Ein Tarifvertrag mit Verdi: Das nächste Kapitel im antigewerkschaftlichen Kampf bei Lufthansa

Anfang August macht die Lufthansa-Tochtergesellschaft Discover mit Tarifabschlüssen von sich reden – es sind „die ersten für die 2020 gegründete und bislang ohne Tarifvertrag fliegende Airline“. Für Aufregung sorgen dabei nicht die eigentlichen Tarifbestimmungen, sondern Verdi als Tarifpartner eines Tarifwerks.

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Dieser Artikel ist eine Vorabveröffentlichung aus der Zeitschrift GegenStandpunkt 4-24, die am 20.12.2024 erscheint.
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Ein Tarifvertrag mit Verdi: Das nächste Kapitel im antigewerkschaftlichen Kampf bei Lufthansa

Anfang August macht die Lufthansa-Tochtergesellschaft Discover mit Tarifabschlüssen von sich reden – es sind „die ersten für die 2020 gegründete und bislang ohne Tarifvertrag fliegende Airline“. Für Aufregung sorgen dabei nicht die eigentlichen Tarifbestimmungen, sondern Verdi als Tarifpartner eines Tarifwerks, das für Piloten und Flugbegleiter gilt und damit gleichzeitig die jeweiligen Stammgewerkschaften des fliegenden Personals VC und UFO umgeht, mit denen Discover bis zuletzt ebenfalls verhandelt hat. Die sehen sich „düpiert“ und gehen prompt gegen ihre Ausbootung vor, was die deutsche Gewerkschaftsgeschichte um ein Kuriosum bereichert: einen Tarifabschluss, der für „Streikgefahr im Lufthansa-Konzern“ (FAZ, 10.8.24) und Ende August für einen gemeinsamen Streik von VC und UFO sorgt.

Überhaupt nicht neu ist hingegen der Zweck, den der Lufthansa-Konzern mit diesem Abschluss wie überhaupt mit seiner Discover-Ausgründung verfolgt. Immerhin fliegt Discover nicht einfach so seit 2020 ohne Tarifvertrag, sondern wurde eigens zu dem Zweck gegründet, ohne jegliche Tarifbindung und ohne gewerkschaftliche Zuständigkeit mit neu eingestelltem Personal zu besonders profitablen Bedingungen an den Start zu gehen. [1] Die betriebliche Bilanz des Kampfes gegen den Lebensunterhalt der Angestellten nach vier tarifvertragsfreien Jahren kann sich sehen lassen:

Lufthansa-Personalvorstand Michael Niggemann ... hatte zur Vorstellung der Konzernhalbjahresbilanz angekündigt, die andere Vergütung und eine höhere Produktivität zusammen führten zu 30 bis 40 Prozent niedrigeren Personalkosten bei Discover und City Airlines.“ (FAZ, 22.8.24)

Gegenwehr gegen diese erfreuliche Entwicklung verhindert die Lufthansa bei Discover von Gründung an nach Kräften. Dafür gilt es insbesondere, die beiden Spartengewerkschaften aus der Airline herauszuhalten: die stolze Standesvertretung der Piloten, die nicht nur den Anspruch vertritt, dass denen, die etwas Besseres sind, auch etwas Besseres zusteht, sondern die mit der herausgehobenen Funktion ihrer Klientel im Flugbetrieb auch über ein Stück Streikmacht dazu verfügt; und die UFO, von ihren langjährigen Erfahrungen in dem Standpunkt gestärkt, der Lufthansa mit der ebenfalls herausgehobenen Streikmacht der Flugbegleiter entgegentreten zu müssen, wenn diese weiterhin in den teuren Großstädten irgendwie über die Runden kommen können sollen, in denen sie berufsbedingt leben müssen. Bis ins Jahr 2023 hinein verweigert Discover den beiden Gewerkschaften die von ihnen beanspruchte Anerkennung als Tarifpartei schlicht und einfach. Damit wird denen vorgeführt, dass es mehr als den beständigen Hinweis auf ihre Mobilisierungsmacht auch in der Discover-Belegschaft braucht, nämlich echte Streiks, also wirkliche Schäden für die Unternehmensbilanz, um endlich Bewegung in die Sache zu bringen. Zur illustren Vorgeschichte des August-Streiks bemerkt die FAZ:

Die Tarifkonflikte bei Discover haben schon besondere Blüten getrieben. Als UFO zu Jahresbeginn zu einem Streik aufrief, konterte Discover mit dem Vorwurf, die Gewerkschaft wolle streiken, ohne jemals verhandelt zu haben. UFO hatte sich nach eigenen Angaben aber über lange Zeit vergeblich um Verhandlungen bemüht. Nach dem Streikaufruf zu Jahresbeginn gab es die Gespräche dann doch. Nur zu einem Abschluss führten sie nicht, obwohl laut UFO ‚praktisch fertige Tarifverträge‘ vorlägen. Auch die VC hatte wegen einer fehlenden Einigung schon zu Streiks aufgerufen. Im Februar sorgte dann für Verstimmung, dass Discover statt eines Tarifvertrags mit dem Betriebsrat eine Vereinbarung über höhere Löhne schloss, die laut VC weitgehend die eigenen Forderungen abbildete.“ (Ebd.)

Die Streiks im Januar 2024 – die VC beantwortet damit eine ewige „Hinhaltetaktik“ des Unternehmens in laufenden Tarifgesprächen, UFO will überhaupt erst deren Aufnahme erzwingen – macht das Management zwar weitgehend unwirksam, indem es auf Belegschaften anderer Konzernmarken und auf Manager als Piloten zurückgreift. Mit einer erfolgreichen Streikabwehr gibt man sich im Konzern aber nicht zufrieden. Zum einen nimmt Discover der VC, mit der ja bereits verhandelt wird, mittels der von der FAZ erwähnten Betriebsvereinbarung den Wind aus den Segeln: Die Aussicht, die kampfbereite Gegenpartei auszumanövrieren, ist dem Unternehmen glatt die Erfüllung von deren Tarifforderungen wert. Dieser – im Dauerkonflikt der Lufthansa mit ihren Hausgewerkschaften nicht ungewöhnliche[2] – Schachzug bildet allerdings nur ein kleines Zwischenspiel für die eigentliche Offensive.

Wenn man an den Gewerkschaften auch mit noch so viel Aufwand nicht einmal bei Discover gänzlich vorbeikommt, dann muss man sie eben entwaffnen – mit einer „Sozialpartnercharta“, die wenig verklausuliert darauf zielt, dem „Partner“ qua Vertrag sein Kampfinstrument aus der Hand zu nehmen: „Es geht um den regelmäßigen Austausch, gegenseitige Transparenz. Aber natürlich wünschen wir uns auch Rahmenbedingungen etwa für mögliche Arbeitskämpfe.“ (Niggemann laut HB, 20.2.24) Eine verbindliche Moderation im Konfliktfall soll den Gewerkschaften das Streiken möglichst schwer machen. Und verpflichtende Ankündigungsfristen sind im Falle des Falles dafür da, ihre Streiks möglichst unwirksam zu machen. Für die Strategie, die Gewerkschaften im gesamten Konzern dadurch handzahm zu machen, dass man ihre Unterschrift unter die Charta zur Bedingung für Tarifabschlüsse macht, bildet Discover den idealen Testballon: Wo Gewerkschaften überhaupt erst einmal einen Fuß in die Tür bekommen wollen, lassen sich gut Bedingungen stellen. Also „testet Lufthansa die neue Strategie bei der noch jungen Ferienfluggesellschaft Discover“ (ebd.) von Februar an in parallelen Tarifverhandlungen mit VC, UFO und Verdi. In denen hält das Unternehmen die Spartengewerkschaften mit aller Routine hin – das Ganze zieht sich immerhin bis August. Gleichzeitig wird gerade angesichts von Teileinigungen in den eigentlichen Tariffragen die Gretchenfrage immer deutlicher:

Ein Knackpunkt in den langen diversen Verhandlungssträngen war gewesen, dass der Lufthansa-Konzern nicht nur bei Discover, sondern auch in anderen Konflikten die Forderung nach einer Sozialpartnercharta eingebracht hatte, die Verhaltensweisen und Gesprächspflichten in Tarifkonflikten regeln soll. Arbeitnehmervertreter hatten skeptisch reagiert, fürchteten eine Einschränkung der Streikmöglichkeiten.“ (FAZ, 10.8.24)

