Der Fall Skripal
Der Nutzen eines gemeinsamen Feindes für die Bekräftigung der problematischen Einheit des Westens
Dass die Staaten des zerrütteten Westens – immer noch oder wieder – eine gewisse Front kennen, auf deren Gegenseite Russland steht, hat vor kurzem der „Fall Skripal“ bewiesen. In diesem Sinne führt der Artikel vor, zu welchen Meisterleistungen des Schwachsinns eine öffentliche „Meinungsbildung“ aufgelegt ist, wenn von vornherein feststeht, dass alle Spuren nach Moskau führen. Und er reicht die wirklichen Gründe dafür nach, dass sich Großbritannien mit den Hauptmächten des europäischen Clubs, aus dem es neulich ausgetreten ist, und mit der US-Weltmacht auf ein bisschen eskalierte Anti-Russland-Politik einigt; warum und womit nämlich Russland allseitige Unzufriedenheit auf sich zieht.
Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- 1. Rasante Fortentwicklung beim Ausbau des Russland-Feindbilds
- 2. Die politische Leistung: was aus dem Fall gemacht wird
- 3. Warum und zu welchem Zweck das Vereinigte Königreich in aller Souveränität einen ernstlichen Konflikt mit Russland vom Zaun bricht
- 4. Warum die englische Regierung sich diese Art von Russland-Bestrafung schuldig ist
- 5. Warum die NATO und das übrige Europa sich der britischen Russland-Kampagne anschließen
Der Fall Skripal
Der Nutzen eines gemeinsamen Feindes
für die Bekräftigung der problematischen Einheit des
Westens
Ein ausgemusterter russischer Spion, den der britische Geheimdienst eingekauft hatte, wird samt Tochter vergiftet. Auch wenn Täter und genauer Ablauf der Tat nach Auskunft der zuständigen Behörden noch gar nicht ermittelt sind, versammeln sich innerhalb weniger Tage die westlichen Führungsnationen in einer Einheitsfront gegen Russland. Die britische Premierministerin May lässt Sanktionen folgen, geht bis zur Drohung mit Cyberangriffen, und NATO-Sekretär Stoltenberg erklärt den seit längerem wieder in Gang befindlichen verstärkten NATO-Aufbau in Richtung russische Grenze für die richtige Antwort auf die Tat. Wie passt das zusammen?
1. Rasante Fortentwicklung beim Ausbau des Russland-Feindbilds
Die Schuldfrage ist vor jeder Ermittlung entschieden
Die britische Premierministerin verschwendet keine Zeit.
Sie demonstriert, wie hoch sie den Fall handeln will,
indem sie eine Hundertschaft der Anti-Terror-Einheit in
Salisbury aufmarschieren lässt, und startet eine Attacke
auf Russland, indem sie ihm ein Ultimatum zwecks
Aufklärung
stellt, das praktischerweise schon vor
jeder Antwort Russland als Täter ausgemacht hat:
„Entweder handelte es sich um einen direkten Akt des russischen Staates gegen unser Land. Oder die russische Regierung hat die Kontrolle verloren über dieses Nervengift, das potentiell katastrophal schädlich ist.“ (FAZ, 14.3.18)
Um Aufklärung im kriminalistischen Sinn geht es da wohl eher nicht, stattdessen um eine dezidierte Schuldzuweisung – aufklären kann auch ein Beschuldigter schließlich nur das, was er getan hat. Mays Alternative fordert von Russland allein ein Geständnis. Dabei gilt interessanterweise Kontrollverlust als gleichwertiges Verbrechen wie ein Angriff auf die Nation, auch wenn zum Delikt Kontrollverlust, wie es die fachmännischen Kommentare aufblättern, die Zusammenbruchs-Szenerie im Russland der 90er Jahre gehört, in dem sich die Geheimdienste aller potenten Nationen über die militärischen Hinterlassenschaften der Sowjetunion hergemacht und Fachwissen inkl. etlicher Entwicklungsingenieure eingekauft haben. In dem Zusammenhang erfährt man auch, dass dieselben potenten Staaten aus Gründen der „Verteidigung“ ebenso über das Russen-Gift verfügen.[1] Dass mit der Alternative Kontrollverlust die Schuld dennoch mit Bestimmtheit Russland zugerechnet wird, dokumentiert die Freizügigkeit des politischen Urteils, als was die britische Führung den Fall nehmen will.
