Gaza-Krieg 2014
Israels Kampf um die Einstaatenlösung

Im Sommer 2014 ist es wieder einmal soweit: Die dauerhafte Feindschaft zwischen der Hamas und Israel eskaliert zu einem Krieg. Dessen Szenario einschließlich der Resultate in Sachen Opferzahlen und Zerstörung entspricht im wesentlichen dem der vergangenen Gaza-Kriege. Und auch die Muster der kriegsbegleitenden Propaganda und Gegenpropaganda sind bekannt. Die Öffentlichkeit bespricht das Ereignis mit der üblichen Mischung aus Aufregung und Ungerührtheit: Aufgeregt ist sie zwar auch über die vielen Opfer und die Zerstörung von Wohnungen, Infrastruktur und sonstigen Lebensgrundlagen. Vor allem aber empört sie der erneute Anschlag auf die Aussöhnung zwischen den verfeindeten Lagern, den sie in diesem Krieg erblickt. Ein friedlich-schiedliches Nebeneinander von Israel und den Palästinensern muss zu haben, der Dauerkonflikt also eigentlich überhaupt nicht sein: Davon rücken die Kommentatoren mehrheitlich nicht ab. Dass und wie die kriegführenden Parteien aufeinander losgehen und mit welchen Forderungen und unter welchen Bedingungen sie noch während des Krieges ihre Diplomatie wieder aufnehmen: Das zeugt allerdings mehr davon, dass sie mit und wegen ihrer jeweiligen politischen Raison unversöhnlich gegeneinander stehen. Und dass es in Bezug auf diesen Gegensatz durchaus ein paar bemerkenswerte Fortschritte zu verzeichnen gibt.

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Gaza-Krieg 2014
Israels Kampf um die Einstaatenlösung

Im Sommer 2014 ist es wieder einmal soweit: Die dauerhafte Feindschaft zwischen der Hamas und Israel eskaliert zu einem Krieg. Dessen Szenario einschließlich der Resultate in Sachen Opferzahlen und Zerstörung entspricht im wesentlichen dem der vergangenen Gaza-Kriege. Und auch die Muster der kriegsbegleitenden Propaganda und Gegenpropaganda sind bekannt.

Die Öffentlichkeit bespricht das Ereignis mit der üblichen Mischung aus Aufregung und Ungerührtheit: Aufgeregt ist sie zwar auch über die vielen Opfer und die Zerstörung von Wohnungen, Infrastruktur und sonstigen Lebensgrundlagen. Vor allem aber empört sie der erneute Anschlag auf die Aussöhnung zwischen den verfeindeten Lagern, den sie in diesem Krieg erblickt. Diesem Blickwinkel entsprechend sortieren alle Kommentatoren ihre jeweilige Parteinahme. Die erfolgt strikt entlang der Frage, wer den jüngsten Gewaltexzess zu verantworten hat, was für sie vollständig deckungsgleich ist mit der Antwort auf die Frage, wer die Schuld daran trägt, dass der Nahost-Friedensprozess schon wieder nicht vorankommt. Für den sind sie alle so sehr, dass sie noch mitten im, erst recht aber gleich nach dem erneuten Höhepunkt gegenseitiger Todfeindschaft der Kriegsparteien ziemlich ungerührt danach fragen, wie es denn nun weitergehen kann und soll mit diesem sagenhaften „Prozess“. Ein friedlich-schiedliches Nebeneinander von Israel und den Palästinensern muss zu haben, der Dauerkonflikt also eigentlich überhaupt nicht sein: Davon rücken sie mehrheitlich nicht ab.

Dass und wie die kriegführenden Parteien aufeinander losgehen und mit welchen Forderungen und unter welchen Bedingungen sie noch während des Krieges ihre Diplomatie wieder aufnehmen: Das zeugt allerdings mehr davon, dass sie mit und wegen ihrer jeweiligen politischen Raison unversöhnlich gegeneinander stehen. Und dass es in Bezug auf diesen Gegensatz durchaus ein paar bemerkenswerte Fortschritte zu verzeichnen gibt.

1. Der Krieg der Hamas: möchtegern-staatlicher Terror für ein zu gründendes Palästina

Die Hamas gilt im Abendland als terroristische Vereinigung. Diese Einstufung durch die zuständigen Organe der westlichen Wertegemeinschaft versteht sich zugleich als erschöpfende Auskunft über diesen Verein: Aberkannt sind ihm alle nachvollziehbaren, anerkennenswerten politischen Gründe für seine Existenz und seine Betätigung. Dieses Urteil der pur antiisraelisch-nihilistischen Gewalt findet sich mühelos auch da bestätigt, wo die Hamas einmal nicht bei der Beschaffung und Verwendung von Katjuscha- und Qassam-Raketen erwischt wird. Jegliche Aktivität dieser Truppe zur Organisation und Aufrechterhaltung des Alltags im Gazastreifen ebenso wie zur Pflege auswärtiger Beziehungen entlarvt sich als Methode des blanken Machterhalts über Gaza: Die Tatsache zum Beispiel, dass die Hamas durch den organisierten Schmuggel per Tunnel versucht, die Wirkungen der Blockade so weit abzuschwächen, wie es geht, und sich die Mittel für ihre Führerschaft über die Gaza-Palästinenser zu beschaffen, dreht sich dem eingeübten Blick dahin um, dass die Hamas von der Blockade profitiere, während die Bevölkerung leide. Der Umstand, dass die Hamas ihre internationale Isolation durch wechselnde Bündnisse innerhalb der arabisch-islamischen Welt zu durchbrechen versucht, entlarvt sie in der gleichen Weise als machthungrige Fundamentalisten, die zu jeder Kumpanei mit Figuren fähig und bereit sind, die wir genauso wenig leiden können wie die Hamas selber…

Also sind sich die Antiterrorexperten auch beim Gazakrieg dieses Sommers sicher: So hoffnungslos unterlegenen Kriegsherren kann es definitiv nicht um die von ihnen selbst verkündeten Kriegsziele gehen. Viel logischer finden es solche Kommentatoren, der Hamas totalen Vernichtungswillen gegenüber Israel und gleich auch noch das Gegenteil vorzuwerfen, nämlich dass es ihr in diesem Krieg eigentlich bloß darum gehe, die Bevölkerung auf sich einzuschwören, damit die ihre wachsende Unzufriedenheit mit der alltäglichen Unaushaltbarkeit des Lebens im Gazastreifen nicht in Opposition gegen die Hamas überführt.

a)

Auch wenn der Mainstream westlicher Auskenner gerade angesichts des jüngsten Schlachtens nichts dabei findet, die Militanz der Hamas trotz Unterlegenheit als Terrorismus abzuurteilen, lässt sich der politische Zweck der Palästinenserorganisation ihren kriegerischen Taten und ihrer Diplomatie durchaus entnehmen – sie selbst macht jedenfalls kein Geheimnis daraus.[1] Sichtbar wird darin ein politischer Wille, der mit dem Phantasiebild unpolitischer Gewalttaten wenig zu tun hat und sich auch nicht in dem Verlangen nach halbwegs aushaltbaren Lebensbedingungen für die Gaza-Bewohner erschöpft.

Die Hamas bemüht sich nach Kräften darum, als politisches Subjekt, als rechtmäßiger Lenker der Geschicke der Palästinenser und als deren Vertreter und damit nicht zu ignorierender ‚Ansprechpartner‘ für alle Anliegen von außen anerkannt zu werden. Als apolitische Machtversessenheit kann das nur geißeln, wer geflissentlich ignoriert, dass ihr genau das von Israel und den westlichen Mächten mit aller Gewalt bestritten wird. Was die der Hamas damit bestreiten, ist genau das, was sie – wie überhaupt alle veritablen Staaten – für sich beanspruchen und errungen haben: die Anerkennung als legitimer Gewaltmonopolist über Land und Leute. Für die Hamas schließt diese rechtmäßige Hoheit über die Palästinenser die Zuständigkeit für die Bevölkerung im Westjordanland mit ein, um die sie mit der Fatah unter Führung von Mahmud Abbas so erbittert ringt.

Die komplementäre Seite dieses Willens zu ihrem durch alle anderen staatlichen Mächte anzuerkennenden Regiment über die Palästinensergebiete ist der Kampf um deren Anerkennung als Territorium der staatlichen Entität Palästina. Die Hamas kämpft um ein politisches Gemeinwesen, dessen Einwohner ein Volk bilden, das auf eine Herrschaft hört, die es als seine anerkennt, und will deren beider Einheit als Nation darum von allen anderen staatlichen Herrschaften anerkannt bekommen. Das natürliche Recht und Verlangen nach einer echt eigenen Herrschaft entnimmt die Hamas der religiös-nationalen Volkseigenschaft, die sie den dort lebenden Arabern zuspricht. Der Realität entnimmt sie die praktische Gegenprobe: Die Behandlung der Palästinenser durch Israel und alle benachbarten arabischen Staaten als nicht ihnen an- und zugehörig beweist der Hamas, dass sie ein eigenes Volk sind, das zu Israel auf keinen Fall und zu den arabischen Staaten zumindest in deren bisheriger Verfassung schlicht nicht passt. Sich selbst definiert die Hamas nicht nur als Kampforganisation für eine zukünftige palästinensische Staatlichkeit, sondern zugleich als organisierte Vorwegnahme und Keimzelle der religiös-nationalen Einheit eines palästinensischen Volkes und seiner Führung.