Was die FAZ in distanzierter Parteilichkeit als bloße Befürchtung der Arbeitnehmervertreter vorstellig macht, spaltet die Gewerkschaften: Eine „Einschränkung der Streikmöglichkeiten“ qua Sozialpartnercharta ist zwar von den Spartengewerkschaften nicht zu haben,[3] allerdings bewähren sich für den Konzern die parallelen Verhandlungen mit der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft, die beim fliegenden Personal im Konzern bislang keine Rolle gespielt hat. Denn die findet sich aus ihren eigenen Berechnungen heraus dazu bereit, mit Discover eine „dauerhafte Schlichtungsvereinbarung“ einzugehen, eine Abmachung, die neben dem Verzicht auf ihr denkbares gewerkschaftliches Druckmittel auch besondere Exklusiv-Vorteile für Verdi-Mitglieder einschließt.[4] Durch diese Vereinbarung kommt Verdi nämlich in ihrem Anliegen voran, als Massengewerkschaft, die republikweit für gerechte Lohnverhältnisse sorgt, alle Dienstleistungsberufe zu vertreten und die fliegenden Berufsgruppen nicht ihren – aus dieser Warte als partikular, also unsolidarisch angesehenen – spartengewerkschaftlichen Konkurrenten zu überlassen. Ganz ohne Streiks organisieren und durchhalten zu müssen, gewinnt Verdi mit dem Abschluss ein Stück Vertretungsmacht zulasten ihrer Konkurrenten hinzu. Was dem Lufthansa-Konzern damit gelingt und allemal ein paar materielle Zusagen wert ist, ist die Instrumentalisierung und Ausnutzung der Konkurrenz der Gewerkschaften innerhalb seiner Belegschaft: Mit der Tarifvereinbarung macht er Verdi zum willfährigen Mittel in seinem konzernweiten antigewerkschaftlichen Kampf.

Die Konsequenz ist klar: Mit der Einigung entfällt für Discover jeder positive Grund, sich noch weiter mit den Spartengewerkschaften ins Benehmen zu setzen. Einen Vertrag, der den hauseigenen Tarifbedingungen gewerkschaftsamtlich bescheinigt, in Ordnung zu gehen und Frieden zu verdienen, hat das Unternehmen ja jetzt in der Tasche. Entsprechend frech wird die Forderung nach weiteren Verhandlungen von den Profiteuren der Machtfrage zurückgewiesen:

Wir sehen weiterhin keine Notwendigkeit, auf politische Interessen und Machtspiele der Spartengewerkschaften einzugehen.“ (Discover-Chef Bernd Bauer, 2.9.24)

Den Coup der Lufthansa, sich eine „genehme Gewerkschaft“ per Tarifpolitik „über die Köpfe der Beschäftigten hinweg“ zu schaffen und diese „durch Geschenke ... aus dem Nichts mächtig“ zu machen (zit. nach FAZ, 22.8.24), wollen sich die Spartengewerkschaften zwar ihrerseits nicht bieten lassen. Der beim fliegenden Personal bis dato randständigen Verdi sprechen sie wortreich die Zuständigkeit ab. Es hilft nur nichts. Nach Lage der Dinge – nämlich nach der Rechtslage gemäß dem Tarifeinheitsgesetz, mit dem sich die Spartengewerkschaften, gegen die es sich genuin richtet, bestens auskennen – müssten sie erst einmal den eigenen Tarifvertrag vorweisen, um überhaupt den Status von Verdi als Minderheitsgewerkschaft und damit den Vorrang ihres Abschlusses vor Gericht feststellen lassen zu können. Doch diesen Tarifvertrag verweigert die Lufthansa ihnen gerade.

