Gipfel zum 75-jährigen Bestehen der NATO
NATOisierung des Ukraine-Kriegs und Europäisierung der NATO

Die NATO feiert ihr 75-jähriges Bestehen als Kriegsbündnis und findet, dass sie notwendiger und lebendiger ist als je zuvor. Sie befindet sich zwar gar nicht unmittelbar im Krieg, bezieht aber den Krieg in der Ukraine als „größte Sicherheitskrise seit Generationen“ auf sich. Der gewaltsam geltend gemachte Einspruch Russlands gegen die NATO-Ostausdehnung hat dem Bündnis wieder die einende Feindschaft zurückgegeben, die ihm mit dem Abdanken seines Systemrivalen abhandengekommen war. Und seit zweieinhalb Jahren entfaltet ihr Stellvertreterkrieg in der Ukraine seine Produktivkraft für die Machtpotenzen des Bündnisses, lässt ihr Aufmarschgebiet auf 32 Staaten anwachsen und heizt die Aufrüstungsanstrengungen der Mitglieder an, deren finanzielle Höhe nun endlich mehrheitlich den Bündnisanforderungen entspricht.

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Gipfel zum 75-jährigen Bestehen der NATO
NATOisierung des Ukraine-Kriegs und Europäisierung der NATO

Die NATO feiert ihr 75-jähriges Bestehen als Kriegsbündnis und findet, dass sie notwendiger und lebendiger ist als je zuvor. Sie befindet sich zwar gar nicht unmittelbar im Krieg, bezieht aber den Krieg in der Ukraine als „größte Sicherheitskrise seit Generationen“ auf sich. Der gewaltsam geltend gemachte Einspruch Russlands gegen die NATO-Ostausdehnung hat dem Bündnis wieder die einende Feindschaft zurückgegeben, die ihm mit dem Abdanken seines Systemrivalen abhandengekommen war. Und seit zweieinhalb Jahren entfaltet ihr Stellvertreterkrieg in der Ukraine seine Produktivkraft für die Machtpotenzen des Bündnisses, lässt ihr Aufmarschgebiet auf 32 Staaten anwachsen und heizt die Aufrüstungsanstrengungen der Mitglieder an, deren finanzielle Höhe nun endlich mehrheitlich den Bündnisanforderungen entspricht. Als stärkstes Kriegsbündnis der Militärgeschichte – „heute ist die NATO mächtiger als je zuvor“ (Biden) – erteilen sich die NATO-Führungsmächte den Auftrag, die Weltordnung, die sie als die ihre ansehen, neu zu sichern, und leiten auf dem Gipfel diplomatisch eine Neudefinition ihres Bündnisses ein: „Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, die Allianz für die Zukunft und die veränderte Sicherheitslage neu aufzustellen.“ (Scholz) Diese Neuaufstellung wird von der Öffentlichkeit ganz in Bezug auf eine mögliche Wiederwahl des mächtigsten Bündniskritikers aufgegriffen, der die Bedeutung des Ukraine-Kriegs für die US-Weltordnung infrage stellt und damit prahlt, den Krieg innerhalb von 24 Stunden beenden zu können. Was die politischen Führer auf beiden Seiten des Atlantiks in ihrer Wertschätzung der NATO als kollektives Instrument ihrer Weltordnungspolitik [1] auf den Weg bringen, wird im Wesentlichen formell als Vorkehrung abgehandelt, um das Bündnis mit seinem unbedingten Willen zur Fortsetzung des Ukraine-Kriegs und seiner gewonnenen kollektiven Stärke „Trump-proof“ zu machen. Der strategische Gehalt der „Modernisierung der NATO“ für eine „neue Ära der kollektiven Verteidigung“ allerdings geht nicht einfach in Absicherungen gegen die zukünftige Eventualität eines Machtwechsels in Washington auf.

1. Die NATO übernimmt die Koordination des Ukraine-Kriegs und definiert sich als Garantiemacht gegen einen russischen Sieg

„Es gibt keine kostenfreien Optionen mit einem aggressiven Russland als Nachbarn. Es gibt keine risikofreien Optionen in einem Krieg. Und denken Sie daran: Die größten Kosten und das größte Risiko werden entstehen, wenn Russland in der Ukraine gewinnt.“ (Stoltenberg, Eröffnungsrede 9.7.24)

So schwört der NATO-Generalsekretär das Bündnis zum Auftakt des Gipfels auf die Alternativlosigkeit des NATO-Kriegskurses ein. Er fegt die nationalen Bedenken mancher osteuropäischer Mitglieder vom Tisch und gibt zugleich zu Protokoll, dass die NATO nach zweieinhalb Jahren Abnutzungskrieg gegen Russland bei gleichzeitig fortschreitendem Verschleiß ihres Stellvertreters noch lange nicht an ihre Grenzen gelangt ist. Die NATO ist entschlossen, die erreichten Kriegsergebnisse Russlands umzukehren und eine Niederlage der Ukraine keinesfalls zuzulassen. Sie verfügt über die nötigen Gewaltpotenzen, die ihr alle Optionen verschaffen, sich ihre Unterstützung frei einzuteilen, und entschließt sich, den Krieg entsprechend zu eskalieren:

Das Bündnis tritt als Garantiemacht des Kriegserfolgs der Ukraine an und macht sich mit den Beschlüssen des Washingtoner Gipfels unmittelbar zum Subjekt von dessen weiterer Organisation und Ausstattung. Parallel zu der Fortführung der Ukraine-Kontaktgruppe im Ramstein-Format unter US-Führung, die bisher alle Waffenlieferungen der einzelnen Staaten koordiniert hat, schafft sich die NATO ein neues Kommando (NSATU – NATO Security Assistance and Training for Ukraine) mit Zentrale in Wiesbaden, das in Zukunft diese Aufgabe übernehmen soll. Damit zieht die NATO die bisherige formelle Trennung zwischen sich und Waffenlieferungen einzelner Mitgliedstaaten aus dem Verkehr, mit der sie bisher darauf bestanden hat, bei aller fürsorglichen Bewaffnung und Betreuung des Krieges nicht dessen eigentliches Subjekt zu sein. In der Abkehr von der bisherigen formellen Organisation als „Koalition der Willigen“ unter US-Führung institutionalisiert das Militärbündnis sich als Führung der weiteren Instandhaltung und Aufrüstung der ukrainischen Kriegspartei und macht sich ganz offiziell zum zentralen Koordinator des Ukraine-Kriegs.

