10 Monate Krieg in der Ukraine
Ein kurzer Rückblick auf gleichgebliebene und geänderte Kriegsziele
Russland führt eine „militärische Spezialoperation“ mit Ziel Kiew und im Osten der Ukraine durch mit dem erklärten Ziel, die dem Westen – der EU und der NATO – willfährige Regierung zu entmachten und durch eine russlandfreundliche zu ersetzen; die Okkupation von Gebieten, die an die Moskau treuen Volksrepubliken im Osten des Landes angrenzen, soll die gegen permanente Über- und Angriffe ukrainischer Kräfte schützen und die Annexion der Krim militärisch absichern. Als sein sehr viel weiter gestecktes strategisches Ziel deklariert Russland zugleich die Sicherung seines eigenen Bestandes gegen das Vorrücken des westlichen Kriegsbündnisses an seine Westgrenze; die Vereinnahmung des Nachbarn am Schwarzen Meer durch NATO und EU als antirussischer Vorposten, womöglich auch für die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen, wird als fundamentale Bedrohung der eigenen strategischen Abwehrfähigkeit eingeschätzt – eine Bedrohung, die zurückgewiesen werden muss. Die beiden Zielsetzungen liegen auf ganz unterschiedlichen Ebenen.
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10 Monate Krieg in der Ukraine
Ein kurzer Rückblick auf gleichgebliebene und geänderte Kriegsziele
1. Nochmal zurück auf Los: Russland führt eine „militärische Spezialoperation“ mit Ziel Kiew und im Osten der Ukraine durch mit dem erklärten Ziel, die dem Westen – der EU und der NATO – willfährige Regierung zu entmachten und durch eine russlandfreundliche zu ersetzen; die Okkupation von Gebieten, die an die Moskau treuen Volksrepubliken im Osten des Landes angrenzen, soll die gegen permanente Über- und Angriffe ukrainischer Kräfte schützen und die Annexion der Krim militärisch absichern. Als sein sehr viel weiter gestecktes strategisches Ziel deklariert Russland zugleich die Sicherung seines eigenen Bestandes gegen das Vorrücken des westlichen Kriegsbündnisses an seine Westgrenze; die Vereinnahmung des Nachbarn am Schwarzen Meer durch NATO und EU als antirussischer Vorposten, womöglich auch für die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen, wird als fundamentale Bedrohung der eigenen strategischen Abwehrfähigkeit eingeschätzt – eine Bedrohung, die zurückgewiesen werden muss.
Die beiden Zielsetzungen liegen auf ganz unterschiedlichen Ebenen: Die zweite geht weit über einen innerukrainischen Machtwechsel hinaus; auch ein solcher Erfolg wäre keine ernsthafte Versicherung gegen das Bestreben der westlichen Allianz, so wie Russland es wahrnimmt und das in der Ukraine zurückgeschlagen werden soll, nämlich Russland als strategischen Gegner zu neutralisieren, seine Macht zu zerstören, das große Land weltpolitisch aus dem Spiel zu nehmen. Praktisch mit ihrer Invasion, diplomatisch mit ihrer doppelten Kriegs-Erklärung setzt die russische Regierung aber ihren lokalen und ihren strategischen Kriegszweck in eins. Dass der beabsichtigte Befreiungsschlag gegen den vorrückenden Westen tatsächlich und vom Standpunkt Moskaus aus die Dimension der absichtlich so zurückhaltend definierten und angelegten „Spezialoperation“ gegen die regierenden „Faschisten“ in Kiew qualitativ überschreitet, nämlich eben einen Konflikt von ganz anderer als lokaler oder regionaler Größenordnung auf die Tagesordnung setzt, macht die Regierung auch explizit mit der Warnung an die Adresse der NATO-Staaten klar, die hätten mit noch nie erlebter Zerstörung zu rechnen, sollten sie ihr bei ihrem Vorgehen in der Ukraine in den Arm fallen. Mit derselben Warnung, die ihre Ukraine-Operation so zu einem Fall ihrer weltpolitischen Konfrontation mit den USA und ihren Verbündeten hochdefiniert, definiert sie ebendiesen strategischen Konflikt auf die Dimension einer Rettungsaktion für eine prorussische Ukraine herunter, bei der der feindliche Westen sie gefälligst gewähren lassen soll. Sie bezieht sich explizit auf die vereinigte westliche Weltmacht als den Gegner, mit dem sie sich in der Ukraine eigentlich anlegt, und besteht zugleich genauso explizit darauf, dass sie sich dort mit ihrem strategischen Hauptfeind nicht wirklich anlegt, jedenfalls nicht direkt, vielmehr nur im Sinne und zum Zweck einer westlichen Konzession in Sachen Regime-Change in Kiew. Beide Kriegsziele verhalten sich wie Dementis zueinander. Von der russischen Regierung sind sie auch so gemeint und zugleich für sie deckungsgleich.