Es bleibt für sie also bei der Notwendigkeit, einen eigenen Abschluss erzwingen zu müssen, indem sie den praktischen Beweis antreten, dass für Discover der Tariffrieden ohne und gegen sie einfach nicht zu haben ist. Mit dem klaren Bewusstsein, dass ein Streik zu diesem Zweck den ganzen Laden lahmlegen muss, treten VC und UFO gemeinsam an, mobilisieren ihre Mitglieder – und scheitern krachend an den Gegenmaßnahmen des Konzerns. Der Lufthansa gelingt es, einen viertägigen Streik zur Ferienzeit inkl. eintägigem Unterstützungsstreik der Piloten von CityLine quasi unwirksam zu machen. Sie tritt den Beweis an, dass sie nicht auf irgendeine Einigung mit den renitenten Spartengewerkschaften angewiesen ist. Damit blamiert sie zugleich deren Anspruch, mit ihrer Gegenmacht gegen die Direktiven des Konzerns die eigentliche und bessere Interessenvertretung des fliegenden Personals zu sein: Den bei ihnen gewerkschaftlich engagierten Beschäftigten bringt ihr Kampf außer dem entgangenen Lohn und reichlich Schikane nichts ein. VC versucht noch eine Verlängerung um zwei Tage und gibt dann ebenso klein bei wie zuvor die UFO. Der Konzern gewinnt somit den Machtkampf gegen die Gewerkschaften, die immer noch meinen, mit einem eigenen Machtmittel eigene Ansprüche an die Arbeitsbedingungen anmelden zu müssen. Seine Wunsch-Sozialpartner sind für die Gewährleistung des Tariffriedens da. Test erfolgreich, es kann weitergehen:

Zu aller Verstimmung im Discover-Streit kommt für UFO und VC die Sorge hinzu, dass sich das bei Discover Erlebte bei der neuen Lufthansa City Airlines wiederholen könnte. Dem Vernehmen nach führt City Airlines für die zwei Berufsgruppen Piloten und Flugbegleiter nämlich Gespräche mit drei Gewerkschaften – VC, UFO und Verdi.“ (Ebd.)

[1] Für eine hinreichende Menge Bewerber um die Jobangebote des neuen Arbeitgebers hat der Lufthansa-Konzern gleich selbst gesorgt, indem er den Ableger Germanwings kurzerhand dichtgemacht, sämtliches Personal gekündigt, in eine Transfergesellschaft überführt und damit auf den ziemlich alternativlosen Weg hinab in die Neugründung Discover (vormals „Ocean“ und „Eurowings Discover“) gebracht hat – alles gegen den erfolglosen Widerstand der Gewerkschaften. Genaueres dazu ist nachzulesen in den Artikeln „Lufthansa gegen UFO: Wie Deutschlands mobiles Weltunternehmen Gewerkschaftstätigkeit unterdrückt“ in GegenStandpunkt 2-20 sowie „Die Sanierung der Lufthansa: Klassenkampf auf deutsche Art“ in GegenStandpunkt 1-21. Das Modell war so erfolgreich, dass die Lufthansa es bei ihrem innerdeutschen Zubringer „Lufthansa CityLine“ gleich noch einmal kopiert hat. Die im Juli gegründete „Lufthansa City Airlines“ soll CityLine Schritt für Schritt ersetzen.

[2] Mit einem ähnlichen Kniff hat die Lufthansa vor ein paar Jahren die UFO ins Abseits manövriert, nachzulesen im bereits erwähnten Artikel in GegenStandpunkt 2-20.

[3] „In VC-Kreisen heißt es, man sei sich zu Gehältern fast einig gewesen, das Unternehmen habe dann Bedingungen für einen Abschluss nachgeschoben. Die Gewerkschaft wittert einen Angriff auf ihre verfassungsmäßigen Rechte, wenn möglicherweise Ankündigungsfristen für Streiks oder Mediationen festgeschrieben werden sollen.“ (FAZ, 19.2.24)

[4] Von Verdi selbst wird das als lohnender Deal vorstellig gemacht. Die Selbstdomestizierung geht mit Geschenken der Arbeitgeberseite einher:

Erstmals hat ver.di auch eine dauerhafte Schlichtungsvereinbarung mit einem Arbeitgeber im Lufthansa-Konzern vereinbart. Diese sieht bei konfliktären Tarifverhandlungen eine verpflichtende Schlichtung vor, deren Ergebnis jedoch nicht angenommen werden muss. ver.di Mitglieder profitieren durch diese Vereinbarung exklusiv von verlängerten Kündigungsfristen, einer Absicherung in Krisenzeiten und Zahlungen bei Unternehmenserfolg.“ (verdi.de)