Mit dieser Übernahme der Regie und der Konzentration der zugehörigen Kompetenzen in neuen und ausgebauten NATO-Strukturen einigen sich die Mitgliedstaaten auf organisatorische Verbindlichkeiten innerhalb ihres Bündnisses, die eine „verstärkte, vorhersehbare und kohärente Sicherheitshilfe für die Ukraine auf lange Sicht gewährleisten und die Unterstützung der Ukraine durch Bündnispartner und Partner verstärken“ sollen. [2] Diesen kollektiven Willen unterstreichen sie mit der Selbstverpflichtung auf eine „Mindestbasisfinanzierung“ für die ukrainische Kriegführung in Höhe von 40 Milliarden Euro. Als Ad-hoc-Maßnahme wird die Luftabwehr der Ukraine mit zusätzlichen Patriot-Systemen ergänzt, damit der NATO-Stellvertreter der militärischen Überlegenheit Russlands weiter standhalten kann und als Kriegspartei trotz Dauerbombardement für seine Ausstatter funktionstüchtig bleibt. Die politische Zwecksetzung reicht allerdings darüber hinaus: Der NATO-Ukraine-Rat definiert sie als Beitrag für eine „integrierte Luft- und Raketenabwehrarchitektur für die Ukraine“, die sie aufbaut, um eine „möglichst effiziente Nutzung der ukrainischen Luft- und Raketenabwehrkapazitäten zu ermöglichen und den Übergang der Ukraine zur vollständigen Interoperabilität mit der NATO“ zu gewährleisten. Als weiteren entscheidenden Schritt bei dieser „Anpassung an die westliche Doktrin“ darf sich Selenskyj außerdem über die Zusage Blinkens freuen, dass ein Jahr nach der Gründung der westlichen Kampfjet-Allianz deren Sponsoren nun also wirklich noch im Sommer die ersten F-16-Kampfjets liefern werden. In Bezug auf den laufenden Krieg ermöglicht es die NATO damit ihrem Stellvertreter, in den aktiven Luftkrieg gegen Russland einzusteigen, in dem nun die russische Luftüberlegenheit gebrochen werden soll, um den daraus resultierenden Vorteil in der Kriegführung zunichtezumachen. In Bezug auf ihre eigene Macht als überlegenes Militärbündnis transformiert sie mit Waffenlieferungen und der zugehörigen Ausbildung die ukrainischen Streitkräfte unter dem technischen Terminus der Interoperabilität sukzessive zur NATO-Armee. Personifiziert und damit offiziell gemacht wird all das durch die dauerhafte Verschickung eines ranghohen Generals nach Kiew.

Ihren strategischen Besitzanspruch auf die Ukraine drückt die NATO in der Abschlusserklärung als „unumkehrbaren“ Weg der Ukraine in das Bündnis aus. [3] Als Stellvertreter wird die Ukraine in dem laufenden Krieg rücksichtslos gegenüber den Grundlagen ihrer Souveränität verschlissen, erhält aber zugleich von ihren westlichen Paten die vielversprechende Perspektive der Eingemeindung in das Militärbündnis und des Aufbaus zu einem NATO-Frontstaat. Damit will das westliche Militärbündnis die Ukraine zum genauen Gegenteil dessen machen, was Russland mit seinem Krieg erreichen will: eine neutrale und entmilitarisierte Ukraine. Es eskaliert den laufenden Stellvertreterkrieg mit weiter reichenden Waffengattungen und Freigaben in der Verwendung und fordert Russland zum sofortigen Truppenabzug auf – aus der Ukraine (und Transnistrien und Georgien gleich mit dazu). [4] Es zeigt sich von allem, was Russland in zweieinhalb Jahren Krieg erreicht hat, unbeeindruckt, lässt keine Relativierung seines Kriegsziels – die russische Niederlage – angesichts der aktuellen Kriegslage zu und erteilt den russischen Kriegszielen und Friedensbedingungen damit eine Totalabsage.

Wegen dieser Entschlossenheit in der Fortsetzung und Eskalation des Ukraine-Kriegs weist die Neuaufstellung der NATO über ihn hinaus.

2. Die NATO definiert sich als Friedensmacht für Europa und eröffnet Russland die dafür nötige Kriegsfront

Mit ihrer Rolle als Garantiemacht einer russischen Niederlage im Ukraine-Krieg aktualisiert die NATO zugleich ihre grundlegende Bestimmung als Kriegsbündnis. Dessen einzigartige Qualität besteht allem voran in der in Artikel 5 des Nordatlantikvertrags geregelten Beistandspflicht im Angriffsfall, die alle Mitglieder des Bündnisses verpflichtet, einen Angriff auf eines von ihnen als Angriff auf sie alle zu werten – in seinem Rigorismus passend ausgedrückt in der Warnung vor der Verletzung auch nur eines Quadratzentimeters Bündnisgebiet. Der Angriff auf einen Bündnispartner versetzt alle NATO-Mitglieder unmittelbar mit in eine Kriegssituation und schweißt sie in dieser existentiellen staatlichen Souveränitätsfrage in einem wechselseitigen Verpflichtungsverhältnis zusammen. Die NATO-Mitglieder haben also ihre Souveränität in der für Staaten elementaren Frage, nämlich der von Krieg und Frieden, damit entscheidend zugunsten der kollektiven Kriegsbereitschaft und der vereinten Gewaltpotenzen des Bündnisses relativiert – und dadurch ihre Staatsräson auf die Teilhabe an dem amerikanischen Weltordnungsmonopol ausgerichtet. Historische Grundlage wie Garantie der Aufrechterhaltung dieses elementaren Widerspruchs ist die überlegene konventionelle und nukleare Militärmacht der USA. Konstitutiv für diese Bündniskonstruktion war die existentielle Bedrohung der westlichen NATO-Partner, in die sie durch die Feindschaft mit der Sowjetunion von den USA gestellt waren und die sie sich zu eigen gemacht haben, ohne sie eigenständig aushalten zu können. Das hat eine Unterordnung unter die amerikanische Supermacht für alle unentbehrlich gemacht. Mit dem Ukraine-Krieg definiert die NATO ihren ehemaligen Bündniszweck neu und weist sich eine neu gefasste Langzeitaufgabe zu: Sie bekräftigt ihren Unvereinbarkeitsbeschluss mit der russischen Macht und eröffnet Moskau eine neue kalte Kriegsfront. Sie definiert Russland zur Gefahr für sich und die „euro-atlantische Sicherheitsarchitektur“ und macht es sich zur obersten Pflicht, Russland derart zu entmachten, dass es keine Gefahr mehr für Europa und damit auch nicht mehr für die westliche Weltfriedensordnung darstellt. [5]

In der aktuellen Kriegslage bedeutet das zunächst, dass die NATO nicht nur die Eskalation des Stellvertreterkriegs absichert, sondern ihre Abschreckungsmacht überhaupt ausbaut, also ihre Bündnismitglieder für den Fall eines direkten NATO-Russland-Kriegs in den Status der praktischen Kriegsfähigkeit versetzt. Als Sofortmaßnahme beschließt die NATO auf ihrem Gipfel, ihre Fähigkeit zur „Vorwärtsverteidigung“ mit der Verstärkung der kampfbereiten Streitkräfte an der Ostflanke auszubauen, versetzt die Truppen in erhöhte Bereitschaft und arbeitet mit der Stationierung von NATO-Soldaten in Finnland daran, dass sich die Integration ihrer jüngsten Mitglieder unmittelbar als Machtzuwachs und Verbesserung ihrer ohnehin überlegenen Angriffsmacht geltend macht. Zugunsten ihrer Abschreckungsmacht weist die NATO den Mitgliedern in den laufenden Kriegsvorbereitungen arbeitsteilig ihre Einsatzräume und Aufgaben in dem Szenario eines Bündniskriegs gegen Russland unter ihrem Kommando zu, verbucht deren vorhandene wie die noch zu beschaffenden nationalen Souveränitätsmittel also als Momente ihrer Bündnispotenzen gegen Russland und stellt sicher, dass sie Teil der militärischen Verfügungsmasse bilden. In einer „neuen Generation von Verteidigungsplänen“ verfeinert die NATO ihre interne Abstimmung von Kriegsszenarien, in denen sie das kriegspraktische Zusammenwirken nach dem Vorbild von Steadfast Defender 2024 unter Einsatz der „realen Fähigkeiten“ trainiert, damit die flexible Kriegsfähigkeit „kurzfristig und ohne Vorankündigung“ abrufbar ist.

Für die langfristige Planung eines Bündniskriegs gegen Russland schafft die NATO eine zentrale Beschaffungsagentur, [6] die den Bedarf koordiniert, den sie mit ihren Kriegsvorbereitungen bei den einzelnen Mitgliedern stiftet. Die kollektiv verfügbaren Potenzen nimmt die NATO erstens hinsichtlich ihrer Quantität kritisch unter die Lupe und lässt im Rahmen des „Verteidigungsplanungsprozesses“ (NATO Defence Planning Prozess – NDPP) die Rüstungsproduktionskapazitäten für den laufenden heißen und kalten Krieg hochfahren. Die dazu verplanten Finanzmittel, für deren Umfang sich der Ukraine-Krieg als so ausgesprochen produktiv erwiesen hat, reichen der NATO in ihrem anspruchsvoll wachsenden Gewaltbedarf bei weitem nicht aus, schon werden erste Forderungen nach der Erhöhung des 2-%-Ziels laut. Zweitens inspiziert sie kritisch die Qualität ihrer kollektiven Abschreckungsmacht und ‚entdeckt‘ entsprechend ihrem gewachsenen Anspruch an Eskalationsdominanz in dem vorzubereitenden Bündniskrieg gegen Russland lauter „Lücken“ in ihrer bisherigen militärischen Überlegenheit.

