Welche Sicherheit stiftet die Expansion der NATO nach Osten?
Keine Macht den Russen!
Mit der Osterweiterung verändert die Nato die geostrategische Lage zuungunsten Russlands. Sie ergänzt diesen Angriff um Kooperationsangebote, um Russland in seine Entmachtung einzubinden. Russland registriert die Kampfansage, hat ihr aber wegen seines Interesses an Partnerschaft mit dem Westen nichts Wirksames entgegenzusetzen.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- Die Umwandlung der ehemals sowjetischen Einflußsphäre in ein NATO-Protektorat
- Sicherheit, die erweitert werden soll
- Ein Machtvakuum, das gefüllt werden muß
- Nicht gegen Rußland gerichtet, nur gegen russischen Neo-Imperialismus
- Kein zweites Jalta, ein russisches Glacis wird nicht mehr geduldet
- Keine Grauzonen, nur Blauzonen
- Kein russisches Vetorecht gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker
- Rußland einbinden, um es mit seiner Entmachtung zu versöhnen
- Was die Russen an der NATO-Erweiterung aufbringt, und warum sie darüber dennoch nicht zum Feind des Westens werden wollen
- Rußland bringt seine Gegenmittel ins Spiel und muß seine Ohnmacht registrieren
- Diplomatische Aufwertung Rußlands als Mittel seiner kontrollierten Entmachtung
Welche Sicherheit stiftet die
Expansion der NATO nach Osten?
Keine Macht den Russen!
Die Aufklärungsleistung der freien Öffentlichkeit über die NATO-Osterweiterung war nach dem Clinton-Jelzin-Gipfel von Helsinki wieder einmal grandios. Die einen gaben ihre Zufriedenheit darüber zu Protokoll, daß die russische Regierung das Vorrücken der NATO „geschluckt“ habe – obzwar dies „aus russischer Sicht“ zugegebenermaßen ein harter Brocken sei. Das erklärte „Nein“ Jelzins könne der Westen also getrost vernachlässigen, zumal Rußland keine Gegenmittel zu Gebote stünden. Die anderen wiederholten lieber ihre notorischen Warnungen davor, den Russen auf den Leim zu gehen. Deren Njet verdankt sich demnach bloß der perfiden Taktik, durch verbalen Widerstand den „Preis“ für die Osterweiterung der Allianz hochzutreiben. Dabei habe der Westen überhaupt keine Veranlassung, laufend größere Zugeständnisse zu machen und damit dem Märchen von der Bedrohung Rußlands, an das die Kremlführer in Wahrheit selbst nicht glaubten, den Schein von Glaubwürdigkeit zu verleihen. Beide Sorten Kommentar kehren in ihrer bornierten Parteilichkeit das Bewußtsein der Überlegenheit der in der NATO zusammengeschlossenen Mächte hervor. Der kleine Widerspruch dabei scheint unsere nationalen Vordenker nicht zu stören: Daß nämlich die ganze NATO-Expansion hinfällig wäre, wenn Rußland ohnehin keine Rolle mehr spielt im Machthaushalt von Europa.
Die Umwandlung der ehemals sowjetischen Einflußsphäre in ein NATO-Protektorat
Es gab einmal ein Dogma, das kannte jedes Kind: Das Kriegsbündnis der NATO ist dazu da, die Freiheit der westlichen Welt und damit uns alle vor der Bedrohung durch den Sowjetkommunismus und seine Rote Armee zu schützen. Sonst gäbe es sie gar nicht. Dann dankte das zum Feind erklärte System des Realen Sozialismus freiwillig ab, löste erst seinen Staatenblock des Warschauer Pakts, anschließend die Sowjetunion auf, und die endlich befreiten Vaterländer hatten bald keinen sehnlicheren Wunsch mehr, als sich in das vorbildlich „effiziente“ kapitalistische Weltsystem erfolgreich zu integrieren. Daraufhin nahm die NATO nicht zufrieden ihren Abschied, sondern beschloß, sich zu reformieren. Zwei wesentliche Neuerungen bestanden darin, erstens das eigene Aufgabengebiet zu erweitern – der erste NATO-Kriegseinsatz in Bosnien ist das Resultat – und zweitens sich selbst. Und zwar genau in den Raum hinein, den die Rote Armee inzwischen vollständig geräumt hat. In Richtung der neuen russischen Grenze.
Eines steht fest: Ausdehnen nach Osten „muß“ sich die NATO keineswegs deshalb, weil ihre Mitgliedstaaten um ihre territoriale Integrität fürchten und eine kriegerische Entscheidung vorbereiten. Um „Verteidigung“ in diesem Sinn geht es erklärtermaßen nicht. Worum dann?
Sicherheit, die erweitert werden soll
Das Verschwinden der feindlichen Staatsräson und das Ende der Vorherrschaft der Sowjetunion über die Staaten Osteuropas stellen die Vormächte der NATO offenbar nicht zufrieden. Sie nehmen sich die neugewonnene Freiheit, um „Sicherheit zu exportieren“:
„Die Frage nach einer möglichen ‚Ost-Erweiterung‘ des Bündnisses stellt sich in Europa nicht etwa, weil die Verteidigungslage der NATO verbessert oder ein zusätzliches strategisches Vorfeld gegenüber einer feindlichen Macht gewonnen werden müßte. Weder Deutschland als Staat noch die NATO als Bündnis oder die Europäische Union als Staatengemeinschaft bedürfen Polens, Böhmens (!), Ungarns oder der Slowakei, um sich zu schützen. Zum ersten Mal seit seiner Gründung 1949 ist die Atlantische Allianz aus ihrer schwierigen Defensive in der strategischen Randlage gegenüber der östlichen Kontinentalmacht befreit. Sie könnte ohne Risiko in ihren Militärgrenzen verharren. Die Bündniserweiterung wird im Gegenteil als eine expansive Option mit dem Ziel, anderen Ländern im Osten Deutschlands ‚extended security‘ oder Sicherheit durch die Erweiterung der NATO-Sphäre zu bieten, konzipiert.“ (Lothar Rühl, militärstrategischer Vordenker der Bundesregierung, in: Deutschland als europäische Macht, 1996, S.198)
Die NATO soll nicht in ihren Militärgrenzen verharren. Für die Hauptmächte des Westens ist das Ende des Kalten Krieges und die Auflösung des realsozialistischen Militär- und Wirtschaftsbündnisses ein guter Grund, sich zum Schutzgaranten der mittelosteuropäischen Nationen zu machen. Und das ist alles andere als ein altruistisches Projekt, auch wenn den verantwortlichen Strategen durchaus an dem Eindruck gelegen ist, hier stelle sich das größte Kriegsbündnis aller Zeiten zur Abwehr eines möglichen Angriffs gegen bedrohte Nachbarn zur Verfügung, nachdem es für sich selbst nichts mehr zu befürchten hat. Für die Staaten der NATO sind „unsere östlichen Nachbarn“ ein strategisches Vorfeld, und das wird durch deren militärische Integration in die Allianz zum unwiderruflichen Bestandteil des NATO-Territoriums erklärt. Dafür steht der so in Kraft gesetzte Artikel 5 des Vertrages, der die militärische Beistandspflicht aller NATO-Partner im Falle des Angriffs auf ein Mitgliedsland vorsieht. ‚Extended security‘ heißt das Programm, durch das die verbündeten westlichen Nationen ihre Macht auf den ehemaligen sowjetischen Machtbereich erstrecken, damit dieser Rußland auf Dauer entzogen bleibt.
Die Notwendigkeit dieser Offensive – so ist dem Plädoyer zu entnehmen – begründet sich nicht aus einer aktuellen Feindschaft: Von einem russischen Willen, Polen, die Baltenstaaten oder sonst eine „befreite“ Nation zwischen Oder und Bug zu überfallen, ist auch den westlichen Militärplanern nichts bekannt. Es ist umgekehrt: Das NATO-Bündnis eröffnet der Russischen Föderation eine feindliche Front. Ausgangspunkt für die Ostausdehnung des militärischen Schutzgebietes ist nicht einmal so etwas wie eine reale „Gefahrenlage“, auf welche die NATO meint, reagieren zu müssen. Es ist vielmehr so, daß deren politische Oberbefehlshaber es als Gefahr definieren, daß der ehemaligen östlichen Vormacht die Möglichkeit bleibt, die für natürlich erklärte, also von Washington, Berlin und Paris geforderte Zuordnung der mittelosteuropäischen Nationen zu ihrer „transatlantischen Freiheitssphäre“ in Frage zu stellen. Die NATO-Erweiterungsoffensive ist also nicht hinfällig geworden durch das Ende der „kommunistischen Bedrohung“, die jahrzehntelang das schlagende Argument für das „Verteidigungsbündnis“ der Freien Welt und jede seiner Aufrüstungsrunden abgegeben hat. Das Bemerkenswerte ist vielmehr, daß in der strategischen Begutachtung der Sicherheitslage in Europa der Systemwechsel in Osteuropa, einschließlich Rußland, überhaupt nicht vorkommt. Statt dessen schlagen in dieser Bilanz nur der Rückzug der russischen Armee, die Preisgabe des strategischen Vorfeldes durch Rußland, die Befreiung der europäischen NATO aus ihrer ungünstigen geopolitischen Randlage und die Chance zu einer expansiven Option zu Buche. Was zählt, sind einzig und allein Gesichtspunkte der strategischen Machtposition, in welchen sich Nationen und Bündnisse befinden, die militärischen Kräfteverhältnisse, die Erfolgsbedingungen in einem vorgestellten Kriegsszenario. Und wie zu bemerken ist, stellt sich angesichts des konstatierten Vorteils, den Deutschland und die NATO errungen haben, keineswegs nur Zufriedenheit ein, sondern die Frage, wie man diesen Vorteil sichert bzw. benutzt, also weiter ausbaut. Die Parteien, die einander gegenübergestellt werden, haben sich ein bißchen geändert: die NATO auf der einen Seite und die Russische Föderation, ohne die alte Größe und die alten Partner, auf der anderen. Die Frontstellung gegenüber Rußland bleibt die Konstante. Auf die naheliegende Frage, wieso eigentlich, kommt keiner.
Die Aufgabe des antikapitalistischen Systems durch die Staatsmänner der Sowjetunion deckt somit auf, daß es im Verhältnis der Nationen noch um einen prinzipielleren Gegensatz geht als „bloß“ um die Art der politischen Ökonomie, die Produktionsverhältnisse also, durch welche Staaten sich in ihrer Staatsräson unterscheiden und zu Feinden werden. Mit dem Beschluß zur Ostausdehnung ihres Kriegsbündnisses demonstrieren die Hauptmächte des Kapitalismus, daß die zu ihm gehörenden und ihm dienenden Staatsgewalten die elementare Entfaltung ihrer Macht auf Kosten anderer als selbstverständlichen Zweck und Bedingung ihres Erfolgs wissen. Es ist der Standpunkt der in der Tat abstrakten Machtkonkurrenz, welcher die Russen, nachdem sie ihrer sozialistischen Systemalternative abgeschworen haben, als rivalisierende Großmacht und damit als Schranke der Reichweite eigener Macht ins Visier nimmt. Die ist und bleibt sie nämlich, auch wenn sie jetzt von der gleichen Art ist.
Ein Machtvakuum, das gefüllt werden muß
Daß es den Gewinnern des Kalten Krieges darauf ankommt, ihre politisch-militärische Kontrollgewalt auf das ehemalige Feindesland auszudehnen und mit Hilfe der NATO zu institutionalisieren, ist nicht nur dem praktischen Umgang mit den Beitrittsbewerbern zu entnehmen, sondern auch den einschlägigen Ideologien, mit denen verantwortliche Politiker die laufende Osterweiterung des Militärbündnisses als Gebot der Stunde oder des beginnenden Jahrtausends propagieren. Da wurde zunächst die Gefahr des angeblich durch den Rückzug der Roten Armee entstandenen „Machtvakuums“ beschworen. Eine bemerkenswerte Betrachtungsweise. Immerhin sind überall Staats-Mächte zurückgeblieben, die – endlich souverän, oder? – über den Zwischenraum zwischen Oder-Neiße und Rußland verfügen. Gemeint ist mit der urimperialistischen Denkfigur vom „Machtvakuum“ offenbar, daß solange von ordentlicher Herrschaft nicht die Rede sein kann, wie keine überlegene Aufsichtsmacht, in diesem Fall selbstredend die des Westens, vor Ort ist und über die ansässigen Herrschaften wacht. Inzwischen bleiben die NATO-Offiziellen lieber bei dem Slogan von der „Teilung Europas“, die keinen Bestand haben dürfe. Er steht für denselben politischen Willen. Denn der „Eiserne Vorhang“ ist bekanntlich verschwunden, dem Genuß der Menschenrechte und dem freien Verkehr von Personen, Waren, Geld und Kapital steht von Albanien bis Zaire nichts mehr im Wege. Wenn es im Interesse der „politischen Einheit des Kontinents“ nötig ist, auch die östliche Hälfte unter das Kommando der NATO zu subsumieren, dann geht es um die Sicherstellung der eigenen Vorherrschaft, um eine russische auf Dauer auszuschließen. Die NATO-Expansion ist die offensive Vollstreckung der anspruchsvollen imperialistischen Logik, wonach ein nicht militärstrategisch in Beschlag genommenes, quasi neutrales Konglomerat von Staaten zwischen der deutschen Ost- und der russischen Westgrenze ein potentielles Instrument des Feindes ist.
Nicht gegen Rußland gerichtet, nur gegen russischen Neo-Imperialismus
Die unendlichen Dementis böser Absichten begleiten den Vollzug des Programms:
„Die Russen sollen sich bewußt werden, daß sich die Erweiterung nicht gegen irgend jemanden richtet, und ganz sicher nicht gegen sie.“ (US-Senator Lugar, Amerika-Dienst, 12.6.96, S.3)
Tatsache ist, daß die Militärorganisation der NATO gegen die russischen Grenzen vorrückt. Die Aufnahme Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik in das Bündnis ist eine Form der militärischen Raumgewinnung und -sicherung seitens der imperialistischen Führungsmächte. Und zwar unabhängig davon, ob dort ein Aufmarsch amerikanischer oder deutscher NATO-Truppen, eine massive Aufrüstung der Neumitgliederarmeen und die Stationierung von Atomwaffen erfolgen oder geplant sind. Das Terrain von der Ostsee im Norden bis zum Balkan im Süden, das 45 Jahre lang das strategische Vorfeld der Sowjetunion war, wird jeder denkbaren russischen Benutzung definitiv entzogen; es steht künftig der NATO grundsätzlich, und damit auch für jede militärische Option in Krieg und Frieden zur Verfügung. Die dafür nötige Vereinheitlichung der NATO-Streitkräfte, d.h. die Einordnung der neuen Mitgliedsarmeen in die Kommandostrukturen, ihre Umrüstung, die Herstellung der Kompatibilität von Soldaten und Waffen mit denen der bereits existierenden Kriegsmaschinerie der Allianz, die Ersetzung der „veralteten“ Infrastruktur, die gemeinsame Sicherung des über dem hinzugewonnenen Territorium befindlichen Luftraums etc. etc. – also all das, was „militärische Integration“ heißt – wird in jedem Fall gewährleistet. Denn „Mitglieder zweiter Klasse wird es nicht geben“. So „entsteht“ eine neue „geostrategische Lage“, also ein neues militärisches Kräfteverhältnis – natürlich zuungunsten Rußlands. Und die Russen sollen das nicht als Angriff auf sich nehmen; tun sie es doch und beschweren sich, weil sie grundsätzlich genauso kalkulieren, sind sie es, die sich verdächtig machen.
Ohne die Unterstellung, daß mit dem neuen Rußland
der machtpolitische Konkurrent der an der
Beherrschung Europas interessierten Westmächte überlebt
hat, macht die NATO-Osterweiterung keinen Sinn. Diese
Gewißheit einigt die ansonsten um ihr nationales
Gewicht
in Europa und der Welt gegeneinander
konkurrierenden Staatsgewalten in der Zielsetzung,
Rußland die Fähigkeit zur „Hegemonie“ über den
Kontinent zu rauben und dafür auf das
NATO-Bündnis und seine Erweiterung zu setzen.[1] Sie sehen in der
Russischen Föderation einen Staat von
ihresgleichen und gehen dementsprechend davon
aus, daß die Entfaltung ihres Machtwillens nach
außen nur durch den zwangsweisen Entzug ihrer Machtmittel
zu bremsen ist. Die Sicherheit, daß die russische
Staatsmacht nicht aus der Konkurrenz aussteigt, nur weil
ihre Führer die realsozialistische Sowjetunion und ihr
Militärbündnis abgewickelt haben, entnehmen sie schon der
Elementarausstattung dieser Nation: ihrer immer noch
immensen Größe, der Masse ihres lebenden Inventars und
natürlichen Reichtums sowie ihrer militärischen Potenz,
die vor allem immer noch im zweitstärksten
Atomwaffenpotential der Welt besteht. Die
verantwortlichen Sicherheitspolitiker des Westens lassen
sich durch das momentane Desaster nicht täuschen, über
das unser Boris Jelzin regiert. Sie nehmen im
Wegschmeißen des „gescheiterten“ Sozialismus den neuen
nationalistischen Willen wahr, den Status der
Inferiorität gegenüber dem erfolgreicheren System zu
überwinden, und entnehmen dem Umstand, daß dieser Wille
aktuell vor allem mit der Etablierung der neuen
Staatsräson und – im Gefolge davon – der
Zerstörung seiner Machtmittel im Inneren befaßt
ist, die wachsende „Gefahr“ einer „Re-Imperialisierung“
Rußlands.[2]
Gegen diesen „natürlichen“ Selbstbehauptungsdrang einer
ambitionierten Staatsgewalt fungiert die Osterweiterung
der NATO als Mittel der erweiterten Abschreckung
und präventives Containment. Den Russen wird dadurch
praktisch bestritten, sich als Konkurrent um Ordnungs-
und Aufsichtsmacht aufzustellen und damit die Reichweite
der eigenen Gewalt zu beschränken. Eine „neue
Konfrontation“ zwischen der NATO und Rußland „droht“ also
nicht; sie ist bereits im Gange, weil die
„Sicherheitsinteressen“, d.h. die von beiden Seiten
beanspruchten staatlichen Rechte sich
wechselseitig ausschließen.
Kein zweites Jalta, ein russisches Glacis wird nicht mehr geduldet
Wie weit die Absicht der vereinigten Westmächte reicht, Rußland von seinen „überkommenen“ machtpolitischen Positionen und Einflüssen in Europa zu isolieren, zeigt sich nicht nur an der Reichweite des NATO-Programms, sondern auch an den feindseligen Warnungen an die russische Adresse, mit denen man sich zum Anwalt der Souveränität sämtlicher aus dem „kommunistischen Völkergefängnis“ befreiten Nationen macht. Die zahlreichen Indizien oder Beweise, die da für einen (drohenden) „Rückfall“ Moskaus in imperiale Machenschaften gesammelt werden, sind selbstverständlich nicht dazu gedacht, staatliche „Machtpolitik“ und ihre notorischen Unsitten anzuprangern. Wenn die russische Regierung den Tschechen, Polen oder Balten mit Drohungen kommt, falls sie sich in Frontstaaten der NATO verwandeln; wenn sie ihre Nachbarn als „Nahes Ausland“ definiert und mit oder ohne GUS-Vertrag einen legitimen Einfluß auf dieses beansprucht; wenn sie als Reaktion auf die NATO-Erweiterung mit dem so ziemlich einzig verbliebenen Verbündeten namens Weißrußland eine Sicherheitsunion schließt; wenn sie tschetschenische Separatisten mit Bomben kleinkriegen will; wenn sie mit der iranischen Führung Geschäfte vereinbart, obwohl jetzt auch die Europäische Union deren „Staatsterrorismus“ anklagt; ja wenn Politiker aller russischer Parteien sich tatsächlich von einem „Stabilitätstransfer“ der NATO nach Osten bedroht fühlen – dann wird damit nur eines demonstriert: Der russische Bär hat sich aus der Kontinuität seiner despotisch-zaristischen Tradition noch nicht befreit. Und dagegen steht der feste Wille der NATO-Imperialisten, den Russen all das, was sie selbst zur Genüge und mit mehr Erfolg praktizieren, zu verbieten. Der Katalog der inkriminierten Handlungen zeigt, daß der westliche Vorbehalt keine Grenzen kennt, ein russisches Recht auf autonome, an eigenen nationalen Interessen orientierte Sicherheitspolitik also überhaupt bestreitet. Unter der Parole „Nie wieder Einflußsphären in Europa!“ beansprucht die NATO das Monopol auf ganz Europa als ihre exklusive Einflußsphäre. Sofern und solange Rußland sich nicht von allen Großmachtambitionen verabschiedet, ist der Kalte Krieg für den Westen eben noch nicht beendet. Folglich behandelt er den freiwilligen militärischen Rückzug und die unfreiwillige Agonie der alten Weltmacht Nr.2 als historische Gelegenheit und Notwendigkeit, mit vereinten Kräften die Trennung Rußlands von seinem ehemaligen Besitzstand und potentiellen Einflußgebiet – und damit von jeglichen europäischen Machtmitteln außerhalb seiner Grenzen – auf Dauer sicherzustellen. Als nicht zu übergehendes Mitsubjekt einer neuen Aufteilung Europas – diese Rolle mußte der Siegermacht Sowjetunion in Jalta zugebilligt werden – kommt die Verlierernation des Kalten Krieges nicht mehr in Frage. Vielmehr ist für die NATO-Verantwortlichen klar, daß sie ihre Überlegenheit zur Organisierung der europäischen Sicherheit über die je aktuellen oder schließlichen Grenzen des Bündnisses hinaus nutzen müssen, um Rußland kein neues „Glacis“, kein neues sicherheitspolitisches Manövrierfeld zu ermöglichen. Die Grenzen der GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten), welche die amerikanische Diplomatie sinnigerweise gleich in NUS (Neue Unabhängige Staaten) umgetauft hat, sind dafür selbstverständlich keine:
„Ja, wir können und werden alles Erforderliche tun, um sicherzustellen, daß die Länder, die nicht als erste zum NATO-Beitritt eingeladen werden, nicht entmutigt werden. Wir lehnen das Konzept von Grauzonen, Pufferstaaten oder Einflußsphären ab und versuchen, im östlichen Teil des Kontinents das außer Kraft zu setzen, was wir bereits im Westen außer Kraft gesetzt haben – das jahrhundertealte, gescheiterte Konzept des Kräftegleichgewichts.“ (Hunter, Ständiger US-Botschafter bei der NATO, Amerika-Dienst, 15.1.97)
Der Wille, die eigene Dominanz auf jedem Flecken des Kontinents zu verankern; der Unwille, konkurrierende Sicherheitsinteressen von Staaten anzuerkennen, präsentiert sich als Lehre aus der Geschichte – und als Friedenskonzept, natürlich. Friede buchstabiert sich eben als die anerkannte Gültigkeit des (bündnis)eigenen Gewaltvorbehalts gegen jeden Souverän, und damit auch und gerade gegen denjenigen, dessen Loyalität nicht ohne weiteres zu erzwingen ist, den russischen also. Das Ideal der NATO ist es, über den Gebrauch herrschaftlicher Macht im neu definierten Bündnisgebiet zu entscheiden, ihn zu einem Derivat ihrer Herrschaft herabzustufen. Und obwohl die offizielle Erweiterung des Bündnisraumes schön sukzessive und systematisch vonstattengehen soll, ist mit dem Beschluß des „open end“ – hinsichtlich der Aufnahme neuer Mitglieder – die Zuständigkeit bis zur russischen Westgrenze längst reklamiert. Grauzonen werden nicht mehr akzeptiert, sondern nur noch Pro-NATO-Zonen. Also Staaten, die sich im Grad der Integration, der gewährten Rechte und auferlegten Pflichten also, unterscheiden.
Keine Grauzonen, nur Blauzonen
Für die politisch-strategische Kontrolle über das an „Krisen- und Unruheherden“ reiche Gelände zwischen der derzeitigen EU- und NATO-Ostgrenze und Rußland hat jedes Land eine – mehr oder weniger gewichtige – Funktion und damit idealiter seine Rolle bei der Gewährleistung eines stabilen Friedens. Ob und was sie als „Marktwirtschaften“ für die auswärtige Bereicherung taugen, fällt damit naturgemäß nicht zusammen. Auch die militärische Stärke allein ist nicht ausschlaggebend. Da sind zum Beispiel die armen, kleinen Balten. Deren Mini-Armeen mit den paar geschenkten Schiffen, Marke NVA, sind mit Sicherheit keine große Verstärkung für die Streitmacht des Bündnisses. Dennoch ist das Baltikum für NATO-Politiker von speziellem strategischen Wert und ein heißes Eisen dazu. Die drei unabhängigen Natiönchen besetzen den östlichen Zugang zur Ostsee, und Litauen umschließt zusammen mit Polen die russische Exklave, den Hafen und Militärstützpunkt Kaliningrad (inzwischen wieder nur mehr Königsberg genannt). Ihre Verwandlung in Territorium der NATO würde Rußlands Zutritt deren Kontrolle unterwerfen und könnte ihn bei Bedarf abriegeln. Und wenn Moskau so sehr auf seine Rechte und seinen Einfluß in dieser Region pocht, ist dies für die Allianz erst recht ein Grund, das Baltikum ein für allemal dem Zugriff russischen „Dominanzstrebens“ zu entziehen und zum eigenen Brückenkopf umzufunktionieren.
Ein anderes Beispiel: Wie kommt ein deutscher Verteidigungsminister zu der Feststellung: „Für uns ist die Stabilität und Sicherheit der Ukraine von entscheidender Bedeutung.“? Was geht ihn die Sicherheit der Ukraine an? Von deren Präsidenten Kutschma ist jedenfalls nicht bekannt, daß er die Stabilität der deutschen Republik zu einem wichtigen Objekt nationaler Interessenpolitik erhoben hätte; dies wäre ihm auch als absurde Anmaßung übelgenommen worden. Für Herrn Rühe und seine Kollegen ist die Ukraine der größte Machtfaktor, der Rußland mit der Auflösung der UdSSR verlorenging, ein Flächenstaat in seinem südwestlichen Vorfeld, der nun den Balkan von Rußland trennt, an den „kaukasischen Krisenbogen“ grenzt und der mit seiner Kontrolle über die Krim die strategische Dominanz der Russen über das Schwarze Meer im Norden jetzt ebenso bestreitet wie die Türkei im Süden. Diesem Land der NUS muß auf jeden Fall geholfen werden, seine „Unabhängigkeit“ gegen Rußland zu bewahren und für eine strategische Kooperation mit der NATO zur Verfügung zu stehen. Deshalb soll „der Platz der Ukraine in Mitteleuropa zementiert“[3] und durch einen eigenen Pakt mit der Allianz verbürgt werden.
Ein Balkanstaat schließlich, wie Rumänien oder Bulgarien, kommt vor allem als solcher ins strategische Kalkül. „Der Balkan“ gilt nach dem Ende des Warschauer Pakts wieder als der große „Krisen- und Unruheherd“ in Südosteuropa und hat seinem Ruf zuletzt in Ex-Jugoslawien, Albanien und Bulgarien wieder alle Ehre gemacht. Länder wie Rumänien und Bulgarien kommen auch und gerade dann, wenn sie nicht den offiziellen „Kriterien“ mustergültiger demokratischer Stabilität genügen, als potentielle Mitglieder bzw. als enge „Friedens-Partner“ der NATO in Betracht. Gerade ein bürgerkriegsträchtiges Land soll und darf schließlich nicht herrenlos werden. Es muß vielmehr in die eigene Obhut genommen werden, so daß es als Unruhestifter ausscheidet. Man kann es sich dann sogar als einen Stabilitätsfaktor für die Region vorstellen. Die Stabilisierung im Inneren, die sich ein solcher Staat von der Aufnahme ins Bündnis verspricht und mit der er in der NATO-Zentrale für sich wirbt, fordert die NATO ihm gebieterisch ab – als Bedingung der Mitgliedschaft nämlich. Sonst wird er anderweitig eingebaut, so daß er bei Bedarf als logistische Basis für eine in der Nachbarschaft fällige Ordnungsmission durch NATO-Truppen dienen kann – an der sich dann eine russische Brigade wie in Bosnien beteiligen darf. Vor allem aber soll die auf diese Weise gewährleistete Befriedung des Balkan, d.h. seine definitive Unterwerfung unter die Kontrollgewalt der NATO, – schon wieder – dazu dienen, daß diese Region als potentielles Einfallstor für parteiliche Einmischungsversuche und machtpolitische Manöver Rußlands ein für allemal entfällt.
Kein russisches Vetorecht gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker
Laut Bundesverteidigungsminister Rühe kann die NATO-Erweiterung schon deshalb nicht gegen Rußland gerichtet sein, weil sie den Wünschen der mittelosteuropäischen Staaten entspricht und im Grunde genommen bloß den „legitimen Bedürfnissen“ der bis kürzlich geknechteten Völker nachgibt. Die wollen schließlich genauso in Frieden und Sicherheit leben wie wir! Deshalb handelt es sich recht eigentlich gar nicht um eine Ausdehnung, wie der amerikanische Titel ‚expansion‘ nahelegt, sondern um eine ehrenwerte „Öffnung“ des exklusiven Clubs. Außer für Rußland, versteht sich, weil die NATO dadurch „zu einer Art UNO“ verkäme. Nun glaubt zwar niemand, am wenigsten die neuen Kandidaten selbst, daß die Anträge der neuen Demokratien den Grund für ihre Aufnahme abgeben. Die umgekehrte Reihenfolge ist ja unübersehbar. Aus Washington und Brüssel ergeht die Forderung nach stabiler rechtsstaatlicher Demokratie, der Bereinigung der kriegsträchtigen Grenz- und Minderheitenfragen et cetera, an alle Interessenten, die sich für die engere Wahl qualifizieren wollen – womit schon klar ist, wessen Bedürfnisse zählen. Andererseits kann sich die ideologische Begleitmusik zum praktizierten imperialistischen Zugriff auf den europäischen Ostraum tatsächlich auf den Umstand berufen, daß dieser nicht in Form einer militärischen Eroberung oder Besetzung, sondern in Übereinstimmung mit dem Willen der dort waltenden Souveräne erfolgt. Er ist also ein Werk des Friedens. Das ist ja die Ironie der Geschichte: 45 Jahre Staatssozialismus haben durch den Beschluß zur Preisgabe des „Arbeiter- und Bauern-Staates“ und seines Bündniszusammenhangs erstens den Willen der Wendestaaten erzeugt, Anschluß an den fortschrittlichen Weltkapitalismus zu suchen. Der ökonomische Niedergang, den sie sich durch die zerstörerische Wirkung der dekretierten „Umstellung“ eingehandelt haben, hat nur das Bewußtsein ihrer politischen Führer verstärkt, um so existentieller auf westliche „Starthilfe“ angewiesen zu sein. Und zweitens verspüren die ehemaligen „Satelliten“ der Sowjetunion in der Mehrheit kein dringenderes politisches Bedürfnis als das, von den Vormächten des Westens gegen die ehemalige Bündnisvormacht Rußland in Schutz genommen zu werden. Ihre „politischen Eliten“ halten es auch nicht für verfehlt, die Eingliederung in die NATO-Militärorganisation mit der hoffnungsvollen Berechnung zu verknüpfen, sich darüber einen privilegierten Zugang zu wirtschaftlicher Entwicklungshilfe zu erschließen, weshalb sie erst recht um die Gunst der Integration betteln.[4]
Für die so geforderten Führungsnationen des Kapitalismus ist dieses Resultat des Kalten Krieges eine echte Gratisgabe der Geschichte. Sie nehmen sich denn auch die Freiheit, das im Namen der Unabhängigkeit der Nation angemeldete antirussische Sicherheitsinteresse und prowestliche Anschlußbedürfnis der mittelosteuropäischen Staaten als Hebel und Berufungsinstanz für die von ihnen favorisierte imperialistische Neuordnung Europas zu benutzen und auszuschlachten. Insofern ist es ein besonderer Witz, wenn die NATO-Oberen ausgerechnet das „berechtigte Votum der mittelosteuropäischen Völker, über ihre Bündnisse frei zu entscheiden“, ins Feld führen, um den Russen mitzuteilen, daß ihre Belange durch die Osterweiterung gar nicht tangiert sind. Sie sollen Polen und den Balten die Freiheit zu einer antirussischen Frontbildung zubilligen, während ihnen das „Recht“, (Gegen-)Bündnisse nach eigener Wahl zu schmieden, gerade verweigert wird. Wenn die Moskauer Regierung daraufhin auf die russenfeindlichen Töne aus Riga, Warschau und Prag verweist, um die Mär von der Harmlosigkeit der Osterweiterung zu widerlegen, wird sie mit einer anderen Lüge besänftigt: Die Integration der einstigen Sowjetsatelliten in das westliche Bündnis sei bloß die Einlösung der Freiheit, der Rußland mit seinem lobenswerten Rückzug doch längst den Weg bereitet habe. Von wegen „bloß“. So wird immerhin die Kapitulation des realsozialistischen Systems und die einseitige Beendigung der Ost-West-Feindschaft in eine endgültige Niederlage der russischen Staatsmacht überführt. Als hätte sie einen echten Krieg verloren.
Konsequenterweise löst sich die Parole vom Selbstbestimmungsrecht der Balten und Ukrainer auch in einen diplomatischen Kampfbegriff gegen ein russisches „Vetorecht“ auf. Die so aufgemachte Front beruht schon auf einer satten Übertreibung des wirklichen Sachverhalts. Ein Veto der russischen Regierung gegen den NATO-Beitritt eines Landes existiert nämlich nicht; was es gibt, ist ihr eminentes Interesse daran, daß die geplante Erweiterung der Militärallianz nicht stattfindet. Dieses Interesse wird als unterdrückerische Absicht gegenüber freiheitsliebenden Völkern identifiziert, der die NATO und ihre Beitrittsaspiranten gemeinsam widerstehen müssen. Dabei ist der Grund für die westliche Zurückweisung eines „Vetorechts“ Moskaus kein Geheimnis:
„Zudem können weder Deutschland noch das Bündnis als Ganzes akzeptieren, daß eine fremde(!) Macht in ihrem eigenen Interesse europäische Sicherheitsbedingungen diktiert.“ (L. Rühl, a.a.O., S.309)
Genau das ist es, was die Russen zu akzeptieren haben! Deutschland und das Bündnis diktieren ihnen die Bedingungen europäischer Sicherheit. Deshalb verwahren sie sich gegen jede Einmischung in die Entscheidungsrechte der NATO. Diese macht ihre Ostexpansion folglich erklärtermaßen nicht von russischer Zustimmung oder Ablehnung abhängig.[5]
Rußland einbinden, um es mit seiner Entmachtung zu versöhnen
Wegen des ehrgeizigen Ziels, die Ergebnisse des Kalten Kriegs in eine stabile, NATO-beaufsichtigte europäische Nachkriegsordnung zu überführen, haben die Protagonisten dieser Ordnung kein Interesse daran, Rußland in eine neuerliche Feindschaft gegen den Westen hineinzutreiben. Diesen Effekt wollen sie also gleichzeitig verhindern. Sie wissen nur zu gut, daß die militärische Einkreisung des Landes ein feindseliger und folgenschwerer Akt gegen eine Ex-Weltmacht darstellt, deren Entmachtung noch längst nicht fertig ist. Folglich wollen sie die derzeit agierende Regierung dafür gewinnen, sich von der systematischen Fortsetzung dieser Entmachtung nicht zu unerwünschten Gegenreaktionen „provozieren“ zu lassen, sondern zur für Rußland vorgesehenen Tagesordnung überzugehen. Für die offiziell gültige Linie amerikanischer Politik[6] und erst recht für die deutsche Regierung erscheint es somit geboten, das feststehende Programm der NATO-Erweiterung um die Strategie einer kompensatorischen „Einbindung“ des als Risikofaktor kalkulierten Widerparts zu ergänzen. Diese Strategie, statt eines „containment without cooperation“ auf eine Kombination aus Eindämmung und Zusammenarbeit zu setzen,[7] ist darauf berechnet, das russische Interesse an Kooperation statt Konfrontation zielstrebig auszunutzen, um Moskau zur „Akzeptanz“ der Osterweiterung zu bewegen:
„Eine europäische Sicherheitsarchitektur … ist nur mit und nicht gegen Rußland denkbar. Nach eigenem Bekunden gibt es für Rußland heute keine Bedrohung mehr aus dem Westen. Rußland braucht aber Stabilität an seiner Westgrenze, und es braucht Kooperation mit uns, um die schwierigen Reformen im Innern zu meistern und um sich den eigentlichen strategischen Herausforderungen aus anderen Himmelsrichtungen konstruktiv widmen zu können. (Insofern) bildet die NATO eine Zone der Stabilität, an die sich Rußland anlehnen kann.“ (Verteidigungsminister Rühe, Bulletin, 17.5.96)
Das Ideal einer „europäischen Sicherheitsarchitektur“ ist eine feste Hierarchie der Mächte, die allseits anerkannt und deshalb verläßlich ist. Welcher Staatsgewalt welcher Platz in der vorgestellten Rangordnung gebührt, mag sehr verschieden sein je nach der nationalen Brille der Beteiligten – von Rußland jedoch ist dabei immer nur in einer Hinsicht die Rede. Es soll als bestimmender Machtfaktor ausgeschaltet, gleichwohl aber in den unter das NATO-Regime gestellten Gewalthaushalt eingebaut werden, damit es sich ihm fügt. Für nichts anderes steht das Bild von der „Einbindung“. Rußland als Staat soll tatsächlich „nicht ausgegrenzt, nicht isoliert werden“ – warum auch? Schließlich will man die Russische Föderation „integrieren“, nämlich auf geregelte Beziehungen einer „Sicherheitspartnerschaft“ festlegen.[8] Soweit das westliche Interesse; fragt sich nur, weshalb Rußland sich in eine NATO-Architektur einbinden lassen soll. Die Argumente des Herrn Rühe und seiner Kollegen sind es sicher nicht, welche überzeugen. Da Rußlands Wendepolitiker den Westen nicht mehr als Bedrohung betrachten, sollen sie damit einverstanden sein, selbst als potentielle Bedrohung der europäischen Sicherheit behandelt zu werden. Angesichts dessen, daß ihre Nation im Inneren ruiniert und von außen rundherum „herausgefordert“ wird, sollen sie froh darüber sein, daß die NATO ihnen wenigstens im Westen den Rücken freihält – indem sie dort das Kommando übernimmt. Zu albern. Nichtsdestoweniger wird deutlich, daß die Sachwalter der Osterweiterung sich dazu berufen fühlen, zu definieren, was russisches Staatsinteresse ist. Dieses ist demnach so beschaffen, daß es die NATO-Ostexpansion geradezu beantragen müßte, wenn es sie nicht schon gäbe. So kommt das Postulat von der Vereinbarkeit der gegensätzlichen Interessen zustande. Es stellt der Russischen Föderation die Berücksichtigung ihrer Sicherheitsbedürfnisse in Aussicht – für den Fall, und nur für diesen, daß sie Brüssel und Washington über deren Legitimität entscheiden läßt.
Darum geht es nämlich: Dem zur Marktwirtschaft bekehrten Staat soll „sein“ Status im Rahmen einer NATO-kontrollierten, den kapitalistischen Hauptmächten passenden Konkurrenz-Ordnung zugewiesen werden, und in dem soll sich der russische Sicherheits-, Handels- und Kulturpartner einrichten und konstruktiv beteiligen dürfen. Was für ein eigentümlicher Status gemeint ist, geht aus obigem Statement des Verteidigungsministers durchaus hervor: strategisch der einer europäischen Randmacht, die um ihren Bestand kämpfen und deshalb froh sein muß, wenn die NATO ihr die Westgrenze sichert; politisch der eines viel zu großen Unsicherheitsfaktors, der die euro-atlantische Geschäftsordnung nicht stören darf; und ökonomisch der eines Entwicklungslands, das für jede Kooperation, die der Westen anbietet, dankbar sein muß.
Wieweit diese Rechnung praktisch aufgeht, ist keine Frage eines mehr oder weniger gelungenen „Konzepts der Einbindung“, sondern des Kräfteverhältnisses bzw. des politischen Willens, den die zur Herabstufung bestimmte Nation dagegen setzt oder auch nicht. Die NATO-Verantwortlichen gehen das Risiko ein, diesen Willen zu testen, weil sie die weitere Entmachtung der Erbmasse der sowjetischen Weltmacht für unumgänglich halten. Sie bauen auf ihre überlegenen Machtmittel und spekulieren darauf, daß sie im Wechsel der russischen Staatsräson samt der daraus entstandenen Notlage einen wirksamen Hebel haben, russisches Wohlverhalten zu erpressen:
„Rußland hat die Wahl, ob es einen schmollenden Rückzug will oder eine privilegierte Beziehung zur NATO. Ich hoffe, daß es die Kooperation wählt.“ (Außenminister Kinkel im Deutschen Fernsehen.)
Wenn aber die „privilegierten Beziehungen“ lediglich darauf berechnet sind, den russischen Willen zu neuer Machtentfaltung zu neutralisieren, dann ist diese Alternative keineswegs die einzige, die sich für Rußland stellt!
Was die Russen an der NATO-Erweiterung aufbringt, und warum sie darüber dennoch nicht zum Feind des Westens werden wollen
Rußland versteht sehr genau, wie die Sache gemeint ist, und läßt sich das auch nicht von der westlichen Diplomatie und ihren Beteuerungen, den harmlosen und russenverträglichen Charakter der Osterweiterung betreffend, ausreden. Die russische Politik arbeitet sich vielmehr daran ab, daß ihr Wille zu machtpolitischer Selbstbehauptung herausgefordert und von anderen nationalen Rechnungen konterkariert wird. Nicht zuletzt von dem Befund, daß es um die russischen Fähigkeiten, sich zur Wehr zu setzen, ziemlich schlecht bestellt ist. Insofern legt der NATO-Vorstoß das grundlegende Dilemma offen, in das sich die russische Politik mit ihrer neuen Staatsraison hineinmanövriert hat, die ebensosehr verlangt, sich gegen ihre Entmachtung zur Wehr zu setzen, wie sie diese Gegenwehr wegen des Setzens auf Kooperation verbietet.
Gegenüber der westlichen Propaganda beharren die russischen Gegner auf der Tatsache, daß die NATO näher an die russischen Grenzen heranrückt und daß durch den Beitritt ehemaliger russischer Bündnispartner das militärische Kräfteverhältnis auf Kosten Rußlands verschoben wird. Anhand der strategischen Maßstäbe, die russische Militärs ebenso wie ihre westlichen Kollegen beherrschen, rechnen sie des weiteren vor, daß sich der Sicherheitsabstand zum gegenüberstehenden Bündnis vermindert, wenn sich dort befindliche Staaten in strategischen Besitz der anderen Seite verwandeln. Die russischen Kontrahenten werten darüberhinaus den Beschluß der NATO, über die Aufnahme dieser Staaten und deren militärische und politische Ausrichtung nunmehr exklusiv, unter Ausschluß Rußlands, im westlichen Bündnis zu entscheiden, als Angriff auf russische Rechte: darauf, daß Osteuropa nach wie vor als russische Interessenssphäre zu gelten hätte, und als Angriff auf das Recht Rußlands, in Sachen „europäische Sicherheitsarchitektur“ überhaupt als maßgebliche mitentscheidende Macht zu fungieren.
Entgegen ihren eindeutigen Befunden über den antirussischen Charakter der Osterweiterung will die russische Politik diesen Befund aber nicht umstandslos mit der Absicht der Westmächte gleichsetzen. Stattdessen wird – in der öffentlichen Erörterung und in diplomatischen Anfragen – an den Absichten der NATO herumgerätselt:
„Wir sehen nur, die Amerikaner wollen an den Bug. Aber wir verstehen nicht, was sie dort wollen.“ (Spiegel 24.3.97)
Einige Stimmen prophezeien, daß der nächste Überfall auf Rußland bevorsteht; andere teilen die Befürchtung, wollen aber den Sinn nicht verstehen, wo sich doch Rußland ganz dem westlichen Handel und Wandel geöffnet hat und von sich aus keinerlei feindliche Absichten mehr hegt. Dritte schließlich dementieren jeden Grund zur Aufregung mit der abenteuerlichen Auffassung, daß die NATO schon längst kein Kriegsbündnis mehr sei und ihr Vorstoß als Beitrag zur europäischen Stabilität, ganz im Interesse Rußlands, zu begreifen ist. [9]
Dieses krasse Mißverhältnis bei der Bewertung der NATO-Offensive rührt daher, daß das heutige Rußland sein Staatsprogramm, die Behauptung seiner Stellung in der Welt auf Kalkulationen gegründet hat, die einfach nicht zusammenpassen – weil die imperialistischen Partner und Konkurrenten sie nicht gelten lassen.
Gorbatschows Erbe: das Konzept russischer Weltmacht
Wenn vom militärischen Kräfteverhältnis bis hin zum Recht auf Regelung kontinentaler Gewalthaushalte in Kategorien der „Gleichberechtigung“ gerechnet wird, reklamiert Rußland einen ziemlich besonderen Status, immerhin den eines Subjekts von Weltordnung. Die Diktion erinnert nicht zufällig an die Gleichgewichtsrechnungen aus den alten Zeiten der Rüstungsdiplomatie – es geht um das Erbe der Sowjetunion, der wegen „Gleichgewicht“ ernstzunehmenden Weltmacht, das das heutige Rußland sich zuspricht. Und es reklamiert diesen Status als Recht – nämlich als einen vermeintlich vom Westen anerkannten Status.
Die russischen Beschwerden gipfeln in der Darlegung enttäuschter Erwartungen:
„Rußland erlebt mit Erstaunen, daß man sich ihm gegenüber wie zu einer Macht verhält, die den „dritten“ Weltkrieg verloren hat und die heute gezwungen ist, für die Niederlage zu zahlen. Den Kalten Krieg hat aber nicht Rußland und nicht einmal die Sowjetunion, sondern hat das sowjetische kommunistische System verloren.“ (Konowalow, Präsident des Instituts für strategische Analysen in Moskau, FAZ 12.12.96)
Die Enttäuschung legt den russischen Standpunkt offen, von dem aus der NATO-Vorstoß als ebenso unverständlich wie unverschämt bewertet wird. Berufen wird sich auf ein Tauschgeschäft, das die Sowjetunion seinerzeit mit dem Westen eingegangen sein soll, bei dem die unbesiegte Gegenmacht des Kalten Kriegs den Gegensatz, „das sowjetische kommunistische System“, gestrichen hat, um sich im Gegenzug seitens ihrer Gegner die Anerkennung als Macht und Weltmacht zu sichern.
Der Erfinder dieser welthistorischen Wende, der damalige Generalsekretär Gorbatschow, hatte einen solchen Tausch auch im Sinn: Aus dem Bedürfnis, den eigenen Staatsladen von der ökonomischen, politischen und militärischen Not, immerzu die Feindschaft bestehen zu müssen, dauerhaft zu entlasten,[10] unterstellte er der anderen Seite ungefähr dieselbe Not. Darauf gründete sich die Berechnung, mit der Beseitigung der Feindschaft die andere Seite ebenso zu entlasten, also einen nützlichen Beitrag der Weltmacht Rußland für die Weltordnung zu leisten, der honoriert zu werden hätte. Die Täuschung dieser nunmehr schon traditionsreichen Berechnung besteht in genau der Trennung zwischen einem „System“, das zu Recht den Kalten Krieg verloren haben soll, und dem staatlichen Rechtsnachfolger, der sich durch die Erledigung des Systems die unvernünftige, gefährliche und kostspielige Konfrontation mit dem Westen vom Hals schaffen und darüber seinen Staatserfolg sichern sollte: Der selbstkritische Standpunkt, das falsche System sei der Grund aller Feindschaft und ohne den Sozialismus die friedliche Koexistenz perfekt, hat darauf gesetzt, daß die imperialistischen Kontrahenten gegen die Neugründung eines sowjetisch/russischen Gewaltmonopolisten ungefähr von ihrem Schlag eigentlich gar nichts mehr einzuwenden hätten.
In ihrem neuen Kampf um Anerkennung hat sich die Sowjetunion, um die Glaubwürdigkeit ihrer Wende zu unterstreichen, Rückzüge und den Verzicht auf Machtmittel geleistet und sollte sie sich auch ohne Schaden leisten können – das galt ja als Preis für eine grundsätzlich durch Einvernehmen gesicherte Anerkennung. Die Abwickler haben in historisch außerordentlicher Weise mit diesem angestrebten Handel ernstgemacht, im Namen dieser Berechnung die eigene Entmachtung gewollt und vollzogen – die Auflösung ihrer Bündnisse, den Abzug aus Mitteleuropa, die Reduzierung der Waffenarsenale. Sie haben das aber eben nicht als Entmachtung begriffen, sondern wie eine Vorleistung für das eigene Recht auf Anerkennung – ein Anspruch, der dann auf die Abwickler der zweiten Generation übergegangen ist: Das neue Rußland hat den Wendestandpunkt einer gediegenen Freundschaft mit dem Westen übernommen und wollte gleichzeitig als Rechtsnachfolger der Sowjetunion das Erbe der Weltmacht als Startkapital antreten. Jelzin und seinesgleichen galt es schließlich als selbstverständlich, daß – im Prinzip – der Status der alten Sowjetunion dem heutigen Rußland zusteht. Schließlich wollte weder der Erfinder der Perestrojka mit der Wende die Macht seiner Nation dezimieren; noch haben sich seine Nachfolger als Bankrottverwalter des sozialistischen Systems verstanden, sondern umgekehrt als Vorsteher einer mächtigen russischen Nation.
Damit ist ein reichlich abweichender Anspruch auf Weltmächtigkeit in die Welt gekommen. Das heutige Rußland hat den Anti-Imperialismus seines Vorgängerstaats aus dem Verkehr gezogen, es tritt nicht mehr mit einer Gegenmacht, mit Alternativen an, es stellt sich nicht mehr hinter die wirklichen oder vermeintlichen Feinde des Freien Westens. Mit seinem antikommunistisch geläuterten d.h. auf gewöhnlichen Nationalismus zusammengekürzten Staatsprogramm konkurriert das neue Rußland vielmehr um die Behauptung seiner Machtposition, indem es auf seinem ererbten Recht besteht, bei allen imperialistischen Gewaltaffären und Expeditionen im Namen der Weltordnung gehört und beteiligt zu werden – und auch nur darum. Mangels eines funktionstüchtigen Kapitalismus im Inneren kommt es anderen Staaten in der Abteilung Konkurrenz, in der es darum geht, andere Staaten auf Benützung zu verpflichten und solche Erfolge abzusichern, nicht in die Quere. Vielmehr ist die Anerkennung des russischen Rechts auf weltmächtigen Einfluß selbst auch schon der ganze Zweck von Außenpolitik – das eine „vitale Interesse“. Seine unangefochtene Gültigkeit soll dieser Status schließlich durch die Bestätigung und Anerkennung der anderen Weltmacht erhalten, die man sich grundsätzlich durch die Wende verdient hat und weiterhin durch eine konstruktive Beteiligung am Weltordnen verdient – das ist das russische Konzept einer Partnerschaft von Weltmächten.
„Die russische Außenpolitik orientiert sich nach den Worten Primakows dem Status und den nationalen Interessen Rußlands entsprechend an der Formel der ‚gleichberechtigten Partnerschaft‘.“ (FAZ 10.1.97)
Diese merkwürdige Sorte Weltpolitik hat das neue Rußland die letzten Jahre betrieben: Gemeinsames Regeln zur Verhinderung von Konflikten, gemeinsame Aufsicht zwecks Zurückhaltung aller Staaten… Expeditionen gegen den Irak und in Bosnien sind mit russischer Beteiligung gelaufen trotz etlicher Verstimmungen darüber, daß die andere Weltmacht die neue Linie der Gemeinschaftlichkeit nicht genügend „ernst genommen“, die Rolle Rußlands nicht genügend gewürdigt hätte.[11] Letztlich hat sich die russische Politik aber mit dem Maß an Anerkennung zufrieden gegeben, das ihr in irgendwelchen Gremien und im diplomatischen Verkehr gezollt wurde und ihre zuwiderlaufenden Anträge dahinter zurückgestellt. Die russische Sorte Weltmachtpolitik leidet in gewisser Weise an einem Definitionsproblem, nämlich daran, am Einzelfall zu entscheiden, wo ihr „vitales Interesse“ anfängt. Es war in der innerrussischen Szene immer umstritten, ob beim einvernehmlichen Regeln der russische Weltmachtanspruch eher bedient wird – indem die Bedeutung des Mitwirkens gewürdigt wird – oder Schaden leidet – dadurch, daß zugunsten des Einvernehmens abweichende russische Anträge aus dem Verkehr gezogen werden mußten.
Der jetzige NATO-Vorstoß aber macht es der russischen Politik ziemlich unmöglich, darüber hinwegzusehen, daß die Machtposition, die man als Rechtsnachfolger der Sowjetunion erben wollte, von der NATO keineswegs als gültiger Besitzstand anerkannt wird. Sie muß die imperialistische Elementarlogik zur Kenntnis nehmen, daß Weltmachtpositionen gegen andere Mächte gesichert sein wollen – weil die NATO von der Sowjetunion geräumte Positionen besetzt. Und sie nimmt diesen Angriff nach den Maßstäben ihres alten neuen Denkens zur Kenntnis. Den Rückzug der Truppen aus Mitteleuropa haben die Nachlaßverwalter nicht als Schwächung begriffen, sondern als Teil eines erfolgreichen Geschäfts – jetzt wo die NATO nachrückt, registrieren sie den Mißerfolg des vermeintlichen Geschäfts, und zwar als „Betrug“.
„Rußland sei getäuscht worden. ‚Das Vertrauen ist dahin‘.“ (SZ 17.4.97) „Rußland fühle sich in der Frage der NATO-Erweiterung ‚betrogen‘.“ (Jelzin-Berater Karaganow, FAZ 18.4.97) „Insgesamt zeige die Erweiterungspolitik der NATO, daß das westliche Bündnis nicht bereit sei, die russischen Interessen wirklich zu berücksichtigen. Das sei für Rußland eine Enttäuschung, weil es auf eine engere Zusammenarbeit mit dem Westen gesetzt habe.“ (Rodionow, FAZ 20.12.96)[12]
Die Urheber und Vollstrecker der Wende haben sich ein folgenschweres Mißverständnis der imperialistischen Konkurrenz geleistet, in der Anerkennung auf Gewalt beruht und nicht auf dem Verzicht auf Machtmittel. Rechte in der imperialistischen Staatenkonkurrenz lassen sich nicht „erben“ – nicht deshalb, weil man sie sich leichtsinnigerweise nicht hat schriftlich geben lassen,[13] sondern deshalb, weil dauerhaft Gewalt dahinterstehen muß, andere Nationen darauf verpflichtet werden müssen, um deren Anerkennung zu sichern. Für das Unding einer Weltmacht, die sich durch Kooperation, durch demonstrativen Verzicht auf gewaltsame Durchsetzung eigener Interessen Anerkennung verdienen will, hat die gültige Weltordnung keine Verwendungsweise. Rußland mag bei seinem Anspruch auf „gleichberechtigte Partnerschaft“ noch so sehr seine konstruktiven Absichten herauskehren – damit bestreitet es dem Westen ausgerechnet das gewichtigste, allen anderen übergeordnete Interesse an exklusiver Weltordnung, an gesicherter Unterordnung. Es muß daher immer wieder feststellen, daß sein reformierter Einsatz für die Völkergemeinschaft von deren Veranstaltern gar nicht einfach begrüßt wird. Während die russische Seite auf den Beginn einer wunderbaren Freundschaft gesetzt hatte, muß sie erfahren, daß ihre Beiträge vom Westen auch als lästige Einmischung behandelt werden. Und im Vollzug der Freundschaft wird Rußland immer deutlicher darauf gestoßen, daß von den von ihm beanspruchten legitimen Rechten, Machtmitteln, Einflußsphären grundsätzlich nichts von der anderen Seite als feststehend anerkannt wird.
Mit ihren Vorwürfen, die Osterweiterung sei ein „Rückfall in den Kalten Krieg“, und der Westen hätte sie betrogen, geben die führenden Russen ihre Enttäuschung darüber zu Protokoll, daß ihre Rechnung nicht gilt. Mit dem Gestus, der Sinn der Osterweiterung sei schwer begreiflich, da die NATO den gewaltigen Vorteil eines kooperativen Rußland ohne jeden guten Grund aufs Spiel setze, stellen sie den Antrag, die NATO möchte doch die Absicht dementieren, die sie gut genug herauslesen. Diese umständliche Beschwerdeform – derselben Instanz, die sich an der Demontage der russischen Macht zu schaffen macht, immer wieder anzutragen, das sei doch nicht nötig – verdankt sich der Tatsache, daß die russische Seite Gründe hat, die Kündigung der guten Beziehungen durch die NATO ihrerseits nicht mit Kündigung zu beantworten.
Die NATO legt die Haltlosigkeit der russischen Staats-Rechnung offen, die Rußland aber nicht einfach streichen will
Da die NATO mit ihrem kompromißlosen Vorgehen in der Sache die Nachfragen nach dem Sinn der Osterweiterung, die Anträge auf Beseitigung eines überflüssigen Mißverständnisses übergeht, sehen sich die russischen Staatsmacher dazu gezwungen, sich dazu zu stellen. Sie müssen die Differenz zwischen dem Status, den sie beanspruchen, und dem, den ihnen die NATO zuweist, zur Kenntnis nehmen und werden auf ihr Dilemma gestoßen: Wegen ihres Anspruchs auf eine Rolle als Weltmacht sieht sich die russische Politik dazu genötigt, den behaupteten Status verteidigen, also darum kämpfen zu müssen; nach der Logik des Kräfteverhältnisses sind Gegenmaßnahmen zwingend erfordert. Andererseits sind die nicht möglich oder nicht ratsam. Nicht möglich: Das „Gleichgewicht“ in seiner harten strategischen Bedeutung, das Respekt erzwingt, ist längst perdu, das war ja gerade die Verhandlungsmasse des Gorbatschow’schen „Tausch“geschäfts; mit ihren Drohgebärden und Suche nach Gegenmitteln kommen die Vertreter der „harten Linie“ um ein paar Jahre zu spät. Nicht ratsam: Der Standpunkt, das Erbe der sowjetischen Weltmacht gegen den westlichen Angriff verteidigen zu wollen, verträgt sich ganz grundsätzlich nicht mit der heutigen Lage der Nation, in der die guten Beziehungen zur westlichen Seite zum entscheidenden Lebensmittel der Nation aufgerückt sind – angefangen vom Kredit bis zu eben der Anerkennung, die Rußland wegen seiner neuen Staatsraison genießt.
Die alte Berechnung, nach der man sich die Last der alten Konfrontation, der Gegenmaßnahmen ersparen möchte, ist nicht nur weiterhin in Kraft – unter den heutigen Bedingungen würden Gegenmaßnahmen erst recht eine unerträgliche Last darstellen.[14] Russische Politiker haben also durchaus eine Ahnung von dem Machtverlust, den ihre Nation schon erlitten hat, was die Gegenmittel gegen das westliche Bündnis angeht, und dieses Eingeständnis geht völlig in dem Standpunkt auf, daß man doch auf den Westen setzt. Eine neue Feindschaft wird nicht gewollt, weil viel zu viel vom heutigen russischen Staatsladen auf den „guten Beziehungen“ beruht – und man sich alles von deren Fortsetzung erwartet.
Geschäfte, die taugliches Geld einbringen, wickelt das heutige Rußland auch nur auf dem Weltmarkt ab; die Konstruktion eines russischen Haushalts beruht auf auswärtigem Kredit; dank der Betreuung durch den IWF, der auf US-Auftrag hin seine Prinzipien im Umgang mit Schuldnern sehr politisch interpretiert hat, hat sich Rußland – eine Nation, die im Inneren ihren nationalen Reichtum als Summe von unbezahlten Forderungen aller gegen alle bilanziert, in der also kein Geld verdient wird – den Ruf als kreditwürdiger Partner erworben und als Kreditnehmer auf den internationalen Geldmärkten etabliert. Die Aufbauperspektiven der neu zusammengesetzten Regierung begründen sich voll und ganz auf dieser Position als geachteter Schuldner. Die Verwalter des neuen Rußland verfolgen schließlich das identische Interesse, aus dem heraus ihr ganzes staatliches Vorfeld den Anschluß an Europa sucht, inkl. Anschluß an die NATO: Kooperation zwecks Erschließung und Kapitalisierung – und sie haben es dabei soweit gebracht, daß der Schein von Nationalökonomie und staatlicher Handlungsfähigkeit im Inneren an westlichen Geschäftsinteressen und an westlichem Kredit hängt. Es ist in letzter Instanz diese gänzlich kontroverse Interessenlage, auf die Rußland am Fall der Osterweiterung gestoßen wird und die die „logische Reaktion“ einer angegriffenen „Weltmacht“ verbietet: Um dem Einrücken der NATO in das ehemalige eigene Bündnisgebiet entgegenzutreten, müßte sich Rußland gegen eben den Staatenblock aufstellen, von dessen Anerkennung und Unterstützung sich die russische Staatsmächtigkeit in ihrer heutigen ökonomischen „Basis“ abhängig weiß.
Das erklärt die seltene politische Konstellation, daß die NATO Rußland als Feind traktiert, nicht in Worten, aber in Taten, ohne daß es Rußland seinerseits zu einer entschiedenen Feindschaft brächte.
Die russische Politik tut sich schwer, eine einheitliche politische Linie zu finden
Der eindeutige Angriff der NATO erhält sehr uneindeutige Antworten aus Moskau. Daß man in elementaren Staatsfragen mit der Freundschaft zum westlichen Staatenbündnis kalkuliert, von derselben Instanz aber mit einer unübersehbar feindlichen Aktion konfrontiert wird, stellt sich der russischen Außenpolitik als Problemlage. Wenn der Außenminister so etwas wie eine neue außenpolitische „Linie“ verkündet –
„Wir haben uns sowohl von der Idee des ‚Feindes Nummer eins‘ als auch von der romantischen Vorstellung einer beinahe schicksalhaften ‚strategischen Union‘ mit dem ehemaligen Gegner verabschiedet.“ (Primakow, FAZ 10.1.97) –,
ist das viel eher eine Auskunft darüber, daß man sich in einer ernsten Verlegenheit sieht, kein Mittel entdeckt, die westliche Offensive abzuwehren (was nicht bedeutet, daß Primakows Diplomaten nicht auch die passenden Manöver einfallen würden, um die russische Verstimmung zu dokumentieren).
Russische Nationalisten sehen sich anläßlich des Vorrückens der NATO dazu veranlaßt, so etwas wie eine Bilanz anzustellen, zu was es Rußland mit seiner neuen Staatsraison eigentlich gebracht hat:
„Schon seit etwa zwei Jahren heißt es in Kreisen der russischen Intelligenz, daß Moskau, nachdem es vom außenpolitischen Wahnsinn ‚grenzenloser Liebe und Ergebenheit‘ gegenüber dem Westen geheilt zu sein scheint, sich wieder wichtigeren, dem Land näherstehenden Problemen zugewandt hat. Der Versuch, ‚eine Ehe mit dem Westen‘ zu schließen, war für Moskau nicht von Erfolg gekrönt. Ganz im Gegenteil… Läßt man die Freude über den Zusammenbruch des kommunistischen Systems außen vor, kann die wirtschaftliche, politische und geopolitische Lage Rußlands heute als verzweifelt bezeichnet werden: Das Territorium ist wesentlich geschrumpft, die Ressourcen sind beinahe erschöpft, die Schulden gewaltig, die Industrie ist gelähmt und ohne Hoffnung auf eine Änderung zum Besseren, die Kette von Konflikten in Grenzangelegenheiten reißt nicht ab, Rußland führte im Inneren einen Krieg gegen die Republik Tschetschenien, eine nicht weniger blutige Spur hinterläßt die Mafia und die sozialen Spannungen nehmen zu. Hinzu kommt, daß die NATO nicht beabsichtigt, sich selbst aufzulösen, sondern unter dem Vorwand, die Sicherheit von irgendwem schützen zu müssen, unmittelbar an die Grenzen der ehemaligen Sowjetunion vorrückt.“ (Wostok 1/97, S.10)
Solche niederschmetternden Bilanzen der nationalen Nützlichkeit der neuen Staatslinie werden gezogen – ohne daß Alternativen in Sicht wären. Darüberhinaus aber deckt die außenpolitische Herausforderung den Umstand auf, daß diese Nation im Inneren keinen politischen Konsens zustandebringt. Während ein solcher Antrag wie der der NATO, wg. „Frieden und Stabilität in Europa“ das ehemalige russische Glacis zu besetzen, unter gesitteten Staatswesen unweigerlich dafür sorgen würde, daß die politische Klasse der angegriffenen Nation ihre Konkurrenz um die Macht im Inneren einstellt, weil es darum geht, das ein und alles dieser Konkurrenz, die Macht als solche zu sichern, ist in Rußland das Gegenteil der Fall.
Nicht einmal die Regierungsmannschaft vertritt so etwas wie eine einheitliche Linie: Zwar ist generell ein Nein zur Osterweiterung erfolgt, aber schon in der Bewertung, worum es Rußland heutzutage in erster Linie zu gehen hätte, fallen die Stellungnahmen auseinander. Die „jungen Reformer“ möchten am liebsten „zur Tagesordnung übergehen“, sich um Rubel und Weltbank kümmern, während Außen- und Verteidigungsminister ihren Pflichten nachgehen und – so die westliche Lesart – in die Diktion des Kalten Kriegs zurückfallen. Eine beachtliche Meinungsvielfalt, was die russischen Stellungnahmen zur NATO-Osterweiterung angeht, herrscht erst recht im weiteren Kreis russischer Politik.[15] Es handelt sich dabei auch nicht eigentlich um Stellungnahmen zur NATO. Die Konkurrenz um die russische Staatsmacht ist in den widersprüchlichen russischen Staatsrechnungen befangen; die Konkurrenten bekriegen sich wechselseitig als deren Charaktermasken, umso unerbittlicher, je deutlicher sich der Niedergang der Nation herausstellt: Schirinowskij, alle nationalen Wortführer und die Mehrheit der Duma reklamieren den Machtstatus der Nation; sie überbieten sich im Ausmalen der Überfallspläne, die der NATO zugeschrieben werden – die Anklage gilt aber nicht dem Westen, sondern dem inneren Feind, der die NATO einlädt, der die Nation verrät, ihre Mittel verkauft… Umgekehrt wiederum wollen die Vertreter der Reformlinie wissen, daß es in der heutigen Welt im allgemeinen und im heutigen Rußland im besonderen auf strategische Fragen einfach nicht mehr ankommt,[16] ein paar Vorreiter vertreten offensiv den Standpunkt, Rußland solle sich endlich dazu bekennen, daß es nichts weiteres als ein überdimensionales Entwicklungsland darstellt – und kämpfen gegen das alte Denken der Jelzin-Kritiker, das Rußland in die alten Fehler, Blockdenken und Militarismus, zurückzustoßen droht. So liefern die russischen Parteien das Schauspiel einer politischen Klasse, die in einer entscheidenden Frage der Nation zu keiner Einigkeit findet, und bestärken die NATO in ihrer Auffassung, daß der russische Souverän gar nicht mehr Herr seiner viel zu zahlreichen Machtmittel ist.[17]
Rußland bringt seine Gegenmittel ins Spiel und muß seine Ohnmacht registrieren
Zu einem Ergebnis haben es die russischen Unterhändler mit ihren Nachfragen nach dem Sinn der Osterweiterung schon gebracht: Sie haben sich in allen Varianten von Heuchelei die Unbedingtheit bescheinigen lassen, mit der die NATO ihr Projekt betreibt. Sie haben folglich nicht darauf verzichtet, den Gegensatz herauszukehren und ihr Gegenüber an die Bestandteile russischer Weltmacht zu erinnern, mit denen man anders umgehen könnte. Das ultimative Vorgehen der NATO hat damit nicht nur zum Vorschein gebracht, in welchen widersprüchlichen Berechnungen der politische Wille des neuen Rußland befangen ist, auch dessen geschwundene Fähigkeiten sind deutlich zur Sprache gekommen.
Der Katalog von Gegendrohungen, der den russischen Wortführern eingefallen und mehr oder weniger offiziell ins Feld geführt worden ist, bebildert das gewaltige Mißverhältnis zwischen dem Status, den die Russische Föderation beansprucht, und dem, den sie faktisch besitzt – in der Hinsicht lesen sich die einschlägigen diplomatischen Versuche wie eine Übersicht über den Machtverlust, den die Nation durchgemacht hat, und über russische Täuschungen, was die eigenen Machtmittel besitzt.
Die triumphalistischen Erfolgsmeldungen, „Moskau konnte den Kampf gegen die geplante NATO-Erweiterung nicht gewinnen und wußte das von Anfang an“, sind aber auch nicht ganz zutreffend. Die offenherzige Schadenfreude, mit der die aufklärerische Berichterstattung die desolate Lage im Inneren Rußlands, insbesondere die der Armee, die Erfolglosigkeit im Umgang mit den ehemaligen Bündnispartnern, die Untauglichkeit der GUS etc. etc. besichtigt hat, stellt klar, was mit der „Stabilität in Europa“ gemeint ist, mit der die NATO auch Rußland bedenken möchte. Der aus solchen Betrachtungen abgeleitete wohlwollende Antrag, die Russen möchten doch bitte einsehen, daß sie nichts mehr zu melden haben, sich in ihre inferiore Lage schicken und um ihre inneren Probleme kümmern, steht für die westliche Moral der Überlegenheit – abstrahiert wird dabei nur davon, daß 2 Subjekte mit der geschilderten „Lage“ befaßt sind. Der Machtverfall der russischen Nation ist nicht einfach eingetreten, sondern zu gewissen Teilen die Leistung der NATO, und diese Organisation will es dabei nicht bewenden lassen. Moskau „konnte nicht gewinnen“ – weil die NATO Rußland als zu berücksichtigenden strategischen Faktor in Europa erledigen will.
Die russische Raketenmacht
Russische Wortführer haben darauf verwiesen, daß Rußland nach wie vor Atommacht ist. Wie sie darauf verwiesen haben, daran ist abzulesen, daß auch Rußland in seinen strategischen Rechnungen von einer Niederlage ausgeht. Der russische Verteidigungsminister äußert sich in der Diktion seiner sowjetischen Vergangenheit:
„Das Prinzip der Balance der Kräfte sei nicht ungültig geworden. Rußland solle sein Atompotential erhalten. Es sei das ‚wichtigste Mittel, um die aggressiven Bestrebungen in den Beziehungen zu Rußland und seinen GUS-Partnern zu zügeln‘.“ (Rodionow, FR 28.12.96)
Der Inhalt ist ein anderer. Ob der Verteidigungsminister mit seinem Plädoyer für die Aufrechterhaltung des Atompotentials gesagt haben will, daß er keinen Sinn darin sieht, das russische Atompotential weiterhin zum Gegenstand von Abrüstungsverhandlungen zu machen, oder ob er nur betont haben wollte, daß Rußland immer noch ein gewichtiges Waffenpotential besitzt – offenkundig figurieren die russischen Raketen als „letzte Waffe“ in einer neuen Bedeutung: als letzter Posten in der strategischen Rechnung, mit dem Rußland meint, auf Respekt dringen zu können. Die „Aufwertung“ der „letzten Waffe“ stammt daher, daß Rußland seine Verluste in allen anderen Abteilungen der strategischen Rechnungen zur Kenntnis genommen hat. In gewisser Weise wird auch eingestanden, daß das für eine präsumtive Weltmacht ein Armutszeugnis ist:
„Die NATO nähere sich immer mehr an die Grenzen Rußlands an. ‚Unsere Streitkräfte befinden sich im Stadium der Reorganisation, und daher sind die strategischen Atomwaffen der letzte Abschreckungsfaktor‘.“ (Iljuschin, Vorsitzender des Sicherheitsausschusses der Duma, ÖMZ 3/96)
Die Anhänger der Überfallstheorie mögen sich damit trösten, daß für den Fall die letzten Mittel vorhanden sind – als Einwand gegen die Methode der friedlichen Eroberung, mit der sich die NATO im Osten erweitert, taugen sie nicht.
Eine Umbewertung der Bedeutung russischer Atommacht hat auch der russische Sicherheitsrat in seiner neuen „Sicherheitsdoktrin“ vorgenommen; bekanntgegeben wurde soviel, daß Rußland ein Stück der bisher gültigen Militärdoktrin, den Verzicht auf die Erstschlagsdrohung, zurücknimmt.
„Wenn die russischen Streitkräfte in die Enge getrieben würden und keine andere Wahl hätten, würden Atomwaffen eingesetzt.“ (Beresowskij, SZ 10.5.97)
Auch auf der Ebene des rüstungsdiplomatischen Kodex ist die Anerkennung des Machtverlusts der Ausgangspunkt; deshalb wird es für nötig befunden, in Sachen Anwendung der letzten Mittel Unberechenbarkeit anzukündigen. Die Verwalter der russischen Militärmacht konstatieren, daß wegen der Entmachtung, die stattgefunden hat, eine andere Betrachtungsweise der verbliebenen Mittel geboten ist – von einem strategischen Gegenentwurf ist aber noch nichts bekannt geworden.
Druck auf die Beitrittskandidaten
Diese Drohungen haben die offizielle Klarstellung erbracht, daß Rußland, wenn es auf besonderen Rechten im Rahmen seines ehemaligen Bündnisses besteht, um einen Besitzstand streitet, den es gar nicht mehr besitzt. Was als russische Forderung daherkommt, „nicht isoliert“ werden zu wollen, ist in Mitteleuropa schon eingetreten, und stellt die logische Folge der eigenen Politik dar, der Auflösung der alten Bündnisse: Die ehemaligen Pakt-Staaten stehen kaum mehr russischem Einfluß offen, weil sie sich zur Einflußsphäre der anderen Seite definiert haben, nicht zuletzt deshalb, weil sie dasselbe Ziel wie Rußland verfolgen, sich vom Weltmarkt entwickeln zu lassen. Und für dieses Projekt hat Rußland nichts zu bieten, daher auch keine Mittel zu drohen – außer den Energielieferungen, auf die der gesamte ehemalige RGW-Handel im wesentlichen zusammengeschrumpft ist, und seinen Atomwaffen.[18] Abgesehen von diesen Extremen verfügt Rußland über kein außenpolitisches Mittel, Einfluß auf sein Vorfeld auszuüben.
Auf der anderen Seite ist das „Angebot“, russische Sicherheitsgarantien könnten die Osterweiterung überflüssig machen, keines. Wenn die russische Diplomatie hier ihrerseits die von Polen und Balten gepflegten Überfalls-Szenarien zurückweist, dementiert sie zwar das Bild, aber nicht die damit gemeinte Sache: Die NATO-Beitrittskandidaten planen ihre Staatskarriere im bedingungslosen Anschluß an Europa, suchen ihren Erfolg, ihre Ausrüstung, Unterstützung für ihre sämtlichen nationalen Rechnungen bei den Bündnissen, die über die weltweit konkurrenzlosen Mittel gebieten. Rußland aber besteht auf der Festschreibung der strategischen Rolle dieser Staaten dem russischen Interesse an einer Pufferzone entsprechend; es besteht weiterhin zumindest auf einer Art Neutralität als Staatslinie, negativ definiert als: keine Russenfeindschaft, besteht also darauf, daß in ihrer außenpolitischen Ausrichtung diese Staaten soweit russischen Interessen und keinen anderen untergeordnet zu sein haben. Und damit stellt es sich dem neugegründeten Nationalismus dieser Staaten als das entscheidende Hindernis in den Weg. Das ist der Grund der heutigen Russenfeindschaft; die leidvollen Erfahrungen dieser Völker unter der russischen Knute, die die zuständigen Staatsführer nicht oft genug zitieren können, bilden die ideologische Begleitmusik.
Wenn Rußland darüberhinaus, wie im Fall von Estland und Lettland, im Namen der russischen „Minderheiten“ weitergehende Rechte anmeldet, verstehen auch alle Beteiligten, wie es gemeint ist: Um deren privates Elend geht es genausowenig, wie es Deutschland um die Lage der Volksdeutschen im weiten Osten geht, wenn es aus denen seine konjunkturgemäßen Ansprüche verfertigt; was den Gesichtspunkt betrifft, hätten die russischen Volksfürsorger auch genügend russische Bürger im Inland, um deren Schicksal sie sich kümmern könnten. Die Russen, die von der baltischen Volkstumspolitik drangsaliert werden, dienen – nach eben der Methode, wie sie die deutsche Versöhnungspolitik in Anschlag bringt – als Rechtstitel, mit dem gegen die baltischen Souveräne der sehr weitgehende Vorbehalt angemeldet wird, daß ihnen die Regierungsbefugnis über einen ziemlich großen Teil ihrer Untertanen – eigentlich – nicht zusteht. Ein Vorbehalt, der auch deshalb ein besonderes Gewicht hat, weil Rußland noch ganz andere Einwände gegen eine baltische Souveränität hat – die Einwände, die diese Staatsflecken umgekehrt für die NATO so interessant machen.
Weil die russischen Ansprüche bei den genannten Staaten auf dieselbe Unversöhnlichkeit treffen, die diese sich – von wegen allein und hilflos – in der einigermaßen sicheren Berechnung auf die Rückendeckung durch die Bündnisse leisten, die die Osterweiterung betreiben, haben die russischen Andeutungen von Repressalien nicht viel mehr ausgerichtet, als deren Politführern die Gelegenheit zu bieten, das klassische Russen-Feindbild wieder in Szene zu setzen.[19] Der polnische Präsident Kwasniewski hat klargestellt, wie eindeutig das Kräfteverhältnis, was den politischen Willen dieser Nationen betrifft, zuungunsten Rußlands entschieden ist: Einer NATO, in der auch Russen einmal den Vorsitz hätten, will Polen nicht beitreten. Von anderen vorsitzenden Nationen läßt sich Polen seinen Satellitenstatus vorbuchstabieren – denn daran knüpfen sich die Berechnungen dieser Nation.
Von diesem am Staatenmaterial der Osterweiterung entschiedenen Kräftemessen rührt die Bequemlichkeit der NATO-Diplomatie, wenn sie sich schlicht auf den Willen dieser Staaten beruft. Deren Nationalismus wird als zu beschützendes Recht gegen den der Russen mobilisiert, der sich ausklinken soll.
Drohungen, die GUS zu einem Gegenbündnis herzurichten
Die russische Diplomatie ist auch auf den Gedanken gekommen, mit der Ankündigung der Herrichtung der GUS zu einem „Verteidigungsbündnis“ zu kontern. Außer dieser Ankündigung ist vorerst nicht viel geschehen – einige GUS-Führer haben lauthals Widerspruch eingelegt,[20] die anderen ignorieren ausdauernd und störrisch die russischen Anträge. Und bei dem einzigen Staat, der sich Moskau als Helfershelfer anbietet, kommt gleich wieder die andere russische Berechnung zum Zug, daß im Grunde die Zusammenarbeit mit jedem GUS-Staat mehr Last als Nutzen bedeutet. Das Gebilde namens GUS ist also in jeder Hinsicht wenig dazu geeignet, sich unter russischer Führung zu einem Militärblock zusammenschließen zu lassen, und genausowenig wie die ehemaligen Bündnispartner russische Einflußsphäre. Auch diese Zone ist längst „geöffnet“ und in ihrer besonderen Notlage für jede auswärtige nicht-russische Einmischung empfänglich: Die „unabhängigen Staaten“ sind seit ihrer Gründung über den Widerspruch nicht nennenswert hinausgekommen, daß ihnen in ihrer glanzvollen Unabhängigkeit so gut wie alle Mittel zum Staatsmachen abgehen, die sie eben mit ihrer Gründung, mit der Auflösung der Sowjetunion zerstört haben. [21] Seitdem sind diese nominellen Staatswesen mit immer denselben fortdauernden Leiden ihrer Staatsgründung befaßt – ein Volk, Grenzen, ein Gewaltmonopol, ein Geld bekommen sie aus nicht vorhandenen „eigenen“ Kräften nicht hin. Die Führungsmacht Rußland kann diese Bedürfnisse nicht einmal notdürftig bedienen, weil sie an denselben nicht glücken wollenden Staatsgründungsfragen krankt, kann daher aber auch ihr beanspruchtes Recht auf Führung nur sehr rudimentär bei ihren Schützlingen verankern. Umgekehrt sind die Mitglieder der GUS für jede auswärtige Ansprache zu haben, die ihnen die Perspektive eröffnet, sich von der russischen Patronage freizumachen, mit der sie genausowenig Staatlichkeit hinbekommen wie gegen sie.
Das ist das Ergebnis von 6 Jahren GUS: offene oder latente anti-russische Ressentiments, und die NATO hat nicht versäumt, gegen die russische Ankündigung ihren Einfluß auf die GUS vorzuführen. Auf zwei Reisen hat NATO-Generalsekretär Solana die gewünschten anti-russischen Stellungnahmen abgeholt und mit dieser gezielten Provokation die reellen Kräfteverhältnisse auf diesem Gebiet klargestellt.[22] Dabei konnte er sich auf einen russischen Positionsverlust berufen, der unter russischer Mitwirkung passiert ist – den Rußland also gar nicht einfach rückgängig machen kann: Im Bemühen, die Rolle der NATO in Europa durch die Aufwertung der OSZE zu untergraben, in der Rußland über Sitz und Stimme verfügt, hat die russische Diplomatie selber die OSZE in allen Konfliktfällen in der GUS – Berg-Karabach, Abchasien, Tadschikistan, Weißrußland – zum Zweck der „Vermittlung“ angerufen. Europa kommt dieser Aufgabe gerne nach – mit der eindeutigen Intention, die russische Position als Ordnungsmacht zu relativieren, indem russische Schlichtungsversuche selbst zum Objekt europäischer Kontrolle gemacht werden. Auf diese Weise ist die Bestreitung des russischen Anspruchs auf eine exklusive russische Sicherheitssphäre vorangekommen.[23] Dazu kommen die Beziehungen im Rahmen des Programms „Partnership for peace“, an das sich auch alle GUS-Mitglieder angehängt haben, was ihnen Rußland schlecht untersagen konnte, da es selber gemeint hat, teilnehmen zu müssen, um sein Recht auf Einfluß zu bewahren. Auch das PfP-Programm hat dazu getaugt, daß sich die NATO nun auf eigenständige, von dieser Staatenwelt gewollte Beziehungen gegen den Einspruch aus Moskau berufen kann.[24]
Die NATO denkt auch schon voraus:
„Demgegenüber hat die NATO von den ‚russischen Freunden‘(Solana) nie einen Truppenabzug aus dem westlichen und südlichen Vorfeld Rußlands – d.h. Belarus, der Ukraine (Krim), Moldowa (Dnjestr-Gebiet) sowie Georgien und Armenien – verlangt“. (ÖMZ 2/97)
Sie könnte sich nur gut vorstellen, daß die genannten Staatsgebilde das einmal verlangen, weil sie es im Rahmen der KSE-Verhandlungen auch schon tun[25] – wenn ihnen westliche Rückendeckung im Verhältnis zu Rußland signalisiert wird.
Mit ihren Vorstößen und Provokationen weist die NATO Rußland höflich daraufhin, daß seine Kalkulation mit der GUS als russischem Verteidigungsraum entscheidende Schwachstellen hat und daß es seine strategische Lage allmählich getrennt von der GUS definieren sollte – und das bedeutet: Russische Grenzen, die gar nicht als Grenzen ausgebaut sind, an verschiedenen Stellen mit Bürgerkriegen besetzt, ein schon durch die GUS zerteilter militärischer Aufbau, von dem Rußland noch Restbestände aufrechterhält, die sich dann in von potentiellen Gegnern umringte Exklaven verwandeln. Außerdem ist der Verweis auf die GUS als eine Ansammlung von Sprengsätzen, derer sich die westliche Seite bei Bedarf bedienen könnte, keine matte Prognose; mit Hilfe der Ukraine wird die Zersetzung vorangebracht, u.a. werden dem Anspruch Rußlands auf militärische Bewegungsfreiheit schon einmal seine Schranken gezeigt. [26] Zugleich führt der Westen seine Kampagne gegen Weißrußland, dessen Staatschef als einziger auf dem Gebiet der GUS für den russischen Antrag auf ein weitergehendes Militärbündnis zu haben ist. Völker, denen ein gesunder Nationalismus abgeht – so die hierzulande gültige „Erklärung“ der weißrussischen Staatsrechnung –, gehören für ihre unerlaubte Russenfreundschaft bestraft.
Drohung mit Gegenbündnissen mit Staaten wie Iran, Indien, China
Mit diesen Staaten betreibt Rußland bereits einen lebhaften Waffenhandel, den es jetzt mit einem explizit antiamerikanischen Akzent versehen hat:
„Der Außenminister wandte sich – offensichtlich mit Blick auf die Vereinigten Staaten – gegen das Konzept einer „unipolaren Welt“, die in Herrscher und Beherrschte geteilt werde. Rußland wolle ein einflußreiches Zentrum in einer mehrpolaren Welt sein.“ (FAZ 10.1.97)
In anderem Zusammenhang werden zwar dieselben Staaten wegen territorialer Streitigkeiten als potentielle Feinde bezeichnet – im Fall China hat sich jetzt Rußland aber demonstrativ über die Grenzstreitigkeiten hinweggesetzt, und mit China eine „strategische Partnerschaft“ vereinbart. Bei der Unterzeichnung hat der russische Präsident nicht versäumt zu betonen, gegen wen die gerichtet ist:
„Die ganze Zeit wolle jemand eine einpolige Weltordnung diktieren.“ (Jelzin, SZ 24.4.97)
Tatsächlich kann Rußland einiges dafür tun, das Kaliber dieser anerkannten oder potentiellen Störfälle der westlichen Weltordnung zu steigern.[27] Ob die Interessenlage beider Seiten aber genügend Gemeinsamkeiten aufweist, um die bisherigen Waffengeschäfte zum Bündnis auszubauen, ist sehr die Frage. Indien hat einschlägige russische Anträge unter Verweis auf seine traditionelle Neutralität abgelehnt, über den Grad von Anti-Amerikanismus, den es sich leisten will, möchte es autonom entscheiden. China feilscht in seiner Rolle als Tigerstaat neben seiner Konfrontation mit den USA ebensogut um Handels- und Zulassungsbedingungen auf dem Weltmarkt; wohlweislich hat es die „strategische Partnerschaft“ mit Rußland jetzt durch eine Erklärung über „militärische Kooperation“ mit den USA ausgewogen. Die Iran-Beziehungen Rußlands wiederum sind gut dazu geeignet, die USA zu verärgern, zumal sie anstößige Geschäfte einschließen, mit denen ehemalige Zusagen an die USA gekündigt werden.[28] Welche Schranken einer Ausweitung dieser guten Zusammenarbeit zu einem regelrechten anti-amerikanischen Bündnis gesetzt sind, läßt aber auch das russische Manövrieren erkennen. Gerade der demonstrative Bezug, den Rußland zwischen diesen Waffengeschäften und seiner Enttäuschung über die Veranstalter einer „einpoligen Weltordnung“ herstellt, zeigt, daß es seine Beziehungen zum iranischen „Schurkenstaat“ instrumentell ins Verhältnis zu ganz anderen Beziehungen setzt: Mit der Dokumentation seiner Verärgerung streitet es um Berücksichtigung durch den „Pol“, auf den es auch ihm in erster Linie ankommt.
Diplomatische Aufwertung Rußlands als Mittel seiner kontrollierten Entmachtung
Die russischen Außenpolitiker nehmen die Beteuerungen der westlichen Staatsoberhäupter, die NATO-Erweiterung richte sich nicht gegen Rußland, zum Anlaß für ebenso oft wiederholte Anfragen: Wenn das wahr ist, dann gibt es doch keinerlei Anlaß für eine militärische Expansion des alten Kriegsbündnisses, sondern allen Grund, darauf zu verzichten und die neue Russische Föderation als echten Partner zu behandeln, dem das Recht auf Mitentscheidung über eine neue, gemeinsam zu gestaltende europäische Sicherheitsarchitektur gebührt. Die Antwort der NATO ist und bleibt stets dieselbe: Sie bekräftigt erstens den Ausdehnungsbeschluß, dessen praktischer Vollzug unbeirrt seinen Gang nimmt, und zweitens weist sie mit wohlwollendem Verständnis die Forderung Moskaus zurück, die als Angebot zur Aufrechterhaltung gegenseitigen Einvernehmens interpretiert und geschätzt wird. Die Russen beantragen Verhandlungen, und der Westen erteilt den Bescheid, daß der NATO-Wille nicht zur Disposition steht, man aber über alles reden könne. Die diplomatische Form dieses Bescheids knüpft an die russische Beschwerde über die „überflüssige Konfrontation“ an und stellt sie als Produkt eines grandiosen Mißverständnisses hin. Ein nationaler Interessengegensatz liege nämlich gar nicht vor. Die Häuptlinge der NATO bestreiten, als eine oder verschiedene Parteien zu agieren, und präsentieren sich als überparteiliche Vertreter eines allgemeinen europäischen Sicherheits- und Ordnungsbedarfs. Das hehre Anliegen nennt sich „endgültige Überwindung der Folgen des Kalten Krieges“ und lädt die Russen ein, unter diesem Gesichtspunkt ihren Frieden mit der NATO-Expansion zu schließen. Die russischen Politiker, so faßt sich die diplomatische Abfuhr zusammen, sollten bedenken, daß die Unterstellung, die „Neue NATO“ sei noch der alte Feind und ihre Ausdehnung schädige die Interessen Rußlands, selbst von „altem Denken“ zeuge. Das gelte es doch gemeinsam zu überwinden! Die Kontroverse kennzeichnet die Eigentümlichkeit der gesamten diplomatischen Veranstaltung rund um die NATO-Osterweiterung herum: Der Westen behandelt die strategische Ausweitung seiner Aufsichtsgewalt auf Kosten Rußlands als das, was sie ist, nämlich eine Machtfrage – und legt deswegen Wert auf eine diplomatische Verdolmetschung des Programms, die den feindlichen Charakter desselben dementiert. Das ist auch nötig. Die Russen auf der anderen Seite sind mit ihrer eigenen Machtlosigkeit gegenüber den NATO-Plänen konfrontiert – ein bemerkenswertes Eingeständnis fortgeschrittener Entmachtung –, und sehen sich von daher auf das Instrument des diplomatischen Ringens um Anerkennung ihrer Interessen ver- und angewiesen. Die Diplomatie aber ist kein Ersatz für fehlende Machtmittel. Das bekommen die Vertreter Rußlands denn auch zu spüren.
Gegenleistungen des Westens
Die russische Regierung hat sich die Ohnmacht ihrer Einwände in unzähligen Gipfeln und Gesprächsrunden bescheinigen lassen, in denen sie ihr NEIN vortrug. Sie hat daraus den Schluß gezogen, sich um Schadensbegrenzung zu bemühen. Sie hat nach Kräften versucht, das Interesse des Westens an einer erfolgreichen Einbindung Rußlands für sich auszunutzen, und Bedingungen aufgestellt, unter welchen sie – dieser Einbindungsstrategie zum Erfolg verhelfen würde! Und die NATO hat reagiert. Sie ist demonstrativ zu allerhand „Verzicht“ bereit. So verzichtet sie darauf, all die potentiellen neuen Mitgliedstaaten gleich und auf einmal förmlich zu integrieren, weil sie ohnehin eine selektive und sukzessive Vergabe von Mitgliedsrechten – gemäß den diversen Qualifikationskriterien – bevorzugt. Da dies Verfahren auch darauf berechnet ist, Rußland an das Vorrücken der NATO zu „gewöhnen“, bleiben ehemalige Sowjetrepubliken in der ersten Runde ausgeschlossen, darunter auch das heißeste Eisen, die ungeduldigen Balten. Für sie wie für andere Antragsteller wird derweil nicht nur die zweite Runde in Aussicht gestellt, sie werden auch mittels „substrategischer“, regionaler, friedenspartnerschaftlicher und sonstiger Bündnisse vorläufig oder endgültig zum faktischen Anschluß an das Bündnisgebiet von NATO und WEU befördert.[29] Die Drehbuchschreiber der Osterweiterung bieten den Russen ferner ein „Dokument“ voller guter Absichtserklärungen – erst „Charta“ genannt, schließlich zur „Gründungsakte“ aufgewertet –, in dem sie versichern, daß sie auf die Stationierung von Atomwaffen und die Dislozierung größerer amerikanischer, deutscher oder sonstiger „fremder“ NATO-Truppen in den neuen Mitgliedsländern fürs Erste verzichten, weil sie dazu momentan sowieso keinen guten Grund sehen. Ein militärischer Überfall auf Rußland ist ja wirklich nicht geplant und umgekehrt rechnet niemand im Westen mit einer akuten Bedrohung Polens oder Ungarns durch die Russische Armee. Es geht „bloß“ darum, die vereinigte Abschreckungsmacht der westlichen Führungsnationen auch auf die ehemaligen Warschauer Pakt Staaten zu erstrecken, also um „präventive Verteidigung“[30] gegen jeden möglichen Zugriff auf diese Region. Die westlichen Gegenleistungen sind also echte diplomatische Zugeständnisse an „russische Ängste“, die keine Zugeständnisse für die NATO sind, da sie vom Zweck und Programm der Ostausdehnung keinerlei Abstriche bedeuten. Da die politischen Oberbefehlshaber für den Fall künftigen Bedarfs alle militärischen Freiheiten beanspruchen, haben sie die Forderung nach Abschluß eines Vertrags, in welchem die aktuellen politischen Verzichtserklärungen rechtsverbindlich geregelt sind, kategorisch abgelehnt. Das schöne russische Ideal, „ein substantielles Dokument zu erarbeiten“ und damit „die negativen Wirkungen der NATO-Erweiterung zu neutralisieren“[31], wird selbstverständlich abschlägig beschieden – dann könnte man letztere ja gleich unterlassen! Und schon werden Gegenforderungen aus der NATO-Zentrale laut. Angesichts des einseitigen westlichen „Entgegenkommens“ (!), so der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, sei es an der Zeit, daß auch die russische Seite ihren Teil beitrage: nämlich „konkrete Schritte insbesondere zur Abrüstung von taktischen Nuklearwaffen … im Bereich der russischen Westgrenze“ und Maßnahmen in der Exklave Kaliningrad, wo es eine unerträgliche, „extrem dichte Militärpräsenz pro Quadratkilometer“ gebe.[32] Da kann man sich ausrechnen, was „Gegenseitigkeit“ in Zukunft heißt: Die NATO erschließt sich neue Länder im Osten und verlangt dann eine gleichgewichtige russische Abrüstung im russischen Westsektor auf das Niveau der hinzuaddierten NATO-Länder.
Strategische Partnerschaft
Mit der von den Russen schlußendlich termingerecht verabschiedeten Übereinkunft soll aber vor allem eine „Sicherheitspartnerschaft“ begründet werden. Laut diplomatischem Werbetext aus Brüssel handelt es sich um die Institutionalisierung „privilegierter Beziehungen“ zwischen Rußland und der Allianz, womit bewiesen sei, daß von einer Isolierungsstrategie gegenüber Moskau nicht die Rede sein kann. Tatsächlich erkennt die „Akte“ ein Recht Rußlands auf Mitsprache in Sicherheitsfragen förmlich an. Auf Mitsprache, nicht auf Mitentscheidung. Da wird ein vielschichtiger „Konsultationsmechanismus“ ins Auge gefaßt, mit dem Ziel, in „Fragen des gemeinsamen Interesses“ zu gemeinsamen Lösungen zu kommen, „soweit möglich“ – und wenn nicht, dann handelt die NATO berechtigterweise ohne Rußland. Als Gegenstände gemeinsamen Vorgehens ziehen die USA in Betracht: die Verhinderung der Proliferation von atomarem Material, die Bekämpfung des internationalen Terrorismus, Rüstungskontrolle und Friedensmissionen wie die in Bosnien – lauter NATO-Projekte mithin, an denen sich die Russen konstruktiv beteiligen dürfen und sollen, damit sie sie nicht unterlaufen. Da wird eigens ein neues Gremium – der 16+1 „NATO-Rußland-Rat“ – ins Leben gerufen, in dem Rußland „eine Stimme, aber kein Veto“ äußern darf. Dafür verzichtet auch die NATO feierlich auf „ein Vetorecht über die Handlungen des anderen“. Das Angebot zur Einbindung Rußlands in die Sicherheitspolitik der Staaten des westlichen Militärbündnisses verlangt auf alle Fälle – quasi als Geschäftsordnung – nicht weniger, als daß der Widerpart Rußland jeden strategischen Gegensatz und damit jedes autonome nationale Machtinteresse gegen das von den kapitalistischen Hauptmächten beanspruchte Weltordnungsmonopol aufgibt. Bemerkenswerterweise macht die „Akte“ die Freiheit der NATO zur Aufnahme neuer Mitglieder explizit zur Voraussetzung der vertrauensvollen Kooperation, als Gegenstand partnerschaftlicher Verhandlungen mit Moskau scheidet sie also offiziell aus.[33] Unter der hochtrabenden Veranstaltung einer „Strategischen Partnerschaft“ wird somit der Schein einer gleichberechtigten Beratung zwischen der NATO und dem Rechtsnachfolger der verflossenen systemfeindlichen Weltmacht installiert, damit Rußland seine Vorbehalte gegen die NATO-Hegemonie über den Kontinent und die damit verbundene politische Degradierung fallen läßt. Der Haken ist nur, daß die Russische Föderation die Partnerschaft mit der NATO aus dem gegenteiligen Grund betreibt, weil sie sich davon nämlich echte Sicherheitsgarantien verspricht und das Recht, bei der Gestaltung der „europäischen Friedensordnung“ als Garantiemacht dabei zu sein und nicht als ihr größter Problemfall. Und dieser Gegensatz ist nicht aus der Welt geschafft, wenn der russische Präsident in Brüssel das Dokument unterschrieben hat.
Atomare Abrüstung und Rüstungskontrolle
In Anbetracht des westlichen Angriffs auf den Status Rußlands als europäische Ordnungsmacht haben es die Staatsmänner aus Moskau auch mit diplomatischen „Junktims“ versucht, d.h. ihre Reaktion auf die unumstößliche Osterweiterung vom Verhalten der Westmächte in anderen Abteilungen der Gewaltkonkurrenz abhängig erklärt. Sie haben die einseitige Aufkündigung des KSE- Vertrages und des START-Abrüstungsprozesses ins Spiel gebracht, um nachzufragen, inwieweit die NATO-Politiker überhaupt noch bereit sind, ihren sicherheitspolitischen Interessen und „ererbten“ strategischen Weltmachtrechten Rechnung zu tragen. Die daraufhin von US-Präsident Clinton präsentierten „Vorschläge“, die mit zum „Durchbruch von Helsinki“ geführt haben sollen, folgen abermals dem bewährten Muster westlicher Befassung mit den Anträgen Moskaus: Sie gestehen den Russen Verhandlungen zu, versprechen aber nichts anderes, als daß auch diese in der Substanz auf dasselbe hinauslaufen müssen: Rußland hat sich auch da die heißersehnte Anerkennung als konstruktiver Partner erneut zu verdienen, durch die Preisgabe seiner materiellen Gegenmacht nämlich.
Erstens ist der Westen bereit, Einwände Moskaus gegen den KSE-Vertrag bzw. Forderungen, die aus ihm eine Rüstungsbeschränkung für die NATO-Mitgliedskandidaten ableiten, als der Befassung wert anzuerkennen. Ohnehin wird seit Jahresbeginn über eine „Anpassung an die veränderten Realitäten“ verhandelt. Welch ein Zugeständnis. Tatsächlich hat der – 1990 erstunterzeichnete – Vertrag über die Reduktion von Truppen und schweren Waffen in Europa seine Wurzeln in der Konfrontation zweier Militärblöcke, zwischen denen er ein niedrigeres „konventionelles Gleichgewicht“ herzustellen versprach. Inzwischen aber existiert keine Sowjetunion mehr und nur noch ein Block, der sich zudem vergrößert. Das inzwischen weitgehend umgesetzte Vertragswerk „berücksichtigt“ also nicht, daß die Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts längst auf die andere Seite übergewechselt sind und teils kurz vor der offiziellen Integration in die NATO stehen. Er ist mithin „ein Relikt vergangener Block-Politik, daran zweifelt ohnehin niemand.“[34] Das Entgegenkommen gegenüber Moskau besteht folglich darin, Rußland zuzubilligen, daß gewisse Voraussetzungen des KSE-Vertrages entfallen sind und eine „gerechte“ Zuteilung legitimer Gewaltmittel den neuen Kräfteverhältnissen Rechnung tragen muß. Das aber wird sicher nicht zum Vorteil Rußlands gereichen. Es bedeutet nämlich, daß vom „Paritätsprinzip“ auch offiziell Abschied genommen wird zugunsten irgendeines „Regionalkonzepts“, in dem sich russische Streitkräfte nicht mehr an der NATO insgesamt, sondern an ukrainischen, polnischen oder baltischen Truppen messen lassen müssen.
Zweitens erkennen die Vereinigten Staaten von Amerika dem neuen Rußland weiterhin den Status einer nuklearen Weltmacht zu – und helfen ihm dabei, seinen Verpflichtungen bei der Reduzierung strategischer Atomwaffen nachzukommen. Auch wenn die Russen seit Jahren erfahren müssen, daß die Verfügung über diese „letzten Mittel“ des Krieges und die Drohung des russischen Parlaments, den START II-Vertrag nicht zu ratifizieren, den westlichen Willen zur NATO-Ausdehnung nicht erschüttert, ist und bleibt die atomare Abschreckungskapazität des Erben der Sowjetunion das entscheidende Attribut der russischen Macht. Und zwar eines, das die Sieger des Kalten Krieges entschieden stört. Deswegen vor allem wird die Russische Föderation immer noch – trotz ihrer „morbiden Symptome“ und wegen dieser – als „potentielle Gefahr für die ganze Welt“[35] behandelt. Und deswegen wird sie von den USA, die auf den Ausbau ihrer technologischen Überlegenheit in allen Waffengattungen setzen, dem alten Ritual folgend mit dem Ehrentitel als „gleichberechtigte Atommacht“ belegt und zur Fortsetzung des START-Prozesses eingeladen. Der ist seinem politischen Inhalt nach längst nicht mehr der „alte“. In Zeiten des Kalten Krieges war die atomare Rüstungskontrolle Ausdruck und Verlaufsform einer weltkriegsträchtigen Feindschaft, ihr Abbruch wäre einer echten Kriegsdrohung gleichgekommen; im Unterschied zu heute, wo die Russen an eine Rückkehr zur Konfrontation gar nicht interessiert sind. Daß die Russische Föderation zu einem neuerlichen atomaren Wettrüsten mit den USA weder willens noch fähig ist, ist also die produktive Grundlage der gegenwärtigen Abrüstungsdiplomatie, weshalb die beabsichtigte „Verwendung“ der Raketenstreitmacht als politisches Mittel, sich die traditionellen Weltmacht„rechte“ bestätigen zu lassen, auch nicht funktioniert. Umgekehrt dient das amerikanische Angebot einer fortgesetzten Erpressung. Präsident Clinton fordert von den Russen einen weiteren Abbau des strategischen Arsenals, inklusive der irreversiblen Vernichtung der bislang bloß demontierten Sprengköpfe – immerhin bliebe Moskau so die Chance zur Aufrechterhaltung einer ungefähren quantitativen Parität. Das ist START III. Das Angebot ist Teil eines Deals, den Präsident Jelzin begrüßte. Es gilt nämlich einerseits nur unter der Bedingung, daß START II endlich ratifiziert und erfüllt wird, andererseits eröffnet es Rußland erst die Aussicht auf die Möglichkeit, START II zu realisieren, ohne zusätzlich ins Hintertreffen zu geraten. Denn:
„Die russischen Abrüstungsexperten hatten sich bis jetzt vor allem deshalb gegen START II gesträubt, weil Moskau zunächst Raketen mit Mehrfachsprengköpfen hätte zerstören und danach wieder solche mit Einfachsprengköpfen hätte bauen müssen, um die nukleare Parität mit den USA zu behalten. Dazu fehlte sowohl die Zeit als auch das Geld.“ (Neue Zürcher Zeitung, 26.3.97)
Weil das Geld und die Zeit aber schon für die Demontage der Sprengköpfe und die vereinbarte Zerstörung der Trägersysteme nicht reichen, hat Bill Clinton seinem „Freund“ Boris Jelzin die bislang geltenden Vollzugsfristen verlängert und das Weiterlaufen des finanziellen Unterstützungsprogramms für die Verschrottung russischer Raketen und Silos bestätigt. Fazit: Was als diplomatische Offerte zur Beibehaltung „strategischer Stabilität“ und Beweis für die fortdauernde Respektierung des russischen Anspruchs auf die Rechtsnachfolge der Weltmacht Nr.2 erscheint, ist in der Substanz die Sicherung der Fortdauer kontrollierter atomarer Abrüstung Rußlands. Es dient also haargenau demselben Ziel wie die Inbeschlagnahme Osteuropas durch die NATO, nämlich dem Angriff auf die Machtmittel der ehemaligen Weltmacht.
Politische Aufwertung Rußlands
Je klarer es ist, daß Rußland dem westlichen Willen zur Reduktion russischer Macht nichts entgegensetzen kann und will, um so mehr fällt sein diplomatischer Widerstand mit der Erkundigung zusammen, was dem Westen das Interesse an der Erhaltung des russischen Einvernehmens überhaupt noch wert ist. Als Mittel einer Gegenerpressung taugt diese Position jedoch genauso wenig wie all die anderen Drohungen, lebt auch sie doch von dem offenkundigen Widerspruch, daß Rußland selbst eine Kündigung der Kooperation für ausgesprochen schädlich hält, also gerade vermeiden will. Ausprobiert aber wird auch diese Linie, weshalb Präsident Jelzin mitten im Geschacher um die Modalitäten der Ostausdehnung der NATO mit Forderungen wie der nach Aufnahme Rußlands in den erlauchten Kreis der führenden Weltwirtschaftsmächte aufzuwarten pflegte. Er verlangt Kompensationen für die eingestandenermaßen nicht zu verhindernden Niederlagen auf dem Felde der wirklichen Kräftemessens, einen „Ausgleich“ anderswo, speziell dort, wo es in seinen Augen um die Repräsentation von Reichtum und Macht geht (G7, WTO).
Auch auf diese originelle Verknüpfung sind die Chefs der NATO bereitwillig eingegangen. So hat der deutsche Bundeskanzler nach seinem Gipfeltreffen mit Präsident Jelzin – gewissermaßen als Entschädigung für die Nichtachtung des russischen NEIN zur Osterweiterung – „die politische Aufwertung Rußlands angekündigt“.[36] Die Arroganz dieser großzügig-herablassenden Geste gegenüber den Vertretern eines Landes, das in der realen politischen und ökonomischen Staatenkonkurrenz ständig kräftig entwertet wird, bringt den Begriff der westlichen Zugeständnisse zur Anschauung, mit denen Moskau zur Versöhnung mit seiner designierten, inferioren Rolle in Europa und der Welt gebracht werden soll. Das Verfahren der diplomatischen „Aufwertung“ wird im übrigen längst praktiziert; die für Jelzin inszenierte Gipfelherrlichkeit ist ein Teil von ihm, seine wiederholte feierliche Kooptierung zur „politischen“ Abteilung der G7 ebenfalls. Die „politische Aufwertung“ Rußlands meint nichts anderes als die formale Einbeziehung seiner Repräsentanten in die internationalen Organisationen, innerhalb derer sich die wirklichen Ordnungsmächte der kapitalistischen Welt, also im wesentlichen schon wieder die NATO-Hauptmächte, ins Benehmen setzen bzw. ihren „Regeln“ Geltung verschafft wird. Man will sich demnach – vielleicht, perspektivisch – den Luxus leisten, dem russischen Präsidenten einen Katzentisch bei allen G7-Veranstaltungen aufzustellen, d.h. ihn zu einem „vollwertigen Mitglied“ der „G8“ befördern. Wodurch ein Land, das weder über Geld noch über Kredit verfügt, sondern vom IWF aus politischen Gründen nicht für bankrott erklärt wird, den Titel einer Weltwirtschaftsmacht errungen hätte. Ähnliches gilt für die Mitgliedschaft in der WTO und im Pariser Club, die Jelzin neuerdings ebenso verschärft anmahnt. Der Witz bei alledem besteht darin, der in ihrem ökonomischen und politischen Bestand bedrohten, deshalb jedoch erst recht um ihren Status als Weltmacht besorgten Russischen Föderation höchstförmlich ihre Statusbedürfnisse zu befriedigen, damit sie den Verlust ihres materiellen Status hinnimmt. Die Ehrentitel einer Großmacht werden dem neuen demokratischen und marktwirtschaftlichen Rußland verliehen, als ob sie ein Ersatz wären für die großmachteigenen Interessen und Mittel, die ihm gerade bestritten werden. Daß dem nicht so ist, werden die Repräsentanten des neuen russischen Nationalismus auf die Dauer nicht übersehen können.
[1] Die Konkurrenz der
in der NATO zusammengeschlossenen Nationen macht sich
auch in den unterschiedlichen, ja gegensätzlichen
Berechnungen geltend, welche die Europäische Union und
die USA mit der NATO-Osterweiterung verbinden. Für die
EU steht es außer Frage, daß diese mit der
antirussischen „Stabilisierung Mittel- und Osteuropas“
die Reichweite ihrer Macht erweitern wird, daß
sie der projektierten EU-Erweiterung nach Osten durch
das Engagement der Weltmacht Nr.1 Rückendeckung
verschafft und daß sich durch die Aufnahme weiterer
europäischer Mitglieder nicht zuletzt das militärische
und politische Gewicht der WEU, also des „europäischen
Pfeilers“ in der NATO erhöht. Speziell das vereinigte
Deutschland – in seiner Funktion als „Mitte Europas“ –
hat deshalb die Aufnahme seiner östlichen Nachbarn in
das Militärbündnis als Essential der für nötig
gefundenen „Reformierung“ und „Europäisierung“ der
Allianz nach dem Kalten Krieg ins Spiel gebracht. Die
Relativierung der amerikanischen Führungsrolle ist
somit gerade da anvisiert, wo man praktisch anerkennt,
daß „die Europäer“ zur Erlangung der Gewalt-Kontrolle
über den Kontinent wohl oder übel auf die militärischen
Potenzen der großen Vormacht angewiesen sind. Für die
„einzig verbliebene Weltmacht“ hingegen geht es neben
der strategischen Entmachtung ihres mächtigsten
Widerparts, Rußlands also, vor allem um die
Institutionalisierung ihrer Oberaufsicht über ganz
Europa: Es ist uns eine Lektion dieses Jahrhunderts,
daß Amerika eine europäische Macht bleiben muß. Wir
haben ein Interesse an der europäischen Sicherheit,
weil wir die Instabilität vermeiden wollen, die fünf
Millionen Amerikaner in zwei Weltkriege auf der anderen
Seite des Atlantik hineinzog.
(Außenministerin Albright, Amerika-Dienst,
15.1.97) Daraus folgt eine ziemlich
anspruchsvolle Agenda: Die USA wollen sich durch die
NATO-Expansion als unverzichtbare Schutzmacht der
Interessen ihrer europäischen Verbündeten bewähren,
dadurch das Bündnis stärken; sie wollen mittels des
Bündnisses alle nationalen Gegensätze auf dem Kontinent
unter ihre Kontrolle bringen, namentlich „die
militärische Einbindung Deutschlands aufrechterhalten
(…) und die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen
für eine konstruktive Entwicklung der Europäischen
Union bieten“ (Bindenagel, Amerika-Dienst, 2.5.96).
Amerika verfolgt im Klartext also das Interesse, die
aus dem Kalten Krieg herrührende strategische
Abhängigkeit ihrer Verbündeten in die Zukunft
fortzuschreiben, damit eine autonome Machtentfaltung
der europäischen Konkurrenten zu verhindern,
und so die Unanfechtbarkeit ihrer Führungsrolle in der
Welt zu sichern. Die gegensätzlichen nationalen
Machtambitionen der NATO-Partner treffen sich in dem
gemeinsamen Willen, der Macht Rußlands möglichst enge
Schranken zu ziehen. So daß auch der zum „richtigen“
System bekehrte Rechtsnachfolger der Sowjetunion noch
die unfreiwillige Funktion erfüllt, dem
zwischenzeitlich prekär gewordenen Bündnis der
imperialistischen Konkurrenten Substanz zu verleihen.
[2] So dürfe man auf keinen Fall vom Status quo eines paralysierten Rußland ausgehen, denn „in Zukunft könne sich Verwirrung und Schwächen durch eine nationale Konzentration der Kräfte wieder in Stärke, ja in Macht umwandeln. Die Korrelation der Kräfte könnte sich wieder zum Vorteil des großen Rußland verändern.“ (L. Rühl, a.a.O., S.223)
[3] US-Außenministerin Albright, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.3.97
[4] Zu den Kalkulationen der NATO-Mitgliedsaspiranten und ihrer Behandlung durch EU und NATO vgl. den Artikel „Das Modell Polen“ in GegenStandpunkt 1/2-96, S.79
[5] Die NATO wird bei
ihrer Osterweiterung im kommenden Jahr keine Rücksicht
auf russische Bedenken nehmen …, sagte Rühe, der Prozeß
der Öffnung der NATO sei nicht abhängig von der Haltung
Moskaus oder vom Erfolg einer Sicherheitspartnerschaft
mit Rußland.
(Süddeutsche
Zeitung, 27.9.96)
[6] Für eine wachsende Schar inneramerikanische Kritiker ist diese Gefahr der Anlaß zur Opposition gegen das ganze „Konzept“ der Osterweiterung, seinen politischen und finanziellen Preis. Diese Politiker und Strategen warnen davor, daß mit der gegen den russischen Willen durchgeführten NATO-Ausdehnung – die Moskau zu recht als gegen sich gerichtet wahrnehme – ohne Not die vorteilhafte Sicherheitslage, die Kooperations- und Abrüstungsbereitschaft Rußlands aufs Spiel gesetzt wird. Moskau werde verprellt und die Balten und Ukrainer, die ein zweites Jalta fürchteten, ebenso. Man könne die Sicherheit Europas nicht mit Kalten-Kriegs-Rezepten gewährleisten. Außerdem hätten die Amerikaner nicht unbedingt das Interesse, Bratislava mit Atomraketen zu verteidigen. Und überhaupt seien die Gegensätze innerhalb der NATO sowie ein mögliches Scheitern der Europäischen Union und die dann drohende „sicherheitspolitische Konkurrenz der Nationen“ für die Zukunft des Kontinents „viel wichtiger als die Zahl der Mitglieder, die in der Allianz sind“. (So etwa Mr. Adam Garfinkel, Herausgeber der Zeitschrift The National Interest, in The Wall Street Journal, 18.4.97)
[7] L. Rühl, a.a.O., S.309
[8] Wenn der Westen
einen dauerhaften und stabilen Sicherheitsrahmen für
Europa schaffen will, muß er das anhaltendste
strategische Problem Europas lösen und die Nationen der
ehemaligen Sowjetunion, insbesondere Rußland, in ein
stabiles europäisches Sicherheitssystem
integrieren.
(US-Diplomat
Holbrooke, Amerika-Dienst, 28.7.96) Das Drängen
auf eine berechenbare Einordnung Rußlands läßt sich für
jedermann auch so verdolmetschen, daß man den Russen
ein neues „Versailles“ ersparen müsse, damit sich die
gedemütigte Nation nicht zu einem der historisch
einschlägigen „Alleingänge“ genötigt sieht und damit
ganz Europa durcheinanderbringt.
[9] Ein politischer
Beobachter der Zeitschrift Iswestija bezichtigt seine
Landsleute grober Unkenntnis, was den
friedensfördernden Sinn der NATO angeht: In Rußland
kann man sich nach wie vor schlecht vorstellen, was die
NATO eigentlich ist. Man weiß nicht, daß der Block
außer der militärischen Struktur auch ständig tagende
politisch-diplomatische sowie auch verschiedene
wirtschaftliche und wissenschaftliche Gremien hat, daß
die NATO eine Struktur ist, die für zwischenstaatliche
Zusammenarbeit geschaffen wurde… Das Problem liegt in
der Weigerung unserer Politiker und des breiten
Publikums, die NATO mit anderen Augen zu sehen und zu
erkennen, daß die Existenz des Blocks für Rußland
nützlich ist. Vor allem beschränkt der Block die
politischen und militärischen Ambitionen seiner
Mitglieder, er dämpft das Wettrüsten auf dem
Kontinent.
(Internationale
Politik 1/97, S.53)
[10] Auf diesem merkwürdigen Weg der Selbstbehauptung der Sowjetunion hat deren Präsident dann allerdings alles, was bis dahin an diesem Staatswesen als verteidigenswert galt, weggeworfen. Die auf diese Weise maßgeblich gewordenen Zweifel an der Güte des eigenen Systems sind der andere Grund, aus dem heraus die Sowjetpolitiker die Wende betrieben haben. Nicht der Bankrott eines maroden Systems, wie die gültige Geschichtsklitterung heute lautet – das neue russische Reich zehrt seit seiner Gründung von nichts anderem als den Hinterlassenschaften seines Vorgängers; die neue marktwirtschaftliche Wirtschaftsform bewährt sich ja vorerst nur in der Zerstörung des Produktionsapparats. Gorbatschow & Co. waren vielmehr ehrlich beeindruckt von den Leistungen in Sachen Geschäft, Gewalt und Gemeinheit, die das imperialistische Lager zustandegebracht hatte, und wollten ihren Laden nach dem Muster dieser Erfolge zurechtreformieren. Was Kommunisten oder auch Realsozialisten daran einmal zu kritisieren hatten, hatte da keine Bedeutung mehr, kalkuliert wurde eben mit staatsmännischen Perspektiven. Die Gründe, Etappen und Erfolge der nationalistischen Selbstkritik der russischen Realsozialisten sind nachzulesen in: Karl Held, „Das Lebenswerk des Michail Gorbatschow. Von der Reform des ‚realen Sozialismus‘ zur Zerstörung der Sowjetunion“
[11] Die damals öfters zitierte „russisch-serbische Blutsbrüderschaft“, die in hiesigen Hetzkommentaren schon bis zum kompletten Slawen-Feindbild aufgebaut worden war, hat im Endeffekt zu nicht mehr getaugt als dazu, Rußland als mitregelnde Macht ins Spiel zu bringen – bezeichnenderweise auf dem Weg, die Serben zum Rückzug in die Rolle des Kriegsverlierers zu bewegen. Um mehr als diesen mit Blick auf Washington angestellten Beweis, wie nützlich es ist, Rußland zu beteiligen, ist es dann bei der reklamierten Betreuung des „Brudervolks“ wohl auch nicht gegangen. Im Fall des Irak hat die russische Leistung darin bestanden, das von der Sowjetunion ausgeübte Schutzverhältnis gegenüber dem Irak zugunsten des neuen Parts im Rahmen der US-Weltordnung zu kündigen. Auf den überkommenen Geschäftsbeziehungen bzw. deren Resultat, irakischen Schulden, hat man wiederum bestanden, und ein russisches Recht auf Handel zwecks Schuldenbedienung immer wieder angemeldet – aber nicht bis zum Veto im Sicherheitsrat aufgebaut. Jetzt allerdings werden auch diese unerledigten Forderungen wieder offensiv in die Debatte gebracht.
[12] Rußland wähnte
sich gegen die Ausdehnung des nordatlantischen
Bündnisses durch jene Verpflichtungen gesichert, die
von den Spitzenvertretern der NATO-Länder im Austausch
für die Einwilligung der UdSSR in die Wiedervereinigung
Deutschlands und die Mitgliedschaft des vereinten
Deutschland in der NATO eingegangen worden waren.
Leider wurden diese Verpflichtungen nicht in die
Dokumente aufgenommen.
(Konowalow, Präsident des Instituts für
strategische Analysen in Moskau, FAZ 12.12.96)
[13] Die innerrussische Kritik an den 2+4-Verhandlungen entlang der Linie: Jetzt kommt es heraus, wie schlecht damals verhandelt, wie schlecht Außenpolitik gemacht worden ist, vertreten von Falin, Kwizinskij und anderen Ex-Sowjetdiplomaten, aber auch von Vertretern der neuen russischen Politik, erlebt eine entsprechende Konjunktur. Die Kritiker übersehen aber, daß bei jedem Vertrag die Vertragsabfassung und das Einhalten zwei verschiedene Sachen sind, weil es bei dieser Materie um den Willen von Staaten geht, die sich auch von ihnen unterschriebenen Dokumenten gar nicht einfach beugen. Vielmehr wird im zwischenstaatlichen Kräftemessen über den Grad der Einhaltung wie der abweichenden Interpretation der vertraglich niedergelegten Willensverhältnisse entschieden. Darüberhinaus spart die Kritik den eigentümlichen Vertragsinhalt aus, der gerade in diesem Fall der Nichteinhaltung durch die westliche Seite aufs schönste vorgearbeitet hat: Rußland hat eben in diesem Vertrag das erste Kapitel seiner Selbstentmachtung unterschrieben und andere folgen lassen. Folglich wird das heutige Rußland auch nicht mehr als das Vertragssubjekt der 2+4-Verhandlungen behandelt: Es ist nicht mehr die Militärmacht, die halb Europa unter ihrem Kommando hat, nicht einmal mehr die Sowjetunion.
[14] Rußland wolle
diese Gegenmaßnahmen nicht treffen. Sein Land würde es
daher bedauern, wenn es durch eine NATO-Erweiterung
dazu gezwungen werde.
(Rodionow, FAZ 20.12.96) Fast
undiplomatisch ehrlich verweist der russische
Verteidigungsminister in Verhandlungen mit Kinkel auf
das ökonomische Desaster, das es ihm eigentlich
unmöglich macht, sowohl die geplante Armeereform wie
die Sicherung der Atomwaffen zufriedenstellend zu
regeln, und will damit die Härte demonstrieren, daß das
Projekt der NATO ausgerechnet in dieser mißlichen Lage
– eigentlich – eine Herausforderung zum Aufrüsten
darstellt: Rodionow sagte, er empfehle seiner
Regierung, atomar weiter abzurüsten; das sei ein
Zeichen guten Willens: ‚Was aber tut ihr? Ihr erweitert
die NATO.‘ Rodionow führte das Gespräch lebhaft, er
schilderte die Armee-Reform und deren Schwierigkeiten.
Rußland werde die Zahl der Soldaten um 200000 Mann
verringern, aber alles Geld zusammenbringen, um die
Atomwaffen-Anlagen zu schützen.
(FAZ 20.2.97)
[15] Der
„Reform“-Konkurrent um die Präsidentschaft, Jawlinskij,
hält die Osterweiterung erstens für überflüssig – wg.
Reform, zweitens für die gerechte Antwort auf Jelzins
Unfähigkeit in Sachen Reform und drittens für einen
„Fehler“, weil sie es Jelzin gestattet, vom
eigentlichen Problem der ökonomischen Reform Rußlands
abzulenken. „…würden die westlichen Staatsführer
die Reformen tatsächlich positiv einschätzen, dann
würden sie Rußland möglichst effektiv in ihre
demokratische Gemeinschaft integrieren und nicht ihre
Militärorganisation aus der Periode des Kalten Krieges
an die russischen Grenzen vorrücken lassen.
Man sollte deshalb lieber ehrlich sagen, daß die
Gründe der NATO-Osterweiterung im Tschetschenien-Krieg,
in der politischen Instabilität Rußlands, in den
anhaltenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in der
Korruption sowie der Unberechenbarkeit des Präsidenten
und der halbkriminellen Oligarchie seiner Umgebung zu
suchen sind… Für Rußland bedeutet die Osterweiterung
zwar keine Kriegsgefahr. Doch sie lenkt Rußland von den
eigentlichen Gefahren ab…“ (HB 19.3.97) Sein Mitkonkurrent Lebed
malt einmal die Möglichkeit aus, daß die NATO dereinst
mit Rußland wie mit dem Irak verfahren könnte, ein
anderes Mal, zu Besuch in Brüssel, fällt er seiner
eigenen Position in den Rücken: Er sei überzeugt,
daß sich die NATO nicht erweitern wolle, um Rußland
anzugreifen, sondern um sich vor Rußland zu schützen,
um sich von ‚all den Unannehmlichkeiten, dem Chaos, den
Dummheiten, den Kriegen‘ abzugrenzen.
(FAZ 14.1.97)
[16] Die Energie
der Nation darf nicht so sehr nach außen gerichtet
werden – auf die Konfrontation mit der sich
erweiternden NATO, auf die Lösung der Balkan-Probleme,
das Vorführen der eigenen militärischen Ausstattung und
der politischen Ambitionen –, vielmehr muß sie nach
innen gerichtet sein, in die Sicherung von
Wirtschaftswachstum.
(A.
Uljukajew, Segodnja 1.12.95) Um die
Sicherheitspolitik zuverlässig zu machen, ist es
notwendig, sich auf gleichberechtigter Grundlage der am
weitesten fortgeschrittenen demokratischen,
integrierten Atlantisch-europäischen Entwicklung im
Maßstab der Europäischen Union anzuschließen.
(Daniil Proektor, Neue Dimensionen
der Sicherheitspolitik Rußlands, in: Osteuropa 3/97, S.
274) Keine Frage danach, ob die EU Rußland
anschließen möchte und nicht eher – im Rahmen der NATO
– ausschließend unterwegs ist.
[17] Nach einem
Auftritt Rodionows in Brüssel gaben sich die
NATO-Vertreter einmal kurzfristig beunruhigt: Die
erste Veränderung liegt darin, daß die russische
Politik wieder mit einer Stimme spricht.
(FAZ 20.12.96) – was ja
normalerweise eine Geschäftsbedingung von Außenpolitik
darstellt. Die Bequemlichkeit eines Gegners, dessen
Repräsentanten mit verschiedenen Stimmen sprechen, sich
also gegeneinander ausspielen lassen, hat sich dann
wieder eingestellt.
[18] …hatte
Verteidigungsminister Rodionow von der Möglichkeit
gesprochen, daß Rußland auf eine NATO-Erweiterung damit
reagiere, daß es Atomraketen auf Ziele in solchen
osteuropäischen Ländern programmiere, die der NATO
beitreten.
(FAZ
20.12.96) …daß Rußland die Stationierungsorte
von Atomsprengköpfen in Tschechien nach dessen Beitritt
zur NATO vernichten werde.
(Der Minister für Atomwirtschaft, Segodnja
20.2.96)
[19] Die Tschechische Regierung hat den Anlaß extra dazu genutzt, ihr Volk, das einem NATO-Beitritt noch keine mehrheitliche Gegenliebe entgegenbringt, darüber aufzuklären, daß man russischen Erpressungen hilflos ausgeliefert wäre. Zusätzlich hat sie den Nationalstolz bedient, das praktische Dementi nachgereicht und unter großem Pomp einen Vertrag über norwegische Energielieferungen unterzeichnet.
[20] Die Ukraine an
erster Stelle. Der Präsident Usbekistans, Karimow
sprach sich am 26.12. gegen einen Militärblock der GUS
aus. Eine NATO-Osterweiterung sei kein Grund für eine
neue Konfrontation. Bei einem Staatsbesuch in Prag
Mitte Jänner unterstützte Karimow Tschechiens
Bemühungen um eine NATO-Mitgliedschaft. ‚Ich sehe
überhaupt nicht, daß die NATO für den postsowjetischen
Raum irgendeine Gefahr darstellt‘. Auch der Präsident
Aserbeidschans Alijew lehnte einen GUS-Militärblock im
Jänner ab.
(ÖMZ 2/97)
[21] Daß und warum es sich bei der GUS weder um eine Gemeinschaft, noch um Staaten handelt, daß die proklamierte Unabhängigkeit der Teile der Sowjetunion vielmehr zu einem einzigartigen Niedergang in allen beteiligten Provinzen geführt und sich zu einer Ansammlung von lauter Streitfällen fortentwickelt hat, behandelt der Artikel: Drei Jahre GUS. Was für eine Gemeinschaft. GegenStandpunkt 4-95, S.87
[22] Schewardnadse
hat bei seinem Staatsbesuch in der Ukraine vor einer
‚Dramatisierung‘ im Streit um die Ost-Erweiterung
gewarnt. Er sei überzeugt, daß der Widerstand Moskaus
überwunden und ‚ein Kompromiß gefunden wird, der die
Interessen Rußlands berücksichtigt‘. Den Anspruch
Moskaus auf den Kaukasus als alleinige Einflußsphäre
Rußlands wies Schewardnadse entschieden zurück. ‚Von
einem Monopol zu sprechen, entbehrt jeder
Grundlage‘.
(FAZ
15.2.97)
[23] Die OSZE hat sich
auch in den Dnjestr-Konflikt eingeschaltet, worauf sich
Solana wiederum gegen die russische Zurückweisung
seiner „Einmischung“ berufen kann: Äußerungen
Solanas in Moldova, das 94 geschlossene Abkommen über
einen Rückzug russischer Truppen aus dem Dnjestr-Gebiet
innerhalb von 3 Jahren sollte eingehalten werden,
riefen ebenfalls eine empfindliche Reaktion Moskaus
hervor. Baturin sagte, Moskau werde seine Truppen erst
dann abziehen, wenn der Konflikt beigelegt sei.
(FAZ 13.2.97)
[24]
Außenamtssprecher Tarassow… ‚Der Kaukasus gehört
nicht zum Aktionsgebiet der NATO, und die NATO kann
kaum bei der Regulierung und Beilegung von Konflikten
in den Krisengebieten dieser Region helfen‘… Solana… er
sei über diesen Vorwurf befremdet. Die Länder in der
GUS könnten ihre Beziehungen zu Rußland selbst
bestimmen. Er sei in diese Länder gereist, weil er alle
Staaten besuchen wolle, die am NATO-Programm PfP
teilnähmen.
(FAZ
14.2.97) Kritik an der Reise Solanas durch
mehrere Länder der GUS… Jastrschembskij warf der
Allianz vor, der Besuch von Solana habe einen ‚nicht
expliziten Grund hinter den Kulissen‘. ‚Der Westen im
ganzen und die Führung der NATO im besonderen sind
gegen jede Form der politischen und militärischen
Integration der neuen unabhängigen Staaten der
ehemaligen SU, besonders, wenn diese Impulse von Moskau
ausgehen‘. Er bezeichnete diese Haltung als
antirussisch und sagte, sie werde in Moskau ‚eindeutig
ohne Sympathie, mit Besorgnis‘ aufgenommen… Vertreter
der NATO bestritten die Vorwürfe gegen die Reise
Solanas nach Moldova, Georgien, Armenien und
Aserbeidschan. ‚Die NATO betrachtet das Verhältnis
zwischen diesen Ländern und der NATO und das Verhältnis
zwischen diesen Ländern und Moskau keinesfalls als
einander ausschließend‘… Solana sagte in Tiflis, in der
Wahrnehmung der NATO durch Rußland gebe es noch viele
‚Mißverständnisse und Stereotypen‘…
(FAZ 13.2.97) Die NATO läßt in ihrer
Gründlichkeit auch die ferneren Regionen nicht aus und
stiftet sogar Zentralasien ein Bataillon: Moskau
will seine Verbündeten zu mehr Geschlossenheit
aufrufen, obgleich die Aussicht darauf, mit ihrer Hilfe
irgendwelche ‚adäquaten Maßnahmen‘ zu ergreifen und als
eine Anti-NATO-Front aufzutreten, überaus gering sind.
Die unabhängigen Staaten in Zentralasien werden sich
kaum mit der NATO streiten, mit der sie seit einigen
Jahren zusammenarbeiten und Dutzende von Dokumenten
über die Entwicklung partnerschaftlicher Beziehungen
unterschrieben haben… Beispiel dieser Kooperation das
sog. Zentralasiatische Bataillon (Usbekistan,
Kasachstan, Kirgistan), das dieses Jahr die ersten
gemeinsamen Übungen mit US-Truppen plant. Die USA
tragen alle Kosten, die NATO hat die Bereitschaft
bekundet, das Zentralasiatische Bataillon finanziell zu
unterstützen.
(Iswestija
12.3.97)
[25] „Nach Auskunft
westlicher Unterhändler suchten Aserbeidschan,
Georgien, Moldova und die Ukraine (im Rahmen der
OSZE-Konferenz) mit großer Unerbittlichkeit zu
erreichen, daß in den Dokumenten ihre territoriale
Integrität bekräftigt werde. Diese Staaten sähen ihre
Souveränität und Integrität von sezessionistischen
Bewegungen
und der Anwesenheit russischer Truppen
gefährdet.“ (FAZ 2.12.97)
[26] Von der diplomatischen Aufmerksamkeit der NATO, die diese der Ukraine als Widerpart zu Rußland angedeihen läßt, hat sich die Ukraine dazu ermuntert gefühlt, am Rande eines gemeinsamen Manövers mit NATO-Verbänden im Schwarzen Meer kurzfristig russische Überflugrechte zu kündigen, auf die Rußland wegen seiner Dnjestrpolitik angewiesen ist.
[27] Bei den
russischen Lieferungen wird extra herausgestellt,
welche chinesischen Bedürfnisse sie bedienen:
Russisch-chinesische Waffengeschäfte: 2 Zerstörer,
deren Raketentechnik sich speziell gegen amerikanische
Zerstörer und Kreuzer der Aegis-Klasse richtet… Neben
den Zerstörern auch Kampfflugzeuge des Typs Su-27 sowie
andere Waffensysteme und militärische Ausrüstung…
Gegenwärtig arbeiteten nicht weniger als 3000 russ.
Wissenschaftler in China, meist an militärischen
Projekten.
(NZZ
11.1.97)
[28] Laut Angaben
von Beamten des Weißen Hauses hat Moskau kürzlich
Konstruktionsanleitungen für die Abschußrampe von
SS-4-Raketen nach Teheran geliefert… Rußland ist
mittlerweile laut Angabe von ‚Jane’s Defense Weekly‘
zum wichtigsten Waffenlieferanten Irans geworden… Dazu
gehören auch drei neue russische Unterseeboote, welche
die militärische Schlagkraft Irans im Golf beträchtlich
erhöhten.
(NZZ 13.2.97)
Amerikanische und israelische Kreise hatten
wiederholt die Auffassung vertreten, daß der Bau eines
Atomkraftwerks das Mullah-Regime in die Lage versetzen
könnte, selbst Nuklearwaffen zu bauen… Rußland baut das
iranische AKW in Buschir zu Ende… Moskau hatte sich
nach dem Urteilsspruch des Berliner Kammergerichts zum
Mykonos-Prozeß auf die Seite Irans gestellt.
(FAZ 17.4.97) Russische
Waffenhändler haben … iranischen Regierungsvertretern
den Verkauf von Flugzeugabwehr-Raketen sowie
Boden-Luft-Raketen angeboten… auch über die Lieferung
von Panzern und von Helikoptern gesprochen. Die
anvisierten Verkäufe sind politisch insofern von
Belang, als Präsident Jelzin 94 während des
Gipfeltreffens mit Präsident Clinton zugesagt hatte,
künftig auf ‚neue‘ Lieferungen konventioneller Waffen
an Iran zu verzichten.
(NZZ
18.4.97)
[29] Seit neuestem gibt es sogar die Forderung der USA, die baltischen Staaten ersatzweise schon jetzt in die EU zu integrieren, wodurch sie indirekt in den Genuß der NATO-Sicherheitsgarantie kämen; und auch in europäischen Politikerkreisen gibt es Stimmen, die Estland als „maastrichtreif“ bezeichnen! Auch Herr Kinkel „bezeichnet Estland als starken Kandidaten einer EU-Erweiterung“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.1.97).
[30] So die neueste Wortschöpfung auf diesem Gebiet durch den Ex-Verteidigungsminister Perry (USA), Süddeutsche Zeitung, 29.4.97
[31] Außenminister Primakov, Süddeutsche Zeitung, 1.4.97
[32] General Naumann, Süddeutsche Zeitung, 17.4.97
[33] Die Charta
enthält das Recht eines jeden Staates in Europa, in
freier Wahl den Antrag auf Beitritt zu einem Bündnis zu
stellen und diesem allenfalls auch beizutreten
,
d.h. wenn es dem Bündnis genehm ist. (Neue Zürcher Zeitung, 21.3.97)
[34] Süddeutsche Zeitung, 13.2.97 –
Sollten Ungarn, Tschechen und Polen aufgenommen
werden – woran niemand zweifelt –, dann verschiebt sich
das konventionelle Streitkräfteverhältnis zwischen NATO
und Rußland auf vier zu eins.
(ebd.)
[35] Ex-Verteidigungsminister William Perry (USA), Süddeutsche Zeitung, 29.4.97
[36] Süddeutsche Zeitung, 18.4.97