Ihr Kampf darum, die internationale Ächtung als Terrororganisation loszuwerden, ist also für die Hamas vollständig identisch damit, dem Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat international Anerkennung zu verschaffen – und zwar nicht in der Form praktisch irrelevanter Willensbekundungen zu einem „Prozess“, der irgendwie und irgendwann einmal dahin führen soll und ansonsten die Palästinenser der Willkür Israels aussetzt. So sollen die verlangte Aufhebung der Blockade, der von wem auch immer zu finanzierende Wiederaufbau der Luft- und Seeverkehrsinfrastruktur und die Einrichtung einer ausgewiesenen Zwölf-Meilen-Zone vor der Küste des Gazastreifens nicht nur irgendwie ein Überleben im Gazastreifen ermöglichen oder erleichtern, sondern darauf hinauslaufen, eine materielle Grundlage, garantiert durch das von auswärtigen Mächten durchzusetzende internationale Recht, also unabhängig von israelischem Gutdünken, zu schaffen, die Israel anerkennen muss.

b)

Ihre bisweilen offen militärisch ausgetragene Rivalität mit der Fatah rührt also ersichtlich nicht daher, dass sich da zwei Organisationen mit ganz verschiedenen und darum gegensätzlichen Zwecksetzungen gegenüberstünden: Beide haben die autonome Staatlichkeit der Palästinenser zum Zweck, das Ringen darum ist ihr ganzer Existenzgrund. Was sie gegeneinander aufbringt, ist die jeweilige Strategie, mit der sie diesen Zweck verfolgen. Die Hamas versteht sich als real existierenden Gegenentwurf zur Politik der Fatah, die sie für gescheitert erklärt.

Aus der totalen Unterlegenheit gegenüber dem in dieser Hinsicht kompletten, wohl ausgestatteten und im Prinzip nach allen Regeln bürgerlicher Politik gut funktionierenden Staatswesen Israel hat die PLO-Führung [2] vor etlichen Jahren noch unter Y. Arafat den praktischen Schluss gezogen, dass eine palästinensische Staatsgründung gegen Israel unmöglich ist. Tatsächlich hat Israel mit seinem hochgerüsteten Militärapparat nie einfach nur gedroht, sondern ihn immer wieder erbarmungslos gegen alle Versuche, eine palästinensische Autonomie zu erzwingen, in Bewegung gesetzt. Die auch von ihr im Prinzip für notwendig gehaltene, aber als total aussichtslos verworfene Gewalt zur Etablierung palästinensischer Hoheitsgewalt versucht die Abbas-Fraktion dadurch zu ersetzen, dass sie mit dem Verzicht auf Gewalt Israel die Anerkennung als Verhandlungspartner, legitimer Vertreter der Palästinenser und damit Nukleus des Staates Palästina abringt. Gleichzeitig setzt sie darauf und wirbt dafür, dass große auswärtige Mächte bei Israel so viel Eindruck machen, dass sich der übermächtige Verhandlungsgegner wenigstens auf das verpflichten lässt, was er allenfalls von sich aus zugesteht.

Wohin sie es damit gebracht hat, ist – nicht nur der Hamas – bekannt: Neben einem Friedensnobelpreis für Arafat hat die Fatah nicht nur nichts erobert,[3] sondern faktisch und teilweise auch höchst formell immer größere Teile der ursprünglichen Kernelemente eines Staates Palästina bzw. seiner Gründung aufgeben müssen. Weil sie ihr Schicksal und das ihrer Vision eines eigenen Staates vollständig an den „politischen Prozess“ mit Israel geknüpft hat, hat sich die Fatah noch nach jeder zeitweiligen Kündigung der Verhandlungen von ihrer Seite oder durch Israel wieder ‚an den Verhandlungstisch‘ begeben – und damit jedes Mal alles anerkannt, was Israel zwischenzeitlich an Fakten geschaffen und an Ansprüchen erweitert hat. Die ‚Rückkehrerfrage‘ hat die Fatah ebenso außer Verkehr gezogen wie ihren Anspruch auf das ganze Territorium in den Grenzen von 1967 usw.. Als politische Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde spielt die Fatah obendrein, wohldosiert in diversen Zonen ersten bis dritten Grades, die Rolle des aktiven Aufpassers und damit des Erfüllungsgehilfen der israelischen Besatzungsmacht, die sich auf diese Weise eines großen Stückes des Verwaltungs- und Kontrollaufwands entledigt und sich ansonsten von nichts abhalten lässt.

c)

Wo die Fatah der Lektion folgt, dass jede palästinensische Autonomie wegen ihrer absolut unterlegenen Gewalt letztlich doch nur so viel wert ist, wie sie von Israel anerkannt wird, da beharrt die Hamas auf dem geraden Gegenteil. Dem von Israel erzwungenen und zugleich durch die Verweigerung jeglicher Zugeständnisse immer wieder neu blamierten Gewaltverzicht der Fatah setzt die Hamas den Standpunkt entgegen, dass Autonomie, die bloß auf Anerkennung beruht, keine ist. Staatliche Autonomie, die hoheitliche Verfügung über die Palästinenser, die auf palästinensischem Land leben, ist nur durch autonome Gewalt zu erreichen. Aus der Perspektive der Hamas sind die Verhandlungen der Fatah mit dem Gegner Israel daher nicht nur durch ihr vorliegendes Ergebnis blamiert, sondern kommen von vornherein einem Aufgeben der ‚nationalen Sache‘ gleich. Demonstrativ besteht die Hamas auf der Umkehrung des Verhältnisses von Autonomie und Verhandlungen mit Israel im Sinne der Wortbedeutung von Autonomie: Wir lassen uns von niemandem und schon gar nicht von Israel etwas konzedieren, was unser Recht ist, weil das, was dann allenfalls konzediert wird, gerade Ausdruck und Ausfluss der Geltung fremden Rechts ist. Als Rechtsinstanz sui generis bestehen Hanija und seine Gefolgsleute auf ihrem gegen Israel geltenden, aus der Natur ihres Volkes erwachsenden Recht als Vorbedingung dafür, dass umgekehrt sie sich vorbehalten, Israel die Gnade der Anerkennung als Staat zukommen zu lassen.[4]

Und darum ist für die Hamas Gewalt auch nicht bloß das Mittel, sondern selber schon das betätigte, vollstreckte Recht auf palästinensische Eigenstaatlichkeit. Mit ihrer Militanz will die Hamas die palästinensische Freiheit nicht erst erreichen, sondern darin agiert und bewährt sie sich schon als frei und autonom handelndes Subjekt. So entspricht die Strategie dem Zweck und bringt ihn gewissermaßen auf den Punkt: ‚Eigenstaatlichkeit‘ ist ja nichts anderes als das durchgesetzte Zuordnungsverhältnis von Leuten zu ‚ihrer‘ obrigkeitlichen Gewalt, die damit alle anderen Obrigkeiten von diesem Verhältnis und aus diesem Territorium ausgrenzt und ihnen die Anerkennung dieser exklusiven Einheit von Staat und Volk abverlangt.

d)

Dieser generelle Standpunkt, von dem aus die Hamas so militant agiert, wird folgerichtig nicht daran irre, dass praktisch bei jeder gewaltsamen Auseinandersetzung mit ihrem Gegner immer schon vorher eines feststeht: Praktisch-militärisch hat die Hamas Israel mit seiner Armee und seinen Geheimdiensten nichts auch nur annähernd Gleichwertiges entgegenzusetzen. Allem, was die Hamas aufzubieten hat, ist anzusehen, dass sie der Militärmaschine Israels hoffnungslos unterlegen und auf puren Abwehr- und Überlebenskampf zurückgestutzt ist. Vom Standpunkt der Palästinenser, die für ihre nationale Freiheit kämpfen, indem sie sie kämpfend leben, beweist der ungebrochen weitergeführte Kampf mit all seinen Opfern die Richtigkeit und Gerechtigkeit ihres Handelns.

