Juha Sipilä’s speech on the Finnish Broadcasting Company YLE on 16 September 2015.
[9] Gegen diese Volksmeinung möchte auch das „Neue Deutschland“ nicht so recht etwas sagen: „Es geht um die Vereinfachung des Sozialsystems, das Arbeitslosigkeit, Unterbringung, Ausbildung und Elterngeld umfasst – letztlich steckt darin auch das Motiv, die Staatsausgaben zu verringern. Das Grundeinkommen könnte bei rund 800 Euro im Monat liegen – das allerdings in Finnland, wo ein Haushalt monatlich rund 3 000 Euro ausgibt, eine Art Armengeld wäre. Die ursprünglich aus dem linken Lager stammende Idee des bedingungslosen Grundeinkommens wird im Grundsatz mittlerweile von einem breiten politischen Spektrum in Finnland unterstützt.“