„Build Back Better“: Der Kampf um die Seele Amerikas geht weiter
Die Supermacht ringt mit sich um ihre weltweite Suprematie

Was haben das in den USA unter dem Titel „Build Back Better“ verkündete gigantischste ökonomische Aufrüstungsprogramm aller Zeiten und der immer heftiger werdende inneramerikanische Kulturkampf um Fragen wie Abtreibung oder Rassen- und Rassismustheorien miteinander zu tun? Auf den ersten Blick nichts, aber für die Weltmacht, ihre Führung und ihr Volk offenbar sehr viel. In unserem Artikel zum Thema ist nachzulesen, woran die USA tatsächlich leiden und warum ihre Führer so zielstrebig darauf kommen, dass sie sich um die „Seele Amerikas“ zu kümmern haben.

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„Build Back Better“: Der Kampf um die Seele Amerikas geht weiter
Die Supermacht ringt mit sich um ihre weltweite Suprematie

I. Eine fundamentale Revision im Innern zur Wiederherstellung einer amerikanischen Selbstverständlichkeit: unanfechtbare, weltweite Überlegenheit

So viel Mut zur Veränderung hätten Bernie und Co dem angestaubten Establishment gar nicht zugetraut. Doch kaum im Amt angekommen, kündigt Joe Biden ein Aufbau- und Modernisierungsprogramm an, das mit zwei Billionen für einen ‚American Rescue Plan‘ zur Bewältigung der Corona-Pandemie erst losgeht. Er stellt seine Agenda unter die Überschrift ‚Build back better‘, damit niemand verpasst, dass es ihm um weit mehr als die Bewältigung eines pandemischen Ausnahmezustands geht. Der wirft nämlich ein grelles Licht auf die Mängel und Missstände des amerikanischen Normalzustands, die ein anständiger Präsident endgültig nicht länger akzeptieren kann. Der reformerische Ehrgeiz kann also nicht groß genug sein: The biggest risk is not going too big ... it’s if we go too small. (Biden, 5.2.21) Zum Rettungsplan kommt daher ein ‚American Jobs Plan‘ hinzu, mit noch einmal zwei Billionen für die Reparatur und die Modernisierung der veralteten und verfallenden amerikanischen Infrastruktur, für eine digitale Offensive und eine grüne Wende in der nationalen Energieproduktion. Weitere knapp zwei Billionen für einen ‚American Families Plan‘ zur Ertüchtigung der sogenannten ‚human infrastructure‘, i.e. für einen gewaltigen Ausbau des notorisch freiheitlichen, also notorisch spärlichen amerikanischen Sozialstaats, machen es den Beobachtern endgültig schwer, geeignete historische Vergleichspunkte zu finden. Bis zu Johnsons ‚Great Society‘, womöglich Roosevelts ‚New Deal‘ müsse man zurückgehen. [1]

In der Zwischenzeit – Stand Mitte November – ist das große Gesetzespaket gewaltig zusammengeschrumpft. Das zähe Ringen mit einer uneinsichtigen republikanischen Opposition, die Bidens Energie- und Sozialreformpläne – erst recht die geplanten Steuererhöhungen – für unamerikanisches Teufelszeug hält, sowie mit einigen hartnäckigen demokratischen ‚Zentristen‘, für die das Reformprogramm einige Nummern zu groß ist, hat Spuren hinterlassen. [2] Der ‚progressive‘ Flügel der Demokraten, vom großen Plan anfangs so angenehm überrascht, vermag darin seine Handschrift nun nicht mehr zu erkennen. Auch die professionelle demokratische Urteilskraft hat ihre Bedenken: Wenn das Ringen sich so lange hinzieht und das Ganze immer wieder auf der Kippe steht; wenn immer größere Teile des Plans abbröckeln und Biden nicht einmal in seiner eigenen Partei, geschweige denn in der republikanischen Opposition genügend Stimmen hinter sich versammeln kann, dann stellt sich immer dringlicher die demokratisch wichtigste Frage: Kann Biden das überhaupt? Beherrscht er die Kunst des Machtkampfs, die das Regieren in der Demokratie nun einmal ausmacht? Bei aller vorläufigen Unentschiedenheit herrscht dennoch Einigkeit: Die große Reformagenda bleibt auch in ihrer Schrumpfform historisch.

So ist es auch. Denn bei allen Streichungen im Einzelnen hat sich an der Hauptsache nichts geändert. Der altgediente Versöhner hat sich immerhin eine explizite Revision des herkömmlichen, typisch amerikanischen Verhältnisses zwischen dem Staat und seinen konkurrierenden Bürgern vorgenommen: Das Motto Die beste Regierung ist die, welche am wenigsten regiert! soll ein für allemal aus dem Verkehr gezogen werden – wie viel davon auch immer die gesetzgeberischen und parteipolitischen Mühlen am Ende überlebt. Die Vorstellung, ausgerechnet Enthaltsamkeit wäre das herrschende Ethos des politischen Machtgebrauchs, gehört ohnehin zu den besseren Witzen des amerikanischen Regierungsbetriebs. Historiker versichern: Auch in den neoliberalsten Tiefen der Reagan-Zeit ist kräftig regiert worden, sind die Staatsaufgaben und -ausgaben mehr und die Gesetzesbücher dicker geworden. Auch in Amerika hat noch kein Politiker für sich damit geworben, dass er die Dinge einfach ihren Gang gehen lässt; auch ein freiheitsliebendes amerikanisches Volk, das versichern gerade diejenigen, die seinen Willen professionell bestimmen, will von seiner Obrigkeit Taten sehen. Dass die alte Spruchweisheit gar nicht staatliche Zurückhaltung, sondern entschiedene Tatkraft im Sinne der Freiheit des Geschäfts verlangt und rechtfertigt, also den konsequenten Einsatz staatlicher Macht gegen alle sozialen und umweltpolitischen Einwände, ist dabei stets praktisch klargestellt und letztlich immer verstanden worden. Dieser Lieblingslüge amerikanischer Regierungskunst stellt Biden nun eine andere, in Amerika zwar eindeutig minoritäre, aber durchaus vorhandene, entgegen: die vom fürsorglichen Staat. Dessen Tatkraft zeugt zwar in erster Linie davon, zu welcher Zerstörung an Mensch und Natur ein vorbildlich freiheitlicher Kapitalismus es bringt, aber gerade deswegen soll sie die Güte des Staates belegen, der sich ihrer annimmt. Genau in dem Sinne darf für Biden und sein Team nicht länger an Notwendigkeit und Nutzen einer beherzten Einmischung der Staatsmacht in die Konkurrenz gezweifelt werden – und zwar weit über den Ausnahmezustand der Corona-Krise hinaus, eben als neue amerikanische Normalität. Offenbar haben sie aus den Erfahrungen der letzten Jahre interessante Schlüsse gezogen.

Eigentlich ziehen sie immer denselben: In der Verwüstung, die der Klimawandel seit einigen Jahren in Gestalt von zahlreichen, über das ganze Land verstreuten Naturkatastrophen hinterlassen hat, entdecken sie eine gefährliche Schwäche. Es ist die gleiche Schwäche, die sie auch in der pandemiebedingten Störung von wichtigen Lieferketten – Halbleiter und so – und in der Armut und Unzufriedenheit der amerikanischen Arbeiterklasse erblicken. Letztere sind nach regierungsamtlicher Auskunft zwar nicht erst in der Pandemie, dann aber endgültig so weit gediehen, dass sie ein ganz prominentes Beispiel für dasselbe, allgemeine nationale Problem abgeben: Amerika hat seine eigenen Lebensbedingungen nicht im Griff. Und die Behebung dieser Schwäche – die Sicherung der klimatischen, energetischen, technologischen und menschlichen Essentials des nationalen Kapitalismus – kann dem Erfindungsreichtum und der Unternehmungslust seiner Kapitalisten nicht überlassen werden. Damit umgekehrt aus den Gefahren Gelegenheiten werden, um besagte Unternehmertugenden voll auszuleben und ganz viel Kapital zum Nutzen Amerikas einzusetzen, muss der Staat sich zu einer Wende entschließen. Die schließt erstens ein Bekenntnis zur Industriepolitik ein: Damit amerikanisches Kapital an den richtigen Stellen zum Zuge kommen und seine Segnungen entfalten kann, muss der Staat selbst die einschlägigen Branchen erschließen und es vor den auswärtigen Konkurrenten schützen. [3] Das tut erst recht deswegen not, weil andere Nationen, insbesondere der große chinesische Rivale, dasselbe längst erfolgreich tun, zwar mit unfairen Mitteln, aber mit Ergebnissen, die den USA Respekt und einen gewissen Lernwillen abnötigen. [4] Das schließt zweitens eine sozialpolitische Wende ein – ausgehend von dem Eingeständnis, dass auch die berühmten ‚hard-working Americans‘ mit noch so viel typisch amerikanischem Zweckoptimismus ohnmächtig sind, sich alleine aus ihren Notlagen herauszuarbeiten. Für ihre eigene Reproduktion und für die ihrer Familie können sie aus eigener Kraft nicht sorgen, womit auch ihr Beitrag zum Erfolg Amerikas prekär wird – als Arbeitskraft wie als Kaufkraft im Dienste amerikanischer Geschäftemacher. Nicht länger zu ignorieren ist dabei auch die Gefahr, die von der Unzufriedenheit dieser Bürger für die Funktionstüchtigkeit der amerikanischen Demokratie ausgeht: Die sind immerhin in erschreckendem Ausmaß und gleich zweimal für einen Antiestablishment-Antidemokraten in die Wahlkabine gegangen, während andere sehr zahlreich und sehr aggressiv gegen die Autorität einer als systemisch rassistisch empfundenen Staatsgewalt auf die Straße gegangen sind. Beides bringt die neue Regierung auf den einen gemeinsamen Nenner, auf ein Gefühl der totalen Vernachlässigung durch den amerikanischen Staat. Die Antwort, die die Regierung darauf gibt, ist – da hat die republikanische Opposition nicht unrecht – ziemlich unamerikanisch: Die sozialen Härten, die traditionell als Fährnisse der freiheitlichen amerikanischen Glücksjagd rangieren, die das frei konkurrierende Individuum und seine Familie ganz mit sich als eigene Bewährungsprobe auszumachen haben, definiert sie nun als eine Bewährungsprobe für den demokratischen Staat: Er muss zeigen, dass er für seine Bürger ‚liefern‘ kann, wenn und weil sie das so dringend brauchen.

Von Anfang an legt Biden größten Wert darauf, dass der Beweis, den der amerikanische Staat dabei dem eigenen Volk schuldet, zugleich von weltweiter Bedeutung ist. Dazu bemüht er das verlogene Bild einer neuen Systemkonkurrenz um die Gunst der Weltbürger, mit den von Amerika angeführten Demokratien auf der einen Seite und den Vertretern des – populistischen oder staatskapitalistischen – Autoritarismus auf der anderen. Wofür das Bild praktisch steht, sagt Biden dankenswerterweise gleich dazu: Die Bewährungsprobe gilt als bestanden und die Systemkonkurrenz als gewonnen, wenn Amerika seine Suprematie als Weltmacht bewiesen hat, insbesondere gegenüber dem chinesischen Rivalen. Diese Bewährungsprobe – so sein wiederholter Appell an die republikanischen Kritiker und die Zauderer in den eigenen Reihen – könne keinen noch so sozialdarwinistischen Konkurrenzhelden und fiskalkonservativen Freiheitsfanatiker kaltlassen. Diese weltweite Überlegenheit ist es, was Biden von innen und vom Staat her ‚wieder- und besser aufgebaut‘ haben will, wenn er sich mit großem Veränderungswillen über das Innenleben der Nation hermacht:

„Wir riskieren derzeit den Verlust unserer Überlegenheit als Nation... Es geht hier nicht um links versus rechts, liberal versus progressiv oder sonst um irgendetwas, was Amerikaner gegeneinander stellt. Es geht um Konkurrenz versus Selbstzufriedenheit... Es geht darum, die Welt zu führen.“ (Biden, 28.10.21)

Biden mag sich also noch so vehement von Trump abgrenzen und ihm einen gehörigen Teil der Schuld an der ökonomischen, politischen und moralischen Krisenlage der Nation geben – worin er seinem verhassten Vorgänger recht gibt, zumindest in der Sache, ist dennoch nicht zu übersehen. Wenn er sein Programm der inneren Ertüchtigung und der nationalen Versöhnung als das entscheidende Mittel zur Sicherung bis Wiederherstellung der weltweiten Suprematie Amerikas verstanden haben will, dann gibt es kein Vertun: ‚America first!‘ ist definitiv keine besondere Bosheit Trumps gewesen. In dem elementaren Sinne, dass Amerikaner selbstverständlich unanfechtbare Sieger in allen entscheidenden Belangen sind, ist das offenbar der herrschende nationale Konsens – der treffendste Ausdruck dafür, was es überhaupt heißt, Amerikaner zu sein. Bidens großes imperialistisches ‚self care‘-Programm verrät dasselbe unerschütterliche Vertrauen in Siegesfähigkeit und -willen seines Volks, das Trump bei jedem seiner bejubelten bzw. belächelten Auftritte zelebriert hat. Und wenn die Bewahrung dieser Suprematie laut Biden eine gründliche Revision im Innern erfordert, die für amerikanische Verhältnisse kaum weniger umstürzlerisch ist als die diversen Tabubrüche Trumps, dann teilt Biden das Urteil, das der Blick aus dem Oval Office seinen Insassen schon seit geraumer Zeit aufdrängt: Die Selbstverständlichkeit einer amerikanischen Großartigkeit jenseits aller Beweisnot ist eben keine mehr; die kann und muss Amerika wiederherstellen, weil es – so die ebenso selbst- wie problembewusste Diagnose – sie selbst aus der Hand gegeben hat.

II. Die Grundlagen der amerikanischen Weltmacht: ein System der Konkurrenz zum amerikanischen Nutzen

An der Diagnose stimmt zumindest so viel: Die einzigartige Großartigkeit, an die sich Amerika so lange und so fest gewöhnt hat, dass es sie als sein quasi-natürliches Recht, sogar als seine nationale Identität zelebriert, ist ihm tatsächlich abhandengekommen.

Nicht etwa in dem Sinne, dass die Konkurrenzfähigkeit der Amerikaner dahin wäre. Im Gegenteil.

1. Überlegene Konkurrenzfähigkeit und ein Geld, das die Welt kreditiert

Auch wenn der berüchtigte ‚Rostgürtel‘ als Ausweis eines industriellen Abstiegs beklagt wird, gerne auch von wahlkämpfenden US-Präsidenten – in diesem düsteren Bild glänzt vor allem die enorme Kapitalproduktivität, mit der geschäftstüchtige amerikanische Industrielle ganze Landstriche und Bevölkerungsteile überflüssig gemacht haben, um ihren noch bestehenden und neu formierten Belegschaften umso reichlicher Gelegenheit zu geben, ihren hart arbeitenden Nationalcharakter unter Beweis zu stellen. Die tun das heute so, wie sie es mit allem Stolz immer getan haben: im abhängigen Dienst von Unternehmen in allen Schlüsselindustrien – von der Automobilproduktion über den Global Player in der Luft- und Raumfahrt bis hin zu den Schwergewichten der amerikanischen Rüstungsindustrie. Dort dürfen amerikanische Arbeiter sogar mehr, als ihren kapitalistischen Dienstherren zu einer kollektiven Spitzenposition zu verhelfen: Sie leisten auch Großes für die militärische Konkurrenzfähigkeit der Nation, für deren unübertreffliche Führerschaft auf dem gesamten Spektrum militärischer Auseinandersetzungen bis hin zur Führbarkeit eines atomaren Weltkriegs.

Ihre außerordentliche Geschäftstüchtigkeit zeigen amerikanische Kapitalisten heute vor allem auch in einer Branche, in der das monopolistische Ideal eines jeden kapitalistischen Konkurrenten gleich das ganze ‚digitale‘ Geschäftskonzept ist. Auf welches Bedürfnis auch immer ihre einzelnen ‚Services‘ im Ausgangspunkt gemünzt sind, sie drehen sich alle um das eine, nämlich um die ‚Vernetzung‘; deren Gehalt ist niemandem ein Geheimnis, den Kunden und Konkurrenten aus allen Branchen am allerwenigsten: Es geht um die Regie über ganze ‚Wertschöpfungsketten‘, im Idealfall über das globale Geschäftsleben. Fest steht, dass die US-Techriesen, die gerne im Buchstabensalat GAFAM als Kollektiv gefasst werden, mit ihren jeweiligen digitalen Angeboten an jeder Phase des weltweiten Kapitalkreislaufs und an jeder Nahtstelle dazwischen beteiligt sind; und dass sie es darüber an etlichen Stellen zu einer beeindruckenden Bestimmungsmacht über den globalen Geschäftsprozess gebracht haben und damit längst nicht am Ende sind, sodass besorgte Journalisten ihre einschlägigen Reportagen gerne Die neuen Herrscher der Welt? betiteln. Das ist eine Frage, die die traditionellen staatlichen Herrscher der Welt sehr praktisch bewegt.

Definitiv keine bloße Sorge, sondern gesicherte Tatsache ist die bleibende Dominanz amerikanischer Geschäftemacher im Handel mit der erlesenen Ware Kredit, dessen Zuteilung generell über Sein oder Nichtsein, über die Geschäftsfähigkeit von Kapitalisten in allen Branchen sowie über die finanzielle Potenz von Staaten entscheidet. Der globale Handel mit Geldkapital hat bekanntlich nach wie vor seine prominenteste Adresse an der amerikanischen Ostküste. Vom geldwerten Vertrauen der dort ansässigen, ebenso risikofreudigen wie sicherheitsbedachten Akteure hängen Geschäftemacher und Staaten in aller Welt ab. Womit man dem Kernstück amerikanischer ökonomischer Überlegenheit näher kommt.

Die liegt weniger in den Taten amerikanischer Kapitalisten als in ihrem Geschäftsmittel: in dem Geld, das gar nicht bloß die Währung ihrer Nation ist, sondern: der Dollar eben. Der ist das bevorzugte Zahlungsmittel der Welt für grenzüberschreitende Geschäfte jedweder Art; in ihm werden weltweit Kredite vergeben, Schulden gemacht, Investments getätigt und Investitionsmittel geschaffen; in ihm bilanzieren Unternehmen aller Branchen und in allen Regionen ihren Reichtum. Mit Dollar-Schulden, insbesondere mit denen des amerikanischen Staates, bestücken andere Nationen ihre Reserven, stehen also mit Dollar-Kapital für die Geldqualität ihrer eigenen Währungen ein. Damit leisten die Geschäftemacher und Staatsgewalten der Welt, sogar dort, wo kein amerikanisches Unternehmen seine Finger im Spiel hat, einen enormen Dienst an der amerikanischen Macht. Denn mit der allseitigen Benutzung des Dollar als entscheidende Materie der globalen kapitalistischen Reichtumsvermehrung, als die ökonomische Substanz, um die sich der globale Handel und Wandel überhaupt dreht, bekommt Amerika dauerhaft und flächendeckend bestätigt: Was seine Zentralbank an Zahlungsversprechen schöpft, ist definitiv Weltgeld – absolut gültiger, unmittelbarer Ausdruck des Geldreichtums, um den die Welt konkurriert. Damit verschaffen die ökonomischen und politischen Konkurrenten Amerikas dieser Nation ein unvergleichliches Mittel seiner Konkurrenzfähigkeit als Staatsmacht: eine unanfechtbare Kreditwürdigkeit, damit die finanzielle Freiheit, sich alles zu leisten, was diese Weltmacht in ihrer Einzigartigkeit für nötig hält, also ein ziviles Machtmittel von beeindruckender Wucht. Wie wuchtig, das bezeugen weltweite Beschwerden über das ‚exorbitante Privileg‘ des Dollar-Emittenten, über den berüchtigten Standpunkt ‚Unsere Währung, euer Problem‘ und die unausweichlichen Wirkungen amerikanischer Finanzsanktionen bis hin zum bösen Wort ‚Dollar-Imperialismus‘.

2. Konkurrenzlosigkeit als Weltmacht – das eiserne Prinzip, auf dem Amerika eine freie, globale Konkurrenzordnung errichtet

Dennoch: Wenn Biden und schon Trump vor ihm die Wiedergewinnung amerikanischer Suprematie auf die Tagesordnung setzen, dann beschwören sie mit ihren jeweiligen Wahlsprüchen – ‚America first!‘ wie ‚Build Back Better‘ – eine Großartigkeit, die schon immer in viel mehr als der außerordentlichen Konkurrenzfähigkeit der USA besteht. Wenn sie ihre Nation – wie überhaupt alle, die in ihr ein Stück politischer Verantwortung wahrnehmen – die ‚exceptional nation‘ nennen und sich entsprechend aufführen, dann machen sie deutlich: Amerikaner finden ihre Großartigkeit in ihrer Konkurrenzlosigkeit. Und sie haben als Grundlage für dieses bekanntlich übersteigerte Selbstbewusstsein die tatsächlich einzigartige imperialistische Großtat ihres Staates vorzuweisen, ein System der Konkurrenz geschaffen und dominiert zu haben – erst eine halbe, dann eine ganze Weltordnung, in der Amerika mit seinem Geld und seiner Gewalt die Maßstäbe dafür gesetzt hat, was es in der modernen Welt überhaupt heißt, ein erfolgreicher kapitalistischer Konkurrent und eine erfolgreiche staatliche Macht zu sein.

Worauf die USA dabei von Anfang an, schon vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestehen: Eine ‚Weltordnung‘ kann es nur im Singular geben. Wenn die Staatenwelt nicht unter der Schirmherrschaft einer unangefochtenen Weltmacht steht, dann herrscht in ihr keine Ordnung; und ohne Ordnung herrscht auch keine Freiheit. Für die besiegten Kriegsgegner und ruinierten Alliierten heißt das: Sie haben ihre Aufteilung der Welt, ihre jeweiligen Kolonialreiche aufzulösen und ihr Glück in der allein von den USA geordneten Konkurrenz um den einen Weltmarkt zu suchen; an der müssen auch ihre ehemaligen Kolonien als unabhängige, gleichberechtigte Souveräne teilnehmen dürfen. Was den anderen, sowjetischen Kriegsverbündeten betrifft: Die schiere Existenz eines Staates, eines Staatenblocks schon gleich, der diese Ordnung nicht als die seine anerkennt und seine eigene sozialistische Ordnung als alternatives System geltend macht, ist nicht nur eine ärgerliche räumliche Beschränkung der amerikanischen Weltordnung, sondern ein unerträglicher Verstoß gegen sie. Der renitente Täter verliert damit sein Existenzrecht; und wenn er sich die atomaren Mittel verschafft, sich diesem Todesurteil zu widersetzen, dann steht ‚Containment‘ an – dies der verniedlichende Ausdruck für eine den Globus umspannende Weltkriegsfront, in der die USA sich die Potenzen für eine mehrfache Vernichtung des Globus zulegen und ihre besten Köpfe an die Lösung der Frage setzen, wie man den eigentlich fälligen, aber angesichts der wechselseitigen Vernichtungsdrohung undurchführbaren Atomkrieg doch führbar und gewinnbar, zu einer frei kalkulierbaren Kriegsoption machen kann. Und an zahlreichen wüsten Nebenfronten demonstrieren die USA mit ein paar selbst geführten und vielen ‚Stellvertreter‘-Kriegen rund um die Welt und nicht zuletzt in den Ex-Kolonien, dass die Freiheit der Völker in ihrer alternativlosen Subsumtion unter den US-Imperialismus und dessen Hauptfront besteht. Mit dem größten Kriegsbündnis aller Zeiten verwickeln die USA gerade die potentesten und ambitioniertesten kapitalistischen Staatsmächte Europas in besagte Weltkriegskonstellation, die ihnen nur die eine Alternative lässt: sich unter den Schutzschirm der Führungsmacht der USA zu begeben und sich hinter ihr einzureihen. Die sich zu eigen gemachte Feindschaft gegen die Sowjetunion fällt also zusammen mit ihrer Unterordnung unter die amerikanische Führungsmacht; beides wird zur Prämisse ihrer Staatsräson, zur Grundkonstante all ihrer eigenen Kalkulationen und Ambitionen als souveräne, kapitalistische Staaten. Dieses Kriegsbündnis eine ‚Wertegemeinschaft‘ zu nennen, ist zwar ein beschönigender Zynismus, bringt aber immerhin die Unbedingtheit des amerikanischen Anspruchs auf Unterordnung in unmissverständlicher Form zum Ausdruck.

Das Regime, das die USA damit auf ihrer Seite des ‚eisernen Vorhangs‘ im ‚freien Westen‘ verhängen, präsentieren sie als das verheißungsvolle Angebot – im NATO-Vertrag ganz offiziell – einer von allen Staaten getragenen und mit lauter supranationalen Institutionen ausgestatteten Herrschaft des Rechts, der sich auch der amerikanische Schöpfer und gewaltsame Garant dieses Rechts beugt, wenn er es verbindlich durchsetzt. Unter diesem Regime gilt die Freiheit der Konkurrenz gleichermaßen für alle Staaten; alle haben Land und Leute für den Zugriff auswärtigen – naturgemäß in erster Linie amerikanischen – Kapitals zu öffnen und ihre Gesellschaften einer grenzüberschreitenden Konkurrenz um Gewinn auszusetzen. Für die meisten Länder erschöpft sich die Beteiligung an der freiheitlichen Konkurrenz darin, subalterne Dienste am Dollar-Reichtum zu erbringen, der in den Händen fremder kapitalistischer Subjekte wächst und die Macht anderer Staaten steigert. Für die amerikanische Heimat der produktivsten kapitalistischen Konkurrenten läuft die freiheitliche und egalitäre Veranstaltung im Prinzip und lange Zeit auf eine Erfolgsgarantie bei der Benutzung der Welt für ihre kapitalistische Akkumulation hinaus. Für die vom Weltkrieg ruinierten, der amerikanischen Siegermacht gegenüber heillos verschuldeten, dennoch kapitalistisch ambitionierten europäischen Länder heißt das, dass sie für die Realisierung dieser verheißungsvollen Perspektive eines eigenen erfolgreichen Kapitalismus alternativlos vom Geld der USA – näher: von amerikanischem Kapital und Dollarkredit – abhängen. Sie verfügen zwar über eigene Währungen und eine eigene Geldhoheit; doch die ökonomische Substanz ihrer Gelder besteht im Dollarkredit, der reichlich fließt, um aus ihren Ländern Anwendungsfelder amerikanischen Kapitals und Vorposten amerikanischer Militärmacht zu machen. Nur als nationaler Stellvertreter des Dollar, des einzigen Kreditgelds, das weltweit anerkanntermaßen kapitalistischen Reichtum verkörpert, sind ihre Währungen Geld und als solche für die Beteiligung am internationalen Handel und Wandel brauchbar, also konvertibel. Ihre Bemühungen um die Mehrung ihres eigenen Nationalreichtums stehen von Anfang an im Dienste der USA, die die Weltwirtschaft so – mit ihrer singulären Gewalt und ihrem singulären Geld – zur Dependance für die Verwertung amerikanischen Kredits machen. Auf diese Weise machen die USA ihre Überlegenheit und umgekehrt die Dienstbarkeit ihrer kreditierten Konkurrenten an dieser Überlegenheit zur sachlichen Funktionsbedingung des nationalen Egoismus aller Länder. Auf dieser Grundlage und nach den Maßstäben, die die USA mit ihrer überlegenen Kapitalproduktivität vorgeben und denen sie als einzige Nation je schon genügen, geben sie die Konkurrenz frei und bringen sie in Gang. Die kreditierten Konkurrenten sollten ruhig gegen die USA um die Akkumulation von Geldreichtum in Dollarform konkurrieren; sie sollten mit ihren eigenen Konkurrenzerfolgen ihren eigenen Währungen Substanz verleihen, sogar den Status von Weltgeldern anstreben; aus den Erträgen ihrer Beteiligung am globalen Kapitalismus sollten sie souverän Staat machen und selbst politische Macht zur Mitgestaltung der Welt gewinnen. Das ist der für sie vorgezeichnete Erfolgsweg, und der konfrontiert sie mit einem fundamentalen Widerspruch: dem zwischen dem notwendigen Ehrgeiz kapitalistischer Nationen, d.h. einer Räson, die auf Erfolg im grenzüberschreitenden Erwerb von Geld und Macht zielt, und dem Umstand, dass die USA mit ihren überlegenen Waffen die gewaltsame Garantie und mit ihrem Nationalkredit das Mittel und die Materie dieses Erfolgs stiften.

3. Die Konkurrenz der Nationen auf dem Weltmarkt – die zwar widersprüchliche, aber unbestreitbare Erfolgsstory des amerikanischen Imperialismus

Die Konstruktion enthält zwar auch für Amerika einen Widerspruch: Es befreit und befähigt seine Konkurrenten zu einer Konkurrenz, der es sich selbst stellt und deren Regeln es sich selbst beugt. An ihm hat sich Amerika bloß nicht stören müssen, weil – und solange – der gerade die Weise ist, wie es sein Interesse an der Benutzung der ganzen Welt, seine überlegene Konkurrenzfähigkeit und die Singularität seiner Geldmacht praktisch zur weltweit gültigen Sachlage, zum Funktionsprinzip einer ganzen Weltordnung erhebt.

Genau so richten die USA Westeuropa zum Alter Ego des amerikanischen Kapitalismus her: zur ersten und besten Anlagesphäre amerikanischen Kapitals außerhalb des Homelands, zum riesigen Tummelplatz für den Dollar. Und mit seinen eigenen Dollarverdiensten beglaubigt der aufstrebende europäische Kapitalismus die US-Schulden und das US-Kreditgeld als die weltweit gültige Materie des kapitalistischen Eigentums schlechthin. Zusammen mit ihren treuen Diensten als NATO-Alliierte bewähren sich die Mitglieder des stetig wachsenden europäischen Zusammenschlusses als ein ganz dickes, stabiles Standbein für die ökonomische wie militärische Macht der USA, als der erste und wichtigste Beitrag zur Realisierung der imperialistischen Singularität Amerikas.

Im Falle Chinas gelingt es den USA, ein Riesenreich mit den größten Menschenmassen der Welt aus dem realsozialistischen Fahrwasser der Sowjetunion heraus zu begleiten, es zu einer kapitalistischen Öffnung hin zu bewegen und es dabei als gigantischen Beitrag in den globalen amerikanischen Kapitalismus einzubauen: als riesige Expansionssphäre für den amerikanischen Kapitalismus, in dem viel zu viel Reichtum akkumuliert worden ist, als dass er sich mit den bestehenden Möglichkeiten zufriedengeben könnte, Land und Leute kapitalistisch auszunutzen. An China haben sie ihre Freude gehabt: Sie haben aus der landestypischen Armut einen Haufen hard-working Chinesen gemacht und sie an eine ungeheuer ergiebige ‚Werkbank‘ gesetzt. Mit dem wachsenden Reichtum, der darüber auch in China zustande kommt, hat sich ein erfreulich dynamischer Markt entwickelt; die Dollars, die China im Zuge seiner Exporterfolge massenhaft verdient hat, sind zuverlässig in amerikanische Staatsanleihen geflossen und haben die massenhaft beglaubigt. Mögen die Schulden der USA noch so hoch sein, sie sind unzweifelhaft Kapital; Amerikas nationales Kreditgeld ist endlos solide – vor allem davon zeugen die ewig beklagten Handelsdefizite der USA gegenüber dem Riesenreich.

Schließlich schaffen es die USA, den großen atomar gerüsteten Verstoß gegen ihren Anspruch auf eine wahrhafte Weltordnung zu erledigen. Die Herren über die sowjetische Systemalternative hatten sich – nolens volens – auf die Konkurrenz eingelassen, die die USA ihnen aufgemacht und für die sie die einschlägigen Maßstäbe gesetzt hatten: auf einen Wettlauf um Zerstörungspotenzen, der die Sowjets letztendlich zum welthistorischen Eingeständnis der Unterlegenheit ihres Systems bewogen hat. Denn im Gegensatz zu den USA, die es schaffen, aus dem gigantischen Aufwand an Geld, Ressourcen und Arbeit für weltkriegsgerechte Destruktivkräfte ein bombiges Geschäft, einen positiven Beitrag zu ihrem Nationalreichtum zu machen, blieb für die Realsozialisten die Rüstung – schon gleich auf dem Niveau einer Weltkriegskonstellation – eine schwere und irgendwann erdrückende Belastung. Nachdem die regierenden Genossen daraufhin die Tauglichkeit ihres Systems endgültig anzweifeln und der ‚Ostblock‘ sich auflöst, ist die ‚One World‘ des amerikanisch dominierten Kapitalismus endgültig Realität. Seitdem gilt auch in den Ländern des ehemals feindlichen Lagers, dass der Reichtum der Nation in dem Maße entsteht und vergeht, wie das weltweit tätige Kapital mit ihnen als Mittel seiner Akkumulation etwas anzufangen weiß. Und nachdem an ihnen der Beweis gründlich vollstreckt worden ist, wie wenig sozialistische Produktivkräfte und Gebrauchsgüter den Maßstäben gewachsen sind, die die kapitalistischen Konkurrenten im Westen setzen, gesellen sie sich großteils zur großen Mehrheit der Staatenwelt, deren Platz in der Weltordnung seit jeher darin besteht, mehr oder weniger nützliche Dienste für die wirklichen Subjekte der kapitalistischen Weltordnung zu erbringen. Mit dem Ende der Systemfeindschaft wird der Anspruch real, auf dem die USA ihre Weltordnung überhaupt gründen: Sie sind die Supermacht, die ‚einzig verbliebene‘; zu ihrer Ordnung und zu ihrer Ordnungsmacht gibt es endlich – einen ganzen ‚unipolaren Moment‘ lang – keine Alternative.

III. Der Widerspruch des amerikanischen Erfolgswegs und seine Resultate

Seit einer gefühlten Ewigkeit beklagen sich amerikanische Präsidenten über Konkurrenten, die – etwa mit außerordentlichen Exporterfolgen – die gewohnte kapitalistische Überlegenheit der USA infrage stellen. Mit einer gewissen Routine schließen sie dabei von Nachteilen und Niederlagen, die nicht sein können, auf Verstöße gegen die Konkurrenzordnung, die nicht sein dürfen. Im Grunde gilt dieselbe Logik in all den Fällen, in denen die USA auf politischen Widerstand treffen, darin mangelnden Respekt gegenüber ihrem Recht als globaler Ordnungsmacht entdecken und auf ‚Schurken‘ schließen, die die Weltgemeinschaft insgesamt bedrohen. Mit Erpressungen und Drohungen ökonomischer und militärischer Art, mit Sanktionen, Kriegseinsätzen und auch mit neuen Deals werden die USA mit den jeweiligen Problemfällen irgendwie, mal besser, mal schlechter und mal gar nicht zu ihrer Zufriedenheit fertig. Von etwas anderer Qualität ist die Bedrohung, die die Bewohner des Weißen Hauses im Auge haben, wenn sie auf das Treiben von Russland, der EU und China blicken. Im Aufstieg und im Gebaren dieser Mächte sehen die USA – wenn auch in jedem Fall unterschiedlich – den Verlust ihrer Konkurrenzlosigkeit, i.e. der Singularität ihrer Stellung in der von ihnen gegründeten und geordneten ökonomischen und politischen Konkurrenz. Dass Biden sich mit diesem Verlust genauso schwertut wie Trump, ist nachvollziehbar. Definitiv ungerecht ist es, wenn die beiden die Schuld im eigenen Land, im politischen Versagen seiner Führung suchen. Die Konkurrenz, mit der sie es nun zu tun bekommen, liegt nämlich nicht an eigenen Versäumnissen, sondern am imperialistischen Erfolg der USA: an den Fortschritten ihrer Weltordnung.

1. Die in der amerikanischen Ordnung aufgewachsenen Konkurrenten untergraben die Konkurrenzlosigkeit Amerikas

Die Kehrseite der Erfolgsstory fängt schon mit dem besiegten sowjetischen Feind an: Das Szenario eines atomaren Kriegs mit dem russischen Erben der sowjetischen Supermacht hat sich überhaupt nicht erledigt: Bei allen Änderungen an dieser Front ist weder die einschlägige atomare Rüstung noch die strategische Planung noch die erpresserische Einwirkung auf den russischen Gegner irgendwie hinfällig. Russland führt seit einigen Jahrzehnten vor, dass es zwar den amerikanisch gesetzten Maßstäben für kapitalistisches Konkurrieren und Weltordnen keineswegs gewachsen ist, dass aber die Dollars, die es mit seinen Rohstoffen und seinen nun kapitalistisch lohnenden Rüstungsgütern auf dem Weltmarkt verdient, durchaus für den Ausbau einer Militärmacht reichen, die Amerika an empfindlichen Stellen daran hindert, alle Erdenwinkel auf die jeweils erwünschten Dienste an Amerika zu verpflichten – und sei es bloß darauf, nicht zu stören. Schon das ist für die USA ein unerträgliches Ärgernis; für ihren Weltordnungsanspruch bleibt Russland als Macht definitiv zu groß.

Und zugleich ist es in einer anderen Hinsicht zu klein – für den imperialistischen Kollateralnutzen nämlich, den die verflossene Weltkriegskonstellation für die USA im Westen so lange erbracht hat: Die unbedingte Feindschaft gegen die Sowjetunion, damit die existenzielle Gefährdung der Mitglieder des Kriegsbündnisses, damit der unabweisbare Sachzwang zur Gefolgschaft gegenüber der amerikanischen Führungsmacht, ist passé. Und gerade die europäischen Partner lassen keinen Zweifel daran, dass ihre Mittel längst zu groß geworden sind, als dass sie sich mit der Rolle des größten Juniorpartners der ‚einzig verbliebenen Supermacht‘ zufriedengeben könnten. Sie wollen eine ‚multipolare Weltordnung‘, die ihre Think-Tanks inzwischen eine ‚Großmachtkonkurrenz‘ nennen, in der die EU unbedingt zu den Top 3 gehören muss. So beweisen die Europäer, welch gelehrige Schüler des amerikanischen Imperialismus sie sind. Sie haben in jeder Hinsicht amerikanische Maßstäbe dafür übernommen, was es heißt, eine erfolgreiche Weltmacht zu sein: Gerade die Führungsmächte des europäischen Zusammenschlusses, erst recht als dieser Zusammenschluss, haben einen auf allen Etagen erfolgreichen Kapitalismus entwickelt: mit lauter konkurrenzfähigen Industrien, deren Akteure auf die Ressourcen der Welt zugreifen und deren Produkte in aller Welt Absatz finden; mit einer Finanz-‚Industrie‘, die den Kreditbedarf des Kapitals weltweit befriedigt, daran verdient, auf der Basis Finanzprodukte weltweit vermarktet und sich in die Kapitalakkumulation weltweit einkauft; mit einem Euro, der zum weltweit begehrten Geschäftsmittel geworden ist, nicht bloß zum Vehikel fürs Verdienen des Dollarreichtums, sondern zur eigenständigen Verkörperung des kapitalistischen Reichtums schlechthin, zum Ausgangs- und Endpunkt für globale Geschäfte; schließlich mit einer militärischen Macht, die es einigen Mitgliedern im Club erlaubt, sich als mitbestimmende Subjekte der Weltordnung zu behaupten, die dies – zumindest im Modus des ‚Eigentlich‘ – auch in viel größerem Maße tun wollen. Die Europäer mit ihrem Projekt Weltmacht sind zwar längst nicht am Ziel – und ihre Klagen über ihre Abhängigkeit von den USA werden in dem Maße lauter, wie ihre Konkurrenzbemühungen fruchten und sie dem faktischen Monopol amerikanischen Kapitals und Kredits auf Weltmärkten und dem globalen Finanzmarkt entwachsen. Aber so viel steht jetzt schon fest: Auch die EU leistet ihren Beitrag dazu, dass die Gleichung zwischen der Freiheit des Kapitals in der von Amerika eingerichteten und betreuten Weltordnung und der absolut unangefochtenen singulären Führerschaft der USA zu einer Ungleichung gerät – dass aus einer eingebauten Prämisse der globalen Konkurrenz ein von den Konkurrenten angegriffener Anspruch Amerikas, also ein Kampfprogramm geworden ist.

