Das Modell Polen
Der Aufbruch einer Nation in Abhängigkeit von Weltmarkt und Imperialismus

Um europäischer Kapitalstandort zu werden, opfert Polen ökonomische Potenzen und den Status einer Industrienation. Privatisierung ist ein ruinöses Dauerprogramm. Am Weltmarkt präsentiert sich Polen als Markt und Anlagesphäre. Eigene Produzenten bestehen auf diesem Markt nicht, eigenes Kapital ist zu wenig da. Sein Kreditwesen wird zum (internationalen) Pflegefall. Nato und EU regieren längst mit, Deutschland macht besondere Erpressungen.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

Das Modell Polen
Der Aufbruch einer Nation in Abhängigkeit von Weltmarkt und Imperialismus

Polen ist vor etlichen Jahren in die „freie Marktwirtschaft“ aufgebrochen; es hat Anschluß gesucht an „den Westen“, an NATO und EU. Das ist die neue Staatsräson dieser Republik. Die Verwirklichung gestaltet sich allerdings ausgesprochen langwierig. Die Einführung marktwirtschaftlicher Verhältnisse ist zu einer „Anpassungskrise“ geraten, die immer nicht enden will. Der Anschluß an die Bündnissysteme des Westens hat sich in einen Kampf mit unabsehbarem Ende verwandelt, die Voraussetzungen zu schaffen, die die Führungsnationen dieser Bündnisse dafür als unerläßlich ansehen. Das hat seinen Grund: Das Ergebnis des polnischen Aufbruchs ist keine allmähliche Angleichung an die Standards westeuropäischer Nationen und keine fortschreitende Gleichstellung mit ihnen, sondern eine neuartige Variante von kapitalistischer Ökonomie und europäischem Einigungswesen.[1]

I. Polens ökonomische Entwicklung unter der Regie des internationalen Kapitals und seiner politischen Agenturen: Der Weg zu einem Europäischen Kapitalstandort mit beschränktem nationalem Wachstum und einigem auswärtigen Kredit

„Mit seinem entschlossenen Eintreten für den Transformationsprozeß ist Polen nicht nur wegweisend für andere Staaten, sondern stellt auch das erste Reformland dar, dessen Wirtschaft ein Wachstum verzeichnen konnte. Der Weg zur Annäherung an die OECD-Staaten dürfte für Polen somit geebnet sein.“ [2]

Dann ist ja alles in Ordnung mit Polens ökonomischem Fortschrittsweg! Un man kann an Polen studieren, wie so eine reformierte Ökonomie aussieht, wenn die Fachleute des Weltmarkts mit ihr zufrieden sind.

1. Die Umwälzung der Produktionsverhältnisse von oben und ihre Folgen für die Produktivkräfte

Es herrscht Kapitalismus in Polen. Das nicht geringe produktive Inventar des Landes ist dem Zweck privater Reichtumsvermehrung unterworfen, die auch den Staat bereichern soll. Gesorgt hat dafür kein gesellschaftliches Bedürfnis, sondern der polnische Staat, der mit den Erträgen seiner realsozialistischen Ökonomie grundsätzlich unzufrieden war und sich den Nationalreichtum der kapitalistischen Führungsnationen im Westen zum Vorbild genommen hat. Die staatliche Gewalt hat sich zum Agenten neuer Produktionsverhältnisse gemacht und die alte Staatswirtschaft unwiderruflich aufgelöst. Ihr früheres Kommando über die Wirtschaft hat sie dazu benutzt, sich dieses Kommandos zu entledigen und statt dessen die formellen Bedingungen zu installieren, die eine kapitalistische Gesellschaft auszeichnen. Die alten Garantien einer nationalen Produktion nach hoheitlichen Vorgaben, das Zuteilen, Einziehen und Umverteilen von Produktions-, Konsumtions- und Finanzmitteln, die Festlegung von Preisen und Löhnen, sind eingestellt; an ihre Stelle sind die Freiheiten des Privateigentums sowie die dazugehörigen Einrichtungen getreten: vom Bankwesen über ein Rechtswesen bis zu einem Steuersystem, mit dem die öffentliche Gewalt ihr Recht regelt, sich am Reichtum ihrer Gesellschaft zu bedienen. Auf der anderen Seite hat sie den realsozialistischen Werktätigen ihre alten gesicherten Arbeitsverhältnisse, sozialen Einrichtungen und Rechte entzogen und sie dadurch in Lohnarbeiter verwandelt, deren Gelderwerb abhängig davon ist, ob sich ein privates geschäftliches Interesse für ihre Anwendung findet. Das Gelingen der nationalen Ökonomie und die Erfüllung der hoheitlichen Ansprüche auf nationalen Reichtum ist damit an neue, vom Staat getrennte ökonomische Subjekte überantwortet. Die produzieren und verkaufen jetzt auf eigene Rechnung, um Geld zu verdienen; sie kalkulieren frei mit Kosten, Preisen und Erträgen, die ausreichen müssen, um die Produktionselemente zu erneuern, zu rationalisieren, Kredite zu bedienen, Steuern zu entrichten und noch Gewinn zu erzielen. Daran, daß sie zu lohnenden Preisen auf einem Markt kaufen und verkaufen können, auf dem ihnen Konkurrenten mit ihren Rechnungen entgegentreten, entscheidet sich jetzt auch in Polen, wie und vor allem ob überhaupt produziert wird. Denn mit der politisch verordneten Freiheit zur Geldvermehrung sind auch deren ökonomische Zwänge in der Welt. Danach sortiert sich das neue Geschäftsleben, das in Polen jetzt stattfindet, weil sich jedermann auf den staatlichen Imperativ zu marktwirtschaftlichem Gebaren eingestellt hat.

Die Staatsindustrie und das Dauerprogramm ihrer Privatisierung

Die Überantwortung des nationalen Wirtschaftslebens an die Sachzwänge der Konkurrenz, also die Ohnmacht, die der neue Gebrauch staatlicher Macht einschließt, hat Polens Reformer nicht bedenklich gemacht. Gerechnet haben sie nämlich – und sind in dieser Auffassung von westlichen Interessenten an den einschlägigen Reformen eifrig bestätigt worden – auf ihre umfangreiche staatswirtschaftliche Erbmasse. Die Durchsetzung eines neuen Produktionsverhältnisses haben sie sich wie eine – mehr oder weniger schwierige, aber jedenfalls mit guten Voraussetzungen ausgestattete – „Transformation“ vorhandener Ressourcen in neue privatwirtschaftlich funktionierende Reichtumsquellen vorgestellt. An den Wirkungen der neuen staatlichen Direktiven zeigt sich allerdings, daß die Einführung von Kapitalismus etwas anderes ist als die bloße Umwidmung einer vorhandenen Ökonomie.

Der Zustand des größeren Teils der ehemaligen staatseigenen Betriebe kündet von den Schwierigkeiten, ohne kapitalistische Ausstattung kapitalistisch zu wirtschaften. Die ehemaligen Zentren der polnischen Staatsindustrie und des kollektiven Arbeiterstolzes, die Werften in Danzig und Gdingen, das Traktorenwerk Ursus, die Kohle- und Schwerindustrie in Schlesien, die Textilkombinate in Lodz, also das, was Polen zum zehntgrößten Industriestaat der Welt gemacht hat, haben die neuen marktwirtschaftlichen Freiheiten, in die sie entlassen worden sind, mehrheitlich nicht ausgehalten: Von ihren alten Lieferbeziehungen abgeschnitten, nachdem der alte RGW-Handel auf international gültiges Geld und am Weltmarkt orientierte Preise umgestellt wurde und damit weitgehend zusammenbrach, ohne Ersatz auf dem heimischen Markt, nicht konkurrenzfähig auf westlichen Märkten, umgekehrt neuer westlicher Konkurrenz im Osten ausgesetzt, erwiesen sie sich großenteils mit Einführung der neuen Verhältnisse schlagartig als geschäftsuntauglich.

Die „Transformation“ ist deshalb erst einmal zu einem nicht geringen nationalen Abbruchunternehmen geraten. Unter dem Imperativ, Geld zu verdienen, wurde und wird deswegen in Polen über große Teile der industriellen Ressourcen und der arbeitsfähigen Massen, die unter den alten Verhältnissen ihren Dienst getan haben, das Urteil ‚überflüssig und zuviel!‘ gefällt. Seitdem gilt das alte staatliche Inventar als marode. Es zählt eben nicht der Standpunkt des Gebrauchswerts, sondern was sich ‚rechnet‘. Als Produktivkraft geht nur durch, was sich unter den neuen Produktionsverhältnissen bewährt. Betriebe werden ersatzlos geschlossen, andere sehen sich genötigt, sich „gesundzuschrumpfen“, ohne daß ein positives geschäftliches Maß für die „Gesundung“, also ein Ende abzusehen ist. Ein Gutteil der Arbeiterschaft wird ausgemustert, so daß nach einigen Jahren nationalen Aufbruchs eine riesige Reservearmee existiert, die nicht lohnender Benutzung, sondern deren Fehlen geschuldet ist und entsprechend ausfällt. Auf dem Weg zu kapitalistischem Reichtum nehmen Polens heutige Wirtschaftsplaner also in Kauf, daß das Land an sachlichen Mitteln des Produzierens ärmer wird; den kapitalistischen Maßstäben opfern sie nicht bloß diesen oder jenen Bestand, sondern faktisch den erreichten Status einer entwickelten Industrienation.

Kein Wunder, daß sich die Fanatiker marktwirtschaftlicher Reformen genötigt sehen, wegen des Verfalls der produktiven Ausstattung politisch Grenzen beim „Gesundschrumpfen“ unrentabler Betriebe zu ziehen und dafür zu sorgen, daß Teile des Inventars erhalten bleiben, auch wenn sie sich geschäftlich nicht bewähren bzw. sich kein kapitalkräftiger privater Interessent findet. Der Staat erhält Großbetriebe und ganze Sphären unter seiner Regie aufrecht, um überhaupt einen für unverzichtbar angesehenen Bestand an Nationalökonomie als potentielle Wachstumsquelle zu sichern und ihn nicht den kapitalistischen Rechnungen zum Opfer fallen zu lassen, die er selber in Kraft gesetzt hat. Er erläßt ihnen zwar nicht die Rechnungsweise, daß sie zu geltenden Preisen und Marktbedingungen lohnend sein müßten, läßt aber die ruinösen Konsequenzen nicht zu. Auf der anderen Seite haben seine Bemühungen, diese Betriebe mit hoheitlichen Mitteln rentabel zu machen, ihre Grenzen. Zwar werden vermittelt über die Banken Schuldenstreichungen organisiert, immer wieder einmal Steuerrückstände gestrichen, aber die staatliche Neukreditierung ist immer zu gering für die Bedürfnisse der verschuldeten Betriebe, und dennoch immer zu groß angesichts der Finanznot des Staates. Auf diese Weise trägt der Staat, der am liebsten auch die allgemeinen Grundbedingungen nationalen Wirtschaftens privatem Geschäftssinn übertragen will, notgedrungen die Last, kapitalistische Geschäftsvoraussetzungen und gewisse nationale Geschäftssphären sichern zu müssen, ohne daß ihm ein nationales Geschäftsleben die hoheitlichen Mittel für seine Rolle als ideeller Gesamtkapitalist einspielt.

So gibt es ihn weiterhin, den „Staatssektor“, der noch 70% der Industrieproduktion ausmacht und lauter unverzichtbare sachliche Geschäftsvoraussetzungen wie Schwer- und Hüttenindustrie, Stromerzeugung und Chemie liefert: als möglichst zu verringernde Last, die dem Staat statt Einnahmen Kosten beschert. Eine „Sanierung“ solcher Unternehmen, die nicht auf eine weitgehende Stillegung hinausläuft, bleibt daher Programm und Ideal der Zuständigen, die bei westlichen Beratungsagenturen Sanierungspläne in Auftrag geben, mit dem lapidaren Ergebnis, daß der Investitionsbedarf aufgelistet wird, für den weder von den Betrieben noch vom Staat der erforderliche Kredit aufgebracht werden kann. Am Versuch, diesen verbliebenen Bestand an Betrieben in geschäftsfähiges Privateigentum zu verwandeln, das auf eigene Rechnung wirtschaftet, machen sich die wechselnden polnischen Regierungen um so mehr zu schaffen, je klarer es wird, daß sich für das Meiste erst einmal keine privaten Anleger finden lassen. Not macht erfinderisch: Das gegenwärtig laufende Privatisierungsmodell, das dem Vorbild westlicher Investmentfonds nachempfunden ist, rechnet mit dem Mangel an zahlungskräftigen Käufern und will ihm durch die Eröffnung von Spekulationsgelegenheiten begegnen. Durch die rechtliche Umwandlung von zunächst 200, später 600 Staatsunternehmen in Aktiengesellschaften und ihre mehrheitliche Übereignung an sogenannte NiFs – neugegründete Investmentfonds, die wiederum selber Aktien ausgeben – soll, unter Einschluß von Belegschaften, Staatsbediensteten und Rentnern, neues kollektives Privateigentum geschaffen und damit zugleich das Interesse gestiftet werden, das den Handel mit diesen Titeln lohnend macht und den Kredit mobilisiert, den die Betriebe nicht haben.[3] Die restlichen Staatsbetriebe werden in Aktiengesellschaften im Staatsbesitz verwandelt und sollen darüber Interessenten finden.[4] Durch Techniken der Eigentumsänderung bemüht sich der Staat also, den Kapitalmangel zu kompensieren und seinen belastenden Beständen den Charakter eines Anlageobjekts zu verleihen. Wenn und soweit die Titel gehandelt werden, mögen sie ein Spekulationsgeschäft sein; ob die Fonds darüber attraktiv werden, daß sie als Eigentümer nicht nur eines einzelnen Betriebs, sondern eines Sammelsuriums von problematischen Betrieben firmieren, ob die Betriebe darüber Kredit erhalten und ihn nutzen können, ob also das Spekulationsgeschäft ein wirkliches befördert, ist eine andere Frage; Ausgangspunkt der ganzen Konstruktion ist schließlich, daß der Spekulation kein produktives Geschäft zugrundeliegt, dessen Akkumulation die Eigentumstitel zu Anrechtstiteln auf Gewinn, also attraktiv machen würde. Jedenfalls ist der Wille, alle nationalen Bestände privatem Geschäftssinn zu überantworten als Dauerprogramm institutionalisiert.

Der Privatsektor: Das polnische „Wirtschaftswunder“ und seine kapitalistischen Eigenheiten

Die staatliche Direktive hat auch noch auf eine andere Weise gewirkt. Es gibt sie inzwischen massenhaft, die neuen „Privatunternehmen“, die nach den polnischen und auswärtigen Statistiken das „Wachstum tragen“, und ihre Zahl wächst ständig. Allerdings repräsentieren diese Vertreter des polnischen „Wirtschaftswunders“ keine florierende Kapitalakkumulation, sondern die Eigenart von kapitalistischen Geschäften, die mit deren Fehlen fertig zu werden haben.