Mit ihren Kurzstreckenraketen vermag sie keinen wirklichen militärischen Schaden anzurichten; die Störung des zivilen Alltags in Israel traut sich die Hamas damit allerdings durchaus zu. Und tatsächlich hält Israel diesen Beschuss nicht aus, ohne zu reagieren. Das tut es traditionsgemäß mit einem Militäreinsatz, der im Gazastreifen für viele Tote, Verletzte und gewaltige Zerstörungen sorgt, woraus die Hamas stolz den Beweis drechselt: Die Hamas ist imstande, Israel zu einem solchen Militäreinsatz zu zwingen. Zu einer offenen Konfrontation mit dem israelischen Militär ist die Palästinenser-Truppe nicht in der Lage; mit der Festsetzung von israelischem Militärpersonal durch kleine Kommandotrupps erreicht sie aber wiederum das Eingeständnis Israels, dass es die Hamas nicht vernichten und auch nicht ignorieren kann: Entweder die Gefangenen taugen als lebendige Verhandlungsmasse dafür, von Israel gefangen gehaltene Hamas-Aktivisten und andere Palästinenser freizupressen, oder Israel sieht sich zu groß angelegten Such- und Befreiungsaktionen gezwungen, die wiederum nur eines belegen: Israel kommt nicht umhin, der Hamas als militärischem, und damit zwar nicht gleich starkem, aber doch gleichartigem Gegner praktischen Respekt zu zollen. Dem puren Umfang dessen, was Israel militärisch gegen sie in Bewegung setzt, entnimmt die Hamas, wie weit sie es darin gebracht hat, militärisch relevant zu sein.

Den politischen Gehalt dieses von Israel nicht zu leugnenden Status als Gegner von zwar nicht gleichem Kaliber, aber doch von im Prinzip gleicher Bauart sieht die Hamas nicht zuletzt in den Verhandlungen bewiesen, zu welchen sich Israel bereit gefunden, also offenbar genötigt gesehen hat: In der zwischen wirklichen Staaten vielleicht nicht so üblichen, letztlich aber doch diplomatisch mit allem Hickhack durchdeklinierten Form von indirekten Verhandlungen in einem Kairoer Hotel tun sich die Israelis den Harm und der Hamas die Ehre diplomatischer Anerkennung an, die sie doch sonst immer so lauthals verweigern. Die Palästinenser haben es geschafft, dass ihre politischen Vertreter – zumindest, wenn sie es zu den Verhandlungen nach Kairo geschafft haben – nicht Zielscheiben israelischer Tötungskommandos, sondern Verhandlungspartner sind, deren Forderungen die andere Seite immerhin von den ägyptischen Pendeldiplomaten erst offiziell entgegennehmen muss, bevor sie ungelesen im Papierkorb entsorgt werden. Und in dem Streit darüber, wer eigentlich die Verhandlungen wirklich durch welche Militäraktion oder -reaktion torpediert, sieht sich die Hamas schon wieder nur bestätigt: Mit und durch ihre Militanz hat sie sich den Status einer eigenständigen, weil mit eigenständigen Gewaltmitteln ausgestatteten Verhandlungspartei erobert, die von Israel – das sonst immer tönt, mit Terroristen nicht zu verhandeln – glatt beschuldigt wird, dass sie die Verhandlungen torpediere, die Israel also offenbar doch will, weil es sie braucht.

e)

Dass die Anzahl der Toten auf ihrer Seite regelmäßig um einen zweistelligen Faktor größer ist als die Zahl der Opfer, die sie auf israelischer Seite zu produzieren vermag, ist also auf der einen Seite zwar keine absichtsvolle, perfide Strategie der Hamas zur Beeindruckung der Weltöffentlichkeit, wie ihr immer wieder von denen vorgeworfen wird, die allein schon mit diesem Gerede beweisen, wie wenig sie sich beeindrucken lassen; was hier zum Ausdruck kommt, ist schlicht das asymmetrische Kräfteverhältnis zwischen einem hochgerüsteten, mit allen Offensiv- und Defensivsystemen ausgestatteten Staatswesen und einem Haufen Freischärler. Aber auf der anderen Seite sind diese Opfer für die Hamas auch nicht bloß der bedauerliche, hingenommene, nach Möglichkeit zu vermeidende Schaden, ohne den ihr Kampf nun einmal nicht zu haben ist. Gerade weil sich dieser Kampf angesichts ihrer vergleichsweisen Mittellosigkeit auf die Demonstration des Willens zusammenkürzt, den sie schon in ihrem Namen [5] ausweist, sind auch die Opfer mehr als Opfer – sie sind Märtyrer, denn sie bezeugen diesen Willen in doppelter Hinsicht: Sie beweisen seine leibliche Existenz in jedem einzelnen Palästinenser – der Rechtsanspruch auf eine eigene arabisch-palästinensische Herrschaft ist die Natur dieses Menschenschlags, die sich im Tod während des Kampfes erfüllt – und seine Wirkmächtigkeit: Offenbar kann Israel sich nicht anders behaupten als durch solche Massaker an der palästinensischen Bevölkerung. Wenn der Exilführer der Hamas also angesichts der vielen Toten, Verletzten und der inmitten der Trümmerlandschaft hockenden Obdachlosen erklärt, dass unsere Standfestigkeit selber ein Sieg sei (so der exilierte Chef des Politbüros der Hamas Meshaal in einem Interview am 04.08.2014), dann bringt er damit nur den Zynismus seines Staatsgründungsprogramms auf den Punkt: Sein autonomer Staatsanspruch ist so sehr das Naturrecht derjenigen, die er als seine Volksbasis beansprucht, dass es nicht totzukriegen ist, sondern unausrottbar weiter existiert, solange überhaupt noch ein Palästinenser lebt. Dazu passt es dann auch, wenn die Hamas und andere ansässige und auswärtige Anhänger palästinensischer Freiheit tausendfach per Graffito auf Beton, per Song in Youtube oder sonstwie proklamieren „In der Blockade sind wir frei!“, was sich passenderweise im Arabischen reimt; und per öffentlicher Verteilung von Süßigkeiten bei fröhlicher Lautsprechermusik auf Straßen und Plätzen in den Palästinensergebieten die Schönheit des Opfers zelebrieren, wenn in Israel ein arabischer Selbstmordattentäter ein paar Israelis mit in den Tod reißt.

2. Israel – staatlicher Terror für eine vollendete Jüdische Heimstatt ohne Palästinenser

Wo die Hamas, meist vergeblich, versucht, der Staatenwelt bzw. dem eher unscharf umschriebenen Subjekt namens „Weltöffentlichkeit“ wenigstens propagandistisch die Anerkennung der politischen und insofern ehrenwerten Natur ihres Kampfes abzuringen, da verfolgt Israel mit seiner Propaganda ein genau umgekehrtes Anliegen: Von irgendwelchen politischen Absichten seiner Kriegsführung könne nicht die Rede sein, weil seine Gewalt reine Selbstverteidigung gegen gewalttätige und unberechenbare terroristische Verbrecher sei. Die israelische Regierung wie auch die sonstigen israelischen und ausländischen Befürworter ihrer Politik zitieren dafür gern die Schutzverantwortung, die jeder israelische Politiker für das Leben und den sicheren Schlaf aller Einwohner Israels habe. Dass die Zahl der in den Juli-Gefechten mit der Hamas getöteten Israelis – mehr als 60 – alles überschreitet, was es an israelischen Todesopfern durch Raketen- und Granatenbeschuss aus dem Gazastreifen insgesamt je gegeben hat, und dass das niemanden stutzig macht, beweist, dass es bei niemandem, und schon gar nicht bei den zu schützenden Israelis selbst, Zweifel daran gibt, was das eigentliche Objekt dieser Schutzverantwortung ist: Der Staat Israel sieht sich angegriffen, wenn seinen Bürgern Gewalt angetan wird; er verteidigt sich: die Unantastbarkeit seiner hoheitlichen Verfügung über das Land und die Leute, die seine sind, wenn er dann zur Vollstreckung seines Notwehrrechts schreitet, die sich darum auch an keiner wirklichen Schutz- und Schadensbilanz orientiert oder relativiert. Was – seit jeher schon oder auch inzwischen neu – alles mit beansprucht wird, wenn israelische Politiker dieses Recht auf Verteidigung der staatlichen Existenz des jüdischen Gemeinwesens geltend machen, darüber klären sie mit ihren Kriegsaktionen, politischen Manövern und Verlautbarungen auf.

a)

Mit seinem Raketenschirm „Iron Dome“ – dem weltweit modernsten Abwehrsystem gegen Kurzstreckenraketen – versucht Israel so weit wie möglich auszuschalten, was die Hamas mit ihren Raketen überhaupt vermag. Getrennt davon, wie weit diese technologisch anspruchsvolle Bemühung um Unverwundbarkeit gegenüber den palästinensischen Raketen tatsächlich führt, steht fest, dass es nicht dabei bleiben darf, dass sich Israel gegen die Gefährdung durch die Hamas bloß schützt. Fällig ist die militärische Beseitigung jeder Gefahrenquelle.

Dafür befiehlt Netanjahu die Operation „Protective Edge“. Als Ziel dieser Kriegsaktion wird zunächst die Vernichtung der Tunnel genannt, aus denen heraus palästinensische Freischärler auf israelisches Territorium vordringen, durch die sie Menschen und Material in den Gaza-Streifen und aus ihm herausschmuggeln, in denen sie ihre Raketen und sonstige Waffen bunkern, sich verstecken usw. Dieses Ziel haben die IDF nach reichlich drei Wochen erreicht,[6] so dass Israel einseitig das Ende der Operation erklärt und Waffenstillstandsverhandlungen beginnt.

„Während die Hamas den Ägyptern eine lange Liste von Forderungen präsentiert, konzentriert sich Israel nach Aussagen aus Regierungskreisen auf zwei Hauptpunkte: die Verhinderung einer raschen Wiederbewaffnung der Hamas und die Entmilitarisierung des Gazastreifens auf lange Sicht.
Nach der Neutralisierung der Bedrohung durch die Tunnel der Hamas und nach deutlicher Verringerung ihrer Raketenkapazität wird Israel darauf beharren, dass sichergestellt wird, dass sie sich nicht so wiederbewaffnen kann, wie sie es nach den vorhergehenden Militäroperationen gemacht hat.“ (Jerusalem Post, 5.8.14)

Die Verhandlungen werden aber nach kurzer Zeit abgebrochen, Raketenbeschuss durch die Hamas und Luftschläge Israels wechseln sich erneut ab, und „Protective Edge“ wird auch offiziell für nicht beendet erklärt. Im August verkündet der israelische Verteidigungsminister Yaalon ein neues Kriegsziel:

„Die Operation Protective Edge wird erst beendet, wenn im Süden (Israels) komplette Ruhe herrscht und keine Raketen und Mörsergranaten mehr auf Israel abgefeuert werden. Bis dahin wird die Hamas samt ihrer Infrastruktur das Ziel unserer Schläge bleiben, die wir derzeit aus der Luft führen. Wir haben nicht geplant, dabei stehen zu bleiben, schließlich haben wir eine Bandbreite von Möglichkeiten, die Hamas auch in anderer Weise zu treffen.“ (Jerusalem Post, 24.8.14)

Ausdrücklich weisen die israelischen Führer darauf hin, dass sie diesmal keine zeitlich beschränkte Militäroperation planen, während der sie versuchen, so viel wie möglich ihrer erklärten und nicht erklärten Kriegsvorhaben zu erfüllen, sondern dass sie den Krieg so lange fortzuführen gedenken, bis das erreicht ist, was sie wollen:

„Wenn die Hamas-Führer denken, sie könnten uns verschleißen, oder wenn sie glauben, dass wir nach einem Zeitplan arbeiten, täuschen sie sich. Wir haben es nicht eilig, wir haben Geduld.“ (Yaalon, ebd.)

Im Unterschied zu allen Kommentatoren, die mit Blick auf den Konflikt nur Stillstand oder den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt erkennen können, geht es der israelischen Führung diesmal um einen entscheidenden Fortschritt. Die seit Jahr und Tag praktizierte Feindschaft gegen die Hamas, ihre Behandlung als Terroristenbande, mit der es keinen politischen Kompromiss geben darf, ist für Netanjahu nicht mehr genug. Wenn er von der Existenzbedrohung spricht, die von der Hamas für Israel ausgehe, dann erklärt er die endgültige Ausschaltung der Hamas als die einzig angemessene Konsequenz. Von diesem anspruchsvollen Standpunkt aus kritisiert sich die israelische Führung dafür, dass sie die Hamas überhaupt hat überleben lassen. Sie definiert ihre jahrelange feindselige Politik gegen die Islamisten rückblickend als schonenden Umgang mit diesen Feinden, den sie nun für unhaltbar erklärt. Weil die Hamas diesen Umgang überhaupt militärisch irgendwie überstanden und sich nach jeder Attacke wieder neu mit Mitteln gegen Israel ausgestattet hat, bezichtigt sich die israelische Führung nun, sich mit diesen Terroristen quasi arrangiert zu haben. Das hat zwar mit der knallharten Politik von Blockade, Luftschlägen, Bodeninterventionen und gezielten Exekutionen, die sie wirklich betrieben hat, nichts zu tun, kündigt aber dafür umso deutlicher an: Eine Behandlung von Terroristen, die diese irgendwie überleben, soll nicht mehr sein. Ab jetzt wird der Terrorismus der Hamas nicht nur bekämpft und kleingehalten, sondern niedergekämpft und ausgemerzt.

b)

Israel nimmt sich vor, das Urteil „Terroristen!“ so gründlich wie möglich zu vollstrecken. Was es dafür alles an immer weiter eskalierter Gewalt für nötig hält, zeigt allerdings immer deutlicher, dass es sich bei der Hamas eben doch nicht einfach um eine Bande von Terroristen handelt.

Offiziell gibt die israelische Führung die Linie aus, dass jeder Fleck Boden und jedes Gebäude im Gazastreifen, von dem aus eine Rakete gegen Israel startet, als militärisches Ziel betrachtet und entsprechend behandelt wird. Damit exekutiert Israel praktisch sein unerbittliches Urteil, dass im Gazastreifen als der sachlichen Basis für den militärischen Kampf der Hamas jede Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen hinfällig ist. Polizeimäßig jagt, verhaftet, exekutiert die israelische Armee in Zusammenarbeit mit den entsprechenden Geheimdiensten Führungspersonal der Hamas und anderer „militanter Gruppen“ – und zugleich sind israelische Militärs und Politiker überzeugt, dass ohne eine Invasion mit Bodentruppen das kämpfende Personal dieser Gruppen nicht endgültig besiegt werden kann. Die zivile Bevölkerung ist davon natürlich betroffen, ihr wird das Leben zur Hölle gemacht oder es wird ganz vernichtet. So will Israel genau das mit Gewalt erledigen, was es mit der Definition der Hamas als bloßer Terrororganisation doch so beharrlich leugnet und was die Hamas aller israelischen Gewalt zum Trotz beharrlich beansprucht und verteidigt und gerade in der israelischen Gewalt anerkannt findet: Die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens ist menschliche Berufungsinstanz und Basis für ihr staatsgründerisches Bemühen, das sich inzwischen darin erschöpft zu beweisen, dass auch Israel sie nicht ganz vernichten kann. Israel kehrt das gegen die unter der Führung der Hamas lebenden Palästinenser und bestraft sie praktisch dafür, gewollt oder nicht, als Basis für einen Anspruch zu figurieren, den es zu purem Terrorismus erklärt hat.[7] Die Verhandlungen mit der Hamas, zu denen sich Israel zwischendurch dann doch bemüßigt fühlt, führt es im gleichen Geiste, also so, dass das Moment politischer Anerkennung, das solche Verhandlungen objektiv immer enthalten, so gründlich wie möglich dementiert wird. Das macht Israel erstens am Ausgangspunkt klar: Die Netanjahu-Regierung besteht darauf, dass sie sich mit der Hamas nicht auf eine Waffenruhe geeinigt, sondern einseitig die Kampfhandlungen eingestellt habe. Zweitens am Inhalt: Der ist für Israel genau so unverhandel- wie für die Hamas unannehmbar. Drittens an der Form: Auf direkte Verhandlungen lässt Israel sich gleich gar nicht ein, sondern spricht nur mit den ägyptischen Vermittlern. Darum viertens an der Wahl dieser Vermittler: Für Israel ist klar, dass als Vermittler nur Staaten – wie eben Ägypten – in Betracht kommen, die seine Definition der Hamas als Terrororganisation teilen. Und fünfens beweist Israel seinen Unwillen, der Hamas auch nur das kleinste bisschen Ehre als politisch ernst zu nehmenden Kontrahenten zuzugestehen, auch dadurch, dass es parallel zu den Verhandlungen in Kairo eine neue Welle der Exekution von Führungsfiguren der Hamas eröffnet.[8]

Was Israel in all diesen Formen also tatsächlich bekämpft und endgültig zerstören will, ist eben etwas anderes als bloß der religiös aufgestachelte antijüdische Nihilismus einer politkriminellen Organisation, sondern ein veritabler, militanter, über ein paar Mittel gebietender und in der Bevölkerung verankerter Staatsgründungswille.

So setzt der diesjährige Krieg das fort, was alle bisherigen Gaza-Operationen Israels und die Dauerblockade dazwischen geleistet haben: Die Erledigung jedes Anspruchs auf eine politische Autonomie der Palästinenser mit der Perspektive einer Eigenstaatlichkeit, die sich neben der Westbank auch auf den Gazastreifen erstreckt. Dieses Stück Palästinensergebiet kommt für Israel auch in keiner noch so verlogenen diplomatischen Form überhaupt noch als Gegenstand des „Friedensprozesses“, also als Gebiet für einen denkbaren Staat Palästina vor. Israel subsumiert den Küstenstreifen vollständig seiner Definition der dort agierenden Hamas als Terrorgruppierung und behandelt ihn dementsprechend – und nach seinem Rückzug aus dem Gebiet 2005 in aller Freiheit – als un-staatlichen Terrorsumpf.[9] Ganz in diesem Sinne hat der israelische Außenminister A. Lieberman im Zuge von „Protective Edge“ vorgeschlagen, nach der sicheren Zerstörung der Tunnel, der Entwaffnung der Hamas und der vollständigen Demilitarisierung des Gazastreifens könne der unter UN-Aufsicht gestellt werden – Israel hätte sich damit endgültig jedes Moments der Duldung des Willens zu politischer Autonomie des Gazastreifens entledigt und der UNO den Umgang mit der Existenznot von knapp zwei Millionen Gaza-Bewohnern aufgehalst, die es selbst entweder als Terroristen-Brut oder überhaupt nicht wahrnimmt.[10]

c)

Israel zielt auf den palästinensischen Willen zur Eigenstaatlichkeit als solchen, wenn es alle Mittel und potentiellen Mittel zur militanten Gegenwehr auf Seiten der Hamas zerstört. Darum ist für den auch dann kein Entgegenkommen seitens Israels im Programm, wenn die Palästinenser ganz oder teilweise auf Gewalt verzichten. Das macht Israel nicht nur in der ägyptisch vermittelten Waffenstillstandsdiplomatie klar, sondern beweist das parallel dazu an seinem Umgang mit der Palästinenserfraktion im Westjordanland unter Führung von M. Abbas.