Um eine dieser zentralen „Lücken“ zu schließen, vereinbaren Scholz und Biden am Rande des NATO-Gipfels ab 2026 die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen mit Reichweiten von über 2000 km in Deutschland. Erstmalig nach Abzug der Pershing-Raketen 1991 ergänzt die NATO-Führungsmacht damit wieder die Angriffsfähigkeit ihres Bündnisses um verschiedene Hightech-Varianten einer Waffengattung, die sie sich früher unter dem INF-Vertrag in wechselseitigem Einvernehmen mit dem russischen Feind untersagt hatte. Was ein „Ungleichgewicht“ bei landgestützten Mittelstreckenwaffen gegenüber Russland beseitigen soll, verschafft der NATO umgekehrt – und auf diese Umkehrung kommt es ihr sehr an – die Fähigkeit, die Potenz Russlands, die überlegenen NATO-Streitkräfte auf Abstand zu halten und deren Aufmarsch im Kriegsfall zurückzudrängen, auszuschalten und den Feind mit dem Angriff auf sog. „zeitkritische Hochwertziele“ in seiner Fähigkeit, Kampfhandlungen fortzusetzen, erheblich zu schwächen. [7] Die Kernaufgabe dieser Waffengattung ist es also, die ‚Anti-Access/Area Denial‘-Kapazität Russlands zu überwinden. In diesen Waffen manifestiert sich der Entschluss des westlichen Militärbündnisses, Russland die Fähigkeit zu nehmen, sich und seinen Bestand konventionell zu verteidigen; sie entwerten obendrein die atomare Abschreckungsmacht Russlands. Bei allen Typen dieser konventionellen Mittelstreckenraketen, die nur schwer abgefangen werden können, sind die Vorwarnzeiten erheblich reduziert, und insbesondere die neuen Hyperschallraketen versetzen die NATO in die Lage, entwaffnende Präzisionsschläge auch gegen das Nuklearwaffenarsenal der Russen durchzuführen – was das Risiko des Beginns eines nuklearen Vernichtungskriegs drastisch erhöht; die Fachwelt spricht von einem „erhöhten Anreiz“ wegen des „use ’em or lose ’em“-Szenarios. [8] Und das auf konventionellem Weg, sogar ohne von der „warhead ambiguity“ (der optionalen atomaren Bestückung) dieser Waffengattung Gebrauch zu machen, die natürlich immer mit eingeplant ist. So oder so verlagert die NATO mit dieser Aufrüstung das Risiko des Übergangs zu einer atomaren Eskalation auf Russland.

3. Die Europäisierung der NATO – eine Neudefinition des Verhältnisses der transatlantischen Bündnispartner

Die Daueraufgabe der Entmachtung Russlands, der sich die NATO mit ihrer Selbstbeauftragung als zuständige Ordnungsmacht für Europa verschreibt, wirft für das Bündnis die Frage auf, wie es diese aktualisierte Räson in Zukunft innerhalb seiner Strukturen und zwischen den Mitgliedern organisiert. Um die europäische Friedensordnung offensiv voranzutreiben, bringt die NATO auf ihrem Gipfel – zunächst diplomatisch in Form von lauter Absichtserklärungen – eine neue Aufgabenverteilung zwischen den transatlantischen Bündnispartnern auf den Weg, die dem Imperativ folgt, dass Europa innerhalb der NATO mehr Verantwortung übernehmen muss.

Denn im Unterschied zum kalten Krieg gegen die Sowjetunion, in dem die europäischen NATO-Partner von der US-Führungsmacht strategisch als deren Gegenküste verbucht waren und sich entsprechend ausgestattet haben, soll der europäische Pfeiler im neuen kalten Krieg gegen Russland nun eine eigenständigere Rolle übernehmen. Diese neue Rollenzuweisung hat ihre Grundlage darin, dass die europäischen NATO-Staaten einen doppelten relativen Machtzuwachs vorweisen können: Sie haben sich mit der NATO-Ostausdehnung in den letzten 25 Jahren kontinuierlich vermehrt, d.h. das europäische NATO-Territorium bis an die Grenze von Russland herangeführt und ihre militärischen Potenzen nicht nur um die Streitkräfte der Neuzugänge erweitert. Insbesondere die neueste Verstärkung durch den Beitritt Schwedens und Finnlands im Zuge des Ukraine-Kriegs verleiht der NATO eine neue Qualität, denn die Neuzugänge schließen die NATO-Ostflanke um Russland und Belarus, verleihen der Ostsee den Status eines NATO-Binnenmeers und versetzen das Bündnis in die Lage, eine Nordfront gegenüber Russland eröffnen zu können. Dieser Machtzuwachs der NATO in Europa trifft auf ein strategisch geschwächtes Russland, das seine angestammten Einflusssphären und früheren militärischen Verbündeten einbüßt, sich unmittelbar von einem NATO-Aufmarsch eingekreist sieht und darüber hinaus im aktuellen Abnutzungskrieg in der Ukraine seine konventionelle Militärmacht verschleißt.

Trotz und wegen dieser neuen Machtposition des europäischen NATO-Pfeilers bleibt die überlegene nukleare Abschreckungsmacht der USA für ihn bei der Eröffnung einer neuen kalten Kriegsfront gegenüber der russischen Atommacht unentbehrlich. Das Projekt der Europäisierung der NATO zur Entmachtung Russlands verlangt nach der überlegenen atomaren Abschreckung der Weltmacht als Rückendeckung für die konventionelle Stellvertreterkriegseskalation und die Bündniskriegsvorbereitung des europäischen Pfeilers. Die USA behalten bei der Neudefinition der Rollen ihren Status als ultimative Garantiemacht der Eskalationsdominanz der NATO ebenso bei wie die Ausgestaltung des laufenden heißen wie des neuen kalten Kriegs im Griff. Parallel zum Projekt der Europäisierung stellen sie in einer Kette von bilateralen Militärabkommen mit den europäischen NATO-Bündnispartnern sicher, dass die Erweiterung der NATO und der Aufbau der konventionellen „Vorwärtsverteidigung“ ihnen alle Optionen bietet, die europäische Front mit ihren Gewaltmitteln auszustatten und ihre Nuklearwaffen taktisch nach vorne zu verlagern – über letztere behalten sich die USA ohnehin die hoheitliche Verfügung und Regie vor. [9]

Für die anstehende Doppelaufgabe der NATO nimmt die Führungsmacht die Europäer nun allerdings verstärkt in die Pflicht. Während die USA die Europäisierung der NATO arrangieren, Kompetenzen zuweisen und die Oberaufsicht über die europäische Front ausbauen, sollen die Europäer die Lasten des heißen wie kalten Kriegs übernehmen. Biden greift so die Kritik der republikanischen Partei auf, dass die Europäer es sich im Fahrwasser amerikanischer Waffenlieferungen und unter dem atomaren Schutzschirm der USA bequem machen, anstatt sich selbst um den Krieg auf ihrem Kontinent zu kümmern, und treibt sie in der Sache weit über die Forderung nach vermehrter Kostenübernahme hinaus. Die USA verlangen von ihren europäischen Bündnisgenossen ganz prinzipiell, die kriegerische Entmachtung Russlands als europäischer NATO-Pfeiler zu ihrer Sache zu machen. Was es dafür an Kompetenzen und Gewaltmitteln braucht, soll bei den europäischen NATO-Partnern versammelt werden. So verschafft sich die Weltmacht alle Freiheiten, sich die Prioritäten an den bestehenden oder aufzumachenden Kriegsfronten ihrer Weltordnung einzuteilen. [10]