Eine große Masse der privaten Geschäftsgründungen beruht darauf, die Geschäftsunfähigkeit einer überkommenen ökonomischen Ausstattung als private Bereicherungsquelle zu nutzen. Das staatliche Kommando hat Vieles von den ehemaligen Staatsbetrieben in private Geschäftsmittel verwandelt. Allerdings zumeist nicht, weil sie Ertrag bringen, sondern weil sich mangels besserer Alternativen der Versuch lohnt, mit ihnen doch noch ein Geschäft zu machen. Teile des außer Funktion gesetzten Bestands an Produktionsmitteln und „Vermögenswerten“ werden von den Staatsbetrieben in ihrer Geldnot oder vom Staat selber verkauft. Dabei berücksichtigt die Privatisierungsbehörde, daß keine ausreichende private Zahlungsfähigkeit vorhanden ist, indem sie den Preis für das überlassene Betriebsvermögen mehr oder weniger niedrig ansetzt, nicht allzu genau nach der vorhandenen Zahlungsfähigkeit fragt, und die Übertragung des Eigentumsrechts nicht streng von wirklich stattfindenden Zahlungen abhängig macht. Nur so kommt diese Sorte von Eigentümern – unter dem hochtrabenden Titel „Management- oder Belegschafts-buy-outs“ auf „Liquidations-“ oder „Leasing-Basis“ – zustande. Diesen Unternehmungen fehlt dann allerdings das entscheidende Attribut kapitalistischer Eigentümer: Geld und Kredit, um ihr neues Eigentum gewinnbringend fungieren zu lassen. Wenn überhaupt etwas, bringen sie allenfalls das zustande, daß sie sich mit viel Arbeit und Schulden an dem übernommenen Gerätschaften über Wasser halten. Auf Steuerzahlungen kann der Staat dabei nicht rechnen – die hoffnungsvolle einheimische Privatwirtschaft ist weitgehend identisch mit der „Schattenwirtschaft“.

Daneben blüht das Privatgewerbe in Gestalt von Ladenbesitzern, Kleinhändlern und privaten Dienstleistern, die sich auf einem Markt mit beschränkter Zahlungsfähigkeit behaupten, freilich nur soweit nicht die überlegene Konkurrenz europäischer Handelskapitalisten und die berühmten deutschen Mittelständler sich dieses Marktes annehmen und sie reihenweise erledigen. In Ermangelung anderer Mittel versuchten die meisten, wie die größeren Betriebe auch, sich erst einmal über massive Preiserhöhungen zu bereichern, womit sie ihren Teil zur anfänglichen Inflationsrate von 500% und jetzt immer noch 30% beigetragen. Wo Preise nicht das Ergebnis rentabler Produktion sind, realisieren sie eben auch keine produzierten Gewinne, sondern bewirken allenfalls im wettlauf um ihre Erhöhung eine Umverteilung von Geld. So sammeln sich Geldmittel in privaten Händen, allerdings erst einmal vornehmlich bloß auf Kosten anderer, die darüber an Zahlungsfähigkeit verlieren, und auch nur soweit, wie sie nicht durch die hohen Preise anderer Waren wieder aufgezehrt werden: Insgesamt sind darüber nicht die Vermögen, sondern die roten Zahlen gewachsen; Betriebe bezahlen untereinander ihre Rechnungen nicht, vermehren vornehmlich ihre Bankschulden – und bleiben dem Staat Steuern und Sozialabgaben schuldig. Es ist eben ein gewisser Unterschied, ob Rentabilität als staatlicher Auftrag an Betriebe daherkommt, die ihre Existenz einer realsozialistischen Arbeitsteilung verdanken, oder ob sich Rentabilität als Ertrag eines ständigen Konkurrenzkampfs um den lohnendsten Einsatz von Arbeit einstellt, auf dessen Bewältigung das gesamte betriebliche Inventar einer Nation zugeschnitten ist und durch diesen Konkurrenzkampf laufend zugerichtet wird, in dem die erfolgreichen Kapitale die Verlierer aus dem Markt werfen.

Dieser zum polnischen Wirtschaftswunder hochgejubelte „wachsende privatwirtschaftliche Sektor“, der für die Bedürfnisse der Nation immer nicht genug wächst, ist also durch die Mühsal einer Geldakkumulation geprägt, die nicht als Vermehrung und als Konzentration und Zentralisation vorhandenen Kapitals, sondern umgekehrt aus der Zerschlagung von Produktions- und Verteilungszusammenhängen hervorgeht: Sie speist sich aus Formen des Wuchers, der am Warenangebot von auswärts seine Schranke findet; aus der geringen Zahlungsfähigkeit der Massen, die überlegene Anbieter für sich mit Beschlag belegen, aus mühsamem Sparen an der einen und Konsumieren plötzlicher „Reichtümer“ an anderer Stelle, die von sich aus nicht die Qualität einer funktionsfähigen Kapitalsumme nach den Konkurrenzmaßstäben gewinnen, die auswärtige Kapitalbesitzer längst repräsentieren. Die entscheidende Geschäftsbedingung, auf die sich die Kapitalisten in erfolgreichen Nationalökonomien stützen können – das Wachstum des einen Kapitals ist Geschäftsmittel der anderen –, ist hier nicht gegeben.

Von den Schwierigkeiten, ohne kapitalistische Ausstattung kapitalistisch zu wirtschaften, kündet erst recht der andere Teil des „Privatsektors“, die polnische Landwirtschaft, in der zwar privat, aber überwiegend nicht kapitalistisch produziert wird. Hier hat der marktwirtschaftliche Imperativ für eine brutale Scheidung gesorgt. Den LPGs ebenso wie der traditionsreichen Klasse der polnischen Privatbauern hat die Marktwirtschaft steigende Preise für ihre Produktionsmittel, andererseits keine steigende Zahlungsfähigkeit der Massen für ihre Produkte beschert; das polnische Volk, das gegen das sozialistische System wegen erhöhter Fleischpreise gestreikt hat, kann sich heute die einst gewohnten Lebensmittel nicht mehr leisten, umgekehrt sinkt die Agrarproduktion, so daß die daran hängende Produktionsmittelindustrie sowie die Agrarbanken eine Dauerkrise zu verzeichnen haben. Das Geschäft mit dieser Zahlungsfähigkeit machen Agrarkonzerne und Handelskapitalisten aus der EU, gegen die noch so anspruchslose polnische Bauern nicht bestehen können. Das ruiniert große Teile der nationalen Landwirtschaft; das fällige Bauernsterben wird allerdings dadurch gebremst, daß die Alternative, sich als Lohnarbeiter zu reproduzieren, fehlt. Auf dem Land schlagen sich massenhaft geschäftsunfähige Bauern bzw. nicht gebrauchte Arbeitskräfte durch, die, soweit sie überhaupt für den Markt produzieren, wenig zum Reichtum der Nation beitragen und großenteils überhaupt auf eine Art Subsistenzwirtschaft zurückgeworfen sind.[5] So sterben in einem Land, das Gänse und Schweinefleisch in den Westen exportiert, in dem Coca Cola und Pfanni, Tengelmann und Bayer Einzug gehalten haben, die Pferdefuhrwerke und der Hunger nicht aus.

Der Staat, der seiner Ökonomie einen kapitalistischen Charakter aufherrscht, erfährt also, daß es ihr allenthalben an Kapital fehlt. Es fehlt nicht an Produktionsmitteln, es fehlt auch nicht an Betrieben, die Verkäufliches herstellen können. Es fehlt an Kapitalvorschuß und deswegen an jeder Stelle des Warenumschlags, der in Gang gebracht werden soll, an Zahlungsfähigkeit. Mangels Kapital kommt die Akkumulation, die eine staatserhaltende Nationalökonomie stiftet und trägt, nicht zustande; was zustandekommt, fällt für die nationalen Entwicklungsbedürfnisse notorisch zu klein aus.

2. Das Entwicklungsprogramm: Kapitalisierung durch den Weltmarkt und seine Subjekte

Auf das Projekt, mit rein nationalen Mitteln eine kapitalistische Akkumulation in Gang zu setzen, sind Polens Politiker nie verfallen. Ihr Aufbruch war von Anfang an darauf berechnet, daß der Weltmarkt, insbesondere der Gemeinsame Markt Europa Polen kapitalistische Erfolge beschert: durch Exporte in diese Märkte und durch Investitionen der dort beheimateten Kapitale in Polen.Bei dieser Orientierung bleibt es auch angesichts der wenig begeisternden Erfolge der Reformen. Weil in Polen nicht genügend verdient wird, machen sich Polens Aufbruchspolitiker dafür stark, daß auswärtige Kapitalisten an Polen verdienen und die nationale Wirtschaft an nationalen Akkumulationsfortschritten anderswo partizipiert. Polen tritt in die Weltmarkt- und Standortkonkurrenz ein, nicht weil ein heimisches Geschäftsleben wegen seiner Akkumulationsfortschritte über die nationalen Grenzen hinaus auf Markterweiterung drängt und mit seinen nationalen Fortschritten die profitträchtigen Objekte und die Zahlungsfähigkeit stiftet, die daheim anlagesuchendes Kapital schafft und anlagesuchendes Kapital von auswärts attrahiert, sondern weil ihm diese Grundlagen einer Nationalökonomie im Weltmarktmaßstab abgehen.

Dem polnischen Auftreten auf dem Weltmarkt ist anzumerken, daß die Exportanstrengungen der kapitalistischen Not einer Ökonomie entspringen, die mangels nationaler Akkumulation auf den Weltmarkt als ihren einzigen Markt mit gesicherter Zahlungsfähigkeit verwiesen ist. Exportiert wird, um überhaupt am Weltmarktgeschäft teilzunehmen, mit Preisen, die das garantieren, sonst aber erst einmal nichts, weil sie nicht die Gewinne weltmarktfähiger Produktion realisieren. Der Staat, der die Deviseneinnahmen schätzt, kann und will sich aber die Exportsubventionen nicht leisten, mit denen reiche Nationen aus dieser Konkurrenzstrategie für die Unternehmen ein Geschäft werden lassen. So häufen sich auch bei den Exportbetrieben die Schulden: Die Werften verweisen stolz auf ihre Aufträge aus dem Westen, führen aber die Liste der problematischen Schuldner an. Der Kohleexport funktioniert nur, weil zu Preisen verkauft wird, die die eigenen Kosten nicht berücksichtigen, und wirft deshalb auch nicht genug ab, um die Kohlegruben zu modernisieren und zur Weltmarktfähigkeit umzurüsten. Mangels anderer Exportschlager konkurriert die ehemalige sozialistische Industrienation vornehmlich mit Rohstoffen und Billiglöhnen – „Fische, Fischerzeugnisse, Frischobst… Steinkohle, Federn… Halbfabrikate und wenig veredelte Erzeugnisse: Schnittholz, Zement, Eisenschrott; Rohkupfer und Kupferlegierungen, Stahl, Papier, Stickstoffdünger. Bei den hochveredelten Produkten: Konfektion aus Seide, Wollbekleidung und Möbel.“ (HB 15.12.94) Das Geschäft mit dem schönen Namen „Lohnveredelung“ blüht und stiftet in Polen eine arbeitsintensive Zulieferindustrie, die mit Billigarbeitern westliche Geschäftserfolge veredelt. Polnische Arbeitskraft ist darüberhinaus in großem Umfang unmittelbarer Exportartikel, Bau- und Montageleistungen durch polnische Subunternehmer etwa machten 1993 17% der Ausfuhren nach Deutschland aus. So verwandeln sich Leute, die als freie Lohnarbeiter in Polen nicht nachgefragt werden, also auch der Nation nichts einbringen, doch noch in einen „Außenhandelsartikel“, der einen entscheidenden Posten in der Außenbilanz ausmacht – zusammen mit dem „grenznahen Handel“. Die neuen marktwirtschaftlichen Gegebenheiten haben nämlich außerdem viel polnisches Volk in Bewegung gesetzt, das die Schwarzarbeitsmärkte der benachbarten EU-Staaten bevölkert und „Polenmärkte“ entlang der Grenze mit Billigwaren, in Heimarbeit hergestellten Textilien und anderem bestückt.

Außerdem führt Polen einen Kampf darum, auswärtige Anleger für Polen zu gewinnen, deren Kapital aus Polens Standortbedingungen kapitalistisches Geschäft machen soll: Sie sollen die Investitionen tätigen, die Polens Geschäftswelt nicht zustandebringt; die modernen Anlagen stiften, die Polens Betrieben abgehen; neue Geschäfte initiieren und dadurch den Zusammenbruch vieler Betriebe kompensieren, also für das Wachstum garantieren, das wirklich zählt. Erfolge dieses staatlichen Bemühens sind zu verzeichnen: Multis und andere Kapitalisten aus Deutschland, der EU und anderswo engagieren sich. Die handelskapitalistische Erschließung der begrenzten Zahlungsfähigkeit des polnischen Markts – insbesondere der polnischen Massenkaufkraft, aber auch der beschränkten Bedürfnisse polnischer Betriebe nach modernen Maschinen und billigen Produktionsmitteln – ist passiert. Der Zugriff bei der Privatisierung polnischer Betriebe findet statt, soweit sich ausländische Interessenten von Geschäftsaussichten und von dem für sie konkurrenzlos billigen Übernahmeangebot überzeugen lassen, dessen Preis sich aus der Kapitalnot polnischer Anleger und dem unbedingten Privatisierungsinteresse des Staates ergibt. Polens Standortvorteil: eine Arbeitskraft, deren Preis durch das Fehlen sozialstaatlicher Kosten sowie den Druck einer massenhaften Reservearmee niedrig gehalten wird und deren Anwendung alle Freiheiten genießt – wird benutzt, soweit sich die Kombination von Billiglöhnen mit den produktiven Anlagen im Vergleich zur Kapitalanlage an anderen Standorten eben rentiert. Autokonzerne und andere Multis investieren Millionen in neue Werke. Und im Maße solcher Fortschritte belebt sich auch das Geschäft internationaler Banken in Polen.

Das alles hat seinen Preis. Die Konkurrenz auswärtiger Warenexporteure ruiniert heimische Anbieter und Produzenten insbesondere im Agrarbereich und hat die Importe von Lebensmitteln und anderen Gütern steigen lassen und belasten die Außenhandelsbilanz. Neuinvestitionen vernichten konkurrierende staatliche Betriebe, die keinen Käufer fanden. Weil es dem Staat an Mitteln fehlt, schlagkräftige nationale Großkonzerne zu schmieden und aus der Bereitstellung allgemeiner Produktionsvoraussetzungen deren Geschäft zu machen, überantwortet er Teile der Rohstoffproduktion und andere unerläßliche Grundlagen seiner Nationalökonomie den Geschäftskalkulationen weltmarkterprobter Multis. Aus der staatlichen Förderung der allgemeinen Bedingungen der Produktion werden also keine nationalen Akkumulationsfortschritte, sondern auswärtiger Profit; die Mulits bringen außer ihrem unschlagbaren „Know how“ auch ihre unverrückbaren Profitmaßstäbe mit; mit einem nationalen Monopol ausgestattet, entscheiden sie, ob überhaupt und wie sich die Wahrnehmung der erforderlichen Dienste lohnt, diktieren dem Staat ihre Bedingungen und der Wirtschaft die Preise, unabhängig, ob nationale Betriebe sich die Kosten leisten können. Der Streit in Polen, ob die wenigen lohnenden Betriebe nicht in Staatshand bleiben sollen, welche wesentlichen Bereiche unter nationale Regie gehören – im Prinzip einig ist man sich bisher bei Rüstung, Kohle, Elektrizität, Gas, Trinkwasser, Landwirtschaft – und wie der Staat seine Mitentscheidung durch Beteiligungen sichern kann, zeugt vom hoheitlichen Bewußtsein, daß die Kapitalberechnungen, die auf Ausnutzung der vorhandenen Standortbedingungen und Geschäftsgelegenheiten zielen, nicht zusammenfallen mit den staatlichen Bedürfnissen, die auf den Standortaufbau zielen.

Das beeinträchtigt den staatlichen Wunsch nach ausländischen Investitionen in keiner Weise. Deswegen befindet er sich mit seinen Angeboten in einer schwachen Position gegenüber den Nachfragern mit ihrem bedingten Übernahmeinteresse, wenn er um die Berücksichtigung seiner Erwartungen an die ausländische Kapitalanlage – um feste Investitionszusagen, um Abmachungen über die Beschäftigtenzahlen für eine bestimmte Zeit, um die Berücksichtigung nationaler Zulieferindustrie und um die Verwendung nationaler Rohstoffe wie z.B. bei der Übernahme der Zigarettenproduktion durch Philipp Morris und Reemtsma – feilscht. Die Rechnung auf auswärtiges Kapital beschert den polnischen Machern also ein weiteres Leiden: Es findet für ihre Bedürfnisse immer zu wenig internationales Geschäft in und für Polen statt, andererseits sehen sie sich mit lauter Anforderungen konfrontiert, die ihren nationalen Entwicklungswünschen zuwiderlaufen.

Solchen Gegensätzen entnehmen die Anwälte polnischer Wirtschaftsfortschritte den Auftrag, mehr von diesem Geschäft für Polen zu mobilisieren. An der unbefriedigenden Nachfrage lernt der Staat, daß das Land mit seinem Inventar kein automatisches Angebot ist, sondern vom Staat erst noch zu einem gemacht werden muß. Deswegen sind die Privatisierungskonditionen für Ausländer inzwischen immer günstiger gestaltet worden; die Senkung der vorgeschriebenen Investitionssumme, die Liberalisierung der Beteiligungsverhältnisse, die Erlaubnis zum Erwerb von Grundbesitz und zum freien Gewinntransfer usw., das alles soll für mehr Attraktivität sorgen; viele Vorbehalte in Sachen Grundlagenindustrie und Bankwesen sind auf der Strecke geblieben. Die Aufbauinteressen des ideellen Gesamtkapitalisten ordnen sich also der Notwendigkeit unter, sich Kapitalisten als Angebot zu präsentieren, die weltweit vergleichen und über Polen als Anlagesphäre ihr kritisches Urteil fällen.

Darüberhinaus hängen Polens Erfolge davon ab, welche Konditionen die Weltmarkthüter, insbesondere der europäische Wirtschaftsblock und seine Mitgliedsstaaten Polen gewähren und abverlangen. Der Marktzugang, den das Assoziationsabkommen mit der EU Polen gewährt hat, setzt den Protektionismus der versammelten Europäer ja nicht außer Kraft, sondern gibt ihm die Verlaufsform einer dauernden gemeinschaftlichen Überwachung des grenzüberschreitenden Warenverkehrs. Der fällt manches hoffnungsvolle polnische Geschäft zum Opfer, insbesondere in Bereichen wie Stahl- und Agrarproduktion, in denen die Konkurrenz ganz nach politischen Vorgaben und mit politischen Preis- und Mengenregelungen organisiert ist; der Vorwurf des „Dumping“ stellt sich notwendigerweise schnell ein, wenn EU-Ausschüsse mit der „rechnerischen Festsetzung eines angemessenen Gewinns“ (OECD-Bericht, S. 111) gegen polnische Preise vorgehen, die nicht auf Rentabilität berechnet sind. Mit der gesetzlichen Verteuerung und Reglementierung der Anwendung ausländischer Bauarbeiter in Deutschland und Maßnahmen gegen „Marken-Piraterie“ sind schlagartig ansehnliche Posten der polnischen Devisenbilanz betroffen. Das Interesse, die Aufnahme in die Europäische Union zu erwirken, stiftet darüberhinaus hoheitliche Sachzwänge in Gestalt von EU-Forderungen nach Marktöffnung, von Protektionismusverboten, von Auflagen über die Subventionierung und die Erhaltung von Betrieben und Branchen, nach EU-gemäßen Bestimmungen in Sachen Kapitalfreiheit. Polen konkurriert mit der Erfüllung dieser Forderungen um seine Zulassung; die Regelung seiner Geschäftsbedingungen findet strikt unter EU-Vorzeichen statt, während die Teilhabe an den gemeinsamen Fonds, der freie Marktzugang und die Mitregelungskompetenz auf später vertagt sind.

Das ist die Grundlage, auf der das Land Verhandlungen mit Brüssel über Rücksichtnahmen, Sonderkonditionen, Erlaubnisse zum Schutz bestimmer Sphären, aber auch über die Rückführung seiner Produktionskapazitäten auf ein EG-genehmes Maß, über Auf-, Abbau- und Umstrukturierungshilfen führt. Die EU befindet mit über die Aufrechterhaltung der Staatsindustrie – das fällt für sie unter „Subventionen“, die genehmigungspflichtig sind –, sie fördert mit Zuschüssen die Stillegung von Bergwerken und „sozial sensiblen Betrieben“, sie konzediert und unterstützt mit Krediten im Verein mit der Weltbank die Überführung von Staatsbetrieben in potentielle Anlageobjekte, erlaubt also, die Frage ihrer geschäftlichen Tauglichkeit weiter offenzuhalten. Sie projektiert darüberhinaus ein ergänzendes Privatisierungsprogramm unter Obhut der Europäischen Entwicklungsbank, bei dem von ihr für tendenziell lohnend befundene Unternehmen in gesonderte Investmentsgesellschaften überführt werden sollen.

So wächst der polnische Export, gehen die privaten Investitionen aus dem Ausland inzwischen in die Milliarden und bekommt Polen manche EU-Fördermillionen zugesprochen. Die Feststellung, daß diese Summen gleichwohl immer nicht ausreichen, um „den Rückstand aufzuholen“, unterschlagen die Eigenart solcher Wachstumserfolge genauso wie der umgekehrte Verweis auf die im Vergleich zu westeuropäischen Ländern exorbitanten Wachstumsraten, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigten. Polens Marktwirtschaftsanwälte haben ihr Inventar den Konkurrenzkriterien und den Berechnungen lohnenden Geschäfts ausgesetzt, die auf dem Weltmarkt gelten; die Zuständigen haben das Land zum Angebot für internationales Kapital und sich zum Bittsteller bei dessen Hütern gemacht. Darüber haben sie erst einmal die ganze Ausstattung einer fertigen Industrienation ziemlich schlagartig vor die Hunde gehen lassen – die ersten Jahre registrierten die Beobachter zweistellige Minusraten und entnahmen dem, daß Polen folglich gar keine echte Industrie gehabt haben könne. Wenn der Aufbruch damit beginnt, daß die Produktion im Land großflächig zusammenbricht und sich das Land eines Großteils seiner Produktionsanlagen entledigt, also mutwillig in einen Zustand wie nach einem mittleren Krieg versetzt, dann ist es allerdings keine Schwierigkeit, von diesem negativen Ausgangspunkt aus lauter Wachstum zu bilanzieren. Alles, was irgendwie an Handel und Wandel in Gang kommt, ist so gesehen ein Stück nationaler Wachstumsfortschritt und summiert sich leicht zu großartigen Raten. Bloß hat das Land darüber seinen Status grundsätzlich geändert: Der ökonomische Neuaufbau auf den Trümmern der alten Produktionsweise und Produktionsmittel findet nach Maßgabe dessen statt, was sich mit weltmarkterprobtem Kapital messen kann – erst einmal wenig! –, was dieses Kapital selber am Standort für lohnend befindet und zum Geschäft macht – nur einiges! –, und was sich daneben und unterhalb dessen an Kapitalismus des Mangels alles entfaltet. Wenn etwas, dann drücken die allgemein als so beeindruckend empfundenen Wachstumsraten, die dann doch immer nicht reichen sollen, ziemlich begriffslos Polens neue Normalität aus: die eines materiell geschrumpften, mit wenig Kapital ausgestatteten, bedingt konkurrenzfähigen und begrenzt benutzten Kapitalstandorts im Umfeld des europäischen Wirtschaftsblocks.

3. Das Kreditwesen: ein Dauersanierungsfall für den Staat

An solchen Vorgaben entlang vollzieht der polnische Staat die Scheidung zwischen funktionierenden Wachstumsbetrieben, die er zu pflegen hat, hoffnungsvollen Entwicklungsansätzen beim Export, die Förderung verdienen, potentiellen Anlageobjekten, die erhalten, und nicht tauglichen Altlasten, die saniert werden müssen. Für diese Standortpolitik mobilisiert er Kredit. Denn für ihre Bewährung an den neuen Bedingungen kapitalistischer Konkurrenz brauchen Polens Betriebe Kredit; um sich geschäftsfähig zu machen, um sich im Export zu behaupten, um Geschäftsschwierigkeiten durchzustehen, um überhaupt ein Geschäft eröffnen zu können, um sich für Übernahmen attraktiv zu machen, um solche Übernahmen bezahlen zu können. Aber Polens Betriebe verdienen keinen; sie verdienen nicht, nicht genug oder nicht sicher genug, um kreditwürdig zu sein und um massenhaft die Überschüsse zu produzieren, die sich als Guthaben bei Banken einstellen und zum Anlegen zur Verfügung stehen. Wie sollten sie auch; schließlich sollen die Geschäfte ja erst auf die Wege gebracht werden. Der polnische Staat hat sich daher auch nicht darauf verlassen, daß sich die Vermögen schon einstellen werden, die als Geschäftsmittel der Banken das Spekulieren mit diversen Anlagen ermöglichen und so die Basis eines Bankgeschäfts bilden, das auf die Erwartung zukünftiger Zahlungsfähigkeit hin Geld verleiht, die Schulden als seine Guthaben verbucht und in neuen Kredit verwandelt, also das Versprechen künftiger Einnahmen in Zahlungsfähigkeit von heute verwandelt. Das war Polens Reformern klar, das haben sie ihren westlichen Vorbildern unschwer entnommen, bei denen sich der Reichtum der Nationen ja schließlich vor allem anderen in der verfügbaren und ständig sich vervielfältigenden Menge an Kredit mißt: An einem Bankwesen, das über möglichst viel von solchen Mitteln verfügt, darf es nicht fehlen, sollen die kapitalistischen Unternehmungen in Gang kommen. Der Kredit soll auch in Polen wie anderswo Hebel kapitalistischen Wachstums sein, und weil es das noch gar nicht richtig gibt, muß er unabhängig sein vom schon erreichten Stand an lohnenden Unternehmungen und Erträgen.

Die kapitalistische Weisheit, daß Kredit da sein muß, damit er gegeben werden kann, um die Geschäfte zu stiften, die ihn dann bedienen, haben Polens Reformer gründlich beherzigt; sie haben sich der Sache angenommen, ein solches Kreditwesen geschaffen und von Staats wegen mit Geschäftsmitteln ausgestattet, auf daß es die Kreditbedürfnisse der Gesellschaft bedient. Das geht zu machen, und das geht sogar viel leichter zu machen, als den Betrieben erfolgreich kapitalistisches Rechnen zu verordnen. Als Herr über die Eigentumsordnung hat der polnische Staat erst einmal lauter Geldverhältnisse dekretiert, die schlagartig die Anspruchstitel stiften, die sich als Plus und Minus auf Bankkonten, also als Basis für die Vergabe von Krediten niederschlagen; und als Herr über das nationale Geld hat er gleich auch noch die hoheitlichen Titel erschaffen, die den Banken sogenannte Sicherheiten verschaffen und sie damit von den Schranken des wohlverdienten Geldvermögens der Gesellschaft freimachen. Dank staatlicher Verfügung sind neue Geschäftsbanken gegründet und mit Kredit ausgestattet worden, indem zunächst frühere Zahlungsverpflichtungen der Betriebe gegenüber dem Staat in private Schulden und Bankguthaben verwandelt worden sind. Darüberhinaus regelt auch der polnische Staat sein Schuldenwesen in der Weise, daß er seine Defizite zum Geschäftsmittel der Banken macht und diese so mit zusätzlichen staatlich verbürgten Titeln ausstattet, die Verzinsung garantieren, also die Kreditmasse vermehren.

Seitdem entscheiden die Geschäftsvermögen und -berechnungen der Banken über die geschäftliche Ausstattung der Unternehmen, wer Kredit bekommt, wo er versagt wird. Seitdem sorgen sie dafür, daß die staatlichen Aufgaben geschäftsmäßig mit Finanztiteln und Schuldenposten auf ihren Konten abgewickelt werden. Seitdem wachsen die Bankkonten, laufen die Bankgeschäfte. Seitdem blüht die Spekulation, und der Staat fördert sie, indem er Betriebe in entsprechende Objekte verwandelt. Durch die im Privatisierungsprogramm der Regierung vorgesehenen Investmentgesellschaften werden Banken zu Verwaltern und Besitzern von Aktienpaketen; aus unverkäuflichen Betrieben werden so Aktivposten von Kreditinstituten, auch wenn umgekehrt ihre Ausstattung mit verläßlichem Kredit weiterhin zu wünschen übrig läßt; über diese Fonds ziehen die Banken Geld – soweit vorhanden – an sich und sich wechselseitig aus der Tasche und vervielfältigen ihr Bankvermögen. Und an der Börse stehen inzwischen alle möglichen Angebote zur Verfügung, auf deren Steigen und Fallen die Anleger setzen dürfen. Für das Kreditgewerbe ist also reichlich gesorgt – und damit für lauter verselbständigte Geldansprüche, die lohnende Anlage suchen, die bedient sein wollen und nicht nach dem Dienst fragen, den sie damit an Entwicklung und Wachstum produktiver Geschäfte leisten; die unabhängig von deren Ingangkommen und weiteren Gang wachsen und auf künftige Geschäfte spekulieren.

Die Aufgabe, sich zu vermehren, erfüllt der Kredit also auch in Polen quasi automatisch; die andere Aufgabe, darüber auch die Produktion von Reichtum auf ständig wachsender Stufenleiter in Gang zu bringen, erfüllt er allerdings nicht in gleichem Maße. Die nützlichen kapitalistischen Dienste des Bankgewerbes und damit die Bankgeschäfte selber lassen zu wünschen übrig. Denn Industrie und Handel, die Kredit brauchen, können gleichzeitig die aufgehäuften Ansprüche der Banken nicht bedienen. Alte Betriebe und neue Gründerexistenzen stellen kaum und viel zu wenige lohnende Anlageobjekte vor, können ihre mit dem Kreditwesen schlagartig in die Welt gekommenen Schulden nicht bedienen und sich neue nicht leisten. Sie fragen also zu wenig Kredit nach und lassen umgekehrt die Kreditwürdigkeit vermissen, die die Banken animiert. So gibt es in einer Ökonomie, die am Mangel an Kapital leidet, schlagartig zuviel Kredit, um lohnend verwandt zu werden, zu wenig Nachfrager, die ihn aus den mit ihm in Gang gebrachten Geschäftserfolgen bedienen können.

Das Kreditgeschäft unterbleibt deswegen natürlich nicht, sondern treibt seine eigenen Blüten. Betriebe bekommen trotzdem Kredit; die Banken vergeben zweifelhafte Kredite, streichen sie aber beim Scheitern der Geschäfte wegen ihrer Höhe und mangels besserer Kunden nicht als uneinbringlich und lassen die Kunden darüber bankrott gehen, sondern verlängern und stocken sie auf, soweit der Staat sie gewähren läßt. Viele Banken erfüllen die Rückstellungsauflagen des Staates nicht, setzen sich also beim munteren Vermehren ihrer Kreditmassen über die staatlichen Vorschriften hinweg. Kaum im Geschäft verfügen die Banken also über viele, aber wenig „gute“ Kreditzettel. Kaum ist auf diese Weise das Kernstück eines florierenden „emerging market“ in die Welt gekommen, Finanzinstitute, die ständig sich mehrenden Reichtum bilanzieren – in Form von lauter Guthaben, die Anrechtstitel auf ihre Vermehrung darstellen –, herrscht eine Dauerkrise im Bankgewerbe.

Der nationale Herr über alle Finanzen, der sich am liebsten auf die Bankaufsicht und die Plazierung seiner Schulden beschränkt, ist daher laufend damit konfrontiert, daß die Rettung und Konsolidierung nicht dieser oder jener Bank ansteht, sondern die Erhaltung des gesamten Kreditwesens und seiner Funktionen auf der Tagesordnung steht. Der Kampf gegen schlechte Kredite zeitigte allerdings unerwartete Folgen: Das zwischenzeitliche staatliche Gebot, höhere Rücklagen zu bilden, uneinbringliche Forderungen abzuwickeln und neue Kredite an zahlungsunfähige Schuldner zu verweigern, führte zu einem rapiden Rückgang der Kreditvergaben, zu sinkender Kreditnachfrage, zu steigenden Zahlungsschwierigkeiten – und zur schlagartigen Aufstockung der Bestände an kurzfristigen Staatspapieren. Daraufhin beschritten die politischen Kreditbetreuer den umgekehrten Weg. Sie verzichteten auf einen generellen Schuldenerlaß oder die Zentralisierung der uneinbringlichen Forderungen beim Staat, gestatteten die „Problemkredite“ als Bankguthaben weiterzuführen, und statteten die Banken mit neuen Staatstiteln aus, spendierten ihnen also eine „solide“ Kreditgrundlage durch zusätzlichen hoheitlichen Kredit. Verschuldeten Unternehmen wurden ebenfalls staatliche Kredithilfen angeboten, wenn sie „Umstrukturierungen und Modernisierungen“ durchzuführen versprachen. Das alles mit der geäußerten Erwartung, so „in möglichst vielen Fällen einen Vergleich in der Schuldenfrage“ zu erreichen.

Die Aufrechterhaltung des Kreditwesens läuft also darauf hinaus, Schulden durch ihre Vermehrung in Staatsregie für gut zu erklären und so den Schwindel nicht auffliegen zu lassen. Der Staat steht mit seiner Finanzhoheit dafür ein, daß Unternehmen nicht laufend an ihren Schulden und ihrer Kreditnot scheitern, daß umgekehrt die Banken nicht der Nichtbedienbarkeit ihrer akkumulierten Zinsansprüche zum Opfer fallen. Er erlaubt die Bereicherung der Banken unabhängig von ihren Diensten für die Erweiterung der produktiven Basis, verhindert aber deshalb umgekehrt auch immer wieder den Zusammenbruch von Teilen der produktiven Basis, die den Ansprüchen der Banken nicht gewachsen sind. So gibt es immer mehr Kredit, aber wenig wirklich verdientes Geld; um den Preis, daß eine wachsende Masse von Kredit nur auf Staatsbeschluß gegründet ist und vom Staat bedient wird, während sich ansonsten die „Problemkredite“ vermehren. Durch die Staatspapiere wird deren Masse enorm vermehrt, sonst aber erst einmal nichts; die hoheitlich garantierten Zinsgewinne stellen für Banken und andere Anlegern nämlich die vergleichsweise einzig „solide“ Anlage dar.

Staatliche Papiere ergänzen also nicht andere lohnende Anlagen, sie kompensieren deren Fehlen. So stiftet und erhält der Staat ein reges Wachstum von lauter Geldansprüchen, deren Lasten er selber trägt. Das beschert dem Staat einen Haushalt, der in absolut und relativ steigende Maße Schulden bedient – mit neuen Schulden.[6] In notorisch hohen Inflationsraten schlägt sich nieder, daß da ein Staat seine finanziellen Haushaltsbedürfnisse unabhängig vom aktuellen Wirtschaftswachstum im Vorgriff auf künftiges regelt und darüber die Gesellschaft immerzu mit zusätzlichen Kreditmitteln und Zahlungsfähigkeit ausstattet.

4. Der Kampf des Staates um seinen Nationalkredit

Das alles ist nun allerdings überhaupt keine polnische Besonderheit. Das kennt man auch aus den Metropolen des Kapitalismus, daß die Herren über den Nationalkredit seine Vermehrung unabhängig vom Gang der Geschäfte, die mit diesem Nationalkredit getätigt werden, organisieren und mit hoheitlichen Schulden und Garantien dafür einstehen, daß der Kredit ein geschäftliches Angebot ist. So sind weltweit Milliarden in der Welt, die bloß auf dem Versprechen von Staaten beruhen, den Kredit mit ihrer ganzen nationalen Ökonomie und ihrer Macht abzusichern, und die darüber ihren Dienst als Bereicherungsmittel an den internationalen Geldmärkten tun.

Das macht jetzt also auch der polnische Staat, indem er dafür sorgt, daß sich Geldanlagen in polnischen Titeln lohnen – und zwar nicht bloß nach innen, wo er mit seiner Hoheit den Zwang stiften kann, sich seiner Zettel zu bedienen, sondern auch nach außen, wo das Geldkapital beheimatet ist, auf das es Polen abgesehen hat. Er setzt damit seinen Staatskredit allerdings auch dem Vergleich der kritischen Instanz aus, die über die Geschäftsfähigkeit der nationalen Gelder und damit letztlich über die ökonomischen und politischen Garantien der Gewalt, die hinter ihnen steht, ihr eigenes Urteil fällt: die internationalen „Geldmärkte“. Die weltweiten Anleger von Geldkapital entscheiden mit ihrem Urteil, wieweit Masse und Gewicht einer Nationalökonomie ständig für lohnende Geschäftsangebote und damit für eine Nachfrage nach dem Geld sorgen, das diese Geschäfte repräsentiert; ob bzw. wie sich ein Staat seine ständig steigenden Schulden, also seine hoheitliche Spekulation auf künftiges Wachstum und deren Ersatz durch staatliche Zahlungsversprechen leisten kann; wieweit seine Fähigkeit, für die Geschäftstauglichkeit einzustehen, reicht. So, aber auch nur soweit genießen dann also die nationalen Gelder die Wertschätzung, den internationalen Kredit, auf den es ankommt, wenn man sich im Weltmarkt bewähren, Kapital verdienen und als Staat über gültigen Reichtum verfügen will.

Das Urteil dieser Instanz verschafft jetzt auch Polens Geld seine Anerkennung, indem sie es als ihr Spekulationsobjekt begutachtet. Polens Nationalkredit wird nachgefragt. Allerdings nur zu für den Stifter dieses Angebots ständig sich verschlechternden Bedingungen. Seine Geschäftsangebote werden verglichen und wahrgenommen, aber nur so, daß ständig der Kurswert seines Nationalkredits im Verhältnis zu anderen sinkt. Im Vergleich der Geldanleger gilt Polen mit seinen Staatsschulden- und Inflationsraten als ziemlich unsolide. Weil die Złoty-Mengen zu wenig lohnende Anlagemöglichkeiten repräsentieren, werden sie auch nicht entsprechend nachgefragt; gemessen an den Verschuldungsnotwendigkeiten des Staates kauft sich immer zu wenig auswärtiges Kapital in Polen ein und rechnet in Złoty ab. Das nimmt sich freilich in der Welt der internationalen Währungs- und Anlagevergleicher umgekehrt aus: weil nicht wertbeständig, ist auf dieses Geld wenig Verlaß. Mit diesem Standpunkt exekutieren die „Geldhändler“ die nur bedingte Wertschätzung dieses Geldes als Mittel der Wertaufbewahrung, als Kreditmittel, als Spekulationsobjekt. Ihre Nachfrage, die Polens Nationalkredit Attraktivität verleiht und dem Staat die Freiheit erhält, seine Schulden zu vermehren, hält sich daher in Grenzen; die staatliche Notwendigkeit, sich zu verschulden, aber hat ihre eigenen Notwendigkeiten. So verliert Polens Geld laufend an internationalem Wert. An der geringen Wertschätzung der für den Währungsvergleich zuständigen Finanzmafia erfährt Polens Kreditstifter also, daß sein Nationalkredit ein reichlich bedingtes Geschäftsmittel ist, daß die Qualität polnischen Wachstums zu wünschen übrig läßt und daß Polens Macht, Geschäft durch staatliche Garantie zu ersetzen, begrenzt ist. So ist das nationale Geld immer zu wenig attraktiv, und im Gefolge davon findet sich dann der auswärtige Kredit nur bedingt und insgesamt viel zu wenig in Polens Kassen ein. Und auch das nur, wenn der Staat sich darum kümmert.

Um sich des dringend benötigten auswärtigen Kredits zu versichern, muß er gesonderte Anstrengungen unternehmen. Die laufen allesamt darauf hinaus, sich in den Besitz von auswärtigem Geld zu bringen, um einen staatlichen Devisenschatz vorweisen zu können. Angesichts der mangelnden Geschäftstauglichkeit seines Nationalkredits braucht es nämlich die materielle Garantie, daß der Staat Złoty-Guthaben in gutes Geld, d.h. in weltgeldfähige Devisen umzutauschen fähig ist, damit internationale Anleger seine Schulden weiterhin akzeptieren; seine internationale Kreditwürdigkeit hängt am Vorhandensein eines solche Staatsschatzes, der die Zahlungsfähigkeit des Staates nach außen verbürgt. Das verschärft die Devisennot, um deren Bewältigung sich der Staat mit seinen wirtschafts- und finanzpolitischen Mitteln bemüht. Die Zentralisation guten Geldes beim Staat – erstens, daß die Devisen überhaupt verdient werden, und zweitens, daß sie sich in Gestalt eines vorweisbaren Schatzes bei seiner Zentralbank sammeln – ist nämlich keine automatische Leistung des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs, der sich in den staatlichen Bilanzen niederschlägt. Polens Wirtschaftspolitik kämpft erstens um eine positive Handelsbilanz. Der Export bekommt als Devisenbringer eine ganz neue Dringlichkeit; er ist von Staats wegen keine Frage der Geschäftsfortschritte, die sich von alleine einstellen und befördern lassen, sondern eine elementare Notwendigkeit, um sich internationale Zahlungsfähigkeit zu erschließen. Verkauft wird mit staatlicher Billigung, was Devisen bringt, auch wenn es den Betrieben Verluste beschert. Im staatlichen Interesse soll die Verwandlung einer nur bedingt konkurrenzfähigen Ökonomie in einen Devisenbringer gelingen, und das auch noch unter den Bedingungen einer Anbindung an den EU-Markt mit ihren Folgen. Die Öffnung des eigenen Markts für EU-Kapitalisten hat die Importe unverhältnismäßig steigen lassen. Korrekturen sind Gegenstand der Gewährung, also von Verhandlungen um bessere Exportquoten und gewisse Importbeschränkungen in Brüssel, wo Polen mit Klagen über sein Handelsdefizit vorstellig wird. So registriert die Handelsbilanz statt Überschüssen ein wachsendes Defizit.

Daß die Devisen, die – immer viel zu spärlich – ins Land kommen, auf den Konten der Nationalbank landen und dort dauerhafte Guthaben bilden, muß zweitens staatlich auch erst noch gewährleistet sein – unter den Bedingungen eines im Prinzip freien Geldverkehrs: Exportbetriebe verlangen unbeschränkten Umgang mit ihrem auswärts verdienten Geld; Handelskapitalisten und auswärtige Anleger bestehen auf freiem Gewinntransfer; Geldanleger pochen darauf, jederzeit die Nationaluniform des Geldes wechseln zu können. Also kümmern sich die polnischen Währungshüter darum, daß Devisen trotzdem beim Staat landen, ohne daß sie die Freiheiten des Geldgeschäfts unterbinden. Das geringste Problem haben sie dabei mit jener Mehrzahl polnischer Devisenbesitzer, die arm genug sind, ihre auswärts oder sonstwie verdienten DM, Schillinge und Dollar in Złoty für Lebensmittel umtauschen zu müssen. Was die Besitzer bedeutenderer Devisenschätze angeht, so greifen Polens Finanzpolitiker auf die Standardmittel zurück, die Staaten sich in solchen Notlagen immer einfallen lassen. Sie sind verpflichtet, ihre Devisen auf Konten bei polnischen Banken einzuzahlen, die sie zu einem festgelegten Prozentsatz an die Nationalbank verkaufen müssen; freie Wechselstuben dürfen keine Devisen von Banken erwerben. Devisen müssen also – letztlich an den Staat – verkauft werden. Zu einem Verlustgeschäft soll diese Nötigung allerdings nicht werden; schließlich will der Staat sich der Geschäftswelt, die Devisen ins Land bringt, bedienen, will ihr also dienen und sie nicht enteignen. Deswegen bietet er denen einen Wechselkurs, der sich an den Bewertungen im freien Geldvergleich orientiert. Das negative Urteil der Geldanleger über den Złoty hat er anfangs mit einer radikalen Entwertung, die den offiziellen Złoty-Kurs auf das Schwarzmarktniveau herabgedrückt hat, nachvollzogen; und er nimmt es seitdem laufend vorweg, Dabei nimmt das negative Urteil der Geldanleger vorweg, indem er in den Umtauschkurs eine Verschlechterung in monatlichen Abwertungsraten zwischen 1,6% und 1,2% fest miteinrechnet. Den Schwarzmarkt hat er darüber ausgetrocknet.

Erst recht gegenüber den kapitalistisch ausgewiesenen, auswärtigen Devisenbesitzern beherzigt der Staat die Einsicht, daß sie nur durch wirklich freien Umgang mit den nationalen Geldern zu mobilisieren sind, auf die es der polnische Staat abgesehen hat. Durch Aufhebung anfänglicher Devisenkontrollen, durch freien Gewinntransfer und eben durch die „Verstetigung“ der Abwertung in kleinen monatlichen Schritten versucht er, das Vertrauen auswärtiger Geldanleger zu gewinnen und kann Erfolge verzeichnen. Kurzfristige Staatspapiere sind inzwischen auswärts gefragt; am Kapitalbedarf des Staates läßt sich verdienen, weil er mit Rückzahlungsgarantien zu überschaubarem Kurs und mit hohen Zinsen die Kosten dafür trägt, seine Anleihen zu einem sicheren Geschäft zu machen. Insofern hat er dann auch seinem Kreditgeld internationalen Kredit verschafft. Die spekulativen Kapitalzuflüsse haben Polen zwischenzeitlich zu einer Höherbewertung seiner Kreditwürdigkeit verholfen. Unter Einsatz seines Kredits macht sich der Staat zum Spekulationsobjekt internationaler Geldkapitalisten, die bei ihrer Suche nach Anlage auch für eher zweifelhafte Schuldnerstaaten und die bescheidene polnische Börse „Risikokapital“ übrig haben. Das läßt die Devisenreserven, aber auch die Staatsschulden steigen und beschert dem Złoty einen garantierten jährlichen Wertverlust in zweistelliger Höhe. Für den Zugang zu internationalem Kredit nimmt die Nation die laufende Entwertung ihres Nationalkredits in Kauf.

5. Die auswärtigen Grundlagen der Ökonomie: Die Aufrechterhaltung der Kreditwürdigkeit Polens als internationales Projekt

Daß dieses Wirtschaften mit dem Złoty seinen Fortgang nimmt, liegt nicht am unerschütterlichen Willen des polnischen Staats, es ewig fortzuführen. Die Sicherheiten, die solcher Spekulation zugrunde liegen, stiftet der polnische Staat nicht selber. Alle Anstrengungen, taugliches Geld zu verdienen und das eigene attraktiv zu machen, dokumentieren ja das Mißverhältnis zwischen den Finanzquellen, über die der polnische Staat wirklich verfügt, und den Kreditmengen, die er sich leistet. Wenn er seinen Staatskredit strapaziert, um bei der internationalen Finanzwelt Kredit zu genießen, dann gelingt das Kunststück eben nur mit rapide steigenden Staatsschulden und dem ständigen Sinken des Kurswerts seines nationalen Geldes. Daß der Staat darüber kreditwürdig bleibt – dafür sorgen andere Instanzen. Das internationale Vertrauen in eine Finanzhoheit, die in keiner Weise durch Masse und Rate nationalen Wachstums beglaubigt wird, beruht auf dem Kredit, den andere Staaten Polen gewähren. Beschlußfassungen finanzkräftiger Staaten der Art, daß nach Abschluß eines neuen Schuldenabkommens, auf der Grundlage geregelter Zahlungsverhältnisse „der Weg für eine Rückkehr Polens an die internationalen Kapitalmärkte geebnet“ ist (OECD-Bericht, S. 34), verschaffen dem Land Kreditwürdigkeit, die die polnische Nationalbank mit der Auflage einer DM-Anleihe testen und von den „Märkten“ bestätigen lassen kann.

Das heißt andererseits, daß Polens Wirtschafts- und Finanzpolitik einen ständigen Kampf um diese Garantien führt. Der Gebrauch der staatlichen Geldhoheit ist ganz an der Sorge ausgerichtet, sich bei ständig wachsender Verschuldung Zugang zum internationalen Kredit zu eröffnen und zu erhalten, den die Nation mit ihrer Ökonomie nicht verdient. Die Kredit- und Haushaltsfreiheiten, die Polens Regierungen sich nehmen, und die Schranken, die sie sich auferlegen, richten sich an der Leitlinie aus, Beweise internationaler Kreditwürdigkeit zu erbringen, für die allein die internationalen Gläubiger und ihre Institutionen einstehen, also das Vertrauen dieser Gläubiger zu erhalten. Das hat Polen die internationale Verschuldung ermöglicht, an deren internationalem „Management“ sich die für Polens Vorankommen Zuständigen zu bewähren haben. Das, nicht die Höhe der Schulden, macht Polen zum „Schuldnerland“.

Polens Zuständige führen die Auseinandersetzung um ein internationales Schuldenregiment wie jedes Schuldnerland sowohl mit laufenden Beweisen des Willens, die Gläubigeransprüche zu bedienen, wie mit gelegentlichen Demonstrationen der Unfähigkeit, ihnen nachzukommen. Beides hat seinen ökonomischen und politischen Preis. Die Bedienung der Schulden zehrt die Wachstumserfolge, die sich auch beim Staat einstellen, auf. Darüberhinaus verpflichten sie die polnische Hoheit auf den Vollzug von Geboten, Verboten und Erlaubnissen, die die Gläubigerstaaten und ihre Institutionen beschließen. Nachdem Polen vor einigen Jahren den Antrag auf Schuldenstreichung damit untermauert hat, daß es die Bedienung seiner Auslandsschulden einstellte, ist ihm eine Umschuldung gewährt worden, die wegen Nachzahlungen und einer Neubewertung der verbliebenen Schulden den Haushaltsposten Zinszahlungen schlagartig hat ansteigen lassen; außerdem ist Polen in diesem Zuge hochoffiziell in den Status eines IWF-Betreuungsfalls eingesetzt worden, der sich sein Haushaltsgebaren und seine wirtschaftspolitischen Entscheidungen von dieser Institution nach festen Regeln vorschreiben und genehmigen lassen muß.

Seitdem hängt der Beweis der Solidität, den Polens wachsende Schuldenbilanz nicht leistet, ganz an der Erfüllung haushalts- und wirtschaftspolitischer Vorgaben des IWF. Der wacht darüber, daß die Verschuldungsverhältnisse ordentlich als Mißverhältnis von Staatseinnahmen und -ausgaben aufgelistet und in Gestalt von Haushaltskonsolidierungsprogrammen angegangen werden – gemäß dem Lehrsatz der IWF-Berater, daß eine notorische Abwertungswährung auf den Staat als Verursacher unsolider Finanzen schließen läßt. Mit der Fiktion, sich um Haushaltsdsziplin zu kümmern und die staatlichen Ausgaben und Einnahmen in ein „vernünftiges“ Verhältnis zu setzen, wird Polen eine Geldpflege abverlangt, bei der die Beschränkung der Staatsverschuldung an erster Stelle steht – Beschränkung nicht der Schuldenbedienungspflichten, sondern der Ausgaben, die der Staat darüberhinaus für notwendig hält. Polens Haushalt wird in Absprache mit dem IWF wie ein Finanzpaket geplant, bei dem im Prinzip die Ausgaben sich an den Einnahmen ausrichten und die Differenz in jährlich mit dem IWF vereinbarten Prozentsätzen gesenkt werden sollen. Sämtliche Regierungen, die sich dem Aufbruch in ein kapitalistisches Wachstum verschrieben haben, das die Nation reich macht, arbeiten sich so gemeinsam mit äußeren Aufsehern an der Abfassung von „Sparhaushalten“ ab, die dem fehlenden Reichtum in Staatshand Rechnung tragen sollen.

Steigende Einnahmen durch alle möglichen Steuern erweisen sich notwendig als ziemlich frommer Wunsch – die Betriebe können die gesetzlichen Abgaben vielfach gar nicht entrichten, so daß entweder wie bei den Staatsbetrieben gestundet oder wie bei der Privatwirtschaft stillschweigend und notgedrungen auf ihre Eintreibung verzichtet wird. Daher betrifft der Imperativ ordentlicher Haushaltspolitik im wesentlichen die Staatsausgaben. Wie sie deren Verringerung im ausgemachten Maßstab zustandebringen, das bleibt der nationalen Gestaltungsfreiheit überlassen und rührt in der Nation manchen Streit auf. Polens Politiker ordnen also die Gesichtspunkte nationaler Standortentwicklung einer „Stabilitätspolitik“ gemäß den Diktaten einer staatlichen Finanznot, über deren Ausmaß und Folgen nicht sie allein und nicht sie vornehmlich zu entscheiden haben. Das betrifft standortfördernde staatliche Investitionsvorhaben und Ausbauprogramme, die als haushaltsbelastende „Subventionen“ eingestuft und reduziert werden. Das betrifft Bildung und Kultur, Verkehrs- und Gesundheitswesen, Gefängnisse und Polizei, an denen, d.h. vor allem an deren Bediensteten, rücksichtslos gegen ihre Funktion gespart wird.

Das betrifft schließlich auch die Arbeitermassen: Unter tatkräftiger internationaler Anleitung machen sich Polens Reformpolitiker an dem Kunststück zu schaffen, an einer Arbeiterklasse verdienen zu wollen, die massenhaft brachliegt, und an sozialstaatlichen Verhältnissen sparen zu wollen, die es gar nicht gibt. Es fehlt im nationalen Maßstab an lohnender Anwendung von Arbeit, also auch an einem nationalen Lohnfonds, aus dem sich ein sozialstaatliches Einnahmen- und Ausgabenwesen für den staatsgenehmen Erhalt einer brauchbaren Arbeiterklasse organisieren ließe. Was nicht heißt, daß sich nicht auch da noch manches machen ließe. Der Staat, der ein Drittel Sozialabgaben vom Lohn verlangt und eine Lohnzuwachssteuer erläßt, um Lohnsteigerungen garantiert unter der Inflationsrate zu halten, beides aber bei den Betrieben nicht organisiert eintreiben kann, setzt umgekehrt immer wieder einmal die Auszahlung von Löhnen und Gehältern aus, spart sich die gesetzlich festgelegte Bezuschussung der Sozialkassen und läßt sich von der OECD vorrechnen, daß sich das „Schwergewicht der Staatsausgaben von Subventionen und Investitionen, die 1990/91 noch die wichtigsten Ausgabeposten bildeten, mehr zu Schuldendienstzahlungen und Sozialleistungen hin verlagert“ hätten. (OECD-Bericht, S. 43) Der eine der beiden Hauptposten, die Kosten für die Einrichtung und Bedienung eines kapitalistischen Geldwesens, geht in Ordnung. Die staatlichen Aufwendungen aber, die auch eine noch so beschränkte staatliche Sorge um ein brauchbares Arbeitsvolk gebietet, stellen nach dem marktwirtschaftlichen Sachverstand der Begutachter überflüssige und finanzpolitisch schädliche faux frais dar. Der IWF erklärt das Volk zum letzten Grund der polnischen Wachstumsnöte. Ein Mißstand, der Polens Haushaltsplanern vorgerechnet wird, auch wenn die sich die verlangte Rücksichtslosigkeit gar nicht leisten können, wollen sie nicht ihr Volk ganz abschreiben, auf dessen heroischen Aufbruch in die Freiheit sie sich mit Vorliebe berufen.

Über der Auseinandersetzung mit den internationalen Haushaltswächtern lernen Polens Regierungen also die Schranken zu berücksichtigen, die ihre internationalen Aufbauhelfer definieren, und machen sich mit ihren Haushaltsbeschlüssen zu selbstbewußten Vollstreckern eines Ausgabenregiments, das nationale Aufbaugesichtspunkte nur bedingt und des öfteren auch gar nicht berücksichtigt. Was sich der polnische Staat alles leisten kann, welche Ausgaben nicht als falsche „Subventionen“, sondern als „Industriepolitik“ durchgehen, wo Ausnahmen vom Grundsatz der „Haushaltsdisziplin“ unvermeidlich, wo unbedingt geboten sind, das alles ist Gegenstand von Beschlußfassungen mit den einschlägigen IWF- und EU-Behörden, also Gegenstand der Gewährung. Das ist der Grund für den Streit um „Austerity“- oder „Industriepolitik“, der in Polen unentwegt geführt wird und über den schon manche Regierung gestürzt ist. So kommt dann auch in Polen nicht das Experiment zustande, wieweit ein nationales Geld durch radikale staatliche Verknappung seiner Menge die Eigenschaft „hart“ erwerben kann, sondern etwas anderes: IWF, Weltbank, EU und Europäische Entwicklungsbank handeln mit Polen das genehme Verhältnis von geldpolitischen Stabilisierungsanstrengungen und entwicklungs- und wachstumspolitisch unverzichtbaren Finanzierungsnotwendigkeiten, also Maß, Art und Zweck der Staatsverschuldung aus. Was sich Polen an Kredit leisten kann und wofür, wird ebenso entschieden wie die Frage nach den Modalitäten der Kreditbedienung, die Polens Haushalt vor allen nationalen Beschlüssen festlegen. Polens Haushaltspolitik ordnet mit ihren verordneten Einnahmen- und Ausgabenmanipulationen unter Anleitung der Gläubiger alle nationalen Posten einer Schuldenbedienung unter, die Sparsamkeit im Bezug auf national ehrgeizige Aufbauprojekte gebietet und Kredit nur nach Maßgabe auswärtiger Standortberechnungen zu mobilisieren erlaubt. Dabei stehen die Betreuer auf dem Standpunkt, daß Polen beides leisten können soll: seinen Haushalt der Inflationsbekämpfung unterordnen und sein Land zu einer Anlagesphäre mit modernen Bedingungen herrichten, auf die anlagewilliges Auslandskapital heutzutage ein Recht hat – von einem Bankwesen bis zu Autobahnen und Telekommunikation. Für all das erhalten sie Polen kreditwürdig – nicht so sehr, um den Schein eines hoffnungsvollen Aufbruchs und die Kooperationsbereitschaft polnischer Regierungen, sondern um ihre Ansprüche an das Land aufrechtzuerhalten, denen es aus eigenen Kräften nicht genügen kann. Polens Entscheidung, sich zum Anwalt der Berechnungen zu machen, denen es sich ohnehin ausgesetzt sieht, und diese darüber als seine nationalen Entwicklungshebeln zu nutzen, zeitigt also Erfolge: Es genießt Kredit als neuer Weltmarktteilnehmer; es genießt Kredit, weil es den Raum europäischen Geschäfts vergrößert; es genießt Kredit, weil es den Geltungsbereich europäischer Konkurrenzregelungen erweitert; und es genießt Kredit, weil es sich in Weltmarkt- und Weltmachtkalkulationen Europas und seiner führenden Macher, insbesondere Deutschlands, auf europäische Osterweiterung einordnen läßt. Darüber kommen dann ganz schöne polnische Geldmengen in Umlauf, europäische und andere Schulden in die Welt und Geschäfte zum Zuge; darüber machen die Scheidung zwischen kapitalistisch nützlichem und nutzlosem Inventar, die laufende nationale Geldentwertung, die immerzu steigende Auslandsverschuldung und das dauerhafte Schuldenmanagement Fortschritte, die den kapitalistischen Weg des Landes bestimmen.

Natürlich ist es unausweichlich, daß Polens Reformpolitiker über all dem bemerken, daß Polens Kredit ein konzessioniertes Mittel ist, das Land zum Anhängsel des europäischen Wirtschaftsblocks zu entwickeln: Anhängsel von dessen Kapitalkonjunkturen, politischen Standortauseinandersetzungen, Markteroberungsstrategien, Blockperspektiven. Aber die Ohnmacht, die dieser Weg einschließt, ist für Polens Politiker kein Einwand, sondern Grundlage verstärkter Bemühungen, auf dem Weg nach Europa voranzuschreiten. Schließlich lohnt sich für Polen die Unterwerfung unter die Perspektiven, die die Macher eines sich erweiternden europäischen Wirtschaftsraums für Polen vorsehen. Die Chance des gemeinsamen europäischen Markts, auf die Polen wie seine Nachbarn setzt, beruht ja auf der alternativlosen Macht, die dieser Wirtschaftsblock repräsentiert. Immerhin beschert die EU, wenn sie das Land ihren Erweiterungsgesichtspunkten unterwirft, dem Land politische und ökonomische Geschäftsbedingungen und -mittel, für die es selber nie und nimmer einzustehen vermag. Das Ideal der Angleichung an den kapitalistischen Entwicklungsstandard dieses Blocks gehört zu diesem nationalen Erfolgsweg dazu. Dabei ist das Land mit seinen Reichtums- und Armutsumständen längst den in Europa etablierten Standortinteressen zugeordneter Teil und Teilhaber des europäischen und weltweiten Geschäfts. Mit anderen Oststaaten wetteifert es darum, auf diesem Weg voranzukommen. Das ist es, was Weltmarktsagenturen wie die OECD schätzen und einschätzen.

II. Polens „Heimkehr in den Westen“

Für Polens Reformer ist ihr neuer nationaler Weg von Anfang an gleichbedeutend mit dem Übergang auf die andere, die erfolgreiche westliche Seite. Sie sind erst gar nicht auf die Idee verfallen, sich auf rein nationale Machtquellen zu verlassen, neue Bündnisbeziehungen mit Rußland zu eröffnen oder etwa gemeinsam mit den anderen Hinterlassenschaften des Ostblocks so etwas wie einen ostmitteleuropäischen Block zu bilden. Ihr Aufbruch zielte und zielt auf Einordnung in die westliche Welt, das heißt auf Beteiligung an den imperialistischen Bündnissen, durch die Polen eine Rolle spielen sollte, zu der es aus eigener Kraft nicht fähig ist. Dieses Programm ist nicht das Ergebnis politischer Kalkulation; es steht unverrückbar vor jeder politischen Berechnung fest. Verfolgt und vorgetragen wird es mit der Überzeugung, endlich wieder dorthin zurückzukehren, wo Polen nach Vorstellung aller Nationalisten sowieso hingehört und bloß über vierzig Jahre lang nicht sein durfte – nach „Europa“: Diese „Heimkehr nach Europa“ sei mit der „Befreiung aus sowjetischer Vorherrschaft“ im Prinzip erfolgt, insofern sei die Frage der neuen strategischen Ausrichtung, der künftigen zwischenstaatlichen Beziehungen und der internationalen Anerkennung, die es braucht, um ein respektables Mitglied in der Staatenwelt zu sein, eigentlich erledigt; das alles müsse bloß noch durch Eintritt in NATO und EU und die Regelung des bisher gestörten nachbarschaftlichen Verhältnisses zu Deutschland endgültig besiegelt werden. Für das Begehren, in diese „Gemeinschaften“ einbezogen zu werden, glaubt Polen über Qualitäten zu verfügen, die die Adressaten dieses Begehrens gar nicht ausschlagen können: Ein großes Land am Rande Europas, das nicht mehr dem Einfluß Rußlands unterliegt, größter östlicher Nachbar Deutschlands mit entschieden antirussischer Ausrichtung – das sind die Vorzüge, die die befreite Nation für die Machtinstanzen des alten Westens zu bieten hat und die nach Lesart der polnischen Seite zur Teilnahme qualifizieren.

Seitdem gibt es also den polnischen Antrag auf Aufnahme in die verschiedenen Bündnisinstanzen. Entschieden wird über ihn nach dem Interesse der westlichen Adressaten an Ausweitung ihrer Zuständigkeit in militärischer und politischer Hinsicht. Dieses Interesse der anderen Seite ist unterstellt und konnte auch unterstellt werden. Schließlich repräsentierten NATO, EU und Deutschland jeder auf seine Weise das gemeinsame westliche Programm, den Ostblock aufzulösen – also die sowjetische Weltmacht zu entmachten und deren Mitmacher so weit wie möglich aus deren Einflußbereich zu lösen; und dieses Programm hat nach dem Ende der alternativen Weltmacht mit ihrem Einflußbereich gar kein Ende, sondern zeitgemäße Fortsetzungen gefunden, Europa neu zu „ordnen“. Die angesprochenen Instanzen haben sich deswegen offen gezeigt für Polens Anträge und haben den Prozeß seiner Einbeziehung in ihre Bündniszusammenhänge eröffnet und ziemlich weit vorangetrieben. Allerdings hat sich dabei gezeigt, daß Polens neue nationale Ausrichtung auf das gemeinsame Europa und die NATO und die westlichen Interessen an Zugriff auf den Osten nicht zusammenfallen. Während Polen bedingungslos Zulassung begehrt, verbindet die andere Seite damit weltpolitische Berechnungen und stellt Polen deswegen lauter Bedingungen. Statt daß Polen automatisch aufgenommen worden ist in den Kreis, in den es seiner Meinung nach hineingehört, sieht es sich mit immer neuen Ansprüchen konfrontiert, sich für diese Aufnahme erst einmal zu qualifizieren. Das Ob seiner Zugehörigkeit zum Westen steht für Polen nicht in Frage, das Wie steht nicht in seiner Macht, es richtet sich ganz nach den Kalkulationen der NATO und EU-Macher, wie sie ihre Macht erweitern können. So gerät der fortschreitende Prozeß der Einbeziehung Polens in die westlichen Bündniszusammenhänge zu seiner Unterordnung unter die Perspektiven der imperialistischen Ordnungsinstanzen.

1. Polens nationale Sicherheitsperspektiven – den Nato-Interessen untergeordnet

Für Polens Politiker steht fest, daß die Sicherheit des Landes mit der Zugehörigkeit zur NATO steht und fällt. Diesen Entschluß wollen sie so verstanden wissen, daß Polen sonst zu einem „sicherheitspolitischen Niemandsland“ zwischen NATO und Rußland und damit zum Spielball fremder Mächte würde. Diese Befürchtung stammt nicht daher, daß sie ihre neue Sicherheitslage abgeschätzt, sondern weil sie sie so definiert haben: Rußland, das sie aus seinem früheren Herrschaftsbereich entlassen hat, hat sich vom Unterdrücker nicht zum denkbaren Partner in Sicherheitsfragen, sondern zur neuen Bedrohung gewandelt, zum übermächtigen und unberechenbaren Nachbarn, gegen den es sich zu schützen gilt. So bietet sich Polen – von russischen Sicherheitsinteressen überhaupt nicht beeindruckt – der NATO als antirussisches Bollwerk an und konkurriert mit seinen Nachbarn darum, als erstes ehemaliges Ostblockland Mitglied der NATO zu werden.

Damit macht sich Polen für das ehemals antikommunistische Militärbündnis zum Material von dessen neuer strategischer Zielsetzung: seiner Osterweiterung.[7] Mit der Erledigung des feindlichen Systems und seines Blocks hat sich die NATO ja nicht für arbeitslos erklärt, sondern an die Aufgabe gemacht, zuende zu bringen, was dieser Erfolg in ihren Augen noch zu erledigen gebietet: die NATO-Mächte in Europa jetzt zur einzigen strategischen Größe zu machen und ganz Europa ihrer Aufsichtsmacht zu unterstellen. Ein „Niemandsland“, d.h. eine Zone, die nicht ihrem bestimmenden Einfluß unterliegt, soll aus der Erbschaft des Ostblocks erst gar nicht entstehen, konkurrierende Sicherheits- und Kontrollansprüche sollen erst gar nicht aufkommen können. Dieses Programm richtet sich gegen das neue Rußland und seinen Wunsch nach Mitentscheidung über die Ordnungsfragen in Europa. Die NATO will Rußland, nachdem seine alternative Weltmachtrolle erledigt ist, nur noch die Rolle einer europäischen Randmacht mit möglichst wenig Macht und Einfluß zugestehen; sie hat sich daher darangemacht, diesen Zustand herzustellen und strategisch zu fixieren. Insoweit decken sich Polens Drang in die NATO und der Wille der NATO, das östliche Vorfeld unter seine militärisch-politische Kontrolle zu bringen und als sein unmittelbares Einflußgebiet zu organisieren.

Allerdings muß sich Polen vom Standpunkt der NATO-Oberen für die Rolle einer neuen NATO-Ostgrenze erst qualifizieren. Das betrifft einmal den politischen Willen. Die stramm antirussische Ausrichtung des polnischen Nationalismus reicht dafür nicht aus, sondern erscheint für die NATO-Planer, die ihn sich zunutze machen, sogar eher als ein potentielles Störelement für ihre höheren weltpolitischen Gesichtspunkte. Die Ausdehnung ihres militärischen Zuständigkeitsbereichs wollen sie nämlich nicht als erklärten antirussischen Akt durchziehen, sondern kalkulieren bei der Eindämmung der verbliebenen russischen Macht noch mit dem russischen Willen zur Zusammenarbeit mit dem Westen. Deshalb findet die Osterweiterung auf Kosten russischer Sicherheitsbedürfnisse bis auf weiteres wie ein mühseliger Verständigungsprozeß über eine Beteiligung Rußlands an „einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa“ statt, deren NATO-Lesart deswegen allerdings auch keinen russischen Einspruch verträgt. Dem hat sich Polen mit seiner Rußlandfeindschaft unterzuordnen. Auch sonst will aus NATO-Sicht sichergestellt sein, daß das Land nicht auf eigene Faust Konflikte definiert, seine frisch aufgekommenen Grenzfragen mit seinen östlichen Nachbarn zum Streitfall erhebt und ins Bündnis hineinträgt. So sind die „Sicherheitsgarantien der NATO für Polen“ ja nicht gemeint, sondern so, daß sich das Land seine Definition als NATO-Ostrand verläßlich vorbuchstabieren läßt. Im Lichte eines solchen Anspruchs nehmen sich auch die inneren polnischen Verhältnisse undurchsichtig und problematisch aus. Deshalb dringt die NATO mit dem Verlangen nach „Unterstellung des Militärs unter die Kontrolle des Parlaments“ darauf, daß institutionelle Garantien dafür geschaffen werden, das ganze Land auf die Unterordnung seiner politischen und militärischen Bedürfnisse unter die NATO-Sicherheitsdefinitionen festzulegen; nationale Quertreibereien und abweichende Bedürfnisse im und mit dem Militär sollen nicht mehr zum Zuge kommen können.

Auch die Befähigung des polnischen Militärs zur NATO-gemäßen Zusammenarbeit muß erst noch hergestellt werden. Schließlich muß ein bisher gegnerisch ausgerichteter und ausgerüsteter Apparat auf die Qualitäts- und Kooperationsmaßstäbe der Bündniskräfte umgepolt, neu dimensioniert und hinorganisiert werden. Das erfordert eine umfassende Streitkräftereform – und eine Zwischenphase der Kooperation, in der Polens Streitkräfte sich verläßlich in ihre neuen arbeitsteiligen Aufgaben einfinden und einüben. Polen wird also nicht einfach in die NATO aufgenommen, sondern an den NATO-Definitionen entlang erfährt und entwickelt das Land seine für die NATO-Erweiterungsbedürfnisse passende militärpolitische Ausrichtung und Ausstattung.

Darüberhinaus sind diese klaren Ansprüche an Polen auf Seiten der NATO auch noch der ungeklärten Frage nach dem künftigen Aussehen der NATO untergeordnet, auf deren Klärung Polen mit seinen Anpassungsbemühungen überhaupt keinen Einfluß hat. Europa und die USA und die führenden europäischen Länder ihrerseits konkurrieren darum, welchen Status die Ostländer überhaupt bekommen sollen und wie und wieweit sich über die Einbeziehung dieser Oststaaten ein verändertes Kräfteverhältnis auch innerhalb der NATO und in Europa schaffen läßt. Diese Konkurrenz wird in der Form ausgetragen, daß darum gestritten wird, in welcher Form, mit welchem Tempo und in welchem Verhältnis zu allen möglichen anderen Institutionen und Zugriffsprojekten die NATO-Angliederung des ostmitteleuropäischen Raums vonstatten gehen soll – ob getrennt von oder in Verbindung mit und dann in welcher Verbindung mit OSZE, WEU und EU… In der „partnership for peace“ bekommen die Kandidaten ständig zu spüren, daß sie Objekt konkurrierender Ansprüche der Führungsmächte an eine NATO-Erweiterung sind. Das ist der Gehalt der ständig wachsenden Zusammenarbeit in europäischen Sicherheitsfragen, die den polnischen Stellen nie schnell und weit genug geht, ohne daß sie für deren Beschleunigung selber sorgen können.[8]

2. Polens Rückkehr nach Europa – als zweitklassiger Anschlußkandidat

Auch der Anschluß an die EU war für Polen mit der Abkehr vom realen Sozialismus selbstverständlich. Schließlich hatte es das erfolgreiche Wirtschaftsbündnis unmittelbar vor der eigenen Haustür und war mit dem Osthandel über die Systemgrenzen hinweg sogar schon ziemlich weitreichende Geschäftsbeziehungen eingegangen. Die sollten jetzt in eine feste Einbindung Polens in die EU überführt werden. Auch in diesem Fall hat Polen Recht bekommen, allerdings auf dieselbe Weise und mit vergleichbaren Konsequenzen wie auf dem Feld der staatlichen Gewaltfrage. Denn die EU will den Wirtschaftsblock, den sie mit ihren überstaatlichen Regelungen eines mit freiem Kapitalverkehr nach innen und gemeinsame Konkurrenzbedingungen nach außen gestiftet hat, ausdehnen – mit der Perspektive, durch die wirtschaftliche Einheit und über sie hinaus Übergänge in eine politische Einheit Europas zu stiften. In diesem Programm haben jetzt Polen und die anderen Ostländer ihren Platz.

Allerdings gestaltet es sich zu lauter neuen Ansprüchen des vereinten Europas an sie. Auch in diesem Fall müssen sich die Kandidaten erst einmal für die Herausforderungen, die in Gestalt des gemeinsamen Marktes ja bereits fertig vorliegen, zurechtmachen. Rechtsbestimmungen samt der dazugehörigen Rechtssicherheit, Marktöffnungsregelungen und Konkurrenzbestimmungen müssen nicht bloß beschlossen, sondern durchgesetzt werden. Zweitens konfrontiert die EU Polen und seine gleichgesinnten Nachbarn mit dem gebieterischen Verlangen, daß der Zuwachs der EU an Marktraum und wirtschaftspolitischem Zuständigkeitsbereich keinesfalls zu einer „Dauerbelastung“ der Gemeinschaft werden darf; egal, wie diese Länder dem Begehren nachkommen können und was es für ihren nationalen Standort und die staatlichen Haushaltsrechnungen bedeuten mag. Der einmal gültige Standpunkt der EU, daß die angeschlossenen Länder mit dem Kredit der Gemeinschaft europafähig gemacht werden müssen, also durch die gemeinschaftliche Förderung von Standortbedingungen und nationalen Geschäftsprojekten zum lohnenden Beitrag zu einem gesamteuropäischen Wirtschaftsraum hinentwickelt werden sollen, erfährt entscheidende Abstriche. Daß Polen und die anderen osteuropäischen Beitrittskandidaten nicht in den Genuß der bisherigen gesamteuropäischen Kreditgarantien kommen werden, die für den gemeinsame Agrarmarkt und andere Gemeinschaftsaufgaben als EU-Haushalt fest institutionalisiert sind, darüber lassen die Verantwortlichen keinen Zweifel aufkommen: Sie haben die Beitrittsgesuche zum Anlaß genommen, als „Voraussetzung für die Osterweiterung der EU“ neben institutionellen Reformen auch die Reform des Agrarmarkts und der Strukturfonds, die zusammen drei Viertel des Gemeinschaftshaushalts ausmachen, auf die Tagesordnung zu setzen, und die Mitgliedschaft erst einmal ins neue Jahrtausend verschoben. Die Oststaaten haben sich also den EU-„Markterfordernissen“ gemäß zu machen, bekommen aber nicht die materiellen Garantien, die die EU einmal für ihre Kernregion und für die Förderung entwicklungsbedürftiger Kapitalstandorte in ihren Südregionen für nötig befunden hat.

Umso zweifelhafter ist drittens aber, was aus der Gemeinschaft überhaupt wird, auf die Polen seine Europa-Hoffnungen setzt. Die europäischen Heimkehrer sind auch im Fall der EU neben den klaren Gemeinschaftsanforderungen an sich noch damit konfrontiert, daß damit ihr Weg in und mit der EU noch längst nicht klar ist: Die Mitglieder der Europäischen Union sind untereinander mit Auseinandersetzungen über die politischen und ökonomischen Perspektiven Europas befaßt, die die bisherigen Prinzipien der „Gemeinsamkeit“ einigermaßen in Frage stellen. Die Osterweiterung der EU ist selbst zu einem solchen Streitfall geworden; dem vorwiegend von Deutschland aus betriebenen Projekt steht das französische Programm der Anbindung der Mittelmeeranrainer an Europa gegenüber. Sie reiht sich damit ein in innereuropäische Streitigkeiten, die längst zur Auseinandersetzung um die Sortierung in europäische Nationen erster und zweiter Klasse gediehen sind und immerzu in die Frage münden, wer im gemeinsamen Europa das entscheidende Wort hat. Dabei ist soviel klar: Deutschland hält diese Frage für entschieden und wirft sein Gewicht in die Waagschale, um sich in Europa durchzusetzen. Auch im Hinblick auf Polen.

3. Polens neues Nachbarschaftsverhältnis: Ein Stück deutscher Sonderherrschaft

Daß Deutschland in Europa eine Sonderrolle einnimmt, davon gehen auch die polnischen Politiker aus; auf eine deutsche Führungsrolle setzten sie von Anfang an ihre besonderen Hoffnungen bei ihrem Weg nach Europa. Das erhoffte Sonderverhältnis ist eingerichtet und wird mit Beteuerungen, daß beide Völker aus einer leidvollen Geschichte endlich zur Versöhnung gefunden haben und nun besonders eng zusammenarbeiten müßten, garniert. Die beiderseitigen Interessen, die sich da zu „guten Beziehungen“ zusammengefunden haben, fallen allerdings überhaupt nicht zusammen.

Polens Verantwortliche glauben – ganz abgesehen von der Spekulation auf das Interesse des Nachbarn am Ausbau der jetzt von Systemgrenzen befreiten Geschäftsbeziehungen – durchaus an eine besondere Verpflichtung Deutschlands gegenüber einem Staat, dessen Vorgänger zum Opfer Hitler-Deutschlands geworden ist. Zum einen erheben Anspruch darauf, daß Deutschland sich mit ihnen im Guten über die verbliebenen umstrittenen Rechtsansprüche ins Benehmen setzt, die eine ja keineswegs bloß moralische Erbschaft der unseligen Vergangenheit sind; Deutschland soll Polen die volle Anerkennung aussprechen und seine Volkstumsansprüche von einst in eine besonders enge nachbarschaftliche Aufbauhilfe überführen. Zweitens erwartet die polnische Seite, daß der mächtige Nachbar sein Gewicht in NATO und EU für ihren Beitritt geltend macht. Dabei ist Polens Politikern durchaus klar, daß sie einem vergrößerten Deutschland gegenüberstehen, dem sie in keiner Beziehung gewachsen sind und dessen ausgreifender Macht sie ziemlich wenig entgegenzusetzen haben. Das gibt ihrem Drang nach Aufnahme in die NATO und EU sogar eine leicht antideutsche Note; sie versprechen sich von der so etwas wie Gleichberechtigung, vermehrten Einfluß auf und Rückhalt gegen Deutschlands und einen gewissen Schutz gegen deutsche Vormachtambitionen – eben die Verhinderung einer einseitigen Abhängigkeit:

„Polen würde sich sicherer fühlen, würde es dem gleichen ‚Sicherheitssystem‘ wie Deutschland angehören.“ (Verteidigungsminister Rosati, SZ 10.2.96)

Deswegen setzen sie andererseits aber umso mehr darauf, durch Sonderbeziehungen Deutschland auf Rücksichten gegenüber Polen und auf seine Förderung verpflichten zu können.

Von Seiten der deutschen Politiker buchstabieren sich die guten Beziehungen zwischen den beiden „leidgeprüften Völkern“ genau andersherum: In all den angemeldeten Erwartungen der polnischen Seite entdecken sie die Abhängigkeit polnischer Politik von deutscher Macht. Die Unterstützung in der EU- und NATO-Beitrittsfrage definieren sie als deutschen Dienst, der Polen zu lauter Gegen- nämlich Vorleistungen verpflichtet; als Preis verlangen sie polnische Willfährigkeit gegenüber speziellen deutschen Ansprüchen, die in die innere Souveränität Polens eingreifen und auf unmittelbare Abhängigkeit zielen.

Die Erwartung polnischer Politiker, im mächtigen unmittelbaren Nachbarn und politischen Herrn über die europäische Leitwährung den nachdrücklichen Förderer polnischen Anschlußwillens an die EU zu finden, hat sich erfüllt. Allerdings nicht in ihrem Sinn einer speziellen Förderung, sondern nach der deutschen Lesart.

Deutsch-polnische Grenzziehung

Deutsche Einflußnahme auf Polen beschränkt sich nicht darauf, den fremden Staat mit den Regeln und Mitteln seiner internen Staatsverwaltung auszustatten, um die dieser gebeten hat und die den Geber zum Mitgestalter beim inneren Aufbau Polens machen – Einführung deutscher Verwaltungs- und Strafrechtsbestimmungen, Kopierung des deutschen Wirtschaftsrechts und deutscher Polizeiordnung, deutsche Sonderbetreuung des polnischen Militärs. Bonn ist auch zu praktischer Hilfe erbötig, was die Sicherung und die Definition polnischer Staatsgrenzen betrifft; es greift unterstützend, fordernd, organisierend und kontrollierend in die mit den Staatsgrenzen gegebene Staatsexistenz Polens ein. Im Auftrag Deutschlands soll Polen eine neue Mauer gegen Osten errichten und an seiner Ostgrenze Deutschland vor den menschlichen Abfallprodukten der aufgelösten Sowjetunion schützen.

Die gemeinsame Oder-Neiße-Grenze hat Deutschland im Nachbarschaftsvertrag anerkannt – ein Schritt, den Bonn gegenüber Polen zum hochherzigen Verzicht hochstilisiert hat, den Kohl umgekehrt daheim als leider unvermeidliche Gegenleistung für den gleichzeitig erreichten Anschluß der DDR vor seiner Nation entschuldigte. Das Grenzregime an Oder und Neiße bestimmen jetzt dafür deutsche Bedürfnisse: Der Grenzverkehr ist so geregelt, daß er deutsche Bewegungsfreiheit möglichst wenig behindert, andererseits polnische Laster strenger Kontrolle unterwirft und polnische Hungerleider von deutschen Märkten und deutschem Baugewerbe fernhält. Vor allem aber hat diese Grenze – als Außengrenze im Sinne des „Schengener Abkommens“ definiert – die Funktion einer Schutzmauer gegen Asylanten, denen Deutschland die Zugangsmöglichkeit verschließen will. Polen wird die Rolle eines Erfüllungsgehilfen der deutschen Asylpolitik aufgenötigt.[9] Dafür gibt es dann deutsche Zuschüsse, Container und den guten Rat, Polen solle sich dem vorbildlichen deutschen Umgang mit dem Flüchtlingselend im eigenen Interesse anschließen. Als gelehrige Schüler sind polnische Politiker diesem Rat gefolgt und haben Abschiebeverträge mit Bulgarien und Rumänien abgeschlossen.

Praktischer Revanchismus, wie ihn sich Polen nie vorgestellt hat

Auf Deutschlands Verpflichtung gegenüber Polen – die noch uneingelöste „Aufarbeitung der Vergangenheit“ und die staatliche Hoheit über den ehemaligen deutschen Volksteil betreffend – reagiert Bonn begeistert – aber wie! Nach Ansicht polnischer Politiker müßten sich jetzt entgegenstehende deutsche Ansprüche in dieser Frage einvernehmlich regeln und als nationales Existenzproblem Polens aus der Welt schaffen lassen. Die Sorge vor deutschem Revanchismus war schließlich das Argument für Polens Bündnis mit der Sowjetunion, das selbst antikommunistischen Nationalisten eingeleuchtet hatte. Den vom Nachkriegs-Deutschland im Namen vertriebener und noch in Polen ansässiger Schlesier angemeldeten Korrekturbedarf stellte sich die kommunistische Staatspartei damals als eine Art neuerliches Eroberungsprogramm nach dem Vorbild Hitlers vor – und täuschte sich dabei gründlich. Sie übersah glatt, daß die mit dem Kniefall Brandts in Warschau angebahnten deutschen Ostbeziehungen und deutscher Osthandel nicht die friedliche Absage an die alte Bedrohung waren, sondern ein gehöriges Stück Auflösung der realsozialistischen Staatsmacht bezweckten und erreichten. An diese, schon im Kalten Krieg gewachsenen „guten Beziehungen“ will das gewendete Polen anknüpfen und sie – der NATO-Feindschaft ledig – ausbauen.

Jetzt wird es von Deutschland darüber belehrt, daß der Grund für die alten Angriffe auf die polnische Hoheit im Namen deutscher Volksrechte nicht im jetzt erledigten Systemgegensatz, sondern im unbefriedigten deutschen Nationalismus lag. Der wird mit dem Ende des Ostblocks nicht hinfällig, sondern sieht sich umgekehrt ins Recht gesetzt und endlich mit realistischen Erfolgsperspektiven ausgestattet. Polen kann sich heute gegen deutsche Hoheitsansprüche weniger wehren als zu den Zeiten, in denen die Existenz der Sowjetunion dafür sorgte, daß diese feindlichen Ansprüche utopisch blieben. Das machen sich Bonns Regierende zunutze. Sie teilen unbefangen mit, daß die Unterstützung des polnischen Europabegehrens genuin deutsche Rechtsansprüche befriedigen soll:

„Wenn Polen Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werde, und das mit allen Rechten und Pflichten, müsse es auch die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit garantieren. In diesem Augenblick könnten die Schlesier ihr Recht auf Heimat verwirklichen, auf das sie begreiflicherweise immer gepocht hätten“. (Schäuble auf dem letzten Schlesiertreffen, FAZ 10.7.95)

Und sie handeln entsprechend. Polen wird mit einem Aussöhnungswillen überzogen, der ihm im Namen der jetzt offen zur „deutschen Minderheit“ erklärten Schlesier lauter Zugeständnisse abverlangt und abpreßt. Als Basis und Inhalt gutnachbarschaftlicher Beziehungen muß das Land die Mitzuständigkeit Deutschlands für Teile des nationalen Bestands anerkennen und institutionell einrichten.

  • Von der polnischen Staatsgewalt wird Mithilfe beim Schutz der Schlesier vor dem Verlust ihrer nationalen Identität und vor natürlichem Aussterben verlangt. Nach deutscher Lesart handelt es sich bei diesem Menschenschlag nicht um polnische Staatsbürger deutscher Abstammung, sondern um geborene Deutsche, die die polnische Regierung vor völkischer Überfremdung durch ihr staatliches Umfeld zu bewahren hat. Der von Polen gewährte Minderheitenschutz und eine eigene schlesische Vertretung im Parlament reichen dafür nicht aus. Verlangt wird eine „positive Diskriminierung“: Zulassung von Deutsch als Amtssprache in den Wojewodschaften Breslau und Oppeln, jetzt wieder Schlesien genannt; Errichtung deutscher Schulen und deutsche Ortsnamen. Wie weitgehend die polnische Regierung diesen Ansprüchen schon entgegengekommen ist, stellt sie dann auch schon einmal fest:
    „Regierungssprecher Strak: ‚Polen kann sich mehr Selbstverwaltung nicht leisten, weil sonst die Deutschen im Oppelner Gebiet die Macht in der Wojewodschaft übernehmen würden.‘“ (FAZ 2.1.95)
  • Bonn unterstützt mit jährlich 30 Millionen das wieder aufblühende deutsche Vereinsleben in Polen – eine Summe, die allemal größer ist als die einmalige Zahlung an polnische Nazi-Opfer, mit der aus deutscher Sicht die „Wiedergutmachung“ abgegolten ist, und als das Geld, mit dem VW polnische Zwangsarbeiter abgefunden hat. Es fördert besonders die Ansiedlung deutscher Unternehmen in dieser Region und verspricht die Kreditierung der Verkehrsanbindung des schlesischen Raums an Deutschland und Europa. Mit dieser Unterstützung im Rücken regt sich wieder deutsches Volkstum in schlesischen Gemeinden und macht sich durch das Aufstellen von Kriegsdenkmälern mit Stahlhelm und Bundesadler zum Gedenken an deutsche Kriegsopfer gebührend bemerkbar.[10]
  • Bei seinem Warschauer Besuch hat Kohl die deutsche Forderung erneuert, der polnische Staat müsse den Polen, die ehemals als Deutsche in Hitlers Armee gedient haben, also aus polnischer Sicht am Überfall auf Polen beteiligt waren, diesen Wehrdienst als Rentenanspruch entgelten. Bonn hat nach eigener Auskunft einen finanziellen Zuschuß gezahlt, mit dem dieser überfällige Schlußstrich unter die leidvolle Vergangenheit nun aber auch gezogen sein soll.
  • Solange Bonn noch einen Vertriebenenverband finanziert, der für die in zweiter und dritter Generation aus ihrer Heimat Verjagten spricht, ist es allerdings für einen anderen Schlußstrich zu früh. Hochoffiziell hat Kinkel vor kurzem noch einmal das deutsche Recht auf Entschädigung für die unrechtmäßig vollzogene Vertreibung und Enteignung deutscher Bürger durch den polnischen Staat angemahnt.
  • Polen, die sich auf deutsche Vorfahren berufen können, erhalten zusätzlich zu ihrer polnischen Staatsangehörigkeit einen deutschen Paß ausgestellt. Das ist sich der Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 einfach schuldig:
    „Jedes Jahr gibt das deutsche Generalkonsulat in Breslau mit seiner Nebenstelle in Oppeln Tausende von deutschen Pässen an polnische Staatsbürger deutscher Abstammung aus. Voll gedeckt durch den Nachbarschaftsvertrag ist diese Praxis wohl kaum. Polens Politiker, sonst auf ihre nationale Würde bedacht, zeigen Verständnis. Doch der Neid polnischer Mitbürger wächst. Sie haben keine doppelte Staatsbürgerschaft, können mithin nicht so leicht ein Zubrot in Deutschland verdienen.“ (SZ 6.7.95)

    Eine Regierung, die für ihre Ausländer die doppelte Staatsbürgerschaft ablehnt, weiß recht gut, was sie da ins Werk setzt. Sie schafft sich damit interessante Nachfolgeprobleme, die schon wieder in den freien Umgang eines anderen Staates mit seinem Volk eingreifen:

    „Drei deutschstämmige Polen hatten den Antrag gestellt, ihren bei der Bundeswehr abgeleisteten Dienst als Erfüllung der Wehrpflicht in Polen anzuerkennen. Die (polnischen) Behörden vermuten, daß manche deutschstämmige Wehrpflichtige, die neben der polnischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft haben, von der Möglichkeit bei der Bundeswehr zu dienen, Gebrauch machen.“ (SZ 19.6.95)
    „In der Provinz Oppeln verzeichnet die polnische Armee die meisten Wehrdienstflüchtlinge, denn junge Oberschlesier können nach Deutschland ausweichen.“ (SZ 5.1.96)

    Zumindest bei der deutschen Bundeswehrverwaltung haben die Schlesier also wieder heim ins Reich gefunden.

So wird von außen das deutsche Lebensrecht wieder geschaffen, das Bonn zum Material dient, in Polen hineinzuregieren. Für Nachdruck sorgt der Vertriebenenverband, der mit neuem Schwung für überkommene deutsche Rechte eintreten darf. Schließlich ist er jetzt nicht mehr wie früher bloßer Propagandist einstweilen unerfüllbarer Wiedergutmachungsforderungen, sondern das Sprachrohr von Ansprüchen, deren Erfüllung die deutsche Regierung jetzt mit Verweis auf die neuen Verhältnisse praktisch einfordert.

Polens Weg heim nach Europa ist also mit deutschen Ansprüchen gepflastert, die heute nicht mehr Revanchismus heißen, und auch keiner sind. Denn mit diesen Eingriffen in das polnische Staatswesen funktionalisiert die neue Mitte Europas Polen für eine neue deutsche Europastrategie: Deutschland stiftet eigene nationale Abhängigkeitsverhältnisse, um sie zum verpflichtenden Bestand des vereinten Europa zu machen; und es will sich damit zugleich nationale Alternativen bei der Konkurrenz um die politische „Führungskompetenz“ in europäischen Ordnungsfragen eröffnen. Wenn sich Deutschland allen Vorbehalten anderer Gemeinschaftsländer zum Trotz für die Eingemeindung Polens und anderer ehemaliger Ostblockstaaten stark macht, dann weil es sie damit als spezielle Einflußsphäre des wiedervereinigten Deutschland ins Europaprogramm einbringen, die Bündnispartner an den Kosten dieser nationalen Erschließung beteiligen und darüber seine Vormachtstellung in Europa festigen will.[11] Im Verhältnis zu Polen treibt Deutschland so die Fortschritte voran, die ein Europa gleichberechtigter Nationen immer mehr ins Reich der schönen Ideale verbannen.

Kein Wunder, daß polnischer Nationalstolz an der deutschen Vormundschaft leidet und an der Arroganz, mit der Bonn das ungleiche Kräfteverhältnis zur Anschauung bringt. Der seinerzeitige Präsident Walesa – von Deutschland nicht zur Fünfzigjahrfeier des Kriegsendes in Berlin eingeladen, worauf er als Mitsieger Anspruch erhob –, inszenierte statt dessen in Warschau eine eigene nationale Feierstunde der polnischen Befreiung von Nazi-Deutschland und verärgerte das Weltjudentum durch die Erwähnung von Auschwitz als rein polnisches Martyrium. Mit großem Pomp feierte daneben der katholische Klerus Polens den 50. Jahrestag der Eingliederung Schlesiens in polnische Oberhoheit als „Erfüllung historischer Gerechtigkeit“. Warum sollte sich auch das neue Polen in Fragen nationaler Ehre vom deutschen Nachbarn übertreffen lassen? Nur entspringt dieses polnische Freiheitsgefühl vor allem dem Ärger, wie wenig Polen deutschem Einspruch entgegenzusetzen hat; Polen setzt schließlich auf Deutschland. Auch wenn es polnische Nationalisten hart ankommen mag, ist für sie die Ausrichtung an Deutschlands Bedürfnissen zur unverzichtbaren Staatsraison geworden, noch bevor die europäische und NATO-Osterweiterung fertig gediehen ist. Kaum ist Kwasniewski, der Chef der sozialdemokratisch gewandelten Nachfolgepartei der KP, zum neuen Präsidenten Polens gewählt worden, reist er demonstrativ nach Bonn, um sich von dort die entscheidende außenpolitische Weihe für seine Staatsführung abzuholen.

Nachbemerkungen, das demokratische Innenleben betreffend

Was das politische Leben im Land angeht, ist Polen der Anschluß an den Westen voll gelungen. Die Betroffenheit im Lande wird in bester demokratischer Manier verarbeitet.