Dessen Entschlossenheit, sich mit Israel politisch zu arrangieren und dieses Arrangement dazu zu nutzen, einen zivilen Staat zu fingieren, hat Israel immer schon sehr eindeutig beantwortet: Die darin praktizierte Absage an Militanz, das Zivile eben, findet Israel nur in dem Maße genehm, wie sich das als ordnungsstiftend in der Westbank bewährt. Sobald Israel in der Verwaltungs- und Aufsichtstätigkeit der Abbas-Truppe dann doch mehr die Praxis eines Willens zum Staat entdeckt, wird dieser untergraben, bekämpft, bestraft. In den zwanzig Jahren „Friedensprozess“ hat Israel diesen zwar nie offiziell gekündigt – noch nicht einmal die Perspektive einer „Zweistaatenlösung“ –, aber praktisch dafür gesorgt, dass von sachlichen und politischen Voraussetzungen für einen zukünftigen Palästinenserstaat auch in der Westbank wenig übrig geblieben ist.

Das Westjordanland ist zwar von Israel noch nicht umstandslos zum Rekrutierungs- und Operationsgebiet für antiisraelische Terroristen erklärt worden. Aber das heißt für die Netanjahu-Regierung nur, umso konsequenter dafür zu sorgen, dass es das gar nicht erst wird.[11] Das östliche Westjordanland, die Grenze zu Jordanien, muss von daher dauerhaft unter vollständiger israelischer Kontrolle bleiben und kommt für einen denkbaren souveränen Palästinenserstaat also genauso wenig in Betracht wie der westliche Rand des Westjordanlandes, die Grenze zu Israel. Da Jerusalem gemäß nationalem Konsens mit Tempel und Klagemauer unteilbare und ewige Hauptstadt des jüdischen Staates ist, sind auch dessen Gebiet samt umliegender Siedlungsblöcke für eine autonome palästinensische Staatlichkeit tabu. Die beständige Ausweitung israelischer Siedlungen – teilweise illegal, teilweise im Rahmen staatlicher Programme, teilweise offen angekündigt als Bestrafungsmaßnahmen wg. missliebiger politischer Initiativen der Abbas-Behörde – hat die Fatah-Führung jedes Mal neu als fait accompli zur Kenntnis und als ‚Punkt Null‘ für laufende oder neu zu beginnende Verhandlungen hinzunehmen. Das gleiche gilt für alle Zerstörungen von palästinensischen Häusern, die Ausnutzung der totalen finanziellen und technischen Unterlegenheit der Palästinenser im Streit ums Grundwasser, die fortlaufenden Verhaftungen oder gezielten Tötungen von Palästinensern usw. usf. Dass Israel der politischen, auf den diplomatischen „Friedensprozess“ setzenden Linie der Fatah keinerlei Perspektive eröffnet, veranlasst deren Verfechter gelegentlich zu politischen Manövern, für die Israel sie erst recht bestraft: Wenn Hamas und Fatah ihr politisches Gewicht durch Bildung einer Einheitsregierung zu vergrößern versuchen, wird nicht etwa die Hamas den Status einer widerrechtlich an die Macht gelangten und daher international zu ächtenden Truppe dadurch los, dass sie mit der international anerkannten Palästinensischen Autonomiebehörde unter Abbas kooperiert. Umgekehrt überträgt sich ihr Terroristen-Stigma auf die Autonomiebehörde – jedenfalls vom Standpunkt Israels aus, das von Abbas eine endgültige Absage an jede Form der Zusammenarbeit mit der Hamas fordert.[12] Und für die Fälle, in denen sich Abbas gegen die fortgesetzte israelische Obstruktion echter Fortschritte hin zu so etwas wie einem halbwegs autonomen palästinensischen Gemeinwesen dadurch wehrt, dass er die ‚Staatengemeinschaft‘ in den ehrenwertesten Formen der UNO, internationaler Gerichte o.ä. anruft, hat sich in der israelischen Politik die charmante Sprachschöpfung des diplomatic terrorism durchgesetzt, von dem sich Israel nicht nur nicht beeindrucken lassen darf, sondern der es zu jeder für nötig gehaltenen Gegenmaßnahme berechtigt.

d)

So arbeitet sich die praktizierte israelische Politik trotz aller nach wie vor nicht außer Verkehr gezogenen diplomatischen Bekenntnisse zum „Friedensprozess“ inzwischen doch an die Grenze des offenen Bekenntnisses dazu vor, was ihr wirkliches Prinzip und übergreifendes Weiß-warum ist. Wenn Israel den „Verhandlungsprozess“ konsequent ins Leere laufen lässt, seine Verfechter auf palästinensischer Seite regelmäßig offen demütigt und zugleich alle Formen der von ihm als Terror definierten Gewalt erst recht zum Anlass nimmt, jede sachliche Bedingung für und jeden Willen zu einer palästinensischen Staatsgründung nach Kräften kaputt zu machen, dann stellt der jüdische Staat damit eines klar: Er will mit keinem wie auch immer gearteten und wie auch immer zustande gekommenen arabischen Staat Palästina leben. Israel führt vor, dass es für eine „Zweistaatenlösung“ zwischen Mittelmeer und Jordan keinen Platz gibt. In der verdrehten Form, nur lauter Sicherheitsnotwendigkeiten nachzukommen, die sich aus der Konfrontation mit den unverbesserlich militanten Palästinensern ergeben, hat es in den vergangenen Jahren Schritt für Schritt darauf hingearbeitet, das zionistische Siedlungsprojekt für das vollständige seinerzeit von höchster göttlicher Stelle versprochene Land zur unmittelbaren israelischen Staatspraxis zu machen. Die ‚Gefahr‘, die es damit wirklich bannen will, besteht in der bloßen Aussicht darauf, dass sich Israel womöglich doch auf so etwas ähnliches wie die Grenzen von vor dem Sechstagekrieg festlegen müsste.

Diesem Staat hat das ganze Gebiet bis zum Jordan einschließlich der Golanhöhen zu gehören. Und immer offener – nicht zuletzt durch seine offensive Nichtunterscheidung von palästinensischen Aktivisten und Zivilisten – vertritt Israel auch die Position, dass es sich im Prinzip auch nicht mit der Anwesenheit der bis heute auf diesem Territorium ansässigen palästinensischen Araber verträgt. Die Selbstdefinition nicht nur als Staat der Juden, sondern als jüdischer Staat definiert dem Grundsatz nach die Araber aus sich heraus. Hier kennt der moderne bürgerliche Rechtsstaat Israel kein demokratisches Pardon: Er will im Kern der Staat des Menschenschlages sein, der entweder gemäß Halacha per Abstammung oder per staatsbürgerrechtlich-rabbinisch anerkannter Konversion Mitglied des jüdischen Volkes ist. Was sich ansonsten an Leuten auf dem Gebiet tummelt, das Israel in welcher Form auch immer für sich beansprucht, das ist von diesem Standpunkt aus durch seine abweichende Volksnatur eine latente ethnische Bedrohung für das Land. Diese Sichtweise: dass es den jüdischen Charakter des Staates Israel gefährdet, wenn allzu viele Araber in seinen Grenzen leben, ist darum ganz ohne Ironie das gewichtigste Argument, mit dem die Befürworter der Zweistaatenlösung bei ihren Gegnern für einen palästinensischen Staat werben.[13] Dass Israel die Araber innerhalb seiner Grenzen eigentlich nicht verträgt, bestätigen ihm die Gegner der Zweistaatenlösung einerseits zwar sofort. Das heißt aber andererseits überhaupt nicht, dass dann ein Leben mit Palästinenserstaat in Frage kommt oder gar „die einzig reelle Alternative“ sei – im Gegenteil. Aus der Perspektive des jüdischen Anspruches auf das ganze gelobte Land ergibt sich für die maßgeblichen israelischen Politiker eine ganz andere Konsequenz: Erstens werden die israelischen Araber immer schon und immer mehr in einer Weise behandelt, die nach den Prinzipien eines der Gleichheit verpflichteten Rechtsstaates eigentlich unter das Verdikt ethnischer Diskriminierung fallen.[14] Und zweitens sind neben Forderungen nach dem ‚Transfer‘ der arabischen Israelis in die Palästinensergebiete inzwischen auch die Positionen derer mehr als ‚salonfähig‘, die solch prospektiven ‚Transfer‘ gern gleich noch um ein paar Kilometer verlängern würden. Die verweisen darauf, dass es in der Nachbarschaft, insbesondere mit Jordanien und Ägypten doch schon längst eine arabische Heimat für die zum Zwecke sprachlicher Klarheit gern in Anführungszeichen gesetzten „Palästinenser“ gibt; dieser Standpunkt ist mit der ausdrücklichen und endgültigen Weigerung, irgendwelche in den Nachbarstaaten ansässigen palästinensischen Flüchtlinge nach Israel oder in die besetzten Gebiete zurückkehren zu lassen, ja auch schon längst praktische Politik.

Komplementär zu dieser exklusiven volksmäßigen Definition Israels und dem Anspruch auf das ganze Land bis zum Jordan verfährt Israel großzügig inklusiv, wenn es darum geht, wer das jüdische Volk ist, dem es seine Heimstatt einrichten, ausweiten und sichern will: Zu dem gehören per Definition alle Mitglieder jeder jüdischen Gemeinde, die sich irgendwo auf Gottes weiter Welt befindet. Alle Juden sind vom Standpunkt Israels aus automatisch israelische Bürger im Wartestand; sie haben Anspruch auf die israelische Staatsbürgerschaft und sind auch schon vorher lauter zweibeinige Berufungstitel für das unbedingte Recht des Staates Israel zu jeder Gewalt, die er für angebracht hält, um das ganze Land für die jüdische Heimstatt in Besitz zu nehmen.

e)

Im Hinblick auf dieses Programm sorgt der Krieg auch nach innen für Fortschritte beim nötigen nationalen Zusammenhalt. Die Wochen des Krieges mit den Raketenalarmen, der Teilmobilmachung von Reservisten, den getöteten und mit viel organisierter öffentlicher Anteilnahme begrabenen Soldaten machen der eigenen Bevölkerung klar, dass ihr normales Leben unmittelbar und untrennbar mit der gewaltsamen Durchsetzung ihres Staates gegen die Hamas verbunden ist. Die reinigende Wirkung des Krieges auf die Volksseele lässt sich in allen Facetten auch in Israel studieren, wo inzwischen jede noch so differenzierte Kritik an gewissen übertriebenen Teilen des Vorgehens der IDF als extrem links und im Prinzip als Vaterlandsverrat gilt und es das neue Hobby des Public Viewing gibt, bei dem Grenzbewohner oder Touristen vergnügt dabei zuschauen, wie die israelische Luftwaffe palästinensische Häuser einäschert. Auch hier bewährt sich die im Nahen Osten einzigartige demokratische Konstitution Israels: Da wird keine Gefolgschaft von oben erzwungen und Abweichung davon verfolgt, wie es den Islamisten im Gazastreifen von ihren demokratischen Kritikern immer nachgesagt wird. Vielmehr hat das Volk die Gelegenheit, sich seine Meinung über das eigene Recht auf jede Gewalt ganz frei selbst zu bilden, und auch Abweichler müssen nicht per Zwangsgewalt mundtot gemacht werden. Viel wirkungsvoller ist die öffentliche Ächtung der Kritiker durch die israelische Zivilgesellschaft selbst.[15] In atemberaubender Geschwindigkeit hat sich bei aller von ihm zu verantwortenden Gewalt des israelischen Militärs B. Netanjahu von einem ‚Falken‘ in einen Vertreter der ‚Tauben‘-Fraktion verwandelt, der sich im wesentlichen nur noch gegen Kritik am Krieg aus dem Geiste seiner totalen Ausweitung wehren muss.

Mit jedem neuen Kriegstag schärft sich selbstverständlich auch der Blick auf die israelischen Araber, denen man aus gutem Grund nicht zutraut, so bedingungslos für jeden Gewaltexzess gegen ihre arabischen Landsleute zu sein, wie Israel es verdient hat. Entsprechend häufen sich Gängeleien, Übergriffe und Übergänge zu offener privater Gewalt, gemessen an denen wiederum der vom Regierungsmitglied Lieberman geforderte Boykott aller Geschäfte von Arabern, die gegen den Gazakrieg protestieren, sich nachgerade zivil und besonnen ausnimmt. Inzwischen wächst die Zahl derjenigen arabischen Israeli, die nichts gegen einen land swap hätten, weil sie lieber in einem verarmten Palästinensergebilde wohnen wollen, als in einem Staat Israel, der ihnen beständig vorführt, dass sie die falsche Volksnatur haben – auch in dieser Hinsicht ist dieser Krieg ein schöner Fortschritt zur Klärung der Fronten und zur praktischen Bestätigung dafür, dass nicht zusammenleben soll, was nicht zusammengehört.

3. Moralische Stellvertreterkriege im teilweise befreundeten Ausland

Von den Juden, die in der Welt verstreut leben, beansprucht Israel ebenfalls, gerade im Krieg ihrer eigentlichen Heimstatt unbedingte Treue zu halten. Es verweist auf den Holocaust und besteht auf der Gleichung zwischen der Existenz jüdischen Lebens und dem Anspruch auf einen sich selbst verteidigen könnenden Staat Israel; und diesen Anspruch auf einen eigenen starken Staat erklärt es identisch mit der Legitimität schlichtweg jeder tatsächlich unternommenen Gewaltaktion, eben als Verwirklichung dieses Rechts jedes einzelnen Juden an jedem Ort der Welt. Für diese doppelte Gleichung vereinnahmt Israel aber nicht nur alle Juden, egal wo sie leben, also egal welches Staates Bürger sie ja praktisch daneben sind, dass Israel sie als seine Staatsbürger immer schon willkommen heißt. Gerade darum und darin verlangt Israel auch diesen Staaten die Parteilichkeit für Israel ab, und zwar vor allem den westlichen Verbündeten dies- und jenseits des Atlantiks. Die sind es ihren jüdischen Gemeinden schuldig, den Staat ideell und praktisch zu unterstützen, der alle seine Gewalttaten als vollzogenes Überlebensrecht des jüdischen Volkes einschließlich aller seiner auf der Welt verstreuten Mitglieder definiert und dafür Anerkennung verlangt. Für die Identität von Israels fortgesetzter Staatsgründungsgewalt mit allen Werten, die ihre westlichen Aufenthaltsstaaten hochhalten, führt der selbstbewusste Siedlerstaat zwei Argumente unterschiedlicher Stoßrichtung an: Einerseits stilisiert er sich zum letzten Vorposten des westlichen, modernen, liberalen Abendlandes vor der orientalischen Barbarei, als einen der ihren, umzingelt von Feinden, die auch die ihren sind.[16] Und andererseits ergänzt Israel diesen moralischen Schulterschluss gegenüber seinen westlichen Verbündeten insbesondere in Europa immer wieder um Erinnerungen an ihre unrühmliche antisemitische Vergangenheit. Damit erklärt es sich also nicht nur zum stellvertretenden Wächter gemeinsamer Werte gegen das islamisch-arabische Böse, sondern zum eigentlich einzigen Staat, der diese Werte wirklich verkörpert, der nämlich qua Gründung nichts als die Staat gewordene Konsequenz aus den diesbezüglichen Vergehen der Europäer vor 1945 ist; der also das Recht – und gegenüber den jüdischen Menschen die Pflicht – hat, alle anderen darauf zu prüfen, wie sie es mit den abendländischen Werten halten, die sich alle im Anti-Antisemitismus zusammenfassen. Die Unnachgiebigkeit, mit der Israel auf unbedingter Solidarität des ganzen Westens für seine Politik und seine Kriege besteht, bringt ihm von den so Adressierten auf der gleichen Ebene eine Begutachtung seiner außerordentlichen Gewaltaktionen und seiner tagtäglichen Politik ein, über die sich seine Vertreter und unbedingt solidarischen Befürworter dann beschweren: Tatsächlich sehen sich nicht wenige europäische Moralwachteln bewegt zu prüfen, wie es eigentlich um die generelle sittliche Qualität des Staates beschaffen ist, der ihre Solidarität einfordert und sogar meint, sich zum Richter über die politisch-moralische Güte alteingesessener westlicher Demokratien machen zu können. Das empört die Israelvertreter und -freunde, denn sie finden Israel einer besonderen Aufmerksamkeit und besonders strengen moralischen Begutachtung ausgesetzt, die sie als „Doppelstandard“ brandmarken.[17]

Auch die Palästinenser fordern Solidarität für ihre „Sache“ oder zumindest Hilfe beim Überleben. Die kriegen sie eher nicht mehr von den arabischen Staaten. Für die hat sich Palästina erledigt, sie sind ihrerseits mit Bürgerkriegen oder deren Abwehr oder regionalen Konkurrenzkämpfen beschäftigt. Das hindert die Hamas nicht, sich ungerührt als Vorkämpfer einer arabischen oder islamischen Sache gegen den gemeinsamen Feind Israel in Szene zu setzen.[18] Verweisen kann sie dabei allerdings nur auf die Solidaritätsbekundungen der auswärtigen Gemeinden arabischer Herkunft bzw. islamischen Glaubens, die in manchen europäischen Staaten Millionenstärke haben. Die interpretieren sich als Brüder der Palästinenser im Elend: In ihrer flächendeckend misslichen sozialen Lage und der nicht immer gewaltfreien Ausländerfeindschaft und Islamophobie, der sie durch Mitbürger, Behörden und Polizei ausgesetzt sind, entdecken sie die parallele Schlechtbehandlung von Arabern bzw. Muslimen durch westliche Gesellschaften, fordern die Erfüllung des Rechts der Palästinenser auf einen eigenen Staat und klagen ihrerseits die Politik und die Öffentlichkeit der Staaten, in denen sie leben, der Doppelmoral an. Und weil ihnen die europäische Moral der Vergangenheitsbewältigung egal oder verhasst ist, schreiten sie auch schon mal zu verbalen oder physischen Attacken gegen die Juden, die in ihre Reichweite kommen.

*

Und die deutsche Öffentlichkeit? Die tut, was sie immer tut. Wie auch nicht: Wenn Israel wieder einmal kriegerisch um sein Recht auf das ganze Heilige Land mit der Macht kämpft, über die es mit einer der modernsten und schlagkräftigsten Armeen der Welt und einem ziemlich geschlossen hinter dem Kriegskurs der Regierung versammelten Staatsvolk verfügt; wenn es dabei einen Unterschied zwischen Aktivisten einer palästinensischen Staatsgründung und palästinensischen Zivilisten immer weniger machen oder überhaupt nur kennen will; wenn die fälligen Opfer von der palästinensischen Seite immer wieder nur als Beweis für die abgrundtiefe Legitimität ihrer heiligen Sache Palästina, also zum Auftrag dafür genommen werden, die kollektive Selbstaufopferung möglichst standhaft mit welchen Mitteln auch immer fortzusetzen; wenn beide Seiten nebenbei noch in Europa ein paar Minderheiten religiös-nationalistisch aufrühren, deren Mitglieder genauso wenig zwischen sich als Person, dem eigenen Volk und dessen Recht auf ganz viel eigene Gewalt unterscheiden mögen – was läge dann auch näher, als sich zum tausendsten Mal zu fragen, ob man als Deutscher Israel kritisieren darf.

[1] Im folgenden der Wortlaut der „Maximalforderungen“, mit denen die Hamas zu den Waffenstillstandsgesprächen in Kairo angetreten ist:

 „Sofortiger Stopp der Aggression gegen die Bewohner des Gazastreifens zu Lande, zu Wasser und in der Luft; Stopp der Strategie des Eindringens und Stürmens, der Tötungen, der Zerstörung von Häusern und der Luftmanöver über dem Gazastreifen.

 Vollständige Aufhebung der Land- und Seeblockade, einschließlich Öffnung der Grenzübergänge und Wiederinbetriebnahme des Hafens von Gaza; Lieferung von Waren, Elektrizität, Brenn- bzw. Treibstoffen, Baumaterialien und allen weiteren Gütern zur Deckung des Bedarfs unseres Volkes; Aufhebung der Wirtschafts- und Finanzblockade; Sicherung der Freiheit von Fischerei und Seefahrt in der Zwölf-Meilen-Zone; Wahrung der Bewegungsfreiheit in den Grenzgebieten des Gazastreifens; keine Einrichtung von Pufferzonen.

 Annullierung aller Maßnahmen zur Kollektivbestrafung der Bewohner der Westbank, die nach dem 12.06.2014 (Entführung dreier israelischer Siedler, vor dem Auffinden von deren Leichen) getroffen worden sind, einschließlich der Freilassung aller seitdem Gefangenen, insbesondere der ursprünglich im Rahmen des Schalit-Deals Freigelassenen sowie des Parlamentspräsidenten und anderer Parlamentsabgeordneter; Öffnung aller Institutionen, Restituierung alles beschlagnahmten öffentlichen und privaten Eigentums.

Stopp der Politik der wiederholten Administrativhaft; Aufhebung aller Extrasanktionen gegen palästinensische Häftlinge in israelischen Gefängnissen (Bei Administrativhaft geht es um Gefängnishaft ohne Anklage, Prozess und Urteil. Allein im Rahmen der Aktionen nach Entführung und Ermordung der drei Siedlerjungen sind 400 Westbank-Palästinenser auf diese Weise in Haft genommen worden. Je nach Zählung hält allein der normale israelische Justizvollzug dauerhaft mehrere Hundert solcher palästinensischer Gefangenen; wie viele Palästinenser durch / bei den Israel Defence Forces (IDF), die auch solche Gefangennahmen durchführen dürfen, einsitzen, ist unbekannt. Anm. d. Verf.)

 Erleichterung der Durchführung des Wiederaufbauprogramms für den von wiederholten Aggressionen zerstörten Gazastreifen.

 Fixierung eines Zeitplanes für die Verwirklichung der hier aufgeführten Forderungen.“ (al-Quds al-Arabi, 2.8.14)

[2] Die PLO war und ist formell eine Sammelorganisation verschiedener palästinensischer Gruppierungen, deren mit Abstand stärkste seit jeher die Fatah ist.

[3] ‚Sieg‘ bzw. ‚Eroberung‘ ist die Bedeutung des Apronyms Fatah.

[4] ‚Herr Hanija, ist es denkbar, dass Sie Israel anerkennen werden?‘ – ‚Israel soll erst uns anerkennen.‘ – ‚Aber Israel hat keine Verfassung, in der die Vernichtung des palästinensischen Staates gefordert wird. In der Charta der Hamas wird indessen klipp und klar die Zerstörung des jüdischen Staates postuliert. Werden Sie davon abrücken?‘ – ‚Unsere Position verkünden wir erst, wenn Israel unser Existenzrecht anerkennt. Zudem würden wir gerne wissen, welches Israel wir denn anerkennen sollen: dasjenige von 1948, 1967 oder von 2005? Israel muss Palästina anerkennen, damit wir wissen, worüber wir sprechen.‘ – ‚Wird die Hamas künftig auf Gewalt verzichten?‘ – ‚Wir sind doch hier nicht die Aggressoren, die Blut vergießen wollen. Wir streben Stabilität in der Region an. Aber Israel muss zunächst die legitimen Rechte des palästinensischen Volkes anerkennen und die gezielten Tötungen sowie die Aggressionen gegen uns einstellen.‘ (Handelsblatt, 2.3.06)

 Ende 2010 hat Hanija erklärt, die Hamas würde einem Friedensabkommen mit Israel zustimmen, wenn ein Referendum das fordere, an welchem alle Palästinenser in den besetzten Gebieten sowie die Flüchtlinge im Ausland beteiligt sein müssten.

[5] Hamas ist die Abkürzung für „Islamische Widerstandsbewegung“ und bedeutet als Wort „Enthusiasmus, Eifer“.

[6] In einer am Dienstag veröffentlichten Mitteilung hat Netanjahu die israelische Armee und den Inlandsgeheimdienst dafür gelobt, dass sie die Tunnel der Terroristen zerstört haben, wiederholte aber, dass es keine Garantie für einen hundertprozentigen Erfolg gebe. ‚Dies war eine schwierige Operation, durchgeführt von heldenhaften Soldaten unter schwierigen Kampfbedingungen‘, sagte der Premier. Und weiter: ‚Die Zerstörung der Tunnel hat eine strategische Waffe der Hamas beschädigt, für die sie während der letzten Jahre enorme Anstrengungen unternommen habe.‘ (Jerusalem Post, 8.5.14)

[7] Seinem Ruf und Selbstbild als einzige Demokratie im Nahen Osten wird Israel dadurch gerecht, dass es auch in Bezug auf diesen praktischen Zusammenschluss von Palästinenservolk und -führung durch unterschiedslose Bombardierung von beiden eine pluralistische Bandbreite dafür gibt, ihn politisch zu kommentieren: Während die einen den moralisch getrübten Blick auf die 2000 toten, zumeist zivilen Palästinenser durch den Hinweis aufhellen und entzerren, dass diese Zahl nur durch äußerste Zurückhaltung der humansten Armee der Welt so niedrig geblieben sei, verweisen andere Politiker darauf, dass zumindest Israel die Gaza-Bewohner noch nie daran gehindert habe, gegen die Hamas einen Aufstand zu machen. Die Parlamentsabgeordnete Shaked der mit mehreren Ministern an der Regierung beteiligten Partei „Jüdisches Heim“ macht sich und ihren Anhängern das in eher alttestamentarischer Manier klar:

Sie alle sind feindliche Kämpfer, und ihr Blut soll auf sie kommen. Und das schließt auch die Mütter der Märtyrer ein, die diese mit Blumen und Küssen in die Hölle verabschiedet haben. Sie sollten ihren Söhnen folgen – nichts wäre gerechter als das. Sie sollten verschwinden genauso wie ihre Häuser, in denen sie die Schlangen großgezogen haben. Sonst würden dort nur noch mehr kleine Schlangen aufgezogen. (Von MK Ayelet Shaked gepostete Stellungnahme eines Anhängers auf ihrer Facebook-Seite; zitiert nach: http://electronicintifada.net).

[8] Was das eigene Personal angeht, verfolgt Israel eine Doppellinie, die ebenfalls aufschlussreich ist: Einerseits gilt der Imperativ „Wir lassen keinen zurück!“ Sogar um Leichname, erst recht aber um lebende Soldaten in der Gewalt seiner Gegner ringt Israel erbittert, tut alles dafür, die Schutzgewalt über alle seine uniformierten Landeskinder auch post mortem wiederzuerlangen, beweist also sich und den Hamas-Leuten, dass hinter jedem einzelnen Israeli das ganze wuchtige Israel steht. Dafür lässt es, wenn es sein muss, auch einen größeren Schwung von Palästinensern frei, die es selbst gefangen hält, was einerseits nicht schwerfällt, weil vor oder nach solchen Aktionen regelmäßig größere Verhaftungswellen die Zahl palästinensischer Häftlinge in Israel wieder auf den normalen Stand bringen. Andererseits gilt das in Israel zugleich als unerträglich, verletzt es doch das Prinzip, mit Terroristen nicht zu verhandeln. Also lautet die zweite diesbezügliche Direktive an das Militär – das sogenannte Hannibal-Protokoll – alles dafür zu tun, dass es der Hamas gar nicht erst gelingt, Angehörigen der IDF in ihre Gewalt zu bringen, wobei es innerhalb des israelischen Offizierskorps umstritten ist, ob dafür auch der Tod dessen in Kauf genommen werden soll, der andernfalls vielleicht lebend in die Hände der Feinde geriete. Genüsslich bereiten denn auch arabische Medien auf, dass das letzte Beinahe-„Entführungsopfer“, Hadar Goldin, mutmaßlich durch ‚friendly fire‘ beim Feuergefecht mit dem Palästinensertrupp ums Leben gekommen ist, der ihn gefangen hat.

[9] Aus einem Brief der US-Botschaft in Israel, der von Wikileaks veröffentlicht worden ist:

Offizielle israelische Vertreter haben gegenüber US-Botschaftsmitarbeitern mehrfach bestätigt, dass Israel beabsichtige, die Wirtschaft im Gazastreifen nur auf dem geringst möglichen Level am Laufen zu halten, das dazu hinreicht, eine humanitäre Krise zu vermeiden. (…) Sie wollen die Gaza-Ökonomie am Rande des Kollaps halten, ohne ihr den letzten Stoß zu versetzen.

[10] Damit vertritt der Hardliner Lieberman aber inzwischen auch nicht mehr die radikalste Position im offiziellen politischen Spektrum Israels. Moshe Feiglin, Parlamentsabgeordneter des regierenden Likud von B. Netanjahu und einer der stellvertretenden Parlamentssprecher fordert die vollständige Wiederbesetzung des Gazastreifens und für das Gros der jetzigen Bevölkerung die Deportation, pardon ein generous international emigration package – allerdings nur für diejenigen not involved in anti-Israel activity –, wie immer Herr Feiglin eine solche definieren und von der ganz normalen Anwesenheit im Gazastreifen unterscheiden mag.

[11] B. Netanjahu am vierten Tag der Operation „Protective Edge“: Im Moment sei die Priorität, ‚sich um die Hamas zu kümmern‘, betonte Netanjahu. Aber die weitergehende Lektion sei, dass Israel sicherstellen muss, dass wir nicht ein weiteres Gaza in Judäa und Samaria bekommen.‘ In diesem Konflikt, so führte er weiter aus, ‚hat das israelische Volk verstanden, was ich immer sage: Es kann nicht sein, dass es – gleich durch welche Vereinbarung – zu einer Situation kommt, in der wir die Sicherheitskontrolle des Territoriums westlich vom Jordan abtreten.‘ (Times of Israel, 13.7.14)

[12] Will er eine Versöhnung mit der Hamas oder einen Frieden mit Israel? Er kann nur eines von beiden erreichen (Netanjahu im April 2014 angesichts der Gespräche zwischen Hamas und Fatah über die Bildung einer Einheitsregierung).

[13] ‚Eine Zweistaatenlösung erweist sich als die einzig reelle Alternative. Ein Einheitsstaat würde sich entweder zu einem Apartheidstaat mit Bürgern zweiter Klasse entwickeln – oder Israel wäre nicht mehr in der Lage, sich als jüdischen Staat zu erhalten.‘ (…) Jen Psaki, die Sprecherin des State Deparment, sagte: ‚Außenminister Kerry, genau wie die israelische Justizministerin Livni und vorher die israelischen Premiers Olmert und Barak, hat lediglich wiederholt, dass es so etwas wie eine Einstaatenlösung nicht gibt, wenn man – wie er es tut – an das Prinzip eines jüdischen Staates glaubt.‘ (aljazeera.net, 28.4.14)

[14] Im israelischen Kernland leben ca. 20 % ethnische Araber christlicher oder islamischer Religion, teilweise in städtischen Siedlungszentren, teilweise als Beduinen v.a. im Negev. Viele arabische Kommunen werden nicht offiziell als Gemeinden anerkannt, ihnen entgeht damit dringend benötigte staatliche Infrastrukturförderung usw. In Nordisrael ist es erklärte Politik der zuständigen Ressorts, durch entsprechende Bebauung und Besiedlung größeren geschlossenen arabischen Siedlungsblöcken entgegenzuwirken. Der Nachzug von arabischen Familienangehörigen aus den besetzten Gebieten ist per Gesetz seit einigen Jahren so gut wie verunmöglicht. Weil israelische Araber aus naheliegenden Gründen keiner Wehrpflicht unterliegen, sind sie von allen möglichen ‚Vergünstigungen‘ ausgeschlossen, die mit abgeleistetem Wehrdienst verbunden sind und so viele Bereiche umfassen, dass sie den Wehrdienst in gewisser Weise zu einem konstituierenden Moment einer normalen bürgerlichen Existenz in Israel machen. Und ganz ohne bei den arabischen Israelis nachzufragen, weiß Außenminister Lieberman, dass die Perspektive ihrer praktischen Entfernung aus Israel eigentlich ein Angebot an sie ist, endlich die ihrer Natur widersprechende Zugehörigkeit zum fremden jüdisch-israelischen Gemeinwesen abschütteln zu dürfen: Lieberman sagte, es gebe keinen Grund dafür, dass die dort (in den Gebieten, die er für einen land swap vorschlägt) lebenden israelischen Araber ‚sich nicht ihren Brüdern unter einer vollständigen palästinenischen Hoheit anschließen und Bürger eines zukünftigen palästinensischen Staates werden sollten, den sie sich so dringlich wünschen.‘ (Jerusalem Post, 1.5.14)

[15] Der bekannte israelische Kolumnist Gideon Levy – ein bekennender Zionist –, der israelische Piloten per Leitartikel fragte, ob sie nach der Tötung palästinensischer Kinder per Knopfdruck gut geschlafen haben, und Israel als gefährlichsten Ort der Welt für Juden bezeichnet, traut sich nur noch mit Bodyguards auf die Straße. Für den Fauxpas eines Professors, der es gewagt hatte, per Posting in einem Social Network alle israelischen und palästinensischen Opfer zu bedauern, hat sich nach umfangreichen Protesten der Studentenschaft der Uni-Chef persönlich entschuldigt. Usw.

[16] Z.B. Netanjahu: Viele Staaten in der Region und im Westen beginnen zu verstehen, dass es sich um ein und diesselbe Front handelt, dass Hamas ISIS und ISIS Hamas ist. Beide Bewegungen versuchen letztlich, islamische Herrschaft, Kalifate zu etablieren: ohne Menschenrechte, in großen Gebieten, durch das Abschlachten von Minderheiten, durch Missachtung der Menschenrechte aller: von Frauen und Männern, von Kindern, von Christen, von jedem. (Jerusalem Post, 24.8.14)

[17] Ein Israel-freundlicher Autor schreibt im Spiegel vom „Lieblingskrieg der Deutschen“, wie auch andere Vertreter seiner Linie es ‚sehr aufschlussreich‘ finden, wie sich die deutsche und europäische Öffentlichkeit mehr für 1000 Araber interessiere, wenn sie von Israelis getötet worden seien, als für 100  000 tote Araber, die in einem „Bruderkrieg“ umkommen.

[18] So hat z.B. Meshaal auf die Frage, ob denn angesichts des derzeitigen Kriegselends im Gazastreifen nun wenigstens Ägypten seine Gaza-Blockade als Zeichen eines Rests von arabischer Solidarität aufhebe, tapfer – und angesichts der Tatsache, dass die ägyptischen Militärs knallhart an ihrer Blockade festhalten, nicht sehr glaubwürdig – geantwortet: Hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.