Putins Trolle und Europas Gegenwehr: Die Meinungsfreiheit als Waffe
Das gründliche Vorgehen von Putins Propagandamaschine in Russland ist hierzulande längst bestens dokumentiert; über die neuesten Lügengebäude und Repressionsmaßnahmen wird man auch stets und umfassend auf dem Laufenden gehalten – auch über die tragische Wirkung der Repression, dass die freie Rede, die ungehinderte Zirkulation von Informationen und Meinungen ihre störende bis umstürzlerische Potenz ausgerechnet dort nicht entfalten können, wo es sie am dringendsten bräuchte. Aber wenn es bloß das wäre! Den „Informationskrieg“ führt Putin nämlich weit über die russischen Grenzen hinaus; mit seinen Staatssendern, Trollen und Bots gefährdet er die westlichen Gesellschaften in einer Weise, wie das offene Meinen es bei ihm selbst ja gar nicht erst darf.
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Putins Trolle und Europas Gegenwehr: Die Meinungsfreiheit als Waffe
Das gründliche Vorgehen von Putins Propagandamaschine in Russland ist hierzulande längst bestens dokumentiert; über die neuesten Lügengebäude und Repressionsmaßnahmen wird man auch stets und umfassend auf dem Laufenden gehalten – auch über die tragische Wirkung der Repression, dass die freie Rede, die ungehinderte Zirkulation von Informationen und Meinungen ihre störende bis umstürzlerische Potenz ausgerechnet dort nicht entfalten können, wo es sie am dringendsten bräuchte. Aber wenn es bloß das wäre! Den „Informationskrieg“ führt Putin nämlich weit über die russischen Grenzen hinaus; mit seinen Staatssendern, Trollen und Bots gefährdet er die westlichen Gesellschaften in einer Weise, wie das offene Meinen es bei ihm selbst ja gar nicht erst darf:
„‚Es ist Krieg‘, sagt Jessikka Aro [finnische Journalistin und Autorin von ‚Putins Armee der Trolle‘]. Und nicht erst seit drei Wochen, seit Jahren schon. Wladimir Putins Truppen sind ausgezogen, aber nicht nur in die Ukraine. ‚Sie zersetzen Demokratien überall auf der Welt, sind eine Bedrohung für Meinungsfreiheit und nationale Sicherheit in vielen Staaten.‘ Sie kämpfen dabei nicht nur mit Panzern und Granaten. Sie führen ihre Schlachten auch unblutig, unsichtbar. Mitten unter uns... Was Aro beunruhigt, mehr noch als die Schamlosigkeit der Propaganda: Im Netz gibt es Zuspruch, tausendfach, millionenfach, ohrenbetäubend. Auch in Deutschland, unter Rechtsextremen etwa, und unter den ‚Querdenkern‘. ‚Ich sehe jeden Tag, wie auch ganz gewöhnliche Bürger empfänglich sind.‘“ (SZ, 16.3.22)
Es bleibt nicht beim Alarmschlagen der europäischen Öffentlichkeit. Die regierungsamtlichen und kommerziellen Wächter des freiheitlichen Meinens kommen mit ihrer Gegenwehr nach und nach in die Gänge:
„Langsam, ganz langsam wacht Europa auf. Das Europäische Parlament hat am vergangenen Mittwoch erst eine Resolution verabschiedet, die sich vor allem russische Einflussoperationen und Desinformation vorknöpft... Die Dinge überschlagen sich gerade. Die EU hat RT, Sputnik und deren Töchtern die Sendelizenzen entzogen. Facebook hat gerade mehrere Fake-Accounts von angeblichen Ukrainern gesperrt, die eine ‚Neonazi-Diktatur‘ in ihrem Land beklagen würden. Personen wie ‚Wladimir Bondarenko‘ seien fiktiv, ihre Profilbilder seien von künstlicher Intelligenz kreiert worden. Google will in Europa alle zu RT und Sputnik gehörenden Kanäle auf Youtube verbieten. ‚Endlich‘, sagt Jessikka Aro dazu. ‚Wenigstens das ist ein erster echter Fortschritt.‘“ (Ebd.)
Die EU setzt das Wirken der russischen Medien auf eine Stufe mit Bin Laden und Schlimmerem und setzt die freiheitliche Gegenmacht des Rechtsstaats dagegen ein: ‚Dies ist nun illegaler Inhalt, der wie anderer illegaler Inhalt, Kinderpornographie und Terrorismus, behandelt wird‘, sagte der Beamte.
(FAZ, 2.3.22)
Das ist schon aufschlussreich. Wenn die Sphäre der Information und der privaten Meinungsbildung als eine Frage der nationalen Sicherheit behandelt wird; wenn eine feindlich gesinnte Einmischung in dieser Sphäre als ein Angriff definiert wird, der nicht nur die unbescholtenen ‚hearts and minds‘ europäischer Bürger, sondern ihre Staatsgewalten selbst trifft – dann wird der überragende politische Stellenwert des privaten Meinens in der Demokratie einmal ganz anders deutlich.
Denn so haarsträubend unangemessen es sein mag, wenn Bürger privat den Krieg ihrer Staatsgewalten zum Gegenstand ihres ureigenen Gewissens machen; so fiktiv der Richterstuhl, auf dem sie sich breitmachen, wenn sie da mit sich und miteinander über Recht und Unrecht debattieren und befinden; und so abseitig die Vorstellung, die beurteilten Kriegsherren würden sich irgendwie davon abhängig machen: Für die demokratische Staatsgewalt und für deren vierte Gewalt sind ihre Meinungen überhaupt nicht bloß ihr privater Reim, der nur ihr unmaßgebliches Selbst und sonst niemanden interessieren muss. Im Gegenteil. Gerade weil hier die Bürger die Zwecke und Vorgaben ihres Staates geistig zu ihrer Privatsache machen; gerade weil sie hier mit dem Fehler befasst sind, der sie überhaupt zum Volk im aktiven Sinne qualifiziert, nämlich damit, sich mit der Inanspruchnahme zu identifizieren, die ihnen nolens volens blüht – gerade deswegen gilt erst recht die Umkehrung: Ihr Privates ist politisch. Ihre unmaßgebliche geistige Haltung wird zu einem zentralen Sorgeobjekt der Autoritäten, die die Politik betreiben und das freie Meinen über sie organisieren.
Freilich nicht in dem Sinne, dass nun private Bekenntnisse zur offiziellen Linie gefordert wären. Dass der demokratische Staat seinen Bürgern so etwas gerade nicht zumutet, wird ihm – nicht nur, aber besonders gerne von seinem eigenen Führungspersonal und seinen eigenen Zensurbehörden – hoch angerechnet; so hoch und so oft, dass man merkt, wie wenig sich der Verzicht auf solche obrigkeitlichen Übergriffe auch für freiheitlich-demokratische Rechtsstaaten von selbst versteht, vielmehr als Gunst zu verstehen ist. Ganz explizit wird das in der beliebten argumentativen Figur, die Inhaber von abweichenden Meinungen sollten aus Dankbarkeit dafür, sie äußern zu dürfen, gleich schweigen. Dieser Tage eignet sich dafür der nicht gerade schmeichelhafte Vergleich der Kriegsführer selbst: Putin würde sich solche Abweichungen jedenfalls nicht gefallen lassen...Welche Leistung von den privaten Individuen stattdessen erwartet wird, verraten gerade die breitgetretenen Sorgen, die russische Propagandaoffensive könne zu einer „Spaltung“ des deutschen Volks führen, den „öffentlichen Frieden“ erschüttern: Was auch immer die Bürger im Einzelnen meinen, sie sollen als nationales Kollektiv funktionieren, als geschlossene Einheit. Entscheidend ist dieser Konsens nicht deswegen, weil die Nation auf ein eindeutiges Kommando von ihrer Seite warten würde; ‚etwas zu sagen‘ in dem Sinne, dass sie über die Führung selbst bestimmen, haben sie nicht, nicht einmal über die Art und Reichweite ihrer eigenen Inanspruchnahme. Wichtig ist ihre Einigkeit vielmehr genau deshalb, weil über sie so komplett verfügt wird: Weil zu ihrer praktischen Inanspruchnahme als Volk die Beanspruchung ihres Willens gehört, ist für die Herrschaft von Interesse, was die Bürger dazu ‚zu sagen haben‘, wofür und wie sie beansprucht werden. Ihre Bereitschaft und damit ihre Tauglichkeit als Machtbasis und Manövriermasse ihrer Führung dort, wo die Staatsgewalt ihre Sicherheit auf dem Spiel stehen sieht: nur das interessiert an ihrem privaten Gedankengut, das freilich unbedingt – eine Sorte Verachtung für die Meinungen der Bürger, die mit Gleichgültigkeit eben nichts zu tun hat.