  • Daß diejenigen in Polen, die die Leitung des Staates inne haben, an den Abhängigkeiten leiden, die sie selber eingehen, ist kein Wunder. Die Folgen, die der Erfolgsweg der Nation zeitigt, fallen schließlich oft genug überhaupt nicht im Sinne eines nationalen Anspruchsdenkens aus, das sich zur Teilhabe am weltweiten Reichtum und zur Aufnahme in den Kreis der bevorzugten Mächte berechtigt fühlt. Und die Ohnmacht, dem abzuhelfen, die in diesem Weg eingeschlossen ist, ist kaum zu übersehen. Doch kommt es den professionellen Liebhabern polnischer Größe nicht in den Sinn, sich über den Aufbruch, den sie in Gang gesetzt haben, anders Rechenschaft abzulegen als im Rahmen ihrer Konkurrenz um die Ausübung der Macht, die es in Polen schließlich durchaus gibt. Besagte Leiden geben dabei das Material ab; sie begründen keine Zweifel am Erfolgsweg, sondern berechtigen zum Zweifel an der Eignung der Konkurrenten für die richtige Gestaltung eines Staatsprogramms, dessen Erfolge sich an dem Machtstatus bemessen, den das Land von auswärts konzediert bekommt. So wird um die beste Gestaltung und die beste Führung eines polnischen Wegs gestritten, der für alle die Verbindlichkeit von lauter Sachzwängen angenommen hat, die jedem ernsthaften Streit enthoben sind. Gestritten wird erstens um das rechte Verhältnis von Patriotismus und Internationalismus. Der Vorwurf des Ausverkaufs an das ausländische Kapital, das Polen zu überfluten drohe, kann da nicht ausbleiben, ebensowenig aber die Retourkutsche, die Nation leide nicht an zu viel Überfremdung, sondern daran, daß das internationale Kapital sich noch viel zu wenig eingefunden habe. Die Warnung vor einer gefährlichen Unterwürfigkeit gegenüber Deutschland kommt da genauso auf wie der sachdienliche Hinweis:
    „Wie will man zur EU, wenn man jenem mißtraut, der unser bester Anwalt sein soll?“ (Der polnische Außenminister Olechowski, SZ 20.1.95)

    Geführt wird diese Auseinandersetzung zweitens, wie es sich für Demokraten gehört, mit Berufung auf die allerhöchsten Werte, die ein freigesetztes nationales Anspruchsdenken sich aus Vergangenheit und Gegenwart so einleuchten läßt. Die einen stehen immer noch unermüdlich im Kampf um nationale Freiheit gegen den Kommunismus, der schon wieder Polen dem Westen, der Marktwirtschaft, vor allem aber sich selbst und seinen gläubigen Volkstraditionen entfremden will; die gewendeten ehemaligen Staatssozialisten treten dagegen demonstrativ für eine nationale Einheit jenseits ideologischer Grabenkämpfe und für moderne marktwirtschaftliche Sachkompetenz ohne falsche soziale Rücksichten ein. Die Einkehr des Materialismus und der allgemeine Verfall der Werte werden beschworen oder bestritten; an der Abtreibungsfrage und der Rolle der Gottesvertreter im Staat wird die Intaktheit der nationalen Moral besprochen, derer sich eine ordentliche polnische Führung anzunehmen hätte… Von den Interessen der Massen, die der neue Erfolgsweg schädigt, ist keine Rede – es sei denn so, daß Rücksichten unmöglich und nicht am Platz sind. Was dem Volk an Härten zugemutet wird, erscheint zweitrangig vor der Sorge um die Identität, die es verdient.

  • Auch das Volk hat zur demokratischen Reife gefunden. Ernsthafter Einspruch aus den Reihen einer unzufriedenen Arbeiterschaft, Gehorsamsverweigerung und Widerstand wie zu den alten Zeiten der Solidarność stehen in Polen nicht mehr auf der Tagesordnung. Das Mißverständnis, daß der neue demokratische Staat aus dem Widerstand freier polnischer Arbeiter gegen Unterdrückung und Ausbeutung erwachsen und ihnen insofern besonders verbunden und verpflichtet wäre, hat sich in nichts aufgelöst. Die falsche Gleichung von Rechten der Nation und Arbeiterrechten, mit der der alte Staat gekippt worden ist, ist im neuen wieder auseinanderdividiert worden – und zwar gründlich. Denn in einem Staat, der einen nationalen Kampf um die Entwicklung von Kapitalismus im eigenen Land führt, ist für sozialstaatliche Schranken kapitalistischer Benutzung, für Lohnforderungen und für den Ruf nach Fortschritten am Arbeitsplatz kein Raum. Aus den Freiheitskämpfern von damals sind massenhaft Lohnarbeiter ohne Lohn geworden, die ohnmächtig nach mehr Beschäftigung verlangen; ohnmächtig, weil es das kapitalistische Benutzungsinteresse gar nicht gibt, dem etwas abgetrotzt werden könnte; ohnmächtig aber vor allem, weil sie zu den marktwirtschaftlichen Verhältnissen, deren Sachzwänge ihnen jetzt entgegengehalten werden, keine Alternative kennen wollen. Aus der kämpferischen Arbeiterorganisation und der kritischen Staatsgewerkschaft von einst sind konkurrierende Vereine geworden, die sich für den Part einer nationalen Sozialinstanz anbieten, für die im Staat weder Bedarf noch Platz ist; zum Ausgleich haben sie sich die Stellung von Wahlhilfeorganisationen und Parteien erobert, die dafür sorgen, daß die neuen Formen der Armut zum Wahlargument taugen. Diese Fortschritte sind einerseits konsequent und gerecht; denn ein antikommunistischer, im Namen der Mutter Gottes und eines wahren Polen geführter Arbeiteraufstand ist eben etwas anderes als die Gegenwehr gegen die Schädigungen der Arbeiterexistenz. Andererseits haben die polnischen Arbeiter sich schon erst noch daran gewöhnen müssen, daß ihre – gegen die alte Herrschaft geltend gemachte – Vorstellung, „sozial“ und „national“ müßten zusammenfallen, für den neuen Staat keinerlei Gültigkeit hat. Gebraucht hat es für diesen Übergang zu einer gefestigten Demokratie nicht viel: Einen Arbeiterführer als Präsidenten mit faschistischen Neigungen; eine Regierungschefin, die sich am Vorbild des Thatcherismus orientiert; am Anfang einige energische Polizeieinsätze gegen streikende Belegschaften; die unbeschränkte Freiheit zum Beten und Wählen; ein paar Jahre Erfahrung mit freiheitlicher Verelendung und der entsprechenden kapitalistischen Verwahrlosung – und schließlich den unerschütterlichen Stolz darauf, das alles aus eigener Kraft, unter dem Beifall der halben Welt, mit dem Segen des Stellvertreter Gottes gegen eine nationale Fremdherrschaft ertrotzt zu haben. Der Freiheitskampf der polnischen Arbeiter ist zu Recht ins Arsenal der nationalen Tradition eingegangen.

[1] Der nationale Erfolgsweg, der hier analysiert wird, ist nicht nur Polen eigentümlich. Polen teilt ihn und konkurriert mit anderen nationalen Hinterlassenschaften des Ostblocks, insbesondere Ungarn und Tschechien.

[2] So lautet das offiziöse Fazit des letzten Berichts der OECD, die Polen, Ungarn, der tschechischen und slowakischen Republik bei der Eingemeindung in den Weltmarkt mit einem Programm namens „Partner des Übergangs“ zur Seite steht. (Polen 1994, S. 190)

[3] Der (Gesetzentwurf) sieht vor, daß fast 2 Drittel der Anteile von 200 in Einpersonenaktiengesellschaften des Fiskus umgewandelten Staatsbetrieben – später sollen 400 weitere Betriebe folgen – von nationalen Investmentfonds verwaltet werden, die ihrerseits die Rechtsform von AGs haben. 15% der Anteile werden den Belegschaften der Betriebe kostenlos überlassen, die restlichen Anteile behält fürs erste der Fiskus. Jeder Pole kann einen Berechtigungsschein erwerben, der später in Aktien der Investmentfonds umgewandelt wird, die an die Börse gebracht werden sollen. Die Investmentfonds sollen Verträge mit ausländischen Managementfirmen schließen dürfen, von denen man erwartet, daß sie zur Restrukturierung der ehemaligen Staatsunternehmen beitragen und den Zufluß ausländischen Kapitals erleichtern… Ihre Forderung (der SLD), die Zahl der zu privatisierenden Betriebe vorerst zu beschränken, den Rentnern und Beschäftigten des öffentlichen Dienstes vorrangig Zertifikate für Anteile an den ersten Investmentfonds als Kompensation für entgangene Einkommensanpassungen anzubieten und den Belegschaften weitreichende Entscheidungsbefugnisse bei der Privatisierung von Staatsunternehmen zuzugestehen, ist im wesentlichen erfüllt worden. (FAZ 3.5. 93)

[4] Eine nicht unwesentliche Änderung durch diese „Kommerzialisierung“ von Staatsbetrieben besteht im Ausbooten der Arbeiterräte, einem ärgerlichen Erbe des polnischen Realsozialismus, das in seiner Geltung nach dem Sieg der Solidarnosc aus politischen Gründen in die neuen marktwirtschaftlichen Verhältnisse übernommen wurde, auch wenn die weitgehenden Rechte – u.a. stellen sie die Unternehmensführungen, die eigenwillige Vorstellungen von Marktwirtschaft geltend machen – so überhaupt nicht zu den gültigen Perspektiven eines kapitalistischen Aufbruchs passen und deshalb korrigiert werden sollen. Auch das NiF-Projekt zielt nicht zuletzt darauf, die Zustimmung von Gewerkschaften und Arbeiterräten zum Privatisierungsprogramm zu erreichen: Die landesweiten Streiks im vergangenen Sommer haben der Regierung deutlich vor Augen geführt, daß die Zustimmung der Arbeitnehmer in vielen Staatsbetrieben und mancher Gewerkschaften zur Wirtschafts- und Sozialpolitik bedenklich gering ist. Die neue Führung war deshalb gezwungen, nach Kompromissen auf den wichtigsten Feldern der Reformpolitik – als solche erachtet sie die schnelle Privatisierung der Staatsbetriebe und eine maßvolle Lohnpolitik – mit der unzufriedenen Arbeitnehmerschaft zu suchen. Zugleich mit den Leitlinien der Sozial- und Wirtschaftspolitik hat die Regierung dem Parlament deshalb jetzt einen Gesetzentwurf vorgelegt, der neben den bisher praktizierten Methoden der Privatisierung die sogenannte Massenprivatisierung in den Vordergrund rückt. (FAZ 12.10.92) Dahin hat es also der stolze Arbeiteraufstand unter anderem gebracht: Zum Streit um den Besitz eines Arbeitsplatzes, in dem sich die betroffenen Massen mit einer „Massenprivatisierung“, sprich: ihrer Verwandlung in Besitzer wertloser Kleinaktien zufriedengeben dürfen.

[5] Volkswirtschaftlich geschulte Beobachter drücken diesen Sachverhalt freundlicher aus: Die ländlichen Gebiete mit ihrer leichteren Nahrungsmittelversorgung, den niedrigen Steuern und einer relativ befriedigenden Wohnsituation sind zu einem Reservoir unterbeschäftigter Arbeitskräfte geworden. (OECD-Bericht S. 86)

[6] Die am raschesten wachsende Komponente der Verschuldung ist die Inlandsschuld, die auch für eine starke Zunahme des Ausgabenpostens Schuldendienstzahlungen verantwortlich ist. Ende 1991 … 19,3% der Gesamtschulden…, Ende 1992 waren es 24,7% und Ende 1993 dann 26%… Etwa 20% der Inlandsverbindlichkeiten sind nicht zu Marktsätzen verzinslich und 25% sind in US-Dollar denominiert, was die Anfälligkeit des Budgets gegenüber Wechselkursänderungen erhöht… Mit der Tilgung von Auslandsverbindlichkeiten und der Übernahme zahlreicher Inlandsschulden durch den Staatshaushalt hat sich der Finanzierungsbedarf ständig ausgeweitet: 1994 wird er rund 115 Bill. Zł betragen und damit um 30 Bill. Zł höher sein als das voraussichtliche Defizit. (OECD-Bericht, S.45/47)

[7] Näheres dazu in: „Die NATO-Osterweiterung – Die Fortschritte eines imperialistischen Zugriffsprogramms“, GegenStandpunkt 1-95, S.93

[8] Den einschlägigen polnischen Beschwerden ist sowohl das Rechtsbewußtsein, zur Teilhabe berufen zu sein, wie die objektive Ohnmacht, dieses Recht durchsetzen zu können, anzumerken: Wenn ich Präsident wäre und jemand Polen in der NATO-Frage auf einen späteren Termin vertrösten wollte, dann würde ich Kanzler Kohl und die Deutschen daran erinnern, daß Deutschland nur dank des hervorragenden Kampfes der Polen vereinigt ist. (Walesa zum Kohl-Vorschlag, die NATO-Beitrittsfrage wegen der Wahlen in Rußland und den USA zurückzustellen, SZ 23.2.96)

[9] Die Sicherung polnischer Hoheit nach deutschen Bedürfnissen hat zu heftigen Tumulten im polnischen Parlament geführt: Einige Abgeordnete nannten den Asylvertrag ein Dokument, das ‚Deutschlands Vorherrschaft über Polen sanktioniert und Polen zu einem Pufferstaat degradiert‘. ‚Die Deutschen behandeln Polen wie einen Gepäckaufbewahrungsraum‘, sagte ein Sprecher der Bauernpartei PSL. (SZ 28.5.93)

[10] Wenn ähnlich gestimmte polnische Jugendliche bei Nacht und Nebel diese Denkmäler wieder beseitigen, kommen FAZ-Schreiber ins Sinnieren, was wohl die alte antifaschistische Staatsraison wert war, wenn sich jetzt überall im ehemaligen Ostblock „Rechtsradikalismus“ breitmacht. Inzwischen gibt es eine deutsch-polnische Kommission zur Ausgestaltung der Kriegsdenkmäler, um solche unverständlichen Mißverständnisse künftig zu vermeiden.

[11] Deutsche Politiker und ihre Öffentlichkeit wissen, was sie damit in Europa aufrühren – und denken vorwärts. Die Furcht vor einer deutschen Hegemonie bei ihren europäischen Partnern, in Polen und anderswo greifen sie auf, um zu verkünden, daß nur die hegemoniale Umgestaltung Europas im deutschen Sinn diese unberechtigte Sorge zerstreuen kann: Als…Clinton den Deutschen eine Führungsrolle in Europa zuwies, ging kein Aufschrei durch Ostmitteleuropa…Das würde sich ändern, wenn nicht verantwortliche Politiker in Deutschland zugleich die Integration des Nachbarn in den Westen vorantrieben… Andernfalls würden Verdächtigungen über den drohenden Ausverkauf Polens, vor allem aber Westpolens… Wirkungen entfalten, welche auch die sich rasch entwickelnde grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Frage stellen würden. Allein schon aus der Lektüre westeuropäischer Zeitungen während des Besuchs des deutschen Kanzlers in Warschau ergibt sich, daß im Westen dann der Vorwurf erhoben würde, Deutschland strebe nach wirtschaftlicher Hegemonie im Osten. Welche Folgen dies wiederum für den Zusammenhalt in der Europäischen Union haben würde, kann man sich leicht vorstellen…Das macht die Deutschen verwundbar, setzt sie dem Verdacht aus, die westliche Gemeinschaft dominieren zu wollen… Der Beitritt neuer Kandidaten zur EU mindert ein wenig den Verdacht, den selbst kluge Selbstbescheidung Bonns im Interesse des Ganzen nicht immer zu entkräften vermag. (FAZ 11.7.95)