In der überschießenden, den Schauplatz Ukraine weit überschreitenden strategischen Zielsetzung der absichtlich einschränkend definierten und durchgeführten Militäraktion wird der Kriegsgrund kenntlich, der nicht in einem widersprüchlichen Kalkül der Moskauer Regierung aufgeht, sondern in der Räson der von ihr exekutierten Staatsmacht enthalten ist und darin seine Notwendigkeit hat: Mit seiner auf das weltweit zweitstärkste Atomwaffenarsenal gegründeten Abschreckungsmacht ist Russland der Ausnahmefall in der von den USA und ihren Verbündeten etablierten und gehüteten imperialistischen Weltfriedensordnung; Ausnahme in dem qualitativen Sinn, dass es seine Sicherheit, die Grundlage und Garantie seiner weltpolitischen Handlungsfreiheit, wirklich autonom definiert und durchzusetzen vermag; gegen das amerikanisch-westliche Abschreckungsregime. Diese Freiheit, Inbegriff der strategischen Weltmacht, des ersten und entscheidenden Inhalts russischer Staatsräson, verlangt unbedingte Kriegsfähigkeit und -bereitschaft gegen jede Infragestellung, insofern Krieg als – in dem Fall vor allem anti- – imperialistische Notwendigkeit. Dieser Räson dient die Regierung nach ihrem pflichtschuldigen Ermessen, wenn und indem sie die Anlässe und Schauplätze definiert, an denen sie die Achtung ihrer Sicherheitsinteressen angegriffen sieht, und Gelegenheiten wahrnimmt, Respekt vor ihren freien Ermessensentscheidungen in weltpolitischen Affären zu erzwingen oder sicherzustellen. So jetzt in der Ukraine. [1]
2. Die Antwort der beiden gemeinten Gegner, der angegriffenen Kiewer Regierung und der mit russischer Abschreckung konfrontierten NATO, erfolgt prompt und gemäß dem doppelten Kriegszweck, genauer: im Sinne der Deckungsgleichheit der zwei disparaten Kriegsziele, die Russland mit seiner Invasion vorgibt. Die ukrainische Regierung versetzt ihr Land in den Kriegszustand und eröffnet den Kampf um ihre Souveränität; von Beginn an mit Mitteln weit jenseits ihrer eigenen nationalen Kapazitäten. Denn, das die viel wichtigere andere Seite: Russlands strategischer Hauptfeind, die westliche Kriegsallianz, bezieht Russlands „militärische Spezialoperation“ vom ersten Moment an auf sich. Mit ihren Waffen und logistischen Leistungen, die sie in die Schlacht wirft, und mit der deklarierten Selbstverpflichtung auf den Schutz der europäischen Friedensordnung, auf die Rettung ihres souveränen Schutzobjekts in Osteuropa und auf unerbittlichen Widerstand gegen unerlaubte Grenzkorrekturen in aller Welt erklärt und betätigt sie sich als die eigentlich herausgeforderte, auf dem ukrainischen Schauplatz höchstpersönlich und in Wahrheit angegriffene Weltordnungsmacht. Zugleich und in auffälligem Widerspruch dazu, aber eben ganz im Sinne des russischen Quidproquo erklären die NATO und ihre Führungsmacht sich nachdrücklich für nicht selbst angegriffen, für nicht direkt als Kriegspartei involviert; zwar als legitime Schutzmacht der Ukraine, aber eben auch nur vor Ort und nur innerhalb der Grenzen des völkerrechtlich Erlaubten unterwegs.
