Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
Pandemie XVII.
Die Sanierung der Lufthansa
Klassenkampf auf deutsche Art

Das Virus und die staatlich verordneten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie entziehen dem Geschäftsmodell der Lufthansa die Grundlage. Der Personenlufttransport bricht nahezu völlig ein, Hunderte Flieger mit allem, was in der Luft und am Boden dazugehört, stehen bis auf Weiteres still. Mitte 2020 droht dem Konzern die Insolvenz, die unter reger öffentlicher Anteilnahme mit viel Geld aus der Staatskasse abgewendet wird. Allseitiges Aufatmen ist deshalb allerdings nicht angesagt. Am ehesten noch unter den Profis der Meinungsbildung, die sich um den Vorzeigekonzern als Deutschlands Tor zur Welt oder gleich als hochrangiges nationales Kulturgut sorgen. Deutlich weniger begeistert ist der Lufthansa-Großaktionär Thiele, der sich kurzzeitig sogar vorbehält, die Rettung platzen zu lassen, um einen Einstieg des Staates als Mitaktionär zu verhindern...

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Pandemie XVII.
Die Sanierung der Lufthansa
Klassenkampf auf deutsche Art

Das Virus und die staatlich verordneten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie entziehen dem Geschäftsmodell der Lufthansa die Grundlage. Der Personenlufttransport bricht nahezu völlig ein, Hunderte Flieger mit allem, was in der Luft und am Boden dazugehört, stehen bis auf Weiteres still. Mitte 2020 droht dem Konzern die Insolvenz, die unter reger öffentlicher Anteilnahme mit viel Geld aus der Staatskasse abgewendet wird. Allseitiges Aufatmen ist deshalb allerdings nicht angesagt. Am ehesten noch unter den Profis der Meinungsbildung, die sich um den Vorzeigekonzern als Deutschlands Tor zur Welt oder gleich als hochrangiges nationales Kulturgut sorgen. Deutlich weniger begeistert ist der Lufthansa-Großaktionär Thiele, der sich kurzzeitig sogar vorbehält, die Rettung platzen zu lassen, um einen Einstieg des Staates als Mitaktionär zu verhindern. Seine Bedenken präsentiert er in einem Interview mit der FAZ:

„Ein Aktionär stellt sich der notwendigen Restrukturierung einer Gesellschaft, entweder ist er dagegen, oder er tritt voll für sie ein. Der Staat spielt aber eine Doppelrolle. Kommt ein Sanierungsplan auf den Tisch mit einem vermuteten Abbau von Tausenden Arbeitsplätzen, gerät die Bundesregierung in die politische Bredouille. Sie kann nicht derartige Maßnahmen vorbehaltlos unterstützen. Da wird dann viel geredet und zerredet. Das verzögert den Gesundungsprozess und führt zu höheren finanziellen Belastungen, die dann auch die vereinbarte Rückzahlung von Darlehen und Zinsen infrage stellen.“ (Thiele, 17.6.20)

Der Mann ist die passende Charaktermaske seines Portfolios. Ganz ohne falsche Bescheidenheit besteht er auf der unbedingten Gültigkeit seines privaten Interesses an der Lufthansa als Mittel seiner Bereicherung. Er reklamiert die vorbehaltlose Durchsetzung des Plans, rücksichtslos gegen die Belegschaft vorzugehen, damit Lufthansa ihm rasch wieder Gewinne einspielt. Alles, was sonstige Interessenten an dem von der Pleite bedrohten Unternehmen als zu berücksichtigende Gesichtspunkte ins Spiel bringen könnten, verbittet er sich, und zwar denkbar grundsätzlich. So etwas verbietet sich – einfach deshalb, weil es den fälligen Kahlschlag in den Reihen der Belegschaft zerredet und verzögert!

