Zweierlei Absagen an den Supranationalismus der deutschen Europapolitik
Eines möchte man den Redakteuren der Bild-Zeitung gar nicht erst zumuten und sollte es von ihnen auch nicht erwarten: Dass sie in ihren Artikeln die Europapolitik der deutschen Regierung erklären oder dies auch nur versuchen. Durchgehen lassen sollte man ihnen deswegen freilich nicht, dass sie bei allem, was sie in ihren Berichten über diese Politik ihrem Publikum in Gestalt einer wohldosierten Mischung von Falschmeldung und Irreführung an Aufklärung anbieten, es in jedem Fall besser wissen, jedenfalls besser wissen könnten. Denn so viel haben die studierten Menschen, die bei Bild die Seiten vollschreiben, über das in Brüssel zur Verhandlung stehende „Hilfspaket für Griechenland“ aus Presse, Funk und Fernsehen ja zweifellos erfahren: Dass es sich bei den in Rede stehenden Krediten nicht um Geldsummen handelt, die je von irgendeinem deutschen Konto nach Griechenland überwiesen wurden oder demnächst werden sollen; dass Deutschland für Kredite der EZB an Griechenland nur bürgt, und zwar nicht alleine, sondern zusammen mit den anderen Ländern der Eurozone; dass der Zweck, dem diese neuen Kredite dienen, im Weiterfließen von Zins und Tilgung der Schulden besteht, die Griechenland gegenüber seinen Gläubigern aufgehäuft hat; dass die Vergabe von Krediten für einen Gläubiger keine Last, sondern ein Geschäft ist und Deutschland Milliardengewinne mit griechischen Staatsanleihen erwirtschaftet hat – das alles ist mit Sicherheit auch den Schreibern der Bild-Zeitung – die ja nicht nur ihr eigenes Blatt lesen – gut bekannt. Aber das heißt in ihrem Fall gar nichts ...
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Länder & Abkommen
Konkordanz
In Auszügen neu veröffentlicht:
Zweierlei Absagen an den Supranationalismus der deutschen Europapolitik
Der Fall Bild-Zeitung: Wie man das Fußvolk der europäischen Führungsnation für den Erfolg ihres Imperialismus mobilisiert
Eines möchte man den Redakteuren der Bild-Zeitung gar nicht erst zumuten
und sollte es von ihnen auch nicht erwarten: Dass sie in
ihren Artikeln die Europapolitik der deutschen Regierung
erklären oder dies auch nur versuchen. Durchgehen lassen
sollte man ihnen deswegen freilich nicht, dass sie bei
allem, was sie in ihren Berichten über diese Politik
ihrem Publikum in Gestalt einer wohldosierten Mischung
von Falschmeldung und Irreführung an Aufklärung anbieten,
es in jedem Fall besser wissen, jedenfalls besser wissen
könnten. Denn so viel haben die studierten Menschen, die
bei Bild die Seiten
vollschreiben, über das in Brüssel zur Verhandlung
stehende Hilfspaket für Griechenland
aus Presse,
Funk und Fernsehen ja zweifellos erfahren: Dass es sich
bei den in Rede stehenden Krediten nicht um Geldsummen
handelt, die je von irgendeinem deutschen Konto nach
Griechenland überwiesen wurden oder demnächst werden
sollen; dass Deutschland für Kredite der EZB an
Griechenland nur bürgt, und zwar nicht alleine, sondern
zusammen mit den anderen Ländern der Eurozone; dass der
Zweck, dem diese neuen Kredite dienen, im Weiterfließen
von Zins und Tilgung der Schulden besteht, die
Griechenland gegenüber seinen Gläubigern aufgehäuft hat;
dass die Vergabe von Krediten für einen Gläubiger keine
Last, sondern ein Geschäft ist und Deutschland
Milliardengewinne mit griechischen Staatsanleihen
erwirtschaftet hat – das alles ist mit Sicherheit auch
den Schreibern der Bild-Zeitung – die ja nicht nur ihr
eigenes Blatt lesen – gut bekannt. Aber das heißt in
ihrem Fall gar nichts: Um alles, was sie ganz bestimmt
und manch andere halbwegs aufgeklärte Zeitgenossen
sicherlich auch wissen, komplett vom Tisch zu wischen und
statt dessen das zum Thema zu machen, was für
sie wichtig ist, reicht ihnen eine einzige Frage –
Was heißt das für den deutschen
Steuerzahler?
[1]
Was es mit dem Kredit, den Staaten sich selbst oder
anderen gewähren, auf sich hat, und was es heißt, wenn
sie mit einer Unsumme neuer Schulden einem dreimal so
großen Haufen uneinbringlicher alter Schulden den
Anschein des Gegenteils verleihen wollen: Das hat den
Bürger hierzulande nur in einer Hinsicht zu
interessieren. Aus dem Blickwinkel des deutschen
Steuerzahlers
, unter einem gewusst
sachfremden, ihm dafür nur umso vertrauteren
Gesichtspunkt soll er nach dem Willen von Bild die innereuropäische
Kreditaffäre betrachten – weil ihn diese Perspektive
nämlich von ganz allein zu einer geistigen Übung leitet,
auf die er sich blind versteht. Beim Thema Staat & Geld
pflegt er ja notorisch in die Doppelrolle zu schlüpfen,
die den zwei Seelen gerecht wird, die in seiner Brust
wohnen: In die des Patrioten und daher
pflichtbewussten Finanziers und Auftraggebers der
Staatsausgaben auf der einen Seite – und in die des
ausschließlich um seinen Vorteil besorgten
Materialisten und daher ewig nörgelnden
Beschwerdeführers über deren Höhe auf der anderen. In
genau die Pose des eigentlichen Hauptfinanziers wie
Hauptbetroffenen soll er sich werfen, wo es um ein
Hilfsprogramm für Griechenland
geht, und warum er
das unbedingt soll, liegt auf der Hand. Es sind zwar
überhaupt nicht die deutschen, sondern die
griechischen Bürger, die als Manövriermasse
ihres Staates für dessen Schulden mit
ihrem Lebensunterhalt geradezustehen haben – aufzufassen
hat er die in Frage stehenden Kredithilfen
aber
genau andersherum, nämlich als materielle Einbußen, die
ihm höchstpersönlich und obendrein auch noch von
einem fremden Staat beschert werden: Die
Griechenrettung belastet uns
schon viel zu lange
viel zu sehr, und worum allein es in Brüssel daher nur
gehen kann, ergibt sich aus der Synthese von
Nationalismus und Krämergeist, die die Bild-Redakteure mit ihrer
irreführenden Frage wachrufen, ganz von selbst: Der
deutsche Steuerzahler hat schon genug Geld in dieses
Fass ohne Boden
versenkt, hat also ein
Recht darauf, dass hier endlich einmal
ordentlich gespart wird – und die Frau Kanzlerin
die Pflicht, gegenüber den Griechen gefälligst
unser Geld
zusammenzuhalten und sie zum Sparen zu
zwingen. So schult man ein Volk in interessierter
Anteilnahme an einer imperialistischen Großangelegenheit
der eigenen Nation, ohne dass es von der irgendetwas zu
wissen bräuchte. Man breitet ihm die Alternativlosigkeit
der ökonomischen Staatsräson, die Deutschland gegen
Griechenland kompromisslos geltend macht, entlang den
Koordinaten aus, die in seinem politisch-moralischen
Weltbild fest verankert sind, und schon ist die
Angelegenheit vollkommen klar: Wer kein Geld hat, muss
sparen, wer von Deutschland Geld will, muss erst recht
sparen, und zwar so, wie wir es ihm sagen. Das ist
natürlich ein Diktat
, geht aber vollkommen in
Ordnung, denn im Unterschied zu den Griechen, die alles
verkehrt gemacht haben und deswegen pleite sind, hat
Deutschland alles richtig gemacht und deswegen auch Geld.
Es hat aus demselben Grund auch alles Recht auf seiner
Seite, seinem Schuldner solange weitere Gelder
vorzuenthalten, bis der endlich gelernt hat, wie Sparen
geht. Ein wenig hineinregieren in seinen Haushalt wird
man dazu schon müssen, aber auch das ist nur logisch und
hat er selbst zu verantworten. Ein weiterer
Schuldengipfel in Brüssel
ist so gesehen mehr als
überflüssig, denn die Alternative liegt doch auf der
Hand: Unterwerfung unters Sparprogramm
oder eben
Grexit...
Warum lügen diese Leute wie gedruckt und erzählen ihren
Lesern wider besseren Wissens, in der Hauptsache drehten
sich die Verhandlungen in Brüssel um sie und
ihren Geldbeutel? Nur, um den deutschen Bürgern
neben allen anderen tagaus, tagein ausgebreiteten
Gelegenheiten noch eine weitere zu verschaffen, bei der
sie sich als Patrioten gehen und bei ihrer Urteilsbildung
von ihrem nationalistischem Rechtsbewusstsein leiten
lassen können? Das leisten die Lügen der
Bild-Zeitung sicherlich,
und das ist abstoßend genug. Aber darin allein gehen sie
gar nicht auf – Licht in ihren weitergehenden Sinn und
Zweck bringt die nächste Frage der Redakteure, mit der
man sich den nächsten grundfalschen Reim auf den
Verhandlungsmarathon
machen soll:
Wetten, dass uns die Griechen heute wieder über den
Tisch ziehen?
Der bloße Umstand, dass Tsipras und Varoufakis
sich den Diktaten der Euro-Gruppe nicht anbequemen und
stattdessen über Aufschub, Not-Kredite oder
Schuldenschnitt verhandeln wollen, ist für Bild ein Skandal. Bei Verhandlungen,
die Deutschlands fraglos gültiges Recht, die
Haushaltsführung seines griechischen Schuldners eigener
Aufsicht zu unterstellen, auch nur irgendwie zur
Disposition stellen, kann es schlechterdings
nicht mit rechten Dingen zugehen – und inwiefern
und weshalb, erfährt man dann ausgiebig. Denn
zum innerlichen Großereignis und wirklich gelebten
schönen Gefühl wird die Liebe zum Vaterland erst, wenn
Patrioten sich nicht nur bei Gelegenheit und auf Abruf
bekennen zu ihrem nationalen Kollektiv als ihrer
eigentlichen, höheren und deswegen unbedingt
verpflichtenden Identität. So richtig wahr und
lebendig, zum gleichermaßen umfassenden wie
komplett befriedigenden Lebensgefühl wird ihre Gesinnung,
wenn sie in der nicht nur ideell, sondern auch
wirklich zusammenstehen – wenn sie also jemanden
haben, gegen den sie sich als Vertreter ihres
Kollektivs zu behaupten haben. Mit der unbedingten
Parteilichkeit für den Haufen, zu dem man sich
ideell zurechnet, geht notwendig die genauso
unbedingt polemische Stellung gegen alles
einher, was nicht zum Haufen gehört, und die äußert sich
nicht erst in Ausländerhass und Brandstiftung: Sie ist
das Lebenselixier, das Patrioten
brauchen, um sich als solche auch wissen, fühlen
und – praktisch wie ideell – betätigen zu können. Genau
dafür, nämlich den deutschen Patrioten auch den
Genuss zu verschaffen, auf den sie wegen ihrer
feinen Gesinnung auch Recht haben, legen sich die
Redakteure der Bild-Zeitung ins Zeug: Sie
kultivieren die mit dem Appel an den deutschen
Steuerzahler
wachgerufene patriotische Gesinnung der
Deutschen, indem sie der den Feind ausmalen, mit
dem es Deutschland zu tun hat. Um das deutsche Volk zu
einer geschlossenen Front gegen einen Gegner
zusammenzuschmieden, verdrehen sie absichtsvoll alle
Tatsachen und malen die Brüsseler Verhandlungen als
Kampf des Unrechts gegen das gute Recht der deutschen
Sache aus. Das geht sehr einfach: Man muss einem
Volk nur sagen, was für Typen das sind, die sich
der Durchsetzung seiner Sache widersetzen.
Wenn Europas Führungsmacht sich auch noch mit einem
Kleinstaat, der pleite ist, derart abplagen muss, so ist
das ein einziges Schmierentheater
. Unter Anleitung
von Bild hat man sich zu
empören über die Hinhaltetaktik
, mit der
hier gerissene Zocker
versuchen, sich von ihren
Verpflichtungen davonzustehlen. Denn diese Verhandlungen
sind ja ein einziges Pokerspiel
, die typische
Bühne für Hasardeure, die mit nichts in der Hand den Pott
kassieren wollen – sie wollen unsere Zeit, sie wollen
unser Geld.
Das falsche Spiel, das Griechenpremier
Alexis Tsipras (40)
treibt, treibt er auch noch auf
die Spitze und zieht vor aller Augen seine letzte
gezinkte Karte aus dem Ärmel: Die
radikal-linke/rechtspopulistische Regierung in Athen
greift zum letzten Mittel (…) erpresst Europa! Mit
einem Referendum! Explosiv: Die Volksbefragung soll erst
am nächsten Wochenende stattfinden! Nach Auslaufen des 2.
Hilfspaketes zur Griechenland-Rettung
. Wer sich
deutschen Rechten nicht umstandslos beugt, ist selbst der
Initiator der Erpressung, der er sich widersetzt, und zur
weiteren Erbauung in dem schönen Gefühl, Angehöriger
einer großen Nation zu sein, die von subalternen Wichten
aufs Kreuz gelegt werden soll, bekommt das
Rechtsbewusstsein der Deutschen Tag für Tag weiter
Nahrung. Hinter dem Manöver des griechischen
Regierungschefs, nun auch noch sein Volk gegen unseren
Reformkurs
zu mobilisieren, steckt nichts als nackte
Geldgier: Mit Droh-Referendum, Wut-Reden,
Schein-Angeboten und Tricksereien (versuchen) der
Griechen-Premier und seine Zocker ... uns am Nasenring
durch die Arena zu führen
und aus der großen Idee
vom geeinten Europa baren Gewinn zu schlagen
. Eine
unfähige Ideologen-Regierung
wird in ihren
niederen Beweggründen entlarvt, und da scheint sich
immerhin ansatzweise die Vernunft Durchbruch zu
verschaffen, die diesem unwürdigen Spuk ein Ende
bereitet: Die Euroländer sagen ‚oxi‘ (griechisch für
‚nein‘) zu Athen! Sie lehnen eine Verlängerung des
Hilfspakets ab. ‚Das Programm läuft Dienstagnacht aus‘,
sagte Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem gestern bei
einem Sondertreffen der Euro-Finanzminister in Brüssel.
Damit steuert Griechenland auf die Staatspleite zu!
Aber das war ja auch nur der längst fällige
Schlussstrich, den die endlich gezogen haben, die sich
schon viel zu lange von diesen jungen Wilden aus der
griechischen Regierung haben vorführen lassen. Deswegen
gilt es gleich hinterher nachdrücklich zu betonen, dass
Gehorsamsverweigerung gegenüber deutschen Direktiven ein
Fall von nie gekannter Unverschämtheit
ist, und
das ist nicht alles. Nicht nur deutsches Recht wird hier
mit Füßen getreten, auch die grundgute Absicht, in der
Deutschland in Europa prinzipiell unterwegs ist, wird von
niederträchtigen Machenschaften hintertrieben, die man
gar nicht deutlich genug herausstellen kann, und dies tut
man, indem man den Deutschen den Schuldigen für
all diese komplizierten Verhandlungen
präsentiert,
die sich jedem gutwilligen Verständnis entziehen:
Tsipras hat Europa brüskiert, sein Land und sein Volk
ins Chaos und Verzweiflung gestürzt
, und dafür
präsentiert man einen Zeugen, wie er glaubwürdiger nicht
sein kann:
„Ex-Regierungschef Antonis Samaras mutmaßte im Kreis von Vertrauten in der Nacht zum Sonntag: ‚Tsipras hat es von Beginn an auf Konfrontation angelegt.‘ Tsipras spaltet. Europa, sein Volk. Die Stimmung kippt. Gefährlich. Zwei Seiten nur noch: für und gegen Tsipras. Für und gegen Europa.“
So geht Volksverhetzung: Man malt dem nationalen Kollektiv den Feind, der sich unseren selbstverständlichen Rechten widersetzt, als Verkörperung purer Böswilligkeit aus, den nichts anderes umtreibt, als alles nur vorstellbar Gute, die Einheit Europas wie die seines Volkes, zu zersetzen und damit in letzter Instanz nur Deutschland, die Macht, die für alles Gute steht, zu schädigen – und rundet die eigene Hetze dann noch mit der abschließenden Entlarvung des Bösen als Volksverhetzer ab:
„So bricht Tsipras die Verhandlungsbrücken ab. Hält Endzeitreden wie aus Volksempfängern. Ein Fackelträger einer linken Euro-Revolution – der doch nur Feuer zuhause legt? Geld und Zeit – das will Tsipras von Europa. Und hält eine Volksansprache in der Nacht mit solchen Sätzen: ‚Möglicherweise ist es das Ziel, ganz Griechenland zu erniedrigen.‘ Und: ‚Der Internationale Währungsfonds wollte grausame und erniedrigende Sparmaßnahmen durchsetzen.‘ Als er am Sonntag verkündet, dass am Montag die Banken geschlossen bleiben, gibt er die Schuld den anderen“ –
wo doch sonnenklar ist, dass Tsipras selbst mit seinem
Starrsinn das Drama angezettelt
hat, das er sein
Volk jetzt ausbaden lässt. Deswegen können die Deutschen
von dem Elend, in dem die Griechen leben, auch gar nicht
genug erfahren:
„Ausnahmezustand in Griechenland! Die Banken sind geschlossen, vergeblich stehen die Menschen am Geldautomaten ... Hamsterkäufe und Schlange stehen ... Angst vor Wucherpreisen ...“
Reisen bildet ja, also sind die Reporter vor Ort, und
zwar bevorzugt dort, wo sich auch ihre Leser auskennen.
Es trifft sich ausgezeichnet, dass der gesamteuropäische
Erfolg deutscher Discounter auch in Griechenland zu
besichtigen ist und Bild
daher eine Verkäuferin bei Lidl in Athen fragen darf, ob
das griechische Volk noch kann, was Völker immer müssen:
Mit allem zurecht kommen und sich einteilen – geht das
überhaupt noch? Man erfährt, dass es wegen der
Hamsterkäufe kaum noch Nudeln gibt
, generell, dass
das Leben in der Eurozone ohne Euros überhaupt ziemlich
schwer ist, und was aus den übrigen mitleiderregenden
Szenen rund um geschlossene Banken zu folgen hat,
buchstabiert das Blatt seinen Lesern vor, auch wenn die
es schon längst wissen: ‚Ja‘ zu Europa heißt NEIN! zu
Tsipras, und ganz Deutschland fiebert mit für ein
deutliches JA beim Referendum. Denn womöglich fällt dem
ekelhaften griechischen Erpresser sein Schachzug auf die
eigenen Füße und die Griechen haben endlich begriffen,
dass ihr persönliches Heil in der Unterwerfung ihrer
Regierung unter das Regime der Macht besteht, die im
europäischen Gesamtladen die Geschäfte führt.
Doch dann der Schock:
Spinnen die Griechen jetzt komplett?
– das stellen die Bild-Redakteure ausnahmsweise nicht zur Debatte, weil sie davon ausgehen, dass sich bei ihren Lesern alle Fragen über den Geisteszustand der griechischen Regierung und ihrer Anhänger erübrigen:
„Jubel wie beim Fußball-EM-Sieg 2004. Griechen feiern ihr Nein – Was nun Kanzlerin?
Athen gestern Abend, tausende Griechen feiern, als hätten sie etwas ganz Großes gewonnen! Beim Referendum über die Sparvorgaben der EU haben die Nein-Sager klar gesiegt. Ein Trumpf für Ministerpräsident Tsipras. Der Grexit ist jetzt so nah wie nie. Der Wahl-Krimi, was das Nein für Kanzlerin Merkel und die Eurozone bedeutet – Seiten 2,3“.
Schon vor dem Umblättern ist klar: Jetzt müssen die
Griechen durchgedreht sein. Sie feiern nicht die
nationale Einheit, die sich in einer 62 %-igen Zustimmung
zum Kurs von Syriza widerspiegelt, sie feiern auch nicht
das klare Ochi zur Bevormundung Griechenlands
durch die von der deutschen Kanzlerin vertretenen
Spardiktate. Mit ihrem Votum feiern sie auch noch ihren
ohnehin längst fälligen Rauswurf aus dem Euro, also ihre
Total-Niederlage:
„Feiern die Griechen hier ihren Untergang? Athen – Die Banken sind geschlossen, die Suppenküchen sind geöffnet – aber Griechenland feiert.“ „Griechenland wählt den Grexit! ... Griechenland hat einen Neuanfang gewählt: Den Austritt aus der Währungsunion!“
Für Bild ist ausgemacht, was ein Volk wirklich wählt, wenn es sich mehrheitlich hinter die eigene Regierung und gegen das Machtwort der deutschen Kanzlerin stellt. Und damit die deutschen Bürger diesen tieferen Sinn demokratischer Wahlprozesse erfassen, dürfen Experten für Demokratie zu Wort kommen:
Das sagen Politiker zum ‚Nein‘
, und zwar solche
Politiker, die tatsächlich etwas zu sagen haben, und die
sagen mehrheitlich Nein zum Nein, beispielsweise der
CDU-Europaexperte Elmar Brok (69)
:
„Europa kann nicht den Wünschen des Herrn Tsipras folgen. Jetzt sind aber die anderen 18 Demokratien an der Reihe zu sprechen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die alle weiter für Griechenland zahlen wollen, ohne dass die Griechen zu Reformen bereit sind.“
Selbstverständlich respektieren demokratische Politiker das Votum des griechischen Volkes, aber Demokratie heißt eben auch: Die Mehrheit entscheidet; und auch wenn die anderen 18 Demokratien sicherheitshalber gar nicht gefragt haben, was ihre Völker von Spardiktaten halten, so steht doch fest: Deutschland und der Eurogruppe ist es gelungen, nicht nur kleine Länder mit großen Schulden, sondern auch das große Frankreich auf die deutsche Linie festzulegen. Und weil in echten Demokratien Völker – und hier wie immer vorbildlich: das deutsche Volk – stets hinter ihren Regierungen stehen, ist das ja auch eine Art Volksabstimmung; und so sitzen die Völker Europas höchstpersönlich über Griechenland zu Gericht, wenn in Brüssel die EU-Gremien tagen. Und was das deutsche betrifft, steht der Urteilsspruch ja schon längst fest: Mit ihrer absolut nicht nachvollziehbaren, eigentlich nur mit ihrem leicht beschädigten Charakter zu erklärenden Treue gegenüber ihrem Regierungschef haben sich die Griechen total ins demokratische Abseits gestellt und müssen das jetzt büßen: Wer sich für Alternativen ausspricht, die nicht im Angebot sind, der wählt das Elend, das man ihm im Fall seiner Widersetzlichkeit in Aussicht gestellt hat, und wer das tut, kann nur verrückt sein.
Doch es gibt an diesem dramatischen Tag für Europa
auch eine wirklich gute Nachricht: Varoufakis gibt seinen
Rücktritt per Twitter bekannt. Bild-Plus meldet Varoufakis
geschasst
, denn Bild
hat neben seinem Chef ja auch ihn in Gedanken bereits
unzählige Male entlassen. Jetzt geht er tatsächlich,
endlich, und bekommt zum Abschied noch ordentlich eins
auf die Fresse, und zwar per
„Post von Wagner:
Lieber Yanis Varoufakis, bye,bye, Rüpel-Professor auf dem Motorrad, Rechthaber, Uni-Snob, in Cambridge studiert, in Cambridge gelehrt. Ja. Sie beeindrucken uns. Ein Schädel wie Bruce Willis. Wie ein wildes Tier traten Sie auf, das man nicht reizen durfte. Und dabei die Intelligenz der Uni. Sie waren ein Über-Mann. Ohne Krawatte, muskulöser Körper. Die Frage ist, wann Sie uns unsympathisch wurden. Sie wurden unsympathisch, als Sie keine andere Meinung zuließen. Als Sie hochmütig herabsahen auf den Rest der Menschheit. Wie ein Rotzlöffel führten Sie sich auf, der alles besser weiß. Ihre Verhandlungspartner beschimpften Sie als Terroristen. Was wir brauchen, ist Sympathie für Griechenland. Sie mussten gehen. Hoffentlich wird jetzt alles besser – ohne Sie. Herzlichst ...“
Neben einem gesunden Rechtsbewusstsein, was die
Anteilnahme an der erfolgreichen Durchsetzung der
nationalen Sache betrifft, sind selbstverständlich auch
Sitte, Anstand und guter Geschmack Kernkompetenzen
deutscher Patrioten – und in denen können sie sich unter
Anleitung ihres Blattes gleich doppelt austoben. Sie
dürfen einen Macho mit dicker Maschine und Blondine
hintendrauf sympathisch finden – nur um sich im selben
Zug mal so richtig über einen Repräsentanten des
gegnerischen Lagers herzumachen und sich über den
intellektuellen Klugscheißer auszukotzen, der hinter der
glamourösen Fassade steckt. Der hat es gewagt, uns
– UNS! – mit seiner Meinung zu terrorisieren, anstatt die
Schnauze zu halten und unsere zu unterschreiben. Der ist
ja jetzt weg vom Fenster, aber ob ohne ihn wirklich alles
besser
wird für Deutschland, ist gar nicht sicher.
Denn auch nach dem Referendum geht dieser unwürdige
Verhandlungsprozess
weiter – Bild stellt die ultimative Frage und
mit der den Sachverhalt ein letztes Mal wider besseres
Wissen auf den Kopf:
Was lässt sich die Kanzlerin eigentlich noch alles bieten?
„Keine neuen Milliarden für Griechenland
Heute brauchen wir die Eiserne Kanzlerin. Die Griechen haben entschieden! Schon heute muss Kanzlerin Angela Merkel (60, CDU) beim Krisengipfel in Brüssel ‚preußische Tugenden‘ beweisen. Sprich: Ein Euro-Land, das keine Reformvorgaben mehr will, darf dafür keine neuen Milliarden erhalten. Bild nennt den 5-Punkte-Plan, den die Kanzlerin heute durchsetzen muss.“
Das Volk erfährt, welche Ansprüche es gegenüber der Herrschaft hat, von der es regiert wird: Es hat ein Recht darauf, dass die sich im Namen der deutschen Sache gnadenlos durchsetzt gegen jeden Widerstand, wie und wo immer der sich regt. In diesem ihrem guten Recht können die Deutschen sich einerseits zufriedenstellend bedient sehen:
„Die harte Haltung von Finanzminister Schäuble (72, CDU) im Schuldenpoker mit Athen kommt bei den Wählern gut an ... Die Deutschen ... setzen auf seine Standfestigkeit.“
Auf den Mann ist trotz Rollstuhl Gott sei Dank Verlass,
aber auch noch andere gibt es, die den wahren Willen der
Deutschen kennen und wissen, wie deswegen mit
Griechenland umzugehen ist. Z.B. EU-Kommissar Günter
Oettinger (61, CDU)
: Ein insolventes Land passt
nicht zur Eurozone.
Andererseits ist freilich schon
entscheidend, ob auch die Kanzlerin dies so sieht, und da
hat man erhebliche Zweifel. Dass da jahrelang verhandelt
wird und jetzt schon wieder von Hilfe
und
Rettung
die Rede ist anstatt davon, wie Europa die
Griechen mit ihrer Pleite endlich los wird, stimmt die
Redakteure von Bild
bedenklich – so sehr, dass sie sich dazu hinreißen
lassen, im Namen des Volkes der Kanzlerin vorzuschreiben,
wie und worüber allein sie in Brüssel
zu verhandeln hat: Genau genommen über gar
nichts. Das Recht der Deutschen auf eine starke
Führung, die ihre Widersacher niederringt, wird
gegenüber der amtierenden gebieterisch, pocht auf Vollzug
dessen, was sich in Europa gehört – und über ihr
Sprachrohr Bild-Zeitung
kommen die deutschen Patrioten als Herrenvolk zu
Wort, das mit seinem Votum darüber befindet, wer
in Europa mitmachen darf und wer nicht:
„Bild fordert Angela Merkel auf: Frau Kanzlerin, bleiben Sie eisern! Nehmen Sie das Votum der Griechen ernst! Diesen 5-Punkte-Plan müssen Sie heute in Brüssel durchsetzen: 1. Sofortiger Austritt aus dem Euro (Grexit)! … Vorteil für Griechenland … neue Währung massiv abgewertet … billiger … kurbelt die Wirtschaft an, bringt neue Jobs und mittelfristig neues Wachstum.“
Bild versteht sich auf die Heuchelei, die Härte, die sie
im Namen des deutschen Patriotismus verlangt, wäre das
Beste, was auch den Opfern dieser Politik passieren
könnte – so viel altruistisches Alibi für militanten
Nationalismus muss in der Republik von Gauck, Merkel und
Gabriel schon sein. Den Griechen gebührt die Drachme,
Griechenland aus dem Euro zu werfen entspricht nur dem
ureigenen Verlangen des Volkes dort, denn ein untüchtiges
Volk kommt nur mit einer minderwertigen Währung wirklich
gut zurecht – mit dem Geld des Herrenvolkes tut man ihm
gar keinen Gefallen, damit ist es bloß überfordert. Die
weiteren Vorteile
, die Griechenland aus der
Umsetzung des der Kanzlerin überreichten
Forderungskatalogs erwachsen, folgen derselben Logik: Die
komplette Entmachtung eines störrischen Widersachers als
Häme über seinen von Anfang an hoffnungslos ohnmächtigen
Widerstand auszukosten, ist ein ganz besonderes
Vergnügen, das Bild
seinen Lesern unmöglich vorenthalten kann:
„2. Kein drittes Hilfspaket für Athen ... Vorteil für Griechenland: Der Wille der griechischen Wähler erfüllt ... Bevormundung beendet.“
Wieder wird nur einem Herzenswunsch der Griechen Rechnung
getragen, wenn Hilfe in Gestalt von Krediten für sie ab
sofort unterbleibt. Ohne den Preis der
Bevormundung
war die nun einmal nicht im Angebot,
bevormundet werden wollten sie nicht, also bekommen sie
jetzt genau das, was sie wollen – und noch eine Hilfe
etwas anderer Art gratis dazu. Denn auch vor einem Elend,
in das die Griechen sich selbst unbedingt haben
manövrieren wollen, verschließen gute Deutsche ihr Herz
nicht. Mit milden Gaben, die sie gerne geben, machen sie
deutlich, welche Ehre dem gebührt, der als Herr
über Europa auch die Bürde der Verantwortung für das
Schicksal der Völker trägt:
„4. Humanitäre Hilfe! ... Die EU-Länder helfen den Griechen aus der Not...Vorteil für Griechenland... Für Lebensnotwendiges kommt Europa auf.“
Besten Gewissens entziehen die Deutschen im Namen Europas
den Griechen das gute Geld, das sie im doppelten Sinn
nicht verdienen, lassen sie aber dennoch nicht verhungern
– was für ein Glück für die Griechen, dass ein so
grundguter Hegemon diese große Idee eines
vereinten Europa
in seine Hände genommen hat!
Jedoch: Den Rechtsansprüchen und moralischen Bedürfnissen
ihres eigenen Volkes wird die Kanzlerin nicht gerecht. An
deren Maßstab gemessen dokumentieren allein schon die
weiteren sich ankündigenden Verhandlungen
mit
Griechenland eine Nachgiebigkeit, die sich die Fachleute
von Bild nur mit einer
ausgesprochenen Führungsschwäche der Kanzlerin
erklären können: Nach 17 Stunden Gipfelmarathon
sicherte die Kanzlerin Athen das dritte Hilfspaket zu
– obwohl Bild ihr genau
dies im Namen aller Deutschen untersagt hatte! Für das
Blatt und alle, die es erfolgreich verhetzt hat, ist es
einfach nicht zu begreifen, wenn Deutschland diesem Staat
schon wieder Zusicherungen macht. Merkels
Milliarden-Murks
, titelt es in ganz großen Lettern,
und bringt dann gegen die Frau, die die
Richtlinienkompetenz über die deutsche Politik innehat,
den politisierten Gerechtigkeitssinn der
Deutschen als die allerhöchste Instanz in
Stellung, der demokratisch gewählte Machthaber
verpflichtet zu sein haben: Für die seit fünf Jahren
scheiternde Rettungspolitik hat kein einziger Politiker
Europas ein Mandat.
Wozu sie umgekehrt beauftragt
sind, geht daraus hervor: Von ihrer Macht, die
sie haben, auch entschlossen Gebrauch zu machen
und daher eine ‚Rettungspolitik‘, der sich irgendwer
widersetzt, mit aller Macht Durchbruch zu
verschaffen – das ist das einzige Mandat, mit
dem in der Demokratie Politiker von ihren Völkern
beauftragt werden und dem sie zu gehorchen haben. Allein
daran werden sie mit ihren Leistungen gemessen – und dies
dermaßen penetrant und grundsätzlich, dass die
Bild-Zeitung ausgerechnet
in einem Fall, in dem die Kanzlerin die griechische
Regierung zur Kapitulation erpresst und damit ein
überzeugendes Exempel ihrer Kompetenz zur Führung Europas
statuiert, eine einzige Relativierung des
deutschen Kommandos über Europa entdeckt: Mangelnde
Führungsstärke kreidet Bild der unbestrittenen Chefin aller
Deutschen an, weil die es an der Konsequenz hätte fehlen
lassen, mit der ein Schäuble sich in Brüssel um die
Durchsetzung deutscher Rechte hätte verdient machen
können, hätte man ihn nur machen lassen.
Schwäche bei der Durchsetzung deutscher Rechte: Mit der Deutung der Merkel-Politik schärft Bild den Patriotismus, dem es als verantwortungsvolles Organ der demokratischen Öffentlichkeit dient. Was die Zeitung an Merkel vermisst, legt sie eben damit ihrem Leserkreis ans Herz; als berechtigten Standpunkt, dessen Härte man sich nicht von seiner Obrigkeit vorgeben und schon gar nicht beschränken lassen muss: Das Element von Militanz und Ausländerverachtung, das den Stolz, ein Deutscher zu sein, erst so richtig schön macht.
Der Fall „Die Linke“ Von der internationalen Solidarität zur Gleichung von Demokratie und Nation
Die Syriza-Regierung und ihre Griechen haben auch Freunde in Deutschland, die sie gegen die Hetze von BILD und Co. in Schutz nehmen und Hilfe für sie nicht nur befürworten, sondern diese so ernst nehmen, dass sie dem „Dritten Hilfspaket der Eurogruppe“ ihre Zustimmung im Parlament verweigern, weil das den Namen Hilfe nicht verdient. Die Linke ist – was ihr einige Häme seitens der SPD einträgt – solidarisch mit Tsipras, indem sie gegen das votiert, was er akzeptiert und nun durchsetzt: Er wurde eben erpresst. Echte Hilfe hätte sich an den sozialen und ökonomischen Bedürfnissen von Staat und Volk in Griechenland zu orientieren, ihnen die untragbaren Schulden erlassen, Geld für die sozialen Staatsfunktionen und die ökonomische Rekonstruktion des Landes zur Verfügung stellen müssen. Das wäre Supranationalismus, wie ihn die Linke schon immer unter dem Banner der internationalen Solidarität vertritt, ein uneigennütziges Teilen zwischen Völkern und über Staatsgrenzen hinweg. Den Supranationalismus, den die deutsche Regierung als Mittel deutscher Macht und deutschen Reichtums praktiziert, wenn sie die Währungsunion zusammenhält und gescheiterte Mitgliedsländer kreditiert, kurz: wenn sie „Verantwortung für Europa übernimmt“, lässt die Linke überhaupt nicht als solchen gelten. Sie sieht da nichts als eine Lüge, einen Etikettenschwindel für die nackte Interessenpolitik, die die Regierung betreibt und der die Linke Nationalismus allenfalls mit dem Zusatz ‚fehlgeleitet‘ zubilligt. Denn eigentlich vertritt die Regierung mit ihrer Rücksichtslosigkeit gar nicht deutsche Interessen, sondern nur die der Banken und europäischen Finanzinstitutionen; denen gilt ihre Solidarität: Die neuen und fortgeschriebenen Kredite an Griechenland durchschauen die Linken als Instrument, griechische Anleihen in Besitz deutscher und europäischer Banken in Kurs zu halten und ihnen Vermögensschäden zu ersparen: neoliberale Liebedienerei des Staates am großen Kapital, sonst nichts. Da werden mal wieder Geldinteressen, zum Teil sogar nur private, über die Menschen gestellt.
Die Linke, allen voran Gregor Gysi, der Großmeister in dieser Disziplin, belässt es nicht bei dieser Anklage. Er findet den Nachweis fällig, dass diese deutsche Europapolitik gar nicht im Sinne Deutschlands, im Sinn der Nation eben fehlgeleitet ist. Einerseits macht er die von Deutschland durchgesetzte Spar- und Austeritätspolitik dafür verantwortlich, dass griechische Schulen und Krankenhäuser nicht mehr funktionieren, Krebspatienten nicht behandelt werden, Rentner sich ihre Medikamente nicht mehr leisten können; und als ob das nicht Vorwurf genug wäre, rechnet er der Regierung andererseits vor, dass die mit dieser Politik auch ihre eigenen, eben kritisierten kapitalfreundlichen Ziele nicht erreichen wird: Auf ihrem Weg wird das griechische Kapitalwachstum nie und nimmer auf die Beine kommen, weil die Massenkaufkraft sinkt, Händler und Produzenten keine Gewinne machen und weitere Beschäftigte entlassen, weil dadurch das Steueraufkommen weiter schrumpft und schließlich eben die Bedienung der Gläubiger griechischer Staatsschulden noch weniger gelingen wird als ohnehin schon. Erst wenn er Deutschland oder Europa als Opfer der menschlichen Opfer porträtiert, die deren Fortschritt fordert, ist sein Argument fertig – und man muss fürchten, dass er die einem deutschen Parlamentarier gut zu Gesicht stehende Sorge um den Erfolg des Großen Ganzen noch nicht einmal heuchelt. Wenn der Vorzeige-Linke der Republik den Fluch der bösen – unsozialen – Tat beschwört, bekennt er seinen tiefen Glauben an so etwas wie einen nationalen und europäischen Sachzwang zu sozialer Rücksicht; Staat und schon gleich Staatenbund können nur sozial gelingen. Ein Rätsel, wie die anderen, die gerade vorführen, wie wenig der Fortschritt ihres Europaprojekts unproduktive Sozialkosten verträgt, das immerzu ignorieren können.
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Sahra Wagenknecht geht die Sache prinzipieller an. Sie fordert nicht nur Solidarität und soziale Politik im Euroraum, sondern nimmt den Euro selbst als einen institutionalisierten Sachzwang zu unsozialer Politik ins Visier.
„Es zeigt sich einfach, dass der Euro nicht funktioniert, sondern immer größere wirtschaftliche Ungleichgewichte erzeugt, und am dramatischsten zeigt sich das eben in Griechenland. Darum beginnt in der Linken zu Recht eine Debatte darüber, welchen Spielraum eine Politik jenseits des neoliberalen Mainstreams im Rahmen des Euro überhaupt hat oder ob wir dieses Währungssystem nicht generell infrage stellen müssen. … Alles deutet darauf hin, dass es immer mehr Integrationsschritte gibt, die jede nationale Souveränität erledigen. Wenn in Zukunft die Haushalts- und sogar die Lohnpolitik in den Mitgliedsstaaten von EU-Technokraten gesteuert werden soll, dann gibt es letztlich keinen Raum mehr für demokratische Entscheidungen, und die Ergebnisse von Wahlen werden so irrelevant, wie wir das gerade in Griechenland erleben.“ (Die Welt, 21.8.15)
Dass der Euro die Unterschiede im Reichtum der beteiligten Nationen nicht einebnet, sondern vergrößert, zeigt erst einmal, wie er funktioniert – und nicht, dass er nicht funktioniert. Der Bedrohung, die dem Fortbestand des Währungsverbunds daraus erwächst, nimmt sich die Rettungspolitik auf ihre Weise an. Worum es bei der geht und wie sie funktioniert, interessiert die künftige Co-Fraktionschefin der Linken nicht. Sie steht so konsequent auf dem Standpunkt einer zum Kapitalismus gehörenden, ihn mildernden sozialen Politik, dass sie die ganze Währungsunion auf dieses Anliegen bezieht: Dafür funktioniert die tatsächlich nicht, im Gegenteil: In den Ländern, die Schwierigkeiten haben, dem Konkurrenzniveau auf dem Binnenmarkt gerecht zu werden, wird der „Spielraum“ für das, worauf es ihr ankommt, immer enger. Im Namen des Spielraums, nicht der Wirklichkeit, sondern der Bedingung der Möglichkeit sozialer Politik, und eigentlich nicht einmal der Möglichkeit solcher Politik, sondern der Möglichkeit demokratischer Entscheidungen zu ihr entdeckt Wagenknecht die Handlungsfreiheit des nationalen Gewaltmonopols als verletztes Schutzgut. Sie will durch die Rückabwicklung des in der EU eingerichteten Supranationalismus des Geldes die Selbständigkeit und Freiheit der Nationen zurückgewinnen, als Möglichkeit dafür, dass eine von ihnen sich auch mal gegen den neoliberalen mainstream entscheiden kann. Angesichts der imperialistischen Überwindung des Nationalismus in Europa machen sich die Linken zu Parteigängern der ungeschmälerten nationalen Souveränität. Der deutsche Europa-Imperialismus provoziert bei seinen Kritikern immer verrücktere Alternativen.
[1] Alle Zitate aus Ausgaben der Bild-Zeitung im Zeitraum vom 28.6. bis 14.7.2015