Diese Inanspruchnahme für die militärische Ausgestaltung der NATO-Russland-Feindschaft enthält zugleich das Angebot der USA an die europäischen Verbündeten, sich ein Stück Bestimmungshoheit in dieser entscheidenden imperialistischen Gewaltfrage zu sichern. Die Führungsmacht bietet ihnen an, mit den daraus entspringenden Lasten des Krieges – die Gefahr als Aufmarschgebiet der NATO zum Schlachtfeld eines eskalierenden NATO-Russland-Kriegs zu werden, ist ja nichts Neues – zugleich ein Stück Führungsmacht, also eine weitreichendere Teilhabe an ihrer Weltordnungspolitik zu übernehmen. Damit treffen sie auf ein starkes strategisches Eigeninteresse der europäischen Führungsmächte, auf deren entschlossenen politischen Willen, sich auf Basis der NATO als Ordnungsmacht in Europa durchzusetzen. Die Europäer nehmen diese neue Arbeitsteilung als eine Chance zur einvernehmlichen Emanzipation innerhalb des Bündnisses, also sich im Bündnis in neuer Eigenständigkeit als europäischer Machtblock mit der atomaren Rückendeckung der USA aufzubauen. Für die Übernahme ihrer ambitionierten Aufgabe der Entmachtung Russlands im NATO-Verbund nehmen die Europäer ihrerseits die US-Militärgewalt in Anspruch, die Russland unter Androhung eines vernichtenden Atomschlags sein nukleares Eskalationspotential bestreitet und ihnen einen konventionellen NATO-Krieg gegen die russische Atommacht machbar und erfolgreich führbar erscheinen lässt.

Wie elementar dieser NATO-Zusammenschluss ist, der auch von der neuen Aufgabenverteilung innerhalb des Bündnisses nicht tangiert wird, zeigt der Vergleich mit dem EU-Projekt, das die meisten europäischen NATO-Staaten parallel dazu betreiben. Der von den EU-Führungsmächten für nötig erachtete Übergang von einem Wirtschaftsbündnis zu einem geopolitischen Machtsubjekt auf Augenhöhe mit den Weltmächten – „um nicht zwischen den Machtblöcken zerrieben zu werden“ – scheitert regelmäßig an den Souveränitätsfragen, die er unter den Staaten aufrührt – nicht zuletzt bei den Protagonisten des EU-Weltmachtstrebens selbst. Die für die Unterordnung der staatlichen Gewaltpotenzen unter einen gemeinsamen politischen Willen notwendige Relativierung der Souveränität der Mitglieder innerhalb eines Bündnisses von souveränen Staaten geht weit über das hinaus, was in der EU bereits als kollektivierte Staatsräson realisiert ist. Sie betrifft nämlich den Kern der staatlichen Souveränität selbst und verlangt entsprechend eine überlegene Gewalt vom Kaliber der US-Weltmacht. Es ist dieses europäische Defizit, das die NATO für die Europäer in der aktuellen Kriegslage in ihrem Unvereinbarkeitsbeschluss mit Russland so unverzichtbar und alternativlos macht – ausgerechnet in dem Krieg, mit dem die Europäer zu einer eigenständigen Ordnungsmacht aufsteigen wollen. Deshalb tritt das ansonsten so lebendige, bisweilen NATO-kritische Autonomiestreben der Europäer als EU gegenüber der US-amerikanischen Weltmacht aktuell in den Hintergrund. Angesichts der imperialistischen Alternativlosigkeit zum NATO-Bündnis stellt sich dieses mit seiner Führungsmacht USA umgekehrt sehr souverän und gönnerhaft zu der ambivalenten Doppelnatur seiner europäischen Mitglieder als EU und NATO-Partner: Die NATO lobt in ihrer Abschlusserklärung die EU als „einzigartigen und wichtigen Partner“, dessen ökonomische Unterstützung der Ukraine sie als Beitrag zu ihrem Kriegsziel verbucht. Sie würdigt die EU als Hilfstruppe auf einem „noch nie dagewesenen Niveau“ der Zusammenarbeit und „erkennt den Wert einer stärkeren und leistungsfähigeren europäischen Verteidigung an, die einen positiven Beitrag zur transatlantischen und globalen Sicherheit leistet und die NATO ergänzt und mit ihr interoperabel ist“. Mit der Betonung der „Entwicklung kohärenter, komplementärer und interoperabler Verteidigungsfähigkeiten“ besteht das transatlantische Militärbündnis schlicht auf der Identität zwischen europäischer Aufrüstung und NATO-Machtzuwachs und warnt dezent vor „unnötiger Doppelarbeit“.

[1] Biden beschwört in seiner Eröffnungsrede nochmal – wie an seine internen Kritiker gewandt – die Bedeutung der NATO für den US-Imperialismus:

„Die Tatsache, dass die NATO das Bollwerk der globalen Sicherheit bleibt, ist kein Zufall. Das war nicht unvermeidlich. Immer wieder haben wir in kritischen Momenten Einigkeit über Uneinigkeit, Fortschritt über Rückzug, Freiheit über Tyrannei und Hoffnung über Angst gestellt. Immer wieder haben wir uns hinter unsere gemeinsame Vision einer friedlichen und prosperierenden transatlantischen Gemeinschaft gestellt. Wir sind hier auf diesem Gipfel zusammengekommen, um zu verkünden, dass die NATO bereit und in der Lage ist, diese Vision heute und auch in Zukunft zu sichern. Lassen Sie mich dies sagen. Eine überwältigende, überparteiliche Mehrheit der Amerikaner ist sich darüber im Klaren, dass die NATO uns alle sicherer macht. Die Tatsache, dass heute sowohl die demokratischen als auch die republikanischen Parteien hier vertreten sind, zeugt von dieser Tatsache. Das amerikanische Volk weiß, dass alle Fortschritte, die wir in den letzten 75 Jahren gemacht haben, hinter dem Schutzschild der NATO geschehen sind. Und das amerikanische Volk weiß, was passieren würde, wenn es keine NATO gäbe: ein weiterer Krieg in Europa, amerikanische Truppen, die kämpfen und sterben, Diktatoren, die Chaos verbreiten, wirtschaftlicher Zusammenbruch, Katastrophen. Die Amerikaner wissen, dass wir mit unseren Freunden stärker sind. Und wir verstehen, dass dies eine heilige Verpflichtung ist.“ (Eröffnungsrede Biden zum 75-jährigen Jubiläum der NATO, Washington 9.7.24)

[2] In diesem Zusammenhang würdigt die NATO die bilateralen Sicherheitsabkommen ihrer Mitglieder mit der Ukraine, die sie als Ersatz für die NATO-Mitgliedschaft und „Brücke“ zu ihr verstanden wissen will. Diese Abkommen sind allem voran Dokumente des Anspruchs und politischen Willens der beteiligten Länder, sich den Stellvertreter langfristig als kriegführende Partei zu erhalten und ihren Beitrag zu dieser kollektiven Aufgabe des Bündnisses zu definieren. In den Sicherheitsabkommen bestimmen die einzelnen Unterstützerstaaten – gemäß ihren militärischen Potenzen und arbeitsteiligen Rollen im NATO-Bündnis – jeweils ihren langfristigen Beitrag für den Stellvertreterkrieg und machen ihre nationalen Ambitionen hinsichtlich der Fortsetzung und Eskalation des Krieges deutlich. Entsprechend strotzen diese Abkommen vor Detailreichtum und dokumentieren die anspruchsvolle Rolle, die sich die Nationen bei der zukünftigen Kriegsausstattung zusprechen. Sie stellen zwar keine, wie von der Ukraine gefordert, Sicherheitsgarantien dar, sind aber trotzdem ein Ausweis der Verstetigung des Kriegswillens der aktuellen Führungsmannschaften und eine Vorkehrung gegenüber einer möglichen Machtübernahme kriegskritischer Opposition.

[3] „Die Bündnispartner unterstützen uneingeschränkt das Recht der Ukraine, ihre eigenen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen und frei von Einmischung von außen über ihre eigene Zukunft zu entscheiden. Die Zukunft der Ukraine liegt in der NATO. Die Ukraine ist zunehmend interoperabel und politisch in das Bündnis integriert. Wir begrüßen die konkreten Fortschritte, die die Ukraine seit dem Gipfel von Vilnius bei den erforderlichen demokratischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Reformen erzielt hat. Während die Ukraine diese wichtige Arbeit fortsetzt, werden wir sie weiterhin auf ihrem unumkehrbaren Weg zur vollständigen euro-atlantischen Integration, einschließlich der NATO-Mitgliedschaft, unterstützen.“ (Erklärung des NATO-Ukraine-Rates, 11.7.24)

[4] „Russland muss diesen Krieg sofort beenden und alle seine Streitkräfte im Einklang mit den Resolutionen der UN-Generalversammlung vollständig und bedingungslos aus der Ukraine abziehen. Wir werden die illegalen Annexionen ukrainischen Territoriums, einschließlich der Krim, durch Russland niemals anerkennen. Wir fordern Russland außerdem auf, alle seine Streitkräfte aus der Republik Moldau und Georgien abzuziehen, die dort ohne deren Zustimmung stationiert sind.“ (Erklärung des NATO-Gipfels, Washington, 10.7.24)

[5] „Russlands umfassender Einmarsch in die Ukraine hat den Frieden und die Stabilität im euro-atlantischen Raum erschüttert und die globale Sicherheit ernsthaft untergraben. Russland ist nach wie vor die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Bündnispartner... Russland ist bestrebt, die euro-atlantische Sicherheitsarchitektur grundlegend umzugestalten. Die bereichsübergreifende Bedrohung, die Russland für die NATO darstellt, wird auf lange Sicht bestehen bleiben. Russland ist dabei, seine militärischen Fähigkeiten auf- und auszubauen, und setzt seine Verletzungen des Luftraums und seine provokativen Aktivitäten fort. Wir stehen in Solidarität mit allen Bündnispartnern, die von diesen Handlungen betroffen sind. Die NATO sucht keine Konfrontation und stellt keine Bedrohung für Russland dar. Wir sind weiterhin bereit, die Kommunikationskanäle mit Moskau aufrechtzuerhalten, um das Risiko zu mindern und eine Eskalation zu verhindern.“ (Erklärung des NATO-Gipfels, Washington, 10.7.24)

[6] „Die transatlantische Zusammenarbeit der Verteidigungsindustrie ist ein kritischer Teil der Abschreckung und Verteidigung der NATO. Unsere Verteidigungsindustrie stellt uns die Ausrüstung zur Verfügung, die wir brauchen, um zu kämpfen, stärkt unseren technologischen Vorsprung und spielt eine wichtige Rolle bei der Steigerung der Bereitschaft und Interoperabilität unserer Streitkräfte. Wir werden die Rolle des Bündnisses als Organisator, Standardsetzer, Anforderungssetzer und ‑aggregator sowie als Ermöglicher der Umsetzung nutzen, um die Kapazitäten der Verteidigungsindustrie zu erweitern... Wir werden das Wachstum der Kapazitäten und der Produktion der Verteidigungsindustrie im gesamten Bündnis im Einklang mit den Artikeln 2 und 3 des Washingtoner Vertrags beschleunigen und dabei auf den ehrgeizigen Zielen des Aktionsplans für die Verteidigungsproduktion aufbauen, der auf dem Gipfeltreffen von Vilnius im Jahr 2023 vereinbart wurde. Die Stärkung unserer Verteidigungsindustrie macht uns fähiger und besser, die Anforderungen der NATO-Verteidigungspläne zeitnah zu erfüllen, und untermauert unsere unmittelbare und dauerhafte Unterstützung für die Ukraine.“ (NATO Industrial Capacity Expansion Pledge, 10.7.24, www.nato.int)