Des Weiteren soll Russland innerhalb von 36 Stunden antworten, während die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), die nach etlichen Tagen eingeschaltet wird, alle Zeit bekommt, die sie benötigt:
„Die OPCW wird die Proben des gefundenen Gifts Nowitschok nach Angaben des britischen Außenministeriums in internationalen Labors überprüfen lassen. Dies soll mindestens zwei Wochen dauern... Nach Angaben von Scotland Yard könnten die Untersuchungen im Fall Skripal noch Monate dauern.“ (zdf.de, 19.3.18)
Diese Demonstration von Entschlossenheit stellt Russland vor einen Anspruch, den es gar nicht erfüllen kann, was dann als weiteres Indiz für den Beweis verwendet wird, dass Russland der Schuldige sein muss:
„Die Regierung in Moskau habe mit ‚vollständiger Missachtung‘ auf den Ernst der Situation reagiert, beklagte die Premierministerin. Man habe keinerlei Erklärungen erhalten. Dass mitten in Europa ein hochgefährliches waffentaugliches Nervengift eingesetzt werde, stoße stattdessen in Russland auf ‚Sarkasmus, Verachtung und Trotz‘. Es gebe deshalb [!] ‚keine andere Erklärung, als dass der russische Staat schuldig ist an dem versuchten Mord an Herrn Skripal und seiner Tochter‘, sagte May.“ (FAZ, 15.3.18)
Nachdem May ihre „wohlwollende“ Alternative Kontrollverlust auf diese Weise erledigt hat, wird die Schuldzuweisung in Richtung Putin präzisiert, nach der bestechenden Logik, dass nichts, was irgendwo in Russland oder Russen irgendwo im Ausland passiert, ohne Putins Wissen und Auftrag passiert sein kann. May:
„‚Wir wollten bessere Beziehungen, und es ist tragisch, dass Wladimir Putin beschlossen hat, in dieser Weise zu handeln.‘ Zum ersten Mal hat May damit den starken Mann im Kreml persönlich für den Giftanschlag von Salisbury verantwortlich gemacht. Bisher dagegen hat sie im Zusammenhang mit den Anschuldigungen stets von ‚Russland‘ oder vom ‚russischen Staat‘ gesprochen. Solche Unterschiede in der Wortwahl haben Gewicht in diplomatisch aufgeheizten Zeiten wie diesen.“ (Ebd.)
Der britische Außenminister sekundiert:
„Es sei Putins ‚Entscheidung gewesen, den Einsatz eines Nervengifts auf den Straßen des Königreichs, auf den Straßen Europas, anzuweisen‘.“ (FAZ, 17.3.18)
Die Beweisfindung
findet erstens mit Hilfe der diplomatischen
Sprachregelung höchstwahrscheinlich
statt – eine
gewisse Konzession, auch im Hinblick auf die europäischen
Partner, dass die Ermittlungsbehörden erst noch ihr Werk
tun müssen, was aber die Regierung May gar nicht daran
hindert, ihre Art von Ermittlung bis hin zur „Bestrafung“
Russlands – s.u. – unmittelbar in die Wege zu leiten.