Das langt immerhin, um den gegen die ukrainische Führung gerichteten Zweck der russischen Invasion zunichtezumachen: Von den NATO-Mächten bewaffnet, von westlichen Kommandeuren „from behind“ geführt, hält die Armee des Landes im Großen und Ganzen stand; der Umsturz in Kiew und der Frontwechsel der Nation finden nicht statt. Das heißt aber auch: Unter Einsatz und mit den Opfern seines Schutzobjekts schlägt der Westen den Angriff auf seine Oberhoheit über Krieg und Frieden in Europa und der Welt und auf seine antirussische Vorwärtsstrategie zurück; und er tut das genau so, wie Russland seinen Angriff führt. Abschrecken, am tatkräftigen Einsatz seiner Militärmaschinerie am Ort des Geschehens hindern lässt er sich nicht; insoweit ist Russland mit dem virtuellen Einsatz seiner strategischen Waffen, seiner warnenden Drohung damit, fürs Erste gescheitert. Mit seinem Kriegsziel, der Einkreisungs- und Zerlegungsstrategie des Westens eine Abfuhr zu erteilen, scheitert Russland ebenso; und zwar gleich doppelt. Soweit der Westen sich unter dem Titel der zuständigen Schutzmacht mit dem Kriegsschicksal der Ukraine identifiziert, kann er auf dem Schauplatz am Schwarzen Meer für sich als überhaupt für alles zuständige russlandfeindliche Weltmacht einen ersten direkten Erfolg verbuchen: Er schlägt den russischen Versuch zurück, seiner Oberhoheit über den Kontinent mit einer schlanken Militäraktion am Schwarzen Meer Einhalt zu gebieten. Zugleich entzieht sich der Westen genau diesem russischen Kriegsziel, indem er sich als erklärte Nicht-Kriegspartei vom Kriegsgeschehen vor Ort distanziert. So erteilt er seinem Gegner, was die höhere strategische Ebene des Krieges betrifft, den Bescheid, dass er mit seiner Weltpolitik der Unterwerfung auch des russischen Ausnahmefalls unter seine weltordnende Übermacht in der Ukraine überhaupt nicht zu treffen und schon gar nicht zu bremsen ist. Für die NATO und die USA stehen im Fall der Ukraine und der russischen Spezialoperation ihr imperialistischer Zugriffswille und ihre Fähigkeit, ihn wahr zu machen, nicht auf dem Spiel. So wahrt die Weltmacht auch bei ihrer heftigen Einmischung ins Kriegsgeschehen ihre Handlungsfreiheit in dessen Betreuung.
Ganz im Gegensatz zu Russland, das hier im Sinne seiner deckungsgleich gesetzten disparaten Kriegsziele ein Exempel statuieren wollte und will. Mit dem Unterfangen, durch einen Sieg über Kiew zugleich den Westen strategisch in die Schranken zu weisen, setzt es seine Fähigkeit dazu aufs Spiel und gerät mit dessen Scheitern entsprechend heftig in die Defensive.
3. Russland reagiert mit der Neudefinition des Ziels, das es mit seiner nach wie vor so genannten „militärischen Sonderoperation“ in der Ukraine gegen deren nachhaltigen Widerstand verfolgt. Statt um die Entmachtung und Ersetzung der antirussischen Regierung in Kiew und einen botmäßigen freundlichen Nachbarn am Schwarzen Meer kämpft es im Osten und Süden des Landes – unter anderem in einer langen blutigen Schlacht um die Stadt Mariupol – um gesicherte substanzielle Geländegewinne. Dem feindlichen Nachbarn Staatsgebiet wegnehmen, seinen Fortbestand als lebensfähige Nation gefährden, nach Möglichkeit verhindern, außerdem die Annexion der Krim durch die Eroberung der angrenzenden Südprovinzen irreversibel absichern: das ist der Ersatz für das gescheiterte Programm, sich in einer Blitzaktion den ganzen Staat zu- und unterzuordnen.
Der höhere strategische Zweck bleibt dabei im Prinzip derselbe. Mit seiner langen innerukrainischen Front verhindert Russland – oder arbeitet zumindest daran, definitiv zu verhindern –, dass die NATO das Land als seinen strategisch bedrohlichen Vorposten in Besitz nimmt. Damit bestreitet es der westlichen Allianz ihren Anspruch, ihr ausschließendes Kontrollregime über die europäische Staatenwelt bis ans russische Kernland heran auszudehnen und so zu zementieren. Mit dieser Antwort unterbindet es den Machtbeweis, den der Westen mit seinem Eingriff zur Rettung seines Kiewer Schützlings führt. Diesem Zweck dient auch die mehrfach erneuerte Warnung, dass Russland als Nuklearmacht noch ganz anders kann und seinen autonom definierten Sicherheitsbedarf noch sehr viel drastischer durchzusetzen vermag als in blutigen, militärisch kostspieligen Kämpfen gegen feinstes westliches Kriegsgerät und dessen einheimische Bedienungsmannschaft.
So stellt Russland mit dem Übergang zu einem ziemlich ausgedehnten Landkrieg den Zusammenhang zwischen seiner lokalen Kriegsführung und seiner Selbstbehauptung als Weltmacht aus eigenem Recht wieder her: die Deckungsgleichheit des Kriegsziels kleinteiliger Landgewinne mit dem strategischen Oberzweck, ein seine Existenz gefährdendes westliches Gewaltmonopol in Europa zu erledigen. Denn nach wie vor will es seinen imperialistisch übermächtigen Feind indirekt, aber wirksam auf dem Schauplatz Ukraine stellen und in der gewaltsamen Entscheidung, wem das Land gehört, zum Nachgeben zwingen.
4. NATO und Ukraine schlagen zurück und schreiben dafür Ziel und Vorgehen ihrer Kriegsführung sachgemäß fort. Die Regierung vor Ort opfert weiterhin Volk und Rest-Reichtum des Landes ihrer gesponserten Souveränität. Dazu gibt sie, verschärft kompromisslos, die vollständige Wiederherstellung ihres Herrschaftsbereichs einschließlich Krim als unverrückbares Endziel ihrer maßlosen Opferbereitschaft an. Der von Russland herausgeforderte Auftraggeber und Generalausstatter übersetzt das in die etwas offenere Ansage, dass ein russischer Siegfrieden auf gar keinen Fall infrage kommt, und wiederholt seine Selbstverpflichtung auf das qualitativ höhere Ziel, dem russischen Aggressor die militärische Fähigkeit zu kriegerischen Aktionen von der Art der Ukraine-Invasion zu nehmen: Russland muss den Krieg verlieren und sich westlicher Oberhoheit fügen, wie auch immer die aussieht.
In entsprechendem Umfang steigert der Westen sein militärisches Engagement. Er ermächtigt den ukrainischen Staat und befähigt seine Armee dazu, den russischen Vormarsch zu stoppen, erfolgreiche Gegenangriffe zu führen und mit weit reichenden Waffen und punktgenauer Aufklärung über feindliche Positionen viel russisches Kriegspersonal und -material auch hinter der Front, in den besetzten Gebieten und sogar auf der Krim, zu vernichten. So setzt der Westen, ohne Rücksicht auf ukrainische Verluste und ohne eigene Opfer außer an Geld und Militärgerät, Stück um Stück sein Ziel in die Tat um, die konventionelle militärische Macht seines Gegners aufzureiben. Die Eskalation, mit der er Russland zunehmend in die Defensive drängt, begleitet er auf der einen Seite mit der stereotyp wiederholten Erklärung, nach wie vor nicht Kriegspartei zu sein und auch nicht werden zu wollen. Wörtlich genommen wird diese Beteuerung zwar immer mehr zur Farce; in etlichen NATO-Hauptstädten scheut man sich nicht, Abwehr- und Angriffserfolge der ukrainischen Armee als Triumphe der eigenen überlegenen Waffentechnik und Kompetenz in Aufklärung und Führung zu feiern. Zugleich hält die Allianz aber daran fest, die Kriegsführung ihres Vasallen auf dessen Herrschaftsgebiet zu beschränken, also Angriffe nach Russland hinein nicht zu führen und auch nicht zuzulassen. Zum Ärger militanter Russlandfeinde, nicht nur in den östlichsten NATO-Staaten und Großbritannien, hält die vereinigte Weltmacht sich an die von ihr selbst definierte „rote Linie“, ihren Angriff auf Russlands Kriegsfähigkeit im von der russischen Seite zum Schauplatz gemachten Rahmen zu halten, um so unter der Schwelle zu einer weltkriegsträchtigen direkten Konfrontation zu bleiben. Auf der anderen Seite ergänzen die USA ihre Absagen an eine das Kriegsgeschehen regional und qualitativ überschreitende Offensive mit zunehmend expliziten Drohungen an die Moskauer Führung, jede Eskalation der russischen Kriegsführung über diesen räumlich und qualitativ abgesteckten Rahmen hinaus, insbesondere in Richtung auf den Einsatz nuklearer Waffen egal welchen Kalibers, werde mit sofortigen, nicht abzuwehrenden Vernichtungsschlägen beantwortet. So wird, spiegelbildlich zu der eigenen Festlegung der Schranken des eigenen Kriegseinsatzes, der russische Feind von dem offenbar gut vorstellbaren, jedenfalls als möglicher Ernstfall schon berücksichtigten Übergang abgeschreckt, mit Vernichtungswaffen der höheren Art den Offensivdrang der ukrainischen Armee und ihrer westlichen Führung zu entmutigen oder erlittene Niederlagen zu revidieren. Dabei spiegelt die Schärfe der Drohungen – auch das gegenbildlich zu den Warnungen der russischen Seite – die Schwere der Niederlagen wider, die man anstrebt und die der Gegner hinnehmen muss.
Die Deklaration der NATO und ihrer Führungsmacht, die Eskalation, die man den Russen untersagt, selber auch zu vermeiden, ist damit nicht zurückgenommen; so wenig wie umgekehrt die abschreckende Vergeltungsdrohung. Beides zusammen steht, wie schon zu Beginn, für die nachdrückliche Klarstellung, dass die vereinigte Weltmacht im Ukraine-Krieg einerseits voll präsent und zugleich andererseits nicht dingfest zu machen ist. Für sie stellt sich mit Russlands Invasion, bei aller programmatischen Härte ihrer wirklichen und ihrer angedrohten Gegenschläge, in keiner Weise die Existenzfrage ihres Imperialismus; sie erkennt noch nicht einmal an, dass die Reichweite ihrer Macht über Europa hier auf dem Spiel stehen könnte. Sie teilt sich ein, sehr souverän, wodurch sie sich wie weit und wozu herausgefordert sieht und wie viel sie riskiert. Sie wahrt konsequent ihre Handlungsfreiheit. Und sie nutzt die schon mal dazu, den Russen einen notfalls jahrelangen Krieg in Aussicht zu stellen, der von ihrer militärischen Handlungsfreiheit nicht viel und von ihrer Angriffsfähigkeit nichts mehr übrig lassen würde. In diesem Sinn feiert die NATO den Beitritt der Nordstaaten Schweden und Finnland als strategischen Gewinn, mit dem sie der russischen Macht deutlich näher rückt. In einer großen Erklärung verpflichtet sie sich auf das Ziel eindeutiger Übermacht über den unhandlichen Ausnahmefall ihrer regionalen und globalen Vorherrschaft. So verschieben sich im Verlauf des Krieges die strategischen Kräfteverhältnisse.