Mit dem dreisten Pochen auf sein Partikularinteresse stellt Thiele sich nicht ins Abseits. Er weiß, dass er mit seinen Ansprüchen den Nerv der Sache trifft, wenn er mit dem Rechtsbewusstsein eines Vorzeigeexemplars der Gattung Aktionär auftritt: als Eigentümer von Anspruchstiteln auf Erträge. Aufgerufen ist nicht weniger als die objektiv herrschende ökonomische Vernunft, die mit seinem subjektiven Motiv der Geldgier zusammenfällt. Das Unternehmen ist das private Eigentum der Anteilseigner, die mit dem Recht dieses Eigentums und nach der schlichten Maßgabe, damit möglichst reich zu werden, über das Schicksal der Lufthansa entscheiden – für nichts anderes ist die Aktiengesellschaft da; dafür bewirtschaftet sie das gesellschaftliche Bedürfnis nach Mobilität, dafür beschäftigt sie 140 000 Angestellte. Wenn das nicht gelingt, ist das Unternehmen nicht gesund. Mit diesem marktwirtschaftlichen Grundgesetz im Rücken beansprucht Thiele als ein Aktionär – stellvertretend für alle Investoren dieser Welt, für eine ganze Klasse von Eigentümern, die aus ihrem investierten Vermögen das Anrecht auf Bereicherung ableiten – die Freiheit seiner Rechnung, in der die Lufthansabelegschaft dieser Tage zu großen Teilen nichts als einen unproduktiven Kostenfaktor darstellt. Mit dem Selbstverständnis, damit die gesellschaftlich gültige Rechnungsweise zu repräsentieren, vereinnahmt Thiele den Staat als Instanz des Allgemeinwohls für sein Interesse: Der soll die Lufthansa retten – aber gefälligst zu den Bedingungen des Betriebsherren, wie es die Räson dieses Systems erfordert.

Und wo er recht hat, hat er Recht. Das vom Staat mit dem Vorstand ausgehandelte Rettungsprogramm dokumentiert das eindrücklich. Die Staatsmacht erkennt das exemplarisch von Thiele vertretene ‚Shareholder‘-Interesse als gesellschaftlich gültig an. Sie bekräftigt das Interesse der Klasse der Eigentümer als das dem Gemeinwohl dienliche – inklusive der Absage an jede Form von Rücksicht auf andere ‚Stakeholder‘, also auf betroffene Interessengruppen und vom Unternehmen Lufthansa abhängige Instanzen. Die Gelder fließen als Kredit ohne spezielle Auflagen, verpflichten das Unternehmen also auf nichts als die zukünftige Erwirtschaftung von Gewinnen zwecks Tilgung und Zinsbedienung. Das nationale Aushängeschild wird als betriebswirtschaftlich frei kalkulierende Unternehmung gerettet; seine Interessen an dem systemrelevanten Multi lässt der Staat als neuer großer Anteilseigner von staatsfremden Managern vertreten. Die Versorgung der Nation mit Mobilität in der Luft ist und bleibt dazu da, dass die Lufthansa daraus Erträge für ihre Anteilseigner erwirtschaftet; damit ist sie in der Vergangenheit erfolgreich gewesen und genau so soll sie nach dem Corona-bedingten Einbruch weitermachen. Und dafür hat sie alles Recht, frei über die Arbeit zu verfügen, wie es aus dem Eigentum an den Arbeitsplätzen entspringt: die Arbeit zu benutzen, weil und so, dass es sich lohnt – und die Arbeitskräfte loszuwerden, wenn ihre Benutzung nichts einbringt.

Das Management der Lufthansa, die Profis dieses Interesses, machen sich im Bewusstsein ihres Rechts auf Erfolg auch in schweren Zeiten ans Werk. Der Sanierungsbedarf ist so groß wie das Unternehmen milliardenschwer. Die umfangreiche Belegschaft, die den Konzern mit ihren nützlichen, nämlich kostengünstig zurechtgemachten Diensten so großgemacht hat, wird für ihre Leistung von gestern haftbar gemacht, die sie heute nicht mehr liefert: Sie wird nicht mehr gebraucht und bekommt jetzt in entsprechendem Umfang die Rolle des unmittelbar wirksamen Streichpostens zugewiesen. Kostenentlastung bringt zuallererst das großangelegte Anmelden von Kurzarbeit für zwei Drittel der Angestellten gleich im April, teils rückwirkend schon für den März, und zwar zum größten Teil als Kurzarbeit Null. Das kostet zwar Geld für die Aufschläge auf das staatliche Kurzarbeitergeld, die der Konzern in besseren Zeiten unvorsichtigerweise zugesichert hat, aber ein Großteil der Belegschaft wird ja tatsächlich auch nur zeitweise für überflüssig erachtet. Die anderen werden entlassen. Im Frühsommer errechnet der Vorstand 26 000 überflüssige Stellen, die Stück um Stück abgebaut werden. Zunächst vor allem im Ausland; es werden aber auch ganze Airlines wie SunExpress und Germanwings inklusive Personal einfach dichtgemacht. Daneben bewähren sich die Nichtbesetzung frei werdender Stellen, Altersteilzeitregelungen, Freiwilligenprogramme etc., um Personal im größeren Maßstab loszuwerden. Im Laufe des Jahres 2020 wird die Anzahl der Überflüssigen gemäß dem Verlauf der Krise immer weiter nach oben korrigiert und zum Jahresende ist die Belegschaft bereits auf etwa 100 000 gesundgeschrumpft.

Das ist aber nicht einmal die halbe Miete. In den Worten des obersten Sanierers:

„Wir möchten nicht nur in der Krise besser als andere sein. Wir möchten auch nach der Krise besser sein.“ (Lufthansa-CEO Carsten Spohr, 5.5.20)

Die Arbeitsteilung in diesem Wir: Er gibt den Maßstab vor – wenn in Zukunft mit geringerem Passagieraufkommen und weniger Geschäftsreisenden zu rechnen ist, dann müssen eben daraus mit einer verringerten Flotte an Flugzeugen spätestens 2023 wieder Erträge auf Vorkrisenniveau herausgewirtschaftet werden; und er gibt vor, wer zu diesem Zweck wie besser werden muss. Das dezimierte Personal muss mehr leisten für das, was es die Lufthansa kostet – da lässt sich die Arbeit zum Beispiel dadurch weiter verdichten, dass die Anzahl der Flugzeugsitze erhöht und die Standzeiten verringert werden. Vor allem aber muss die Restbelegschaft schlicht weniger kosten, damit sie mehr Gewinn bringt. Auch das wird extrem geradlinig umgesetzt, nämlich durch radikale Umstrukturierung. Der Konzern verschiebt einfach nach eigenem Ermessen Flugzeuge und deren Infrastruktur in eine neue Rechtsform – modern Plattform – namens Ocean (inzwischen: Eurowings Discover). Sinn und Zweck der Operation bestehen darin, die Lohn- und Leistungsbedingungen der zugehörigen Arbeitsplätze ganz neu zu kalkulieren, nämlich frei nach der Richtschnur, die Maßstäbe einschlägiger Konkurrenten wie Ryanair zu unterbieten, um sich mit Kostenvorteilen den bezweckten Wettbewerbsvorteil zu sichern. Und das Ergebnis dieser Kalkulation firmiert in Stellenausschreibungen allen Ernstes als Angebot. Sorgen um die Frage, ob sich genügend Interessenten finden für die neuen Jobs, die ebenso ausdrücklich wie gründlich mit den Standards von Entgelt und Leistungsanforderungen aufräumen, die bisher für Flugbegleiter, Bodenpersonal, aber auch Piloten galten, [1] machen sich die Organisatoren der Veranstaltung ganz zu Recht nicht: Mit den Entlassungen an anderer Stelle und mit der auf Dauer gestellten Kurzarbeit en masse sorgt man nicht zuletzt selbst für wachsende Nachfrage, für eine eigene Reservearmee, deren Angehörige die Frage nach dem Ertrag der Jobs für sich nicht stellen können, weil sie überhaupt auf ein Einkommen angewiesen sind. Nachgeholfen wird mit Angeboten, die ebendiese Not ausnützen:

„Flugbegleiterinnen und Flugbegleiter erhalten die Option, unbezahlten Urlaub zu nehmen, um zumindest temporär bei Ocean anzuheuern.“ (aerotelegraph.com, 19.12.20)

Auch und vor allem dem gehobenen Personal im Cockpit, das bei abhängiger Beschäftigung eher an die von ihm kommandierte cabin crew als an sich selbst zu denken gewohnt ist, wird mittels Kurzarbeit und Kündigungsdrohung die Logik seiner Abhängigkeit vorgeführt. Was immer die Piloten sich bislang über ihren besonderen Status und seine Rechtfertigung durch große Verantwortung, herausgehobene Fähigkeiten oder den hohen Preis der selbstfinanzierten Ausbildung eingebildet haben mögen – sie erfahren praktisch, dass das alles nichts wert ist; dass vielmehr auch sie ganz analog dem niederen Personal der Gewinnrechnung des Konzerns subsumiert sind.

Wenn das Management der Lufthansa das Unternehmen im Auftrag seiner Eigentümer saniert, benutzt es also sein Kommando über die Arbeit, die zu diesem Unternehmen gehört. Von den ohnehin schon ziemlich umfassend prekarisierten Flugbegleitern bis zu den Piloten definiert es neu und allein gemäß den Erfordernissen der Geschäftskonkurrenz mit anderen Airlines, wer überhaupt noch Angestellter der Lufthansa sein darf und was es heißt, das zu sein. Die Arbeit wird als Manövriermasse des Unternehmens zurechtgemacht.

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Und wie reagieren die Angestellten der Firma auf Krise und Rettung ihres Arbeitgebers? Die beziehen die Intervention des Staates erst einmal ganz auf sich, als guten Grund für befreites Aufatmen. Denn für sie ist die Abhängigkeit vom Unternehmen und deren Fortbestand die Existenzgrundlage, der Dienst daran ihr Lebensunterhalt. Objektiv ein Elend – und zwar eines, dessen Fortbestand der Staat, die Instanz des allgemeinen Funktionierens, als Systemnotwendigkeit anerkennt. Deshalb billigt er ganz grundsätzlich den Leuten, die von ihrer Arbeit für das Interesse ihrer Arbeitgeber leben müssen, ihre Abhängigkeit als achtenswertes Hauptinteresse zu. Und in diesem Sinne kümmert er sich auch um die Causa Lufthansa. Er nimmt sich aller Lagen an, in die die Airline ihre Beschäftigten bringt – nicht als spezielle Belegschaft, sondern in Form längst fertiger, allgemeiner Antworten auf unvermeidlich anfallende Existenzfragen. Wo der Konzern sie en masse entlässt, sind die Lufthanseaten für den Staat als Subspezies seiner abhängig beschäftigten Erwerbsbürger ein Fall für die Arbeitslosenversicherung. Weil Lohn nur gezahlt wird, wenn es sich lohnt, sorgt er dafür, dass die Lohnabhängigen ein Auskommen haben, obwohl bzw. weil die ins Recht gesetzte Logik des Eigentums den Ausfall ihres Lebensunterhalts einschließt: Er lässt sie ohne Ansehen der speziellen Tätigkeit zwangsweise als Klasse für diesen Fall vorsorgen und sorgt über die Modalitäten der Versicherungsleistungen gleichzeitig dafür, dass der erneute Erwerb in fremden Diensten der alternativlose Ausweg der Lohnabhängigen bleibt. Wo die Lufthansa sich Chancen auf eine lukrative Wiederindienstnahme ihrer Dienstkräfte ausrechnet, sind sie ein Fall für das staatliche Institut der Kurzarbeit, das der Arbeitsminister als machtvolle Reaktion auf die Krise umfänglich ausweitet. Die nötige soziale Abfederung der zeitweisen Streichung des Lebensunterhalts gelingt hier durch eine überbrückende Alimentierung: Das Kurzarbeitergeld – wiederum aus dem Gesamtlohn, also von der Klasse seiner potenziellen Empfänger finanziert – macht aus der Standby-Verwendung der Lufthanseaten durch ihr Unternehmen das Lebensmittel, das wegen fehlender aktiver Benutzung gerade ausfällt, und legt sie damit zugleich auf den Status fest, weiter die Manövriermasse dieses Unternehmens zu sein. Wo die Lufthansa schließlich mit ihrem Sanierungsplan einen großangelegten Angriff auf die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen und damit auf die bis dato eingerichteten Umstände des Lebensunterhalts der Beschäftigten fährt, ist auch dafür längst vorgesorgt: Der Staat berechtigt sie zu dem, was sie müssen, nämlich sich kollektiv gegen die Zumutungen der anderen Seite zur Wehr zu setzen, um ihr Interesse zu wahren; in Form von grundgesetzlich erlaubten Koalitionen, die für ihre staatliche Anerkennung als Tarifpartei eine hinreichende Fähigkeit zur Gegenwehr vorweisen müssen. Auch diese Einrichtung zielt paradoxerweise auf nichts anderes als die Festigung des geschäftsdienlichen Status der Arbeit als Mittel und Verfügungsmasse des Kapitals: Der Staat verpflichtet die Gewerkschaften auf das Ziel einer Einigung mit der Gegenpartei, also grundsätzlich auf die Anerkennung von deren Regime über die Arbeit, das mit jedem Frieden, auf den der Tarifvertrag sie verpflichtet, als Angriff auf die Arbeit als Lebensmittel der Arbeitenden von Neuem in Kraft gesetzt ist.

Die Beschäftigten der Lufthansa wissen nicht erst seit ‚Corona‘, dass sie mit ihrem Interesse unter die Räder geraten – ein beliebtes Bild für die unpersönliche Feindlichkeit des Lohnarbeitsverhältnisses –, wenn sie sich nicht wehren. Sie sind seit jeher in großer Zahl in den Gewerkschaften „Vereinigung Cockpit“ (VC), „Unabhängige Flugbegleiterorganisation“ (UFO) sowie bei Verdi organisiert, und die kollektive Arbeitsverweigerung ist das regelmäßig in Anschlag gebrachte Kampfmittel, um dem Konzern die Geltung ihres Erwerbsinteresses an der Arbeit abzutrotzen. Wenn der Vorstand der Lufthansa jetzt das Programm auf die Tagesordnung setzt, das ganze Unternehmen und keineswegs bloß die Abteilung Ocean strukturell umzukrempeln, treten VC, UFO und Verdi folglich als – offiziell anerkannte – Gegenpartei an, die ihr Recht als Tarifpartei gegen das Recht der Unternehmerseite verteidigt. Ein Kampf eigener Art nimmt seinen Lauf.

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Die Lufthansa beendet als Erstes sämtliche laufenden Verhandlungen, die zum bisherigen ‚Tarifalltag‘ gehören. Von heute auf morgen; irgendeine Sorte Fortschreibung der eingerichteten Verhältnisse ist mit ihr nicht zu haben. Stattdessen lädt sie ihre Hausgewerkschaften alle zusammen zu einem Tarifgipfel vor, an dessen Anfang die Ansage steht, wie viele Mitarbeiter als überflüssig identifiziert sind. [2] Die Massen an Kurzarbeitern in allen Abteilungen präsentiert sie daneben als nie abschließend bezifferten Überhang, dessen mögliche endgültige Entlassung als permanente Drohkulisse dient – ein Kollateralnutzen der Kurzarbeit. Den Gewerkschaften weist Lufthansa die Rolle zu, Beiträge zu den kostensparenden „Strukturreformen“ zu liefern, wollen sie (noch mehr) Entlassungen verhindern. [3] Einstellungen sind auch im Angebot – bei Ocean: [4] Mit der neu gegründeten Plattform jenseits gewerkschaftlicher Zuständigkeit sind die Gewerkschaften in die Rückzugsposition manövriert, die Interessen „ihrer“ Piloten und Flugbegleiter gegen die Schlechterstellung zu verteidigen, die für diese Berufsgruppen mitten im Konzern ins Werk gesetzt ist. In Anschlag bringt Lufthansa also die ökonomische Machtposition, die sie mit der Verfügung über das knappe Gut der Arbeitsplätze hat, weil die Gegenseite sie braucht. Und zwar mehr denn je, weil Lufthansa in großem Maßstab Leute entlässt bzw. kurzarbeiten lässt – ein erstaunlicher letzter Dienst des Kommandos über die Arbeit.

Der Kompromisslosigkeit der Lufthansa haben die Gewerkschaften nichts entgegenzusetzen. Von der UFO freimütig und mit standesgemäßem Pathos bilanziert, geht ihnen die Kampfparität zwischen Gewerkschaften und Unternehmen[5] ab – ohne die Fähigkeit, einen laufenden Betrieb durch Streik lahmzulegen, stehen sie der Gegenseite ohnmächtig gegenüber. Umso entschiedener fällt ihr Blick auf den Staat, der seine Macht als Retter des Unternehmens gerade eindrucksvoll in Anschlag bringt: In eindringlichen Appellen, offenen Briefen und allem, was sie sonst mobilisieren können, setzen sie auf diese Macht als Instrument des allgemeinen Interesses an der Lufthansa, und damit doch wohl auch an dem gewerkschaftlichen Anliegen, die Arbeitsplätze der ‚Mitarbeiter‘ des Unternehmens zu erhalten [6] – und bekommen die verbindliche, für sie vernichtende Auskunft, dass der Staat das allgemeine Wohl in der Rentabilitätssicherung des Unternehmens als Basis eines erfolgreichen Kräftemessens mit den ökonomischen Kontrahenten am besten aufgehoben weiß. Verdi und VC versuchen daraufhin eine Zeit lang, aus der Verweigerung der Zustimmung zu den einseitigen Ansagen der Lufthansa ein Instrument für sich zu machen. Sie stellen temporäre Zugeständnisse im Austausch gegen eine Garantie der Beschäftigungsverhältnisse in Aussicht, wie sie das geltende Tarifwerk vorsieht – und der Konzern antwortet mit der ultimativen Drohung eines möglichen Schutzschirmverfahrens, das die Gewerkschaften völlig ausmischen würde. [7] Objektiv sind UFO, VC und Verdi am Ende, subjektiv nicht. Sie wenden sich abermals an den Konzernchef:

„Wir wenden uns heute gemeinsam an Sie, um Ihnen unsere Unterstützung bei allen nötigen Maßnahmen zur Stabilisierung unseres Konzerns in diesen schwierigen Zeiten zuzusichern. Wie viele andere Wirtschaftszweige und Unternehmen auch, trifft unseren Konzern die Corona-Krise unverschuldet und in besonderer Härte. Es werden große Anstrengungen und die Unterstützung aller beteiligten Mitarbeitergremien und Gewerkschaften notwendig sein, um Schaden abzuwenden und eine Zukunft nach der Krise zu sichern. Darum appellieren wir heute an Sie: Riskieren Sie nicht, durch kurzfristige, einseitig getroffene Entscheidungen über Umstrukturierungen die Unterstützung der Mitarbeiter zu verlieren! ... Jedwede Entscheidung zur Ausrichtung des Konzerns muss die Belange aller Mitarbeiter im Blick haben... Schließlich hat auch die Lufthansa Group eben diesen Slogan völlig zu Recht für sich entdeckt und trägt ihn öffentlich zur Schau: #weareinthistogether. Dies gilt für alle Beschäftigten aller Betriebe und Tochterunternehmen der Deutschen Lufthansa AG. Darum erweitern wir den Slogan gerne um: #nooneleftbehind. Wenn es Lösungen gibt, die unserem Konzern helfen, dann werden wir diese gemeinsam tragen. Nutzen Sie die Bereitschaft Ihrer Mitarbeiter, diesen Konzern zusammen mit Ihnen durch die Krise zu führen!“ (ACA, IGL, TGL, UFO, Verdi, VC in einem Brief an Carsten Spohr, 6.4.20)

Die Vertreter der betroffen gemachten Belegschaft präsentieren sich als Streber in Sachen Bewältigung einer gemeinsamen Notlage. Eintrittskarte für die offerierte Mitgestaltung der Rettung des Unternehmens soll die Bereitschaft zu einem Tauschgeschäft sein: Sie organisieren die notwendigen Opfer ihrer Klientel gegen deren Berücksichtigung durch die Betriebsführung! Und das starke Argument dafür: Daran muss das Unternehmen ein Interesse haben, weil es die Unterstützung der Mitarbeiter braucht und nicht verlieren darf. Verlieren? Da präsentieren die Gewerkschaften dem obersten Chef der Lufthansa unisono den eisernen Willen der Belegschaft auf dem Silbertablett, ihre Rolle als nützliche Dienstkräfte auszufüllen, und drechseln daraus allen Ernstes einen nicht abzulehnenden Anspruch nach dem Motto: Wir sind von Ihnen abhängig – merken Sie sich das und tun Sie was dafür! Alle Mitarbeiter mitnehmen, die die Lufthansa für ihr Überleben in Haftung nimmt – das wäre gutes Management.

Der Adressat des offenen Briefes, Konzernchef Spohr, und seine Adlaten erteilen in den folgenden Verhandlungen in aller Klarheit die Auskunft, dass diese Position nichts wert ist. Denen, den ‚uneinsichtigen‘ Konzernvertretern also, lasten die Gewerkschaften daraufhin die Verhinderung gemeinschaftlicher Krisenbewältigung an. Sie leisten sich den Widerspruch, die Absichten der Krisenbewältigung vollkommen zu durchschauen, wie sie das Management ja auch unmissverständlich vollstreckt, und das Ganze gleichzeitig als großangelegten Missbrauch der Krisenlage durch dieses unmoralische Management zu diffamieren. [8] Sie nehmen ideell auseinander, was auf einschlägige Weise zusammengehört: Das private Bereicherungsinteresse der Eigentümer am Unternehmen und das Unternehmen als – eigentlich nützliches – Erwerbsmittel seiner Angestellten. Helfen tut das nichts.

Praktisch macht die Lufthansa die Vorgaben, denen die Gewerkschaften nicht auskommen. Ihre Anstrengungen, wenigstens das Schlimmste zu verhindern, laufen gemäß den Fortschritten des Sanierungsplans als Kette von Vereinbarungen ab: Zuerst vereinbart UFO in einem Tarifvertrag Krise Nullrunden, Lohnkürzungen in Gestalt der Streichung von Zuschüssen zur Altersvorsorge u.ä. sowie reduzierte Arbeitszeit ohne Lohnausgleich, quittiert also die verbilligte und flexible Anwendung aller Flugbegleiter. Dabei verteilt sie die vom Konzern angesagten Kürzungen nach Kräften auf viele Schultern und verlegt die Auswirkungen nach Möglichkeit in die Rentenzeit, auf dass sie akut und individuell irgendwie handhabbar bleiben. Im Gegenzug erhält UFO formell eine Beschäftigungsgarantie für Flugbegleiter mit 14-tägiger Kündigungsfrist. Die bleibt aber eine unbeachtete Randnotiz, weil die Lufthansa das Ganze ohnehin zu keinem Zeitpunkt als verbindlichen und für UFO bzw. die beschäftigten Flugbegleiter verlässlichen Abschluss behandelt. Die anderen beiden Gewerkschaften verweigern sich zunächst größeren Tarifabschlüssen und schließen stattdessen sukzessive kurzfristige Vereinbarungen über massiven Gehaltsverzicht gegen Beschäftigungsgarantien, die jeweils in etwa so lange gelten wie die aktuelle Kurzarbeitsregelung. [9] Ihrer Lesart, damit Kündigungen verhindert zu haben, sowie ihrer Bereitschaft, entsprechende Ausnahmeregelungen im Bedarfsfall zu verlängern, steht die klare Ansage des Konzerns gegenüber, seine prolongierte Erpressungsposition für nachhaltige Fortschritte in Anschlag zu bringen. [10] So kommt die gewerkschaftliche Ratifizierung der Position der Gegenseite Stück um Stück voran – begleitet von der permanenten Beschwerde über ein unnachgiebiges Management.

*

So funktioniert also Krisenbewältigung auf deutsche Art, exemplarisch am Fall Lufthansa. In der staatlich verordneten Krise kollidieren die Interessen von Arbeitgebern und Belegschaften, weil sie auch sonst nur durch das Elend einseitiger Abhängigkeit miteinander verbunden sind. Was da kollidiert, sind Firmen- und Belegschaftsinteressen als Fälle eines Interessengegensatzes, der gesellschaftliche, ökonomisch definierte Klassen gegeneinanderstellt; eines Gegensatzes, dem der Staat den Rang eines Ordnungsprinzips seiner Gesellschaft verleiht. Und im Sinne dieser Ordnung bewältigen wiederum exemplarisch beide Seiten ihre Kollision – machtvoll die eine Seite, defensiv und anpassungsbereit die andere. So sozialfriedlich funktioniert Klassenkampf in der BRD im 21. Jahrhundert.

[1] Die Lufthansa bietet bei Ocean ausschließlich 70-Prozent-Teilzeitstellen mit 24-monatiger Befristung. Markus Germann von der Vereinigung Cockpit sagt: ‚Ich habe mit Piloten der deutschen Brussels Airlines gesprochen, die rund die Hälfte weniger verdienen würden, wenn sie eine 70-Prozent-Stelle bei Ocean annehmen.‘ Der Rechtsanwalt, der bei der Pilotengewerkschaft für Tarifpolitik zuständig ist, sagt zur Einordnung: ‚Das Gehalt bei Ocean liegt noch unter dem Niveau von Sun Express. Und Sun Express war nie tarifiert.‘ Dieselben Bedingungen gelten bei den Flugbegleitern: Durch die 70-Prozent-Anstellung ergebe sich aber ein Gehalt von 1400 Euro brutto und 1120 Euro netto. ‚Leben im Großraum Frankfurt ist damit beinahe unmöglich.‘ Der Tarifreferent kritisiert weiter, es gebe keine Pauschalen für die Purser [Chefstewards], es müssten 75 Blockstunden geleistet werden anstatt sonst 70 oder 72, und es gebe auf sieben Tage gerechnet nur 33 Tage Urlaub pro Jahr, wo sonst etwa 42 Tage Standard seien... ,Der eigentliche Skandal ist jedoch, dass Lufthansa Fluglinien wie Sun Express und Germanwings abwickelt und sich die Mitarbeitenden bei Ocean bewerben lässt‘, sagt Jäger. ‚Dort starten alle mit dem Einsteiger-Gehalt und sechs Monaten Probezeit, egal wie viele Jahre sie vorher schon für die Lufthansa-Gruppe in Festanstellung gearbeitet haben. Man tut so, als hätte man mit diesen Menschen noch nie etwas zu tun gehabt.‘ (aerotelegraph.com, 25.9.20)