Dass in der Demokratie rechtlich und sittlich auf dem großzügigen Prinzip bestanden wird, dass die Gedanken der Untertanen frei sind, nimmt von diesem totalitären Anspruch nichts zurück. Auch hier gilt das Gegenteil: Einheit zwischen oben und unten wird zur Bürgerpflicht; gerade in Kriegszeiten ist das oberstes politisches Gebot, weil es dann um die praktische Bewährung, sogar die Existenz dieser Einheit geht; genau deswegen und genau dafür hat diese Einheit echt zu sein. Der Zusammenschluss mit der Staatsgewalt, die das Volk für ihre Existenz praktisch beansprucht, will im Wortsinne beherzigt sein, sonst ist er für diese Beanspruchung zu prekär. Der erfolgreiche Vollzug dieser Dummheit kann und soll den Bürgern nicht abgenommen werden; dennoch und deswegen kann man sie damit nicht allein lassen.
Genau das macht die Sicherung dieser Einheit, die Verteidigung im Informationskrieg zu einer diffizilen Angelegenheit. Sofern abweichende Meinungen in Taten umschlagen, die dem Gesetz widersprechen, ist die Sache recht unkompliziert: Die Täter werden bestraft, zukünftige Täter im Idealfall abgeschreckt. Darauf zu warten, dass solche Taten begangen werden, kommt aber natürlich für keinen Staat infrage, der auf seine Sicherheit Wert legt; also wird er auch in der Sphäre der Meinungsbildung selbst aktiv. Im vorliegenden Fall werden russische Staatssender stumm geschaltet; Meinungsäußerungen, die den russischen Angriff gutheißen, werden daraufhin überprüft, ob sie nicht selbst als aggressive Taten zu werten sind, sodass der Verbotskatalog entsprechend verlängert werden muss. Doch das ist alles gar nicht so einfach. Das Verhältnis zwischen privaten Meinungsäußerungen (heilig) und einem Beitrag zu einer feindlichen Tat (verboten) ist nicht eindeutig, was den beruflichen Agenten der westlichen Meinungsfreiheit einiges zu schlucken gibt:
„In Deutschland ist es verboten, bestimmte schwere Gewalttaten öffentlich zu ‚billigen‘. So steht es im Paragrafen 140 des Strafgesetzbuchs. Zu diesen Gewalttaten gehört auch das Führen eines Angriffskriegs. Russlands Invasion der Ukraine ist ein Angriffskrieg. So hat das zwar bislang noch kein deutsches Gericht festgestellt. Aber immerhin hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag schon – verbindlich – entschieden, dass Russlands Armee grundlos ‚aggressiv‘ in die Ukraine eingefallen sei. Unter Staatsschützern etwa in München, Frankfurt oder Hannover hat das hektische Prüfungen ausgelöst. Denn womöglich heißt das: Man kann die Diskussion über diesen Krieg nicht so frei laufen lassen wie die Diskussion über andere, weniger eindeutig verbrecherische Kriege... In Frankfurt haben die Ermittler der Zentralstelle Internetkriminalität (ZIT) bei der Generalstaatsanwaltschaft etwa zehn solcher Parolen gesammelt. Diese neue Form von Hate Speech, das Anfeuern eines Angriffskrieges, wird auch aus der Zivilgesellschaft angezeigt, etwa über die Meldeplattform ‚Hessen gegen Hetze‘. Klar ist für die Juristen aber: Es kommt immer auf den Kontext an. Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Bei Facebook kommentierte ein Nutzer am 11. März eine Rede des russischen Außenministers mit den Worten: Viele Deutsche hätten ‚nicht im Ansatz Kenntnis, um was es wirklich geht und warum Russland richtigerweise so handelt‘. Aber verstand dieser Nutzer, dass es ein Angriffskrieg ist? Billigte er dieses Menschheitsverbrechen vorsätzlich? Ob die Strafgerichte zumindest bei eindeutigen Fällen mitziehen und Fälle ahnden, ist offen. Anklagen gibt es – noch – nicht.“ (SZ, 29.3.22) „Es gibt Meinungsbekundungen, die schwer zu ertragen sind. Die Autokorsos, die mit russischen Flaggen geschmückt durch deutsche Städte rollen, gehören dazu. Auch wenn viele Teilnehmer anderes sagen: Bei diesen Demonstrationen geht es im Kern darum, einen Angriffskrieg zu relativieren oder gar zu rechtfertigen. Für Ukrainer, die in Deutschland Zuflucht vor Putins Bomben gefunden haben, muss dies wie ein Schlag ins Gesicht wirken. Trotzdem schützt unsere Verfassung auch Dummheiten: Meinungsfreiheit gilt nicht nur für mehrheitsfähige Ansichten, selbst in Kriegszeiten... Die Versammlungsfreiheit ist in einer Demokratie ein hohes Gut, auch wenn die Botschaft der Demonstrierenden noch so konträr zur eigenen Meinung sein mag. Verbieten lassen sich die als Friedensdemos deklarierten Autokorsos so einfach nicht. Und das wäre auch ein Fehler.“ (BZ, 12.4.22)
Das heißt freilich nicht, dass die Wehrhaftigkeit der Demokratie hier an ihre Grenze kommt. An der Stelle schalten sich vielmehr die Agenten der freien Öffentlichkeit ein – mit einer Leidenschaft, die erkennbar nicht von oben verordnet wird. Ganz ohne hoheitlichen Auftrag verschreiben sie sich dem Kampf gegen den Missbrauch der Meinungsfreiheit und agieren im Bewusstsein, damit der Nation einen Kriegsdienst zu erweisen. Mit dem Radikalismus der Säuberung, den sie bisweilen an den Tag legen, beweisen sie, wie sehr sie das private Meinen als politische Angelegenheit ernst nehmen, für die sie – als Vertreter einer vierten Gewalt im Staate – sich verantwortlich wissen. Dass und wie sehr die Journalisten und Talkmaster der Nation ihr eigenes Denken als ein Stück Pflichterfüllung auffassen und betreiben – davon zeugt gerade das empörte Rechtsbewusstsein, mit dem sie all denen begegnen, die ihre abweichenden Meinungen nicht schnellstens korrigieren. So, nämlich im Interesse der Volksmoral, der meinungsmäßigen Geschlossenheit der Bevölkerung, nimmt die Öffentlichkeit ihren Kampf den Putin-Verstehern
auf. Er betrifft in erster Linie geistige Autoritäten aller Art, diejenigen, die allein wegen ihrer Prominenz für die Bevölkerung stilbildend sind: Egal ob es sich um Journalisten handelt, die über Jahre die russische Politik verdolmetscht haben, oder einen Ex-Kanzler, der die deutsch-russische Energiepartnerschaft vorangetrieben hat, sie werden bei Lanz und Co zu öffentlichen Schuldeingeständnissen, zur Distanzierung von eigenen Irrtümern
und Fehlern der Vergangenheit