[7] „Laut den deutschen und amerikanischen Plänen werden 2026 drei Typen landgestützter US-Mittelstreckenwaffen stationiert. Das ist erstens der Marschflugkörper Tomahawk, der vermutlich 2 500 km weit fliegen kann. Dies würde von Deutschland aus Russlands westliche Militärbezirke weitgehend abdecken. Zweitens kommt die Standard Missile (SM) 6 nach Deutschland, eine ballistische Rakete. Die U.S. Army nutzt deren stark verbesserte Variante 1B, die eine Reichweite von über 1.600 km haben müsste. Drittens wird die Long-Range Hypersonic Weapon (LRHW), Code: Dark Eagle, stationiert. Diese Hyperschallrakete kann wohl 3 000 km weit fliegen. Zum Vergleich: Bislang ist das Army Tactical Missile System (ATACMS) mit über 300 km die bodengestützte NATO-Waffe mit der größten Reichweite. Die drei Systeme werden im Rahmen der 2. Multi-Domain Task Force der U.S. Army in Deutschland stationiert. Ihre Kernaufgabe ist, Russlands Anti-Access/Area Denial (A2/AD)-Kapazität mit Hilfe neuer Technologien und Konzepte zu überwinden: Moskau hofft, in einem Krieg das Gros der NATO-Kräfte vom Kampfgebiet an seiner Grenze fernzuhalten, indem es mit Raketen und Marschflugkörpern deren Aufmarsch und Versorgung unterbindet oder mit Schlägen gegen einzelne NATO-Länder deren Einlenken erzwingt. Allein mit Luft- und Raketenabwehr könnte sich die Allianz davor nicht wirksam schützen, weil Europa zu groß ist und umfassender Schutz gegen das russische Flugkörperarsenal zu teuer wäre. Mit eigenen weitreichenden Mittelstreckenwaffen kann die NATO diesen russischen Plan aber auf zwei komplementäre Arten durchkreuzen.“ (SWP-Aktuell 36, Juli 2024)

[8] Diese modernen Abstandswaffen, deren Stationierung Fachleute als den Beginn eines „neuen Raketenzeitalters in Europa“ und Element einer „umfassenden Transformation der Sicherheitsarchitektur des Kontinents“ feiern, sind für die Europäer der Schlüssel, sich als konventionelle Militärmächte qualitativ neu aufzustellen. Für sie sind die Mittelstreckenraketen der materialisierte Inbegriff ihres Aufstiegs zu einem militärischen Machtblock, der auf konventionellem Weg in der Lage ist, die nukleare Überlegenheit Russlands empfindlich zu treffen, und damit eine Potenz, über die sie zukünftig eigenständig verfügen wollen, um nicht dauerhaft auf Leihgaben aus den USA angewiesen zu sein:

„Für die europäischen NATO-Mitglieder ist diese Situation jedoch wenig tröstlich, da sie sich bisher hauptsächlich auf die Vereinigten Staaten verlassen haben, um im Krisenfall Abstandsraketen bereitstellen zu können. Der Großteil des derzeitigen europäischen Arsenals besteht aus einer begrenzten Anzahl luftgestützter Marschflugkörper mit einer maximalen Reichweite von etwa 500 Kilometern, darunter die Storm Shadow/SCALP EG in Frankreich und dem Vereinigten Königreich sowie die Taurus KEPD 350 in Deutschland und Spanien. Aus diesem Grund haben andere europäische Staaten, darunter Finnland, Polen und die Niederlande, bereits mit der Beschaffung zusätzlicher luftgestützter Marschflugkörper der USA begonnen, insbesondere des gemeinsamen Luft-Boden-Abstandsflugkörpers mit einer erweiterten Reichweite (AGM-158B-2 JASSM-ER) von angeblich 1000 Kilometern für die Kampfjets F-16 und F-35. Während des NATO-Gipfels haben Deutschland, Frankreich, Polen und Italien auch ihre Bereitschaft unterstrichen, ihre eigenen Fähigkeiten im Bereich der Abstandsraketen weiter zu verbessern, indem sie eine Absichtserklärung für das so genannte ‚European Long-Range Strike Approach‘ unterzeichneten. Die künftigen Parameter dieses neuen Systems sind noch unbekannt, aber Frankreich hat Berichten zufolge angeboten, seinen eigenen Marine-Marschflugkörper – den ‚Missile de Croisière Naval‘ mit einer Reichweite von mehr als 1000 Kilometern – als mögliche Grundlage für das gemeinsame Projekt zu verwenden. Unterdessen arbeiten Deutschland und Norwegen an der Entwicklung des 3SM Tyrfing, eines Überschall-Marschflugkörpers mit großer Reichweite, der bis 2035 einsatzbereit sein soll.“ (Bulletin of the Atomic Scientists, 12.8.24)

[9] Dass die NATO sich bei aller konventionellen Aufrüstung und Mobilmachung auch als Nuklearbündnis versteht und in der diesbezüglichen Aufrüstung und Eskalation nichts anbrennen lässt, versichert der NATO-Generalsekretär nicht nur im Vorfeld des Gipfels:

„Die NATO führt Gespräche über die Stationierung weiterer Atomwaffen angesichts der wachsenden Bedrohung durch Russland und China, so der Chef des Bündnisses. Jens Stoltenberg fügte in einem Interview mit The Telegraph hinzu, dass die NATO ihr Atomwaffenarsenal der Welt zeigen müsse, um eine direkte Botschaft an ihre Feinde zu senden. Er enthüllte, dass die Mitglieder live darüber beraten, wie sie ihre Raketen aus dem Lager holen und in Bereitschaft versetzen können, und forderte, dass Transparenz als Abschreckung dienen sollte... ‚Transparenz hilft dabei, die direkte Botschaft zu vermitteln, dass wir natürlich ein Nuklearbündnis sind‘, sagte Stoltenberg. ‚Das Ziel der NATO ist natürlich eine Welt ohne Atomwaffen, aber solange es Atomwaffen gibt, werden wir ein Atombündnis bleiben, denn eine Welt, in der Russland, China und Nordkorea Atomwaffen haben und die NATO nicht, ist eine gefährlichere Welt.‘ ... Sowohl die USA als auch das Vereinigte Königreich haben ihre nuklearen Abschreckungsmittel der NATO zur Verfügung gestellt, während andere europäische Verbündete die Last der Verantwortung mittragen, indem sie die Waffen in ihrem Hoheitsgebiet lagern und in die Systeme für ihren Einsatz investieren. Die Zahl der einsatzfähigen Atomwaffen ist streng geheim, aber Schätzungen zufolge sind im Vereinigten Königreich etwa 40 von 225 verfügbaren Waffen jederzeit einsatzbereit, in den USA sind es etwa 1700 von 3700. Frankreich, die dritte Atommacht der NATO, stellt sein Atomwaffenarsenal der Allianz nicht zur Verfügung, weil es seit langem beschlossen hat, seine Unabhängigkeit in Bezug auf die eigene Abschreckung zu wahren. Stoltenberg betonte, dass die USA und ihre europäischen Verbündeten angesichts der zunehmenden Bedrohung durch Russland nun ihre nukleare Abschreckung modernisieren würden. Er sagte: ‚Die USA modernisieren ihre Freifallbomben (‚gravity bombs‘), die sie als nukleare Sprengköpfe in Europa vorhalten wollen, und die europäischen Verbündeten modernisieren die Flugzeuge, die für die nukleare Mission der NATO eingesetzt werden sollen.‘“ (The Telegraph, 16.6.24)

[10] Die Ansprüche der USA an die Europäer bleiben nicht auf die Front gegen Russland beschränkt. In der NATO-Gipfelerklärung wird China explizit als Unterstützer Russlands und „Ermöglicher“ von dessen Ukraine-Krieg angegangen und mit seinen Sicherheitsinteressen grundsätzlich als „systemische Herausforderung für die euro-atlantische Sicherheit“ von der NATO definiert:

„Die erklärten Ambitionen der Volksrepublik China (VRC) und ihre Erpressungspolitik stellen weiterhin eine Herausforderung für unsere Interessen, Sicherheit und Werte dar. Die sich vertiefende strategische Partnerschaft zwischen Russland und der VR China und ihre sich gegenseitig verstärkenden Versuche, die regelbasierte internationale Ordnung zu untergraben und umzugestalten, geben Anlass zu großer Sorge... Die VR China ist durch ihre so genannte ‚No Limits‘-Partnerschaft und ihre umfangreiche Unterstützung der russischen Rüstungsindustrie zu einem entscheidenden Ermöglicher von Russlands Krieg gegen die Ukraine geworden. Dies erhöht die Bedrohung, die Russland für seine Nachbarn und die euro-atlantische Sicherheit darstellt. Wir fordern die VR China als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, das eine besondere Verantwortung für die Wahrung der Ziele und Grundsätze der UN-Charta trägt, auf, jegliche materielle und politische Unterstützung für Russlands Kriegsanstrengungen einzustellen. Dazu gehört auch der Transfer von Dual-Use-Materialien wie Waffenkomponenten, Ausrüstung und Rohstoffen, die als Vorleistungen für den russischen Verteidigungssektor dienen. Die VR China kann den größten Krieg in Europa in der jüngeren Geschichte nicht ermöglichen, ohne dass sich dies negativ auf ihre Interessen und ihren Ruf auswirkt. Die VR China stellt weiterhin eine systemische Herausforderung für die euro-atlantische Sicherheit dar. Wir haben anhaltende böswillige Cyber- und hybride Aktivitäten, einschließlich Desinformation, beobachtet, die von der VR China ausgingen. Wir fordern die VR China auf, ihre Verpflichtung zu verantwortungsvollem Handeln im Cyberspace einzuhalten. Wir sind besorgt über die Entwicklungen bei den Weltraumfähigkeiten und -aktivitäten der VR China. Wir fordern die VR China auf, die internationalen Bemühungen zur Förderung eines verantwortungsvollen Verhaltens im Weltraum zu unterstützen. Die Volksrepublik China baut ihr Atomwaffenarsenal weiterhin rasch aus und diversifiziert es mit mehr Sprengköpfen und einer größeren Zahl hochentwickelter Trägersysteme. Wir fordern die Volksrepublik China auf, sich an Gesprächen über die Verringerung strategischer Risiken zu beteiligen und die Stabilität durch Transparenz zu fördern. Wir sind weiterhin offen für ein konstruktives Engagement mit der VR China, auch im Hinblick auf die Schaffung gegenseitiger Transparenz, um die Sicherheitsinteressen des Bündnisses zu wahren. Gleichzeitig stärken wir unser gemeinsames Bewusstsein, verbessern unsere Widerstandskraft und unsere Bereitschaft und schützen uns vor den Zwangstaktiken der VR China und ihren Bemühungen, das Bündnis zu spalten.“ (Erklärung des NATO-Gipfels, Washington, 10.7.24)