5. Auf den Zermürbungskrieg, den der Westen mit dem Einsatz der Ukraine als großer Waffe seinem Gegner liefert, auf Niederlagen und Rückschläge, die Russlands Eroberungen infrage stellen und damit auch sein Ziel unwidersprechlicher Selbstbehauptung als Weltmacht gegen das Regime von USA und NATO, antwortet die russische Regierung mit einer massiven Eskalation ihres Zugriffs in der und auf die Ukraine.
Die Eskalation ist erstens politischer Art. Moskau erklärt die besetzten Gebiete nach Volksabstimmungen mit dem erwarteten Ergebnis zu festen Bestandteilen seiner Föderation. Dazu wird von russischer Seite klargestellt und sehr aufmerksam von westlicher Seite registriert, dass für diese Gebiete folglich die Schutzgarantie gilt, die die zweite Weltmacht mit ihrer sich selbst erteilten Lizenz in Kraft gesetzt hat, gegen einen existenzgefährdenden Angriff auf ihren intakten Bestand auch Atomwaffen einzusetzen. Die von Beginn an deklarierte Trennung der „Spezialoperation“ auf ukrainischem Boden von dem Kräftemessen mit der westlichen Weltmacht auf dem Niveau der Drohung mit Atomwaffen ist damit im Prinzip aufgehoben. Die zwei disparaten Kriegsziele Russlands – Regime über den Nachbarstaat, Abweisung des monopolistischen Weltordnungsanspruchs der westlichen Allianz – sind nicht mehr bloß deckungsgleich, sondern in eins gesetzt. Die strategische Konfrontation fällt mit dem Kriegsgeschehen an der innerukrainischen Front zusammen, die nun ja eine zwischen Russland und dem feindlichen Ausland ist. Was dort passiert, ist fortan der Ernstfall, vor dem Moskau immer gewarnt hat.
Oder doch „nur“ nahe daran. Denn die politische Eskalation wird von einer militärischen begleitet: der Teilmobilmachung des russischen Militärs, deren Zweckbestimmung immer noch unter dem Titel „Spezialoperation“ läuft. Die Aufgabe bedingungsloser Heimatverteidigung an der ukrainischen Front fällt, fürs Erste, auf die konventionellen Streitkräfte. Der allseits diskutierte Ersteinsatz taktischer Atomwaffen für diesen Zweck, einschließlich der direkten Kollision mit der nuklearen Weltmacht Nr. 1, bleibt eine davon unterschiedene Option: immer noch eine Drohung, die den Westen von dem Versuch abschrecken soll, Russland seinen neuen Landesteil wieder streitig zu machen bzw. wegnehmen zu lassen. Die Kriegsführung vor Ort wird entsprechend umgestellt. Nämlich erstens von Eroberung auf Sicherung der neu definierten heiligen Staatsgrenze. Frontbegradigungen auch unter Preisgabe schon eroberten Geländes, insbesondere der – angeblich ausgerechnet von den Scharfmachern in Moskau begrüßte – Rückzug aus der Provinzhauptstadt Cherson, dienen jenseits aller taktischen Kalkulationen und Notwendigkeiten diesem revidierten Zweck und unterstreichen das Gemeinte: Was Russland nicht aufgibt, ist definitiv und unwiderruflich Russland.
Dazu kommt zweitens eine Revision des kriegerischen Umgangs mit dem fortbestehenden ukrainischen Rest-Staat: Vom Kampf um Geländegewinn, der Macht und Reichweite der feindlichen Herrschaft dezimiert, geht Russland über zu einer Verwüstung der Infrastruktur, mit der Russland seinen Willen und seine Fähigkeit unter Beweis stellt, das Land praktisch unbewohnbar, die Staatsmacht kampfunfähig, somit für weiteren Kriegsdienst für den Westen untauglich zu machen. Gleichzeitig erneuerte Verhandlungsangebote an die Regierung in Kiew verdeutlichen das Ziel, mit der Inszenierung einer drohenden Katastrophe für das Land und sein Volk Nachgiebigkeit und Kompromissbereitschaft der Führung zu erzwingen; einer Katastrophe, die, wenn sie wahr gemacht wird, auch durch westliche Waffen und Finanzhilfen nicht mehr abzuwenden ist.
Dem Westen nimmt Russland damit einen strategischen Vorposten weg. Und es weist die Abschreckungsmacht des Westens mit einer militärischen Offensive zurück, die auf jeden Fall noch unterhalb des qualitativen Übergangs zum Gebrauch atomarer Waffen stattfindet, innerhalb dieser Grenzen aber kaum mehr steigerungsfähig ist. So macht es den erklärten Kriegszweck der Ukraine, mit einem vollständigen Sieg über Russland das alte Staatsgebiet zu restaurieren, und mit dem zugleich das erklärte Ziel des Westens zunichte: der russischen Militärmacht am Fall Ukraine, auf diesem von Russland eröffneten und definierten Schauplatz eine Niederlage zu bereiten, mit der er der Unterwerfung seines Hauptfeindes unter sein imperialistisches Regime näher kommt.
6. Die Antwort des Westens ist in Arbeit. Von weiteren Waffenlieferungen lässt er sich offenbar fürs Erste nicht abschrecken. Der dringliche Antrag aus Kiew, den Einschlag von Raketentrümmern in einem polnischen Grenzort als Angriff auf die NATO zu werten, wird aber unverzüglich und durchaus demonstrativ von höchster Stelle mit einer amtlichen Klarstellung zur ukrainischen Herkunft des Geschosses abschlägig beschieden. So findet auch die gewünschte Gegeneskalation gegen die russischen Raketenangriffe, aus diesem Anlass jedenfalls, nicht statt. Die Perspektive, Russland in einen immer weiter gehenden zermürbenden Krieg zu verwickeln, streicht der Westen deswegen nicht; immerhin kann er registrieren, dass er es damit schon ganz schön weit gebracht hat. Wie sie es weiter betreibt, hält die Allianz sich – nach wie vor – offen.
Der noch nicht ultimativen, aber ernst genommenen Drohung Russlands, mit einer womöglich nuklearen Eskalation des Krieges die Zerstörung seiner Weltmacht zu verhindern, begegnen die USA erneut mit warnenden Hinweisen auf ihr – nach eigenem Ermessen: unendlich überlegenes – konventionelles wie nukleares Zerstörungspotential, aber auch auf anderer, nämlich diplomatischer Ebene. Mit dem Ziel, die Gefahr abzuschwächen, die von der russischen Abschreckungsmacht ausgeht, arbeitet die westliche Weltpolitik an der verschärften Ächtung von Atomkrieg und Atomkriegsdrohungen, allgemein, aber vor allem durch die mächtigen Unterstützer Russlands in der Staatenwelt. Sie wirkt intensiv auf die fortschreitende weltpolitische Isolierung Russlands hin; die erledigt zwar nicht die strategische Macht des Landes, beeinträchtigt aber ihren weltpolitischen Nutzen. Daneben aktiviert die US-Regierung ein Stück Atomkriegs-Diplomatie, nämlich Momente ihrer überkommenen Rüstungskontroll-Deals mit dem Feind, die die wechselseitige Offenlegung ihrer strategischen Rüstung gegeneinander und die Zusicherung eines Konsenses über die Nicht-Machbarkeit eines strategischen Atomkriegs zum Inhalt haben; das lässt sie die Weltöffentlichkeit auch wissen und stellt damit klar, dass sie die Verschärfung der Konfrontation auf alle Fälle im Griff behält – was auch immer sie daraus folgen lässt.
Die Staatsgewalt der Ukraine ist derweil enttäuscht und umso heftiger entschlossen, ihr Volk weiterkämpfen zu lassen, solange es das Land noch gibt.
[1] Ausführlich behandelt werden die Kriegsgründe der involvierten Parteien in dem Aufsatz „Die drei Gründe des UkraineKriegs“, GegenStandpunkt 2-22.