Zweitens ist aufgrund eines älteren Putin-Zitats,
Verrätern verzeihe ich nicht
, auch schnell das
Mordmotiv identifiziert. Denn:
„Nur bei Russland treffen heute eine Vorgeschichte staatlich unterstützter Morde mit einem öffentlich eingestandenen Motiv für den versuchten Mord an Sergej Skripal und Vorräten von Nowitschok-Kampfstoffen zusammen.“ (Der britische Außenminister Boris Johnson, FAZ, 16.3.18)
Auch wenn amerikanische Präsidenten Snowden z.B. als
Verräter einstufen und der neue amerikanische
Außenminister Pompeo in diesem Fall die Todesstrafe für
angebracht hält, auch wenn die CIA in gehörigem
zeitlichem Abstand die Welt davon in Kenntnis setzt, wie
viele echte oder vermeintliche Feinde Amerikas sie
erledigt hat – nur bei Russland
ist der Schluss
auf notorisches politisches Morden fällig, und das
natürlich immer in direktem Auftrag von Putin.[2]
Drittens verfertigt Johnson auch daraus noch ein Beweismittel, dass sich Russland gegen die Schuldzuweisung zur Wehr setzt und dass dort verschiedene mögliche Versionen ventiliert werden. Mit Hilfe der Unterstellung, dass Russland die richtige Version kennen und sich deshalb auf die eine festlegen müsste, wird eine weitere Beschuldigung verfertigt, die der absichtlichen Verdunkelung der Tatumstände.
Viertens dient ein fingiertes Ausschluss-Verfahren namens
keine plausible alternative Erklärung
als Beweis,
der einfach zu erbringen ist, nachdem sich ja auch in den
stattfindenden Ermittlungen niemand um eine alternative
Erklärung bemüht. Und May kann den Erfolg verzeichnen,
dass ihre Sprachregelung gerne übernommen wird. Die USA,
Frankreich und Deutschland
„teilen die Einschätzung des Vereinigten Königreichs, dass es keine plausible alternative Erklärung gibt und stellen fest, dass Russlands Weigerung, auf die berechtigten Fragen der Regierung des Vereinigten Königreichs einzugehen, einen zusätzlichen Anhaltspunkt für seine Verantwortlichkeit ergibt“ (ntv, 15.3.18).
Und Russlands Begründung, warum es dem Ultimatum nicht
nachkommt, weil sich nämlich Großbritannien nicht an die
im Chemiewaffen-Abkommen vorgesehenen Regeln hält, dient
dann wiederum als zusätzlicher Anhaltspunkt
.
Fünftens und überhaupt:
„Für mich ist dieser Vorfall Teil eines Musters gesetzlosen Verhaltens von Präsident Wladimir Putin... Der rote Faden, der die Giftanschläge in Salisbury mit der Annexion der Krim, den Cyberattacken in der Ukraine, den Hackerangriffen auf den Bundestag und der russischen Einmischung in europäische Wahlen verbindet, ist die Missachtung der grundlegenden internationalen Regeln durch den Kreml.“ (Boris Johnson, FAZ, 16.3.18)
Mit der zielsicheren Einordnung des Vorfalls als Teil
eines Musters
wird das Eingeständnis abgeliefert,
dass die Schuldzuweisung auf dem vorgängigen gültigen
Feindbild beruht. Das Urteil rechtfertigt sich
aus einem allgemeinen Urteil über den Staat, das schon
längst feststeht und das in Gestalt der seit Längerem im
Westen durchgesetzten diplomatischen Formel
Missachtung der grundlegenden internationalen Regeln
durch den Kreml
als anerkannter Berufungstitel
herangezogen wird. Nur auf Grundlage des längst
verankerten Feindbilds erhalten die verwegenen Wege der
Beweisfindung den Schein von Wahrscheinlichkeit. Noch
einmal Boris Johnson:
„Russland hat enorme Anstrengungen unternommen, um den Einsatz von chemischen Waffen durch das Assad-Regime in Syrien zu verheimlichen. Im vergangenen Oktober kamen internationale Ermittler zu dem Ergebnis, dass Assads Regime im April 2017 das Nervengas Sarin gegen die Stadt Chan Scheichun eingesetzt hatte.
Statt Assad jedoch zu verurteilen, deckte Russland ihn, indem es ein Veto gegen die Verlängerung der internationalen Untersuchung einlegte, so dass sie faktisch eingestellt werden musste.