Der ganz große ‚Systemrivale‘, China, der im Zentrum von Bidens imperialistischem Gefahrenszenario steht, ist erst recht ein gelehriger Schüler der USA, allerdings in einer etwas anderen Größenordnung als die Europäer. Das Land nimmt in jeder Hinsicht an der Macht Maß, die aus seiner Öffnung und Entwicklung den größten Nutzen gezogen hat. China hat in der amerikanischen Weltordnung einen Status erreicht, um den die anderen nach wie vor ringen: Es verfügt über einen enormen Nationalreichtum, über konkurrenzfähige Unternehmen in den entscheidenden Branchen, die nicht bloß Zulieferer für fremde Kapitalakkumulation sind, sondern als Konkurrenten fungieren, die selbst Maßstäbe setzen, den riesigen eigenen und auswärtige Märkte erschließen und beherrschen; über einen Finanzmarkt, der zunehmend Kapital aus aller Welt anzieht; schließlich über ein nationales Kreditgeld, das immer mehr internationale Verwendung findet. Auch wenn die KP China diesen kapitalistischen Aufstieg gewiss ganz anders als das Land der kapitalistischen Freiheit über die Bühne gebracht hat, hat sie in entscheidender Hinsicht den amerikanischen Erfolgsweg kapiert und kopiert: Eine wahrhaft erfolgreiche kapitalistische Macht ist eine, die zum Herrn über die Bedingungen wird, unter denen sie ihren Erfolgsweg geht; und das bedeutet wiederum, dass sie ihn auch anderen Ländern als deren Erfolgsweg vorgibt, und dafür die einschlägigen Mittel stiftet. Auch das tut China nach amerikanischem Muster, wenn auch noch auf niedrigerer Stufenleiter als sein Lehrmeister; es nutzt seine enormen Dollarverdienste zunehmend als Grundlage dafür, seinen Partnern mit dem eigenen Kredit zu kommen, deren Hunger nach Kapital auszunutzen und sie sich als ökonomisches und politisches Mittel zuzuordnen. Die elementarste imperialistische Lehre hat China auch verstanden: Die zivile Benutzung fremder Länder, die Anwendung der eigenen ökonomischen Erpressungshebel kann nicht verlässlich funktionieren, schon gar nicht in der friedlichen, sachzwanghaften Weise, wie China sie seinem amerikanischen Vorbild abgeschaut hat, wenn man nicht als eine Militärmacht auftritt, die diese Benutzungsverhältnisse auch garantieren kann. Gerade weil China die amerikanische Weltordnung so erfolgreich versteht, also weiß, was es heißt und bedeutet, eine imperialistische Großmacht kapitalistischer Bauart zu sein – gerade als dieser äußerst systemkonforme, imperialistische Urheberrechtsverletzer rüstet China auf, macht sich – vorerst in seiner Umgebung – militärisch breit und wird so zu einem zweiten fundamentalen Ärgernis für die USA.

2. Amerika verbucht die Weltlage als Angriff auf seine Räson und seine Identität – und geht an sich selbst zu Werke

In unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Maße sorgen diese Produkte und konkurrierende Nutznießer des amerikanischen imperialistischen Erfolgs also dafür, dass der amerikanischen Weltordnung die Festigkeit einer gegebenen Sachlage abhandenkommt, auf die Amerikas Anspruch auf universellen Respekt und Nutzen sich beziehen kann, um mit punktuellen Interventionen – von Strafzöllen bis zu Sanktionen und gegebenenfalls kriegerischen Weltpolizei-Aktionen – das nötige Regime aufrechtzuerhalten. Sie lassen die USA den Widerspruch spüren, den ihr System für sie selbst bedeutet: Die Konkurrenten, die die Vormacht freisetzt und benutzt, relativieren die amerikanische Einzigartigkeit, untergraben damit den ganzen imperialistischen Erfolgsweg der USA, stufen sie zu einem – denkbar starken, aber eben – Konkurrenten herab und damit zugleich ihre Dominanz zu einem Anspruch, der erst bzw. wieder eingelöst werden muss. Amerika muss um die Vorrangstellung ringen, die in die Räson seiner Konkurrenten eben nicht mehr eingebaut ist. Dass Amerika hier vor der Notwendigkeit einer Gegenoffensive steht, bei der es mit Einzelaktionen finanzieller und militärischer Art nicht getan ist, das hat Trump gewiss nicht als erster gemerkt; aber er hat es zum Kern seiner Außenpolitik gemacht, als offiziellen imperialistischen Standpunkt mit allen einschlägigen Maßnahmen und symbolischen Gesten festgeklopft. Von seinem Vorgänger mag sich Biden auch hier noch so stark abgrenzen, wenn er mit großem Tamtam ‚America is back!‘ ruft und damit eine freundliche Erneuerung der Führerschaft der USA in allen entscheidenden weltpolitischen Affären anbietet. In der Hauptsache, also in der Notwendigkeit, Amerikas imperialistisches Selbstbild als die ‚exceptional nation‘ wieder zum reellen Prinzip der imperialistischen Sachlage zu machen, gibt er Trump vollkommen recht.

Was denn sonst. Etwas anderes kommt einfach nicht in Frage, weil Amerika es auf seinem einzigartigen Erfolgsweg selbst so weit gebracht hat, dass eine für Amerika funktionierende Weltordnung die in seiner Räson eingebaute Funktionsbedingung ist. Das ist nicht nur historisch, sondern auch logisch sein Gewinn aus nicht weniger als einem heißen und einem kalten Atomkrieg. Was es wiederherstellen muss, ist – aus amerikanischer Sicht und in der Sache – ein so weitreichender Anspruch und zugleich ein so elementares Bedürfnis der Supermacht, dass es einen entsprechend rücksichtslosen Einsatz wert ist. Der grundsätzlichen und gewaltsamen Natur dieses Korrekturbedürfnisses sind sich Amerikas Präsidenten natürlich bewusst. Und ohne Zweifel wird auch unter Biden an der Eskalation der Feindschaft gegenüber Russland und China tüchtig gearbeitet. Und wenn er dabei eine neue ‚Systemkonkurrenz‘ mit ‚autoritären‘ Staaten wie China und Russland ausruft und dabei die demokratische Wertegemeinschaft neu beschwört, die die USA schon einmal zum weltweiten Sieg geführt haben, dann beansprucht er seitens der Europäer eine erneute Bündnistreue weltkriegerischen Stils. Wobei der alles entscheidende Unterschied nicht zu übersehen ist: Die gemeinsame Feindschaft, erst recht von der gleichen existenziellen Art, liegt bei diesem Bündnis überhaupt nicht vor. Sodass sich auch die umgarnten Europäer über die erneuerte Freundschaft nichts vormachen, die Biden mit Rückgriff auf die ehemals westliche Waffenbrüderschaft und die dazugehörigen Ideale anbietet. Das Angebot amerikanischer Führerschaft läuft in der Sache auf eine Forderung nach Gefolgschaft pur hinaus, auf die Bestreitung der Autonomie, auf der Europa als konkurrierende, kalkulierende Weltmacht besteht. Zwar in versöhnlichem Ton und unter expliziter Abgrenzung zu Trump, dennoch in bemerkenswerter Kontinuität mit ihm, besteht Biden auf Partnerschaft bei der uneingeschränkten Handlungsfreiheit Amerikas. Der sachliche Fortschritt gegenüber ‚America first!‘ – erste Kostproben liefern die Art des amerikanischen Abzugs aus Afghanistan sowie der U-Boot-Deal mit Australien – liegt womöglich schlicht darin: Wo Trump auch und gerade die europäischen Verbündeten demonstrativ als Konkurrenten und als säumige Dienstkräfte behandelt, denen Amerika nur totale Kapitulation und unbedingte Gefolgschaft anbietet, erkennt Biden den Rechnungen der Alliierten, die er durchkreuzt, nicht einmal das Gewicht eines Gegensatzes zu, der der Freundschaft mit, also der Gefolgschaft gegenüber Amerika irgendetwas anhaben dürfte.

Bei allen Fortschritten und Übergängen an dieser Front ist dennoch der Kontrast auffällig, in dem das Herzstück von Bidens Regierungsprogramm zu der diagnostizierten imperialistischen Notlage der USA steht. In der Bedrohung, die die großen Rivalen – insbesondere China – zunehmend darstellen, entdeckt Biden, Amerika habe sich viel zu lange viel zu wenig um sich selbst gekümmert, müsse vor allem sich selbst im Innern erneuern, um wieder großartig zu werden. Für Biden heißt das, auch die Außenpolitik habe der Leitlinie der Innenpolitik zu gehorchen, politics for the American middle class zu sein, also für das, was die hart arbeitenden Amerikaner und ihre Familien in ihrem alltäglichen Zurechtkommen brauchen. Die Diagnose und das Versprechen haben Tradition. Seit gut anderthalb Jahrzehnten predigen amerikanische Präsidenten die Notwendigkeit, Amerika zu erneuern, ‚nation building‘ nicht da draußen, sondern daheim zu praktizieren. Und dazu gehört auch, die Leiden der amerikanischen Arbeiterklasse in den Vordergrund zu rücken und diese wiederum für den Schwund des amerikanischen Monopols auf die Weltordnung stehen zu lassen. Mit dieser zur Routine gewordenen Übung liefern US-Präsidenten den Beweis, dass sie mit ‚Isolationismus‘, einem Rückzug aus dem imperialistischen Geschäft, zwar nichts am Hut haben, dass sie aber ihren imperialistischen Rivalen in einer so selbstbezüglichen Weise begegnen, die man als Arroganz und Ignoranz abqualifizieren könnte, wenn sie nicht so perfekt zum Selbstbewusstsein einer tatsächlich außerordentlichen Weltmacht passen würde. Der Herausforderung, vor die die Konkurrenten Amerika stellen, stellt es sich in der so schiefen wie unerschütterlichen Gewissheit, dass allein in Amerika darüber entschieden wird, wie es in der Welt dasteht, und dass diese Nation immer gewinnt, wenn sie das wirklich will: Was die anderen Konkurrenten zu tun haben und was sie – uns – tun können, ist letztlich eine abhängige Variable davon, wie Amerikaner sich zu sich selbst stellen, davon, wie es um ihren eigenen Willen und ihre eigene Entschlossenheit steht, alles Nötige für die Überlegenheit Amerikas zu tun.

Das ist schon ein der Supermacht würdiger Anspruch an das amerikanische Volk. Und nun kommt es in den Genuss eines Präsidenten, der alles dafür zu tun verspricht, ihm dazu zu verhelfen, dass es die heimische Grundlage für globale Suprematie auch tatsächlich liefert und davon, also dafür lebt. Auch da muss Biden nichts erfinden, sondern nur der bewährten herrschaftlichen Logik folgen: Wo die Stellung der Nation in der Welt zu wünschen übrig lässt, da besinnt sich auch und gerade eine Weltmacht auf ihr ureigenstes Mittel, auf ihre Verfügung über Land und Leute – natürlich auf dem gebotenen höchsten Niveau. So macht nun auch Biden, auf seine besondere Art, mit der Lebenslüge praktisch ernst, mit der Amerika sich für seine Suprematie seit jeher feiert: Amerika ist die einzigartige Supermacht, weil das amerikanische Volk so einzigartig super ist.

IV. Amerika spaltet sich – oben wie unten – an der Frage, wie es wieder großartig wird und wodurch es überhaupt so großartig ist

Wenn Biden sein Modernisierungsprogramm mit dem Ziel begründet, das Recht der USA auf ihre gewohnte Suprematie wiederherzustellen, dann steht das zweifellos im Einklang mit der Nationalidentität, auf die sich alle Amerikaner locker einigen können. Und wenn Biden diese Offensive im Sinne amerikanischer Groß- und Einzigartigkeit als Dienst an der Versöhnung der Nation, an der Wiederherstellung ihrer Einheit präsentiert, dann kann man ihm den Willen zur Versöhnung aller amerikanischen Patrioten ruhig abnehmen. Täuschen sollte man sich dabei aber nicht: Die Rede von ‚Einheit statt Spaltung!‘ ist eine Kampfansage der grundsätzlichen Art: eine Absage daran, seinen eigenen Plan zur Wiederherstellung amerikanischer Großartigkeit nur als eine Alternative unter anderen gelten zu lassen, als etwas, worüber es überhaupt zwei Meinungen geben könnte. Biden vertritt ja die Einheit der Nation, den Willen des ganzen Volkes; die Republikaner vertreten also – ja was denn wohl? Offenbar das Gegenteil, eben eine bloße Fraktion, ergo: die Spaltung der Nation. Das ist keineswegs bloß der freche Standpunkt eines Präsidenten gegenüber der Opposition, sondern der inzwischen als selbstverständlich geltende Befund der etablierten ‚liberal media‘ im Land – auch wenn die demokratische Partei von der medialen Durchschlagskraft und Linientreue eines ‚Fox News‘ nur träumen kann. Insofern ist es nur gerecht und keinesfalls Zeugnis einer besonderen Streitsüchtigkeit oder Abgedrehtheit der Republikaner, wenn Biden mit seiner Einheits- und Versöhnungsoffensive seitens der Republikaner bloß die Fortsetzung, sogar die Verschärfung der berüchtigten ‚Spaltung‘ des Landes erntet, die zu heilen er angetreten ist.

Die Feindschaft, die Biden und seine Partei auf sich ziehen, betrifft zunächst sein Wiederaufbauprogramm. Für die republikanische Fraktion besorgter Nationalisten entlarven sich die Demokraten gerade mit ihrem Revisionsbedarf als der ganze Grund des Problems, das sie vorgeben heilen zu wollen. In der Vision eines aktiveren, fürsorglicheren Staates erblicken sie eine Absage an die Lebensweise, die Amerika überhaupt so besonders und so besonders großartig macht. Die denkbar höflichste Formulierung ihres Vorwurfs lautet: Biden verordnet viel zu viel kontraproduktive Beschränkung des kapitalistischen Reichtums und der Reichen, dafür zeigt er viel zu wenig heilsame Selbstbeschränkung bei der staatlichen Unterstützung der Armen. Über ein Stück ‚Industriepolitik‘ zur Sicherung von Lieferketten und eines digitalen Vorsprungs gegenüber China, auch über die Reparatur und Modernisierung der nationalen Infrastruktur wird man sich gerade noch einig, sofern die Finanzierungspläne nicht unfairerweise diejenigen treffen, die am meisten zu verlieren haben. Doch schon das ist sehr heikel; die zwei Handvoll Republikaner, die dem Infrastrukturprogramm im Kongress zustimmen, ziehen umgehend den Vorwurf des Verrats auf sich: Was auch immer im Gesetz steht, sie haben dem Feind einen gesetzgeberischen Erfolg gegönnt, also zu einem Ausweis von Tatkraft verholfen, was in der Demokratie erst einmal grundsätzlich für den Täter spricht. Bidens Klimaprogramm wiederum lehnt die Gegenseite von vornherein ab: Die Vergrünung der nationalen Energieversorgung mag er noch so sehr als Konkurrenzoffensive anpreisen. [5] Sein energetisches Vorwärts wirft nach republikanischer Lesart Amerika zurück, gefährdet seine schon erreichte Energieunabhängigkeit und seinen eigentlich schon gelungenen Aufstieg zur weltweiten Energiedominanz, d.h. das ertragreiche Geschäft, das mit den eigenen fossilen Schätzen schon daheim und weltweit gemacht wird. Bei den Sozialstaatsreformen ist der Ofen endgültig aus: Der geplante soziale Fortschritt bremst nur amerikanische Geschäftemacher aus, macht ihnen die Schaffung von Arbeitsplätzen – die soziale Tat schlechthin – noch schwerer, könnte nämlich ihre Jobangebote ein bisschen ablehnbar machen. Noch schlimmer: Biden beschwört nicht nur die Wichtigkeit von ‚guten, gut bezahlten Jobs‘, sondern will glatt die Verhandlungsrechte der Gewerkschaften stärken, die nur dazu gut sind, die Jobs zu vernichten, von denen Amerikaner leben, wie auch immer sie davon leben. Was die Finanzierung des staatlichen Programms betrifft: Jenseits der Frage, ob die derzeitigen Zinsen auf US-Staatsanleihen solche Ausgaben bezahlbar machen, und jenseits aller Sorgen um Inflation ist sonnenklar: Die sozialen Besitzstände, denen Biden das Wort redet, kann sich die Nation definitiv nicht leisten. Gleiches gilt für Bidens angekündigte Steuerreform: Es ist blöd genug, dass hier gerade diejenigen belastet werden, deren Reichtum jetzt schon so schön wächst; aber auch wenn Amerikas Reiche und Unternehmenslustige diese Kosten derzeit vielleicht stemmen könnten, kann sich Amerika eine solche Relativierung ihrer Besitzstände auf keinen Fall leisten. Summa summarum: Lauter Verstöße gegen die ökonomische Vernunft, die besagt, dass Beschränkungen des Geschäfts und die Relativierung des Rechts von Unternehmern auf ihre Erträge weder die Geschäfte noch die Erträge wachsen lassen, von denen alle anderen leben. Wenn schon staatlich forciertes Wachstum, dann ohne Wenn und Aber. Über Nützlichkeit der Arbeiterklasse entscheidet nur die freie Konkurrenz, also der Bedarf des Kapitals.

Doch die Feindschaft der Republikaner zielt auf weit mehr als das innere Wiederaufbauprogramm selbst. Sie ist eine Totalabsage von der gleichen Grundsätzlichkeit wie Bidens Einheitsoffensive und wird mit Wort und Tat, mit Glanzleistungen gesetzgeberischer und propagandistischer Art betrieben. Das Prinzip des Angriffs ist denkbar schlicht: Die Republikaner und ihre Medienorgane entdecken in einfach jedem angemeldeten sozialpolitischen wie sittlichen Revisionsbedarf – sei es von Biden selbst, v.a. aber von den Linksdemokraten in der Politik, in der Öffentlichkeit und an den Universitäten – dieselbe Absage an Amerikas Ausnahmestellung. Nicht dass die Republikaner keinen eigenen Revisionsbedarf hätten; sie sehen ihrerseits die dringliche Notwendigkeit einer grundsätzlichen Revision im Verhältnis zwischen dem amerikanischen Staat und seinem Volk. Ihr Programm der Wiederherstellung einer perfekten Einheit des Volkes mit sich und seiner Führung besteht freilich gerade nicht in der sozialen Inpflichtnahme und Stärkung der Institutionen des Staates, sondern im Abbau, zur Not in der Ausschaltung all solcher Institutionen, die für Trump und seine republikanische Gefolgschaft nur den direkten Draht zwischen dem Volk und seiner herrschenden exekutiven Verkörperung stören. Für sie hängt die Einheit der Nation also ganz und gar an Trumps Person.[6] Dementsprechend setzen sie alle ihnen verfügbaren gesetzgeberischen Mittel ein, um die Gesetzesvorhaben der Biden-Regierung zu blockieren; sie denken dabei auch deutlich langfristiger, streben auf Bundesstaatenebene eine Reform des Wahlrechts an, die dafür sorgen soll, dass die Falschen weder wählen noch gewählt werden.[7] Schließlich setzen die Republikaner alle medialen Mittel ein, um die ‚Progressives‘ in der demokratischen Partei, also auch die mit ihnen infizierte demokratische Partei in Gänze als amerikahassende Kommunisten zu denunzieren.

Man merkt: Der Streit, der hier zwischen den Parteien und im Volk tobt, trennt sich einerseits vollkommen von seinem imperialistischen Grund. Er dreht sich vielmehr darum, was gerne ‚Kulturkampf‘ genannt wird – sehr zu Unrecht mit der Konnotation, hier hätten die Streithähne aus den Augen verloren, worauf es für die Nation wirklich ankommt. Da geht es um die grundsätzliche Frage: ‚Was sind wir für welche?‘ – eine Frage, die in Amerika gleich so lautet: ‚Was heißt es, ein einzigartiges Siegervolk zu sein?‘ Woran man andererseits merkt: Bei aller Entfernung vom imperialistischen Grund des amerikanischen Leidens an sich selbst bleiben die Streitenden der Selbstbezüglichkeit dieses Imperialismus dennoch treu. Und sie widmen sich der Identitätsfrage in der einzigen Weise, die zum besorgniserregenden Anlass passt: Wem ist die amerikanische Siegeridentität, also die Seele der Nation fremd geworden? Dieser Streit bezieht seinen Stoff aus jeder denkbaren Ecke des politischen und gesellschaftlichen Lebens der Nation – von den Steuersätzen über die Abtreibung bis hin zum Impfen. Aktuell steht die Sache mit der sogenannten ‚critical race theory‘ – der akademische Überbau zur eigentlichen Rassenfrage – im Vordergrund, hauptsächlich deswegen, weil die Republikaner sie zum Kern der Auseinandersetzung erhoben haben, ganz prominent im wegweisenden, weil erfolgreichen Wahlkampf eines ‚race baiting‘-Kandidaten für den Gouverneursposten im Bundesstaat Virginia. Daran wird aus republikanischer Sicht deutlich, wie unmittelbar und reell die linke Gefahr für Amerika ist: Die demokratische Partei, ihre Anhänger und ihre Einflüsterer wollen sich offenbar von Amerika als Traum und als real existierendem Land, als wahr gewordener glorreicher ‚Idee‘ kritisch distanzieren, was nur bedeuten kann, dass sie Amerika ‚hassen‘ – dieses Land löst offenbar nur die stärksten Gefühle aus. Der Streit um Schulbücher und Wörter ist extrem einschlägig, weil es dabei zwar nur symbolisch, aber genau deswegen so anschaulich um die Hauptsache geht: eben um die Großartigkeit und Singularität Amerikas, seines entsprechend großartigen Volks. Auf der einen Seite steht da der traditionelle Standpunkt, dass Amerika – mit seinen demokratischen Prinzipien, seinem Reichtum und seiner Macht – von Anfang an, jedenfalls schon immer auf dem besten Weg zum außerordentlich Guten gewesen ist. Auf der anderen Seite steht zwar nicht gerade die demokratische Partei, aber eine linke Minderheit, die es seit den ‚Black Lives Matter‘-Protesten zu einer beachtlichen medialen Präsenz gebracht hat: Hier wird eine zwar sehr patriotisch-affirmative, für amerikanische Verhältnisse dennoch unverzeihliche Alternative vertreten, die dem Vorwurf der Republikaner in gewisser Weise recht gibt: Amerika muss sich und seinem Nachwuchs klarmachen, dass es ein normales Land ist; wie jedes andere Land hat es Stärken und Schwächen in seiner Vergangenheit wie in seiner Gegenwart; dafür hat Amerika die besondere welthistorische Pflicht, seinem wahrhaft einzigartigen Versprechen endlich gerecht zu werden, die besten Werte der Menschheit zu verwirklichen. Dieses Thema als ‚Rassenfrage‘ zu behandeln, ist insofern inadäquat, als es hier überhaupt um das Selbstbild geht, mit dem Amerika sich zur außerordentlichen Supermacht aufgeschwungen hat. Bei diesem Thema im amerikanischen ‚Kulturkampf‘ wie bei jedem anderen läuft es für die Beteiligten im Grunde auf das gleiche Entweder-Oder hinaus: Muss Amerika seine selbstgezüchteten und viel zu lange gehätschelten Nestbeschmutzer entsorgen, um so großartig zu bleiben, wie es immer gewesen ist? Oder muss Amerika sich bessern, um endgültig so großartig zu werden, wie es immer eigentlich sein wollte?

Mit welcher Intensität dieser Streit zu führen und wie ernst das Feindbild der jeweils anderen Seite zu nehmen ist, ist eine nicht ganz entschiedene Frage. Ob man es zu tun hat mit einer Auseinandersetzung zwischen Steinzeitkonservativen hier, die Amerika zu einer ‚white supremacist‘-Diktatur umformen und nebenbei die Amerikaner der weltzerstörerischen Raffgier der fossilen Energiekapitale ausliefern wollen, und Kommunisten dort, die das amerikanische Volk gegen eine dahergelaufene, bunt zusammengewürfelte, also minderwertige Bevölkerung austauschen wollen; oder ob man es vielmehr mit wohlmeinenden, aber fehlgeleiteten Kollegen und ‚fellow Americans‘ zu tun hat, bei denen man bloß mit mehr Dringlichkeit an den traditionellen guten Geist der ‚Bipartisanship‘ appellieren muss – daran scheiden sich die Geister in beiden Parteien genauso wie im Volk. Die Tendenz ist dennoch eindeutig: Der beharrliche Wille zu Zusammenarbeit und Kompromissbereitschaft, den die sogenannten ‚Zentristen‘ in beiden Parteien an den Tag legen, weil es ihnen vor allem darauf ankommt, die Einheit selbst zu praktizieren, deren Fehlen sie und alle anderen beklagen, trägt ihnen nur noch selten Komplimente ein. Das gilt auch und erst recht für den Hoffnungsträger Biden selbst, den Helden der Bipartisanship schlechthin. Der große Respekt für seinen Willen und seine Fähigkeit, auch die tiefsten Gräben zu überbrücken, weicht zunehmend dem Abwinken: Der Mann sei eben von gestern – und ein Politiker, der sein Programm nicht zum Erfolg führen kann, schafft in der amerikanischen Politik auch keine Versöhnung. Die Durchsetzungskraft der Führungsspitze ist in dieser Musterdemokratie immer noch der Höchstwert.

So viel steht jedenfalls fest: In dem weiter eskalierenden ‚Kampf um die Seele der Nation‘ finden alle Seiten für die Vorwürfe, die sie gegen die jeweils andere Seite richten, und seien sie noch so verschwörungstheoretisch, jede Menge Anhänger. Dass sie alle insofern durchaus glaubwürdig wirken, liegt nicht daran, dass irgendeiner der lancierten Vorwürfe und Denunziationen stimmen würde, sondern daran, dass der Befund für alle Seiten schon im Ausgangspunkt feststeht: Die uramerikanische Gleichung von Amerika = Nr. 1 gilt nicht mehr absolut, also gar nicht mehr. Gerade die Einigkeit darin, dass die Nation auf dem Spiel steht, lässt den von den patriotischen Idealisten der Mitte so ersehnten ‚sachlichen‘ Streit über imperialistische Erfolgsrezepte nicht zu. Denn für beide Seiten steht fest, dass ein grundsätzlicher Verstoß gegen das oberste Prinzip guten Regierens stattgefunden haben muss, nämlich gegen das unveräußerliche Recht des amerikanischen Volkes auf Erfolg in der gewohnten Absolutheit. Und unstrittig ist für die Streitparteien auch, dass es demnach um den Willen zum Erfolg offenbar schlecht bestellt ist, und zwar oben wie unten. So erbringen sie alle zusammen – die traditionsreichen Parteien Amerikas, die Instanzen der freien Öffentlichkeit und die freiheitsliebenden Bürger – den Beweis, dass das Wesen dieser Nation wahrlich ihre weltweite Überlegenheit, die unangefochtene Weltherrschaft ihres Staates ist. In allen Abteilungen ihres Dauerstreits führen sie nämlich vor: Wenn diese Nation sich ihrer Suprematie nicht sicher ist; wenn sie überhaupt die Not spürt, ‚America great again‘ machen zu müssen, dann halten Amerikaner nicht nur diese Not, sondern auch und vor allem einander nicht mehr aus.

[1] Breite und Tiefe des Programms sind auch für amerikanische Verhältnisse gigantisch:

– Der American Rescue Plan (in Kraft getreten am 11.3.21) sieht eine Gesamtsumme von 1,9 Billionen vor: In dem Konjunkturprogramm sind 123 Milliarden Dollar direkt für Gesundheitsmaßnahmen vorgesehen. 360 Milliarden fließen an die Bundesstaaten und die Gemeinden, 176 Milliarden sollen die Schulen vor ihrer Wiedereröffnung aufrüsten, 40 Milliarden gehen zur Nothilfe für Studierende an die Hochschulen, 50 Milliarden in Transport und öffentlichen Nahverkehr, 28,6 Milliarden in die Unterstützung von Restaurants und Bars, zehn Milliarden an die Landwirtschaft, davon fünf Milliarden für Schwarze Farmer. Größere oder kleinere Beträge stehen auch für Fluglinien, die Amtrak-Eisenbahn oder indigene Stämme bereit. Entscheidend sind allerdings die persönlichen Zuwendungen, insgesamt 860 Milliarden. Die meisten US-Amerikaner erhalten zum dritten Mal einen Scheck vom Präsidenten, diesmal über 1.400 Dollar. Davon profitieren 85 Prozent der amerikanischen Haushalte. Die Aufstockung des Arbeitslosengeldes wird bis September verlängert; Kostenpunkt 246 Milliarden. Eltern erhalten obendrein für jedes Kind unter fünf Jahren 3.600 Dollar, für jedes Kind zwischen sechs und 17 Jahren 3.000 Dollar. Dadurch wird sich die Kinderarmut mehr als halbieren. (Zeit Online, 16.3.21) Die ursprünglich vorgesehene Erhöhung des Mindestlohns auf 15 $ wurde aus der Endfassung des Gesetzes gestrichen.

– Zum ursprünglichen Entwurf des ‚American Jobs Plan‘: 650 Milliarden Dollar für die Modernisierung von Straßen, Brücken und den Ausbau der Elektromobilität; 650 Milliarden Dollar für Wohninfrastruktur und Schulen, Ausbau der Breitband-Technologie, die Modernisierung des Stromnetzes und der Wasserversorgung; 580 Milliarden Dollar für Industrie, Ausbildung und Forschung, unter anderem in den Bereichen erneuerbarer Energien und heimische Chip-Produktion; 400 Milliarden Dollar für die Verbesserung der Pflege alter und kranker Menschen. Die Ausgaben für die Projekte möchte er auf acht Jahre verteilen und die Kosten innerhalb von 15 Jahren abbezahlen: durch Steuererhöhungen für Unternehmen, damit die bereits enorm hohe Verschuldung des Landes durch diese Konjunkturhilfen nicht weiter steigt... Gegenfinanzieren will Biden die Ausgaben vor allem über eine Erhöhung des Steuersatzes auf Unternehmensgewinne auf 28 Prozent. Donald Trump hatte ihn von 35 auf 21 Prozent gesenkt. (tagesspiegel.de, 1.4.21)

– Zum ursprünglichen Entwurf des ‚American Families Plan‘: Der Plan umfasst Investitionen in Höhe von rund einer Billion Dollar sowie 800 Milliarden Dollar Steuererleichterungen für Familien ... eine Erhöhung des steuerlichen Kinderfreibetrags von 2000 Dollar auf 3000 bis 3600 Dollar je nach Alter des Kindes bis ins Jahr 2025... Steuerrabatte, um Krankenversicherungsbeiträge für Millionen Familien bezahlbar zu halten, sollen sogar dauerhaft gelten. Rund 200 Milliarden Dollar sollen in den Vorschulunterricht für Kinder ab drei Jahren fließen. Mit 109 Milliarden Dollar will die Regierung zwei Jahre kostenloses Studium an Community Colleges genannten Hochschulen ermöglichen. Weitere Mittel sind für Stipendien für Studenten mit geringem Einkommen vorgesehen. In Summe würde der Staat eine bis zu 17-jährige Bildungslaufbahn finanzieren. Außerdem sind 225 Milliarden Dollar für Zuschüsse vorgesehen, um Eltern eine Auszeit vom Job zur Kinderbetreuung oder für die Pflege Angehöriger im Krankheitsfall zu ermöglichen. Das soll vor allem Mittelschichtfamilien helfen und besonders Frauen, die nach wie vor den Großteil der Betreuungsarbeit leisten, eine stärkere Teilnahme am Arbeitsmarkt ermöglichen. Die USA bieten bislang als einziges Industrieland keinen Mutterschutz, Eltern- oder Kindergeld... Ebenfalls mit 225 Milliarden Dollar sollen Familien bei den Kosten für die Kinderbetreuung unterstützt werden. Durchschnittsverdiener müssen demnach höchstens 7 Prozent ihres Einkommens dafür ausgeben. Daneben will Biden das Programm für kostenloses Schulessen ausweiten und die Arbeitslosenversicherung auf Ansprüche umstellen, die nicht von Budgetzusagen des Kongresses abhängen. Das Ganze steht unter der Überschrift der ‚Care Economy‘. (manager-magazin.de, 29.4.21)

[2] Der ‚American Jobs Plan‘ und der ‚American Families Plan‘ sind im Zuge der Kongress-Verhandlungen zu zwei Gesetzesvorhaben umgearbeitet worden. Das eine trägt den Namen ‚Infrastructure Investment and Jobs Act‘, auch als ‚Bipartisan Infrastructure Framework‘ bekannt, und ist Mitte November verabschiedet worden. Es umfasst insgesamt 1,2 Billionen $ und sieht zusätzliche Ausgaben von ca. 550 Milliarden $ vor, also ungefähr ein Viertel der ursprünglich vorgesehenen Summe. Die Ausgaben in allen zentralen Bereichen – Transport, Energie- und Wasserversorgung, Umweltschutz, Gebäudesanierung und Altenpflege – sind entweder reduziert oder ganz eliminiert worden, mit Ausnahme der Bereinigung von Umweltschäden. Der Hauptteil der Ausgaben betrifft die Sanierung und den Ausbau von Straßen, Schienen, Brücken, Wasserrohren, Häfen und die Breitbandversorgung. Ganz entfallen sind die Ausgaben für Gebäudesanierung und Pflege. Der Plan enthält auch nicht mehr die ursprünglich vorgesehenen 363 Milliarden $ an Steuervergünstigungen für den Verbrauch sauberer Energie.

 Das zweite Gesetzesvorhaben trägt den inoffiziellen Namen ‚Build Back Better‘ und betrifft den Bereich Sozialpolitik. Zum Stand Mitte November vermeldet die New York Times: Das Repräsentantenhaus hat das Kernstück von Bidens Agenda im Innern mit knapper Mehrheit und gegen die einhellige Opposition der Republikaner verabschiedet. Es sieht 2,2 Billionen $ über das nächste Jahrzehnt für die Bekämpfung des Klimawandels, den Ausbau der Gesundheitsversorgung und das soziale Sicherungssystem vor... Die Gesetzesvorlage hat noch einen langen und schwierigen Weg vor sich. Die Demokraten müssen es durch einen geteilten Senat und ein gewundenes Haushaltsverfahren durchbringen, das die Maßnahmen höchstwahrscheinlich verändern wird, sodass es dem Repräsentantenhaus am Ende wieder vorgelegt werden müsse – wenn es überhaupt durch den Senat durchkommt. Der ursprüngliche Plan ist ungefähr um die Hälfte geschrumpft, aber könnte sich insbesondere für junge Familien und ältere Amerikaner als genauso transformativ erweisen wie Lyndon Johnsons ‚Great Society‘-Reformen und sein ‚War on Poverty‘... Das Gesetzesvorhaben sieht vor: universelle frühkindliche Erziehung, großzügige Hilfen für Kinderbetreuung, unbezahlten Mutterschaftsurlaub, erweiterte Finanzhilfen für Studierende, Mieter und Hauseigentümer, Altenpflege, Hörgeräte und die Subventionierung von Medikamenten. (New York Times, 19.11.21)

[3] Gerade der Aufbau der einschlägigen nationalen Infrastruktur soll als ein einziges Wachstumsprogramm für amerikanisches Kapital fungieren: Wenn wir diese ganzen Investitionen machen, dann werden wir sichergehen, dass wir stets bei Amerikanern kaufen. Wir werden also in Unternehmen und Belegschaften investieren, die in Amerika ansässig sind... Kein Auftrag, der nicht an ein amerikanisches Unternehmen mit amerikanischen Produkten auf jeder Stufe der Produktion und mit amerikanischen Arbeitern geht. (Biden, 31.3.21)

[4] Wir haben es mit Konkurrenten wie China zu tun, die nicht nach marktwirtschaftlichen Regeln operieren. China erhöht ständig seine Ausgaben für Forschung und Entwicklung... Im letzten Jahrzehnt hat China seine strategischen Investitionen genau durchdacht und auch gemacht – nicht immer mit Erfolg, aber immer mit einem klaren Fokus auf den Aufbau einer industriellen und intellektuellen Grundlage für Innovationen. Und über das letzte Jahrzehnt haben wir solche Hebel ignoriert, geschädigt und unterminiert. (Brian Deese, Bidens wirtschaftspolitischer Chefberater, New York Times, 12.4.21)

[5] Es wird den innovativen Vorsprung Amerikas auf den Märkten stärken, wo die globale Führerschaft noch umkämpft ist: Batterietechnologie, Biotechnologie, Mikrochips, saubere Energie. Bei alledem geht es insbesondere um die Konkurrenz mit China. (Biden, 31.3.21)

[6] Dies der Standpunkt, den Trump bekanntlich vier Jahre lang im Weißen Haus und nun mit der gleichen Vehemenz in der Opposition gegen das Establishment vertritt – auch und gerade gegen diejenigen Republikaner, die es immer noch etwas anders sehen. Gemäß der Vorliebe in der amerikanischen Politik für griffige Akronyme werden solch resistente Republikaner von Trump und der Mehrheit der Kollegen in der ‚MAGA‘-Fraktion (Make America Great Again) als ‚RINOs‘ (Republicans in name only) beschimpft.

[7] Sie sehen sich dazu natürlich nur durch die unfairen Wahlrechtsreformbemühungen der Demokraten provoziert; und die wiederum sehen sich zu ihrer Reform durch die traditionellen Techniken der Republikaner genötigt, die Wahrnehmung des Wahlrechts insbesondere durch arme Schwarze faktisch zu verhindern: Es wäre die weitreichendste Wahlrechtsreform seit Jahrzehnten – wenn die Demokraten das Projekt durch den Senat bringen könnten... Das ‚For the People‘-Gesetz soll die Antwort auf die immer aggressiveren Maßnahmen republikanisch regierter Einzelstaaten sein, die Menschen das Wählen schwerer machen... Für beide Parteien ist es eine Auseinandersetzung von historischer Dimension, die die Machtverhältnisse der kommenden Jahrzehnte entscheidend prägen dürfte. Das neue Gesetz würde alle Bundesstaaten dazu verpflichten, sowohl vorzeitige Stimmenabgaben in Person als auch die Briefwahl umfassend zu ermöglichen. Alle Bürgerinnen und Bürger würden automatisch als Wähler registriert. So genannte Säuberungen (‚purges‘) der Wählerverzeichnisse würden vom Bund verboten. Dabei wurden in der Vergangenheit zum Beispiel in Georgia oder Ohio Hunderttausende Bürger gestrichen, weil sie länger nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht hatten. Zudem sollen Menschen, die eine Haftstrafe abgesessen haben, ihr Wahlrecht zurückerhalten. Der Wahltag würde ein nationaler Feiertag, damit niemand wegen seiner Arbeit nicht teilnehmen könnte. All diese Maßnahmen würden die Blockaden einzelner Bundesstaaten gegen das Wählen aushebeln. Auch die Praxis der parteipolitisch motivierten Zuschneidung von Wahlbezirken (‚Gerrymandering‘) soll unterbunden werden... Nach Joe Bidens Wahlsieg haben die Republikaner in etlichen Bundesstaaten bereits neue Restriktionen des Wahlrechts vorangebracht. Viele Politiker sind dabei durch Trumps Lügen vom ‚Wahlbetrug‘ motiviert oder nutzen sie zumindest, um die neuen Regeln zu rechtfertigen. In Iowa etwa beschloss das Regionalparlament kürzlich strengere Regeln für die Briefwahl, verkürzte die Frühwahl-Periode um neun Tage und entschied, die Wahllokale eine Stunde eher zu schließen. Der republikanische Senator Jim Carlin sagte in der Debatte über das Gesetz im Regionalparlament, die meisten in seiner Partei glaubten, dass die Wahl 2020 ‚gestohlen‘ worden sei. In Georgia wollen die Republikaner unter anderem die Briefwahl und die frühe Wahl am Wochenende drastisch einschränken, wo die afroamerikanischen Kirchen sonntags traditionell stark mobilisieren. Worum es dabei letztlich geht, erklärte der Anwalt der republikanischen Partei Arizonas am Dienstag offen. Die konservative Richterin Amy Coney Barrett fragte Michael Carvin, warum die Partei verhindern wolle, dass im falschen Bezirk abgegebene Stimmen dennoch gezählt wurden. Carvin antwortete: ‚Weil es uns in einen Wettbewerbsnachteil zu den Demokraten bringt.‘ (faz.net, 4.3.21)