[2] Nach einem Treffen mit den Gewerkschaften Verdi, Vereinigung Cockpit (VC) und der Unabhängigen Flugbegleiterorganisation (UFO) erklärte der Konzern, dass er rechnerisch 22 000 Vollzeitstellen bzw. 26 000 Mitarbeiter zu viel für den künftig kleineren Betrieb an Bord habe... Der Vorstand möchte in rund 10 Tagen konkrete Ergebnisse erreichen. (FAZ, 12.6.20)

[3] Die deutsche Lufthansa beteuert seit Wochen, Kündigungen möglichst vermeiden zu wollen. Für flexible Arbeitszeitmodelle und Teilzeitregeln setze er auf die ‚Solidarität der Lufthanseaten‘, erklärte Spohr. (FAZ, 12.6.20)

[4] Ein Knackpunkt in den Gesprächen war, dass Lufthansa neben den Gehaltskürzungen unter dem Namen ‚Projekt Ocean‘ eine Plattform aufbauen will, für die eigene – niedrigere – Tarife gelten sollen. Dass der Konzern dort auf externe Neueinstellungen verzichten und stattdessen überzählige Piloten unterbringen will, besänftigt die VC nicht. (FAZ, 20.8.20)

[5] UFO-Positionspapier zu möglicher Staatshilfe im Luftverkehr, ufo-online.aero

[6] In einem offenen Brief fordern die Arbeitnehmervertreter und die Gewerkschaften die Regierung auf, die geplante Tarifflucht zur Not mit politischer Intervention zu stoppen (Pressemitteilung der VC, 30.9.20). Die Milliarden Staatshilfen, die die Airline in den vergangenen Monaten zugesichert bekommen hat, seien dazu da, Arbeitsplätze zu sichern und nicht in ein neues Großprojekt in diesen prekären Zeiten zu investieren, das vermutlich noch zahlreiche Entlassungen mit bewirken würde.

[7] Nach drei Monaten könnte jeder Arbeitsvertrag gekündigt werden. Tarifverträge wären null und nichtig. (Der Spiegel, 7.11.20)

[8] Im Windschatten der Krise versucht der Konzern sein lang gehegtes Projekt ‚Ocean‘ durchzuziehen, um in einem wiederholten Anlauf Arbeitsplätze ohne Einfluss von Gewerkschaften aufzubauen und sich erfolgreicher Konkurrenz in diesem Sektor zu entledigen. Diesmal jedoch auf Staatskosten, denn ohne das Geld der Steuerzahler wäre das Unternehmen pleite; damit nun einerseits Tausende rauszuwerfen, um andererseits zu 1400 € brutto wieder einzustellen, ist unverfroren und unanständig. (UFO-Vorsitzender Daniel Flohr, 30.9.20)

[9] Massenentlassungen von Piloten wird es bei der Lufthansa in den kommenden Monaten voraussichtlich nicht geben. Das teilte die Gewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC) am Mittwoch mit. Die von der Corona-Krise hart getroffene Airline und die Gewerkschaft einigten sich demnach auf einen längerfristigen Krisentarifvertrag bis mindestens Ende März 2022... Der Krisentarifvertrag sieht nach VC-Angaben vor, die Kurzarbeit der Piloten bis Ende 2021 zu verlängern. Außerdem darf die Lufthansa die Arbeitszeit mit entsprechenden Gehaltseinbußen kürzen und Tariferhöhungen aussetzen. Im Gegenzug sind betriebsbedingte Kündigungen für die Dauer des Vertrags ausgeschlossen. Der Konzern könne die Laufzeit bis Ende Juni 2022 verlängern. Die Gewerkschaft bezifferte die Einsparungen auf etwa 450 Millionen Euro. Zusammen mit dem bereits geschlossenen Paket für 2020 ergäben sich insgesamt mehr als 600 Millionen Euro. Bislang gab es mit der Pilotengewerkschaft nur eine Vereinbarung bis zum Ende dieses Jahres. Die Lufthansa drohte an, ohne Einigung müssten bereits im zweiten Quartal 2021 rund 500 Kapitäne und 500 Erste Offiziere das Unternehmen verlassen. Das wären rund 20 Prozent der Mannschaft im Cockpit. (hessenschau.de, 23.12.20)

[10] Wir wollen die Laufzeit des Krisentarifvertrags nutzen, um mit der Vereinigung Cockpit nachhaltige strukturelle Lösungen als Reaktion auf die veränderten Rahmenbedingungen zu vereinbaren, um Kündigungen auch nach der Laufzeit vermeiden zu können. (Lufthansa-Personalvorstand Michael Niggemann, 23.12.20)