Wie viel einfacher ist es für einen Staat, Chemiewaffen einzusetzen, wenn seine Regierung einen solchen Einsatz durch andere Staaten schon toleriert und zu verheimlichen versucht hat? Für mich gibt es einen Zusammenhang zwischen Putins Nachsicht gegenüber Assads Greueltaten in Syrien und der Bereitschaft des russischen Staats, eine chemische Waffe auf britischem Boden einzusetzen.“ (Ebd.)
Dass Russland, das die Beschuldigung Assads und die
westliche Ermittlungstechnik in diesem Fall anzweifelt,
damit nur den Giftgaseinsatz verheimlicht
und
Assad deckt
, diese am Syrien-Krieg erarbeitete
Feindbild-Facette taugt jetzt als Grundlage für den
originellen Schluss, dass dadurch eigene Einsätze
einfacher
gemacht werden und Russland dann wohl
auch logischerweise selbst zu Giftgas greifen wird. May
wiederum leitet dasselbe Ergebnis aus der Annexion der
Krim und Hackerangriffen ab:
„‚Diese Tat spielte sich ab vor dem Hintergrund eines wohlbekannten Musters der Aggression durch den russischen Staat.‘ Sie nannte unter anderem die Annexion der Krim durch Russland sowie Hackerangriffe auf den Bundestag in Berlin und das dänische Verteidigungsministerium.“ (FAZ, 14.3.18)
Die Art der Beweisführung – wer die Krim annektiert, wer
in Syrien Krieg führt ..., der vergiftet auch Spione im
Ruhestand – bemüht einen äußerst produktiven Zirkel:
Alles mögliche, was man an Russland nicht leiden kann
oder ihm an Schandtaten zuschreibt, bestätigt
das Muster
; und umgekehrt rechtfertigt
das Muster jede Einordnung. Beeindruckend, was auf der
Grundlage alles für glaubwürdig befunden wird, was als
seriöses Urteil durchgeht, und wie flott sich so ein
Feindbild fortentwickeln und damit eine außenpolitische
Eskalation begründen lässt.
Eine ehrenwerte westliche Regierung verfährt z.B. nach der Methode Breitbart.news und versetzt ihre Bevölkerung in Furcht und Schrecken mit der Ankündigung möglicher weiterer russischer Untaten, die sich kaum mehr von Kriegshandlungen unterscheiden lassen:
„Die britische Regierung befürchtet offenbar russische Cyberangriffe auf britische Kraft- und Wasserwerke. Möglich seien auch Angriffe auf die Datenbasis der Finanzämter und des Nationalen Gesundheitsdienstes, berichtete die ‚Sunday Times‘ mit Verweis auf britische Geheimdienstquellen... Laut ‚Sunday Times‘ hat der britische Geheimdienst die Leiter mehrerer Infrastruktureinrichtungen, darunter Elektrizitätswerke und auch das Atomkraftwerk in Sellafield, vor möglichen Cyberangriffen gewarnt. Der Direktor des ‚National Cyber Security Centre‘, das an den Geheimdienst GCHQ angedockt ist, bestätigte dies der Zeitung.“ (FAZ, 19.3.18)
Und so wie der vorab definierte verbrecherische Charakter des Beschuldigten die Glaubwürdigkeit aller Beweise gegen ihn stiftet, so lässt sich auch die unbedingte Glaubwürdigkeit des Beschuldigers zum Argument gegen den Beschuldigten machen: Siehe das weithin vertretene Argument, dass die britische Regierung doch sichere Beweise haben muss, auch wenn man sie nicht kennt, weil sie sonst ja nicht so offensiv auftreten würde. Außerdem wird allen Ernstes der Schluss in die öffentliche Zirkulation gebracht, dass die britische Regierung, die bei der vorbereitenden Legitimierung des Irak-Kriegs bekanntermaßen schon einmal ziemlich gelogen, nämlich Saddam Hussein den Besitz von Massenvernichtungswaffen angedichtet hat, sicher nicht unter die sonst übliche Regel fällt, wer einmal lügt... In dem Fall weiß die Fachwelt genau, dass sich „unsere“ Geheimdienste eine solche Blamage garantiert nie wieder leisten werden.
Schlussendlich kommt dann auch noch das Verfahren der wechselseitigen Beglaubigung durch die Instanzen, die sich dahinterstellen, als Mittel der Beweisführung zur Geltung. [3] Jedenfalls wenn es die dazu legitimierten und entscheidenden Mächte sind – siehe das Verfahren zur Legitimierung des Irak-Kriegs, bei dem die verschiedenen westlichen Regierungen die Dossiers ihrer Geheimdienste über Saddams angebliche Massenvernichtungswaffen so lange herumgereicht haben, bis endgültig alle Zweifel mundtot gemacht worden waren. Sich aufeinander zu berufen steigert offensichtlich den Wahrheitsgehalt – weniger durch Beweise als durch den Machtstatus der beteiligten Instanzen.
2. Die politische Leistung: was aus dem Fall gemacht wird
Der Anschlag wird zu einer Reihe von Verbrechen des russischen Staats in aufsteigender Stufenleiter zurechtdefiniert.
Erstens sind zwar zwei Skripals sowie ein britischer Polizist zu Schaden gekommen, aber nachdem möglicherweise viele mehr hätten zu Schaden kommen können, liegt, gedacht auch als Bebilderung für das englische Volksgemüt, etwas Ähnliches wie ein (Beinahe-)Massenmord in Salisbury vor:
„Nur dem Zufall ist es zu verdanken, dass heute nicht mehr Menschen erkrankt sind. Offensichtlich war es den Tätern egal, wie viele unschuldige Menschen sie in Gefahr brachten.“ (Boris Johnson, FAZ, 16.3.18)
Zweitens wird der Angriff auf britische Bürger mit einem Angriff des russischen Staats auf den britischen Staat identifiziert:
„‚Dies stellt einen rechtswidrigen Einsatz von Gewalt gegen das Vereinigte Königreich durch den russischen Staat dar‘, sagte May im Unterhaus.“ (FAZ, 15.3.18)
Drittens hat man es damit von der Verwendung eines Nervengifts, noch ohne den eigentlichen Täter kriminalistisch dingfest gemacht zu haben, zum völkerrechtlichen Vorwurf eines Bruchs internationaler Regeln gebracht, zum Tatbestand der Verletzung des Chemiewaffenabkommens, ein Befund, für den sich May auch die Zustimmung der westlichen Führungsnationen verschafft hat:
„Der Einsatz eines militärischen Nervenkampfstoffs eines Typs, wie er von Russland entwickelt wurde, stellt die erste offensive Anwendung eines solchen Nervengifts in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg dar. Es handelt sich um einen Übergriff gegen die Souveränität des Vereinigten Königreichs. Ein solches Vorgehen verletzt eindeutig die Bestimmungen des Chemiewaffenübereinkommens und das Völkerrecht. Es bedroht unser aller Sicherheit.“ (Erklärung der Staats- und Regierungschefs von Frankreich, Deutschland, den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 15.3.18)
Auf diese Weise bringt es die ausgreifende Interpretation der Vergiftung von drei Personen bis hin zu einer irgendwie mit einem Weltkrieg vergleichbaren Tatsache und weiter zu einer Bewertung des Anschlags als Bedrohung der internationalen Sicherheit, d.h. bis knapp vor die Ausrufung des Bündnisfalls.
Diese Einordnungen des Falls als ... sind ein politischer Akt, aus dem etwas folgen soll. Mit diesen Kategorien der Rechtsverletzung bewaffnet beansprucht die Nation ihr absolutes Recht, gegen den inkriminierten anderen Staat vorzugehen. Schon mit der Form des Ultimatums, einer Umgangsweise von Mächten, die sich in ihrem höchsten Interesse, ihrer Souveränität verletzt sehen, stellt sich Großbritