Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
Die „schrecklichen Bilder von Moria“
Eine humanitäre Katastrophe und ihre politmoralischen Lehren
Im September stürzt ein Großbrand im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos die ca. 15000 Insassen in noch größere Not und stört für ein paar Tage die zynische Routine, in der Europas Staaten seit Jahren an ihrer Südost-Ecke unter reger öffentlicher Anteilnahme und in kompletter Ignoranz allfälliger Proteste von Hilfsorganisationen ihre Flüchtlingsfrage samt den alltäglichen Opfern abwickeln.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Die „schrecklichen Bilder von
Moria“
Eine humanitäre Katastrophe und ihre
politmoralischen Lehren
Im September stürzt ein Großbrand im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos die ca. 15 000 Insassen in noch größere Not und stört für ein paar Tage die zynische Routine, in der Europas Staaten seit Jahren an ihrer Südost-Ecke unter reger öffentlicher Anteilnahme und in kompletter Ignoranz allfälliger Proteste von Hilfsorganisationen ihre Flüchtlingsfrage samt den alltäglichen Opfern abwickeln.
Insofern hoffen Pro Asyl, Ärzte ohne Grenzen usw. auf die
Macht der schrecklichen Bilder von Moria
als
günstiges Momentum dafür, dass den Lagerinsassen diesmal
sofort und umfänglich mit Evakuierung geholfen wird und
sich in Sachen europäischer Asyl- und Migrationspolitik
generell endlich mal etwas zum Besseren wendet: Die
Katastrophenbilder müssten in ihrer Eindringlichkeit doch
endlich einmal bei der Politik Eindruck machen und das
moralische Gewissen der Verantwortlichen aufrühren,
dass es so nicht weitergeht
, sondern die Menschen
in Not an Europas Küsten auf eine Art behandelt werden
müssen, wie es unsere europäischen Werte und
humanitäre Pflicht
verlangen. – Und tatsächlich: Für
einen Moment scheint die Politik der Moral zu folgen; die
Katastrophenbilder nehmen zwei, drei deutsche
Ministerpräsidenten zum Anlass, mit der Aufnahme von ein
paar hundert Opfern ‚unbürokratisch‘ zu helfen. Dem
schließen sich etliche deutsche Bürgermeister an, die in
ihre halbleeren Asylunterkünfte schauen und anbieten, im
Namen der ‚Menschlichkeit‘ jeweils ein paar Dutzend oder
hundert Menschen in größter Not aufzunehmen, sodass, wenn
alle zusammenlegen, schon mal der größte Teil der
Katastrophenopfer in Deutschland untergebracht wäre.
Noch ehe die Proteste und Appelle verhallt sind oder ein paar Asylunterkünfte aufgesperrt wären, machen die führenden Beauftragten der politischen Hochkultur in Europa daraufhin unmissverständlich klar, was die christlich-abendländische Humanität, die jetzt mal wieder akut gefragt ist, gebietet – wenn sie sie in die Hand nehmen.
*
Einfach so und sofort den armen Tröpfen auf Lesbos zu
helfen – alle Mittel dazu hat man schließlich sachlich in
der Hand – geht in einem modernen Rechtsstaat natürlich
nicht so einfach, bzw.: geht gar nicht! Das will
rechtsstaatlich sauber geregelt sein, und da erinnert der
Bundesinnenminister Seehofer
die hilfsbereiten Menschen aus Hilfsorganisationen und
Gemeinden mit der Bundeseinheitlichkeit
in Sachen
Asyl und Migration unsanft an die politische Befehlskette
von Hilfsleistungen: Bevor auch nur ein Flüchtling aus
Moria ausgeflogen wird, nimmt Seehofer die Sache in die
Hand und serviert alle Hilfsangebote mit Verweis auf
seine Zuständigkeit und der Klarstellung ab, dass, was
die angeht, Deutschland seine humanitäre Pflicht 2020 mit
der Aufnahme von etwa 400 unbegleiteten Minderjährigen –
dem Inbegriff menschlicher Schutz- und
Hilfsbedürftigkeit – eigentlich längst erfüllt hat. Aber
sei’s drum, auch Seehofer zeigt sich nichtsdestotrotz von
dem besonderen Ereignis betroffen – Furchtbare Bilder!
Kinder, Schwangere ...
– und sieht akuten
Handlungsbedarf: Deutschland geht humanitär voran.
Dabei lässt er freilich keinen Zweifel, dass an dieser
Botschaft das Entscheidende ist, dass nicht nur
Deutschland und vielleicht acht, neun willige Staaten
helfend vorangehen, sondern alle anderen
EU-Staaten nachfolgen: Deutschland darf nicht
allein bleiben – nicht wegen eines Gerechtigkeitsfimmels
des Ministers in Sachen moralischer Verpflichtung
Deutschlands, sondern weil Moria eine Gelegenheit ist,
ein schon länger gehegtes europapolitisches Anliegen als
humanitäre Staatenpflicht mal wieder auf die Tagesordnung
zu setzen: Die Gefolgschaft aller wäre eine Art erster
Schritt hin zu einer gemeinsam-europäischen Asylpolitik,
mit der sich über den Einzelfall hinaus alle EU-Staaten
ein Stück nationaler Souveränität über Bevölkerungs- und
Sozialpolitik abkaufen lassen zugunsten eines
europarechtlich verbindlichen Regimes, wie Asylbewerber
in ihre Völker einzubauen sind oder nicht. Mit welcher
Zahl an aufgenommenen Moria-Opfern die deutsche
Regierung dem unwilligen Rest ihren Führungsanspruch
aufnötigt, ist freilich unterhalb der überparteilichen
Einigkeit, dass sich 2015 nicht wiederholen darf
,
noch offen. Der demokratisch formvollendete
Abstimmungsprozess, wie viele Aufgenommene aus Moria für
den humanitären Schmuck Wir müssen sofort helfen!
nötig sind, kann – bei aller Dringlichkeit der Hilfe –
natürlich etwas dauern. Aber nach vier, fünf Tagen einer
regen innerdeutschen Koalitions- und
Parteienverständigung, wie hoch der Preis Deutschlands
für ein starkes Signal an die europäischen Staaten sein
muss, dürfen handgezählte 1553 anerkannte Asylbewerber
von den griechischen Inseln nach Deutschland einreisen
und so einige Geflüchtete in ihrer verbrannten Scheiße
auf Lesbos hoffen, vielleicht demnächst ausgeflogen zu
werden – als quasi humanitärer Summenstrich aller
politischen Erwägungen, wie man die ‚hartherzigen‘ fünf
oder sechs Staaten in Europa erstens vor der
idealisierten Fassung europäischer Migrationspolitik
blamiert und zweitens vielleicht doch mal auf Linie
bringt...
So leicht blamieren lässt sich ein gestandener Demokrat
vom Schlage des österreichischen Kanzlers
Sebastian Kurz allerdings nicht, schon
gleich nicht vor dem Maßstab des Helfer-Ethos einer
deutschen Regierung: Über Social Media verbreitet er eine
volle Breitseite eigenes Gewissen und
Betroffenheit – Diese schrecklichen Bilder aus Moria
lösen in mir unglaubliche Betroffenheit aus.
– und
verwahrt sich dagegen, nichts für Menschen in Not übrig
zu haben: Erstens hat auch Österreich schon mal
Kinder aufgenommen, und Österreich hilft mit Zelten und
Matratzen – in Griechenland. Damit können sich die
Menschen auf Moria auf den sicher kommenden Winter
vorbereiten und wieder in der ganz normalen ‚Hölle von
Moria‘ der letzten sechs Jahre häuslich einrichten. Die
Hilfe vor Ort
führt aber zweitens zu einem
moralisch viel wuchtigeren Konter; Kurz blamiert
seinerseits die von Seehofer geforderte
Sofortaufnahme
an einem Armutsproblem ganz anderen
Ausmaßes. Er breitet in seiner Online-Betroffenheit das
selbst gesehene
millionenfache Elend von Somalia
bis Afghanistan aus, das in seiner Schilderung gar nicht
groß und drastisch genug ausfallen kann, um die Aufnahme
von ein paar Kindern aus Moria – im Vergleich dazu – umso
lächerlicher aussehen zu lassen: Wir brauchen keine
Symbolpolitik!
, desavouiert Kurz den deutschen Antrag
als ganz untaugliche, wenn nicht geheuchelte Hilfe – für
eine sowieso viel größere Problemlage, für die
er, Kurz, mit seinem realistischen Blick ganz genau weiß,
wie man ihrer Herr wird und wie nicht: mit der Aufnahme
sei es von Moria-Opfern oder anderswo anlandenden
Flüchtlingen jedenfalls schon mal nicht. Dafür ist
Österreich und selbst die ganze EU viel zu
klein, lautet der fiktive Befund, mit dem sich Kurz
mit seinen Verweisen auf das weltweite Elend in die Pose
des Politikers wirft, der das ganz große Elend
ganz systematisch und langfristig angeht und von daher
feststellen muss, dass in der Hinsicht 2015 ein Fehler
war
. Jeder damals aufgenommene oder heute
ausgeflogene Flüchtling schadet nämlich den
Millionen Hungerleidern in den Armutsstaaten des
globalisierten Kapitalismus, indem er die ganz
falschen Bilder in Afrika und Afghanistan
produziert. Sie tragen nichts als die Illusion
in die Welt, dass die lebensgefährliche Flucht nach
Europa eine Option wäre, statt für Einsicht zu sorgen,
dass es diese Option ein für alle Mal nicht gibt, weshalb
in die Dritte Welt gepostete Bilder von den grauenhaften
Zuständen in Griechenland gar nicht abschreckend genug
sein können: Sie sind eben kein Armutszeugnis
,
keine Schande
für Europa, sondern umgekehrt ein
informativer Beitrag der Medien, Pull-Faktoren
zu
eliminieren, und damit ein politisch-humanitärer
Dienst an den Elenden in der Welt. Anstatt
verkehrter Symbolpolitik
ist also nachhaltige
Hilfe
angesagt, die wirklich
etwas bringt und
deshalb auch moralisch voll in Ordnung geht:
„Fluchtursachen bekämpfen“, lautet die
ultimative politische Formel, mit der Kurz und Konsorten
einen menschlicheren Umgang mit Flüchtlingen in Europa
abservieren und das Flüchtlingsproblem und seine Lösung
„von der Wurzel her“ in die Herkunftsländer verfrachten.
Dafür lobt Kurz ganz unverbindlich finanzielle
Hilfe
für die Drittweltstaaten aus, die Floskel für
das zynische Politik-Versprechen, dass man sich dafür
starkmacht, dass sich in Somalia oder Niger irgendwann
irgendetwas zum Besseren in Sachen Lebensverhältnisse
ändert – Hauptsache, die dortigen Hungerleider bleiben
„uns“ vom Leib...
Dieser Botschaft kann die politische Führung in der Wiege
der europäischen Demokratie durchaus etwas abgewinnen.
Auch der griechische Ministerpräsident
Mitsotakis sieht sich durch die Katastrophe
moralisch herausgefordert zu einer demonstrativen
Protestgeste gegenüber Deutschland. Die nördliche
Führungsmacht setzt sich ja mit ihren Aufnahme-Angeboten
locker über die hoheitlich verfügte Lagerpolitik
Griechenlands, welche die Lager-Insassen für Monate und
Jahre auf Lesbos festnagelt, hinweg, nachdem sie
Griechenland erst zum Hauptbetroffenen ihrer
Welt-Flüchtlingspolitik gemacht hat und dann mit
verlogener Kritik an angeblich unhaltbaren
Zuständen
auf Lesbos und Samos belämmert. So nicht!
Mitsotakis lässt die ersten zwei Wochen keinen einzigen
Moria-Insassen ausfliegen und erteilt Seehofer und den
Geflüchteten der Welt so die moralische Lehre, dass sich
im rechtsstaatlichen Europa Verbrechen nicht
lohnen
, Griechenland sich jedenfalls durch
Brandstiftung
, also die unhaltbare Situation der
Flüchtlinge, nicht ‚erpressen‘ lässt. Dieser
diplomatische Akt wahrt immerhin den Schein
griechischer Souveränität in Flüchtlingsangelegenheiten
am Südost-Rand von Europa gegen die humanitär
aufgepeppten Zudringlichkeiten der Führungsnationen aus
dem Norden und erneuert den Anspruch des griechischen
Staates auf europäisch finanzierte und abgesegnete
geregelte Lagerzustände unter seinem Kommando im
Archipel, mit denen Griechenland irgendwie und die
‚Festung Europa‘ insgesamt sehr gut leben können.
*
Am Ende zeigt sich auch noch die
EU-Kommission von der
außerplanmäßigen Lager-Katastrophe betroffen und nährt in
Gestalt ihrer mitfühlenden Präsidentin die Illusion eines
politischen Veränderungswillens, der an den Moria-Opfern
Anteil nimmt: Sie setzt das uralte Projekt eines
europäischen Pakts für Asyl und Migration
mit
besonderer Dringlichkeit neu auf die Tagesordnung und
fordert Solidarität – unter Europas
Staaten. Die europäische Lehre aus den Zuständen
auf Lesbos ist die Erkenntnis, dass man in der Frage
einer Unterordnung aller europäischen Souveräne unter ein
verbindliches Asyl- und Migrationsregime nur vorankommt,
wenn man den widerwilligen Kurz, Orbán & Co in
drastischer Weise recht gibt: In Europa gibt es
längst viel zu viele um Asyl bittende Fremde,
weshalb mitfühlendes zwischenstaatliches Handeln darin
besteht, den schwächsten Gliedern in der europäischen
Staatenfamilie mit Abschiebepatenschaften
dabei zu
helfen, möglichst schnell und viel von der unerträglichen
menschlichen Last loszuwerden – damit sich solche
humanitären Katastrophen wie in Moria nicht mehr
wiederholen.