gedrängt; wer seine Meinung zum Krieg in einer expliziten Verurteilung des russischen Angriffskriegs nicht ganz aufgehen lässt, macht sich mit dem Moskauer Schlächter gemein und damit mitschuldig. Auch für eingefleischte Fans der rechtsstaatlichen Freiheit verschwimmt hier schnell die Grenze zwischen Agenten im Auftrag des Feindes und denen, deren abweichende Meinungen dem auswärtigen Feind bloß nutzen. Sie werden als geistige Brandstifter
und Handlanger Putins
diffamiert, fortan aus Talkshows verbannt und mit allem, was die öffentliche Empörung an praktischem Druck zu entfalten vermag, mit Auftritts- und Publikationsverboten belegt.[1]
Was solche Figuren, gebeten oder ungebeten, von sich geben – zum allergrößten Teil mehr oder weniger elaborierte Aufrufe zu einer nicht gar so einseitigen Antwort auf die Schuldfrage, zu ein bisschen Frieden, zumindest zu etwas Vorsicht beim Kriegführen vorm Atomkrieg –, dem wird eine Bedeutung für die geistige Hygiene des Volkes zugeschrieben, die mit dessen Geringschätzung korreliert.
Der Standpunkt, dass prominente Privatmeinungen zum Krieg als entscheidende Taten im Krieg zu werten sind, ist auch für eine Rehabilitierung der Netzöffentlichkeit gut. Vor der praktizierten Verantwortung einiger Promis, die als ‚Warfluencer‘ ihre mediale Reichweite aus der Selbstdarstellung hinaus in den Dienst der Gesinnungspflege ihrer Follower stellen, kann der seriöse Journalismus nur den Hut ziehen:
„Beckham als Warfluencer zeigt die neue Dimension der sozialen Medien im Social-Media-Krieg neben dem dinglichen Krieg. Dadurch bekamen Millionen Menschen Einblick in die katastrophale Situation vor Ort in der ukrainischen Klinik, die davon sonst vielleicht wenig erfahren hätten. Die Leute in der Ukraine selbst, die am schlimmsten betroffen sind vom russischen Überfall, können in Beckhams Aktion eine Stärkung der Aufmerksamkeit für ihre Sache erkennen. Aufmerksamkeit ist für Konflikte auf mehrere Arten essenziell. Vor allem, weil die dadurch geführten Debatten in liberalen Demokratien tatsächlich eine Wirkung entfalten. Ohne die bundesweite, lautstarke Empörung über die anfängliche Zurückhaltung der Bundesregierung in Sachen Waffenlieferungen an die Ukraine wären die zunächst zugesagten 5000 Helme vermutlich noch immer die einzige Hilfe Deutschlands. Beckhams Insta-Übergabe ist der prominente Truppenbesuch des 21. Jahrhunderts.“ (Der Spiegel, 23.3.22)
Vermutlich
– in der Demokratie weiß man ja nie, ob die Aufhetzung des Volkes von oben, wenn sie wirksam wird, nicht auch umgekehrt wirkt. Für den Zweck sind die allgegenwärtige Penetranz und die alberne Angeberei der Insta-Welt womöglich genau das Richtige:
„Die Kraft der sozialen Medien liegt darin, zwar eine Inszenierung anzubieten – aber trotzdem einen sehr wahrhaftigen und unmittelbaren Blick in die Realität anderer Leute zu erlauben... Warfluencer sind – das ist meine persönliche Sicht – sogar notwendig, um die Monstrosität des Krieges denjenigen nahezubringen, die über jeden anderen Aspekt ihres Lebens auch in sozialen Medien informiert werden. Vielleicht sind TikTok-Videos in ihrem eingeübten Zwang zu Kürze und beiläufiger Prägnanz und von echten Personen als Absendern sogar die bessere Art, einen Krieg zu fühlen. Oder besser: dem Publikum wenigstens eine entfernte Ahnung vom Gefühl des Krieges zu vermitteln. Die Bilder allein kennt man hunderttausendfach, aus Videospielen und Filmen. Aber das über soziale Medien dargestellte, persönliche Erleben des Krieges von einer Person, die man zuvor schon verfolgt hat (oder hätte verfolgen können), entfaltet eine ganz andere Wucht.“ (Der Spiegel, 23.3.22)
Kitschig, aber schön. Die Botschaften können nicht primitiv, einsilbig, albern und auch noch ‚inszeniert‘ genug sein, wenn es darum geht, dem Publikum den Krieg auf die richtige Weise nahezubringen – nämlich so, dass die offizielle Kriegspropaganda sie in ihrem Gefühlshaushalt erwischt, ohne die Zumutung eines noch so verlogenen Scheins von Distanz, die zu einer Ansprache an den Verstand gehört. Das Ganze mag zwar ein Stück zu unseriös, vielleicht auch zu manipulativ für diejenigen sein, die die bodenlose Heuchelei der deutschen Qualitätspresse gewöhnt sind – die nämlich so tut, als ob ihre gelehrten Feind- und Freundbilder irgendetwas mit objektivem Wissen zu tun haben. Aber auch solche mündigen Leser müssten zugeben: Die Leistung, auf die es den seriösen Medien ankommt, erst recht aus Sicht des wirklich Zuständigen für die nationale Sicherheit, dem sie ganz ohne Dienstverpflichtung dienen und sich verpflichtet wissen, erbringen solche Warfluencer
in schnörkelloser Reinform. Und weil die Masse an Posts die allgemeine Gültigkeit des antirussischen Kriegsurteils beglaubigt, kann auch jeder weitere Tweet helfen
. Alle privaten User sind aufgefordert, die schrecklichen Bilder aus den Kriegsgebieten
zu teilen und ihren prominenten Vorbildern nachzueifern, um sich gemäß den Gepflogenheiten der Selbstdarstellung im Netz zu Multiplikatoren der moralischen Mobilmachung zu machen.
[1] Nicht zum Mitleiden, sondern zur Illustration: Der Beck-Verlag wird die Bestseller von Gabriele Krone-Schmalz nicht mehr nachdrucken. Die Autorin, sagt der Verleger, habe eingestanden, dass ihre Bücher widerlegt seien. Ein solches Eingeständnis gibt es nicht: Krone-Schmalz setzt ihre Putin-Apologetik fort... Am 27. Februar schrieb er [Historiker Kowalczuk] seinem Verleger einen Brief, in dem er Krone-Schmalz als Putin-Propagandistin und geistige Brandstifterin charakterisierte. Sie habe entscheidend dazu beigetragen, ‚dass in Deutschland bis heute Verwirrung herrscht bei der Einschätzung des diktatorischen Regimes von Putin und der Geschichte und Gegenwart der Ukraine‘. Kowalczuk forderte den Verleger auf, ‚sämtliche Gewinne aus den Büchern von Frau Krone-Schmalz‘ für ukrainische Flüchtlinge zu spenden ‚und das auch öffentlich zu bekunden‘. Die Antwort aus München fiel zu Kowalczuks Zufriedenheit aus, wie er bei Twitter mitteilte: Jonathan Beck ‚schrieb, dass sie das tun werden (er nannte mir eine konkrete, sehr hohe Summe) – sie werden auch solche Bücher trotz der hohen Nachfrage nicht mehr nachdrucken!‘... Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass das nächste Russland-Buch von Krone-Schmalz nicht mehr bei Beck erscheinen wird, auch wenn der Verleger zu vornehm ist, um sich in dieser hypothetischen Frage festzulegen.
(faz.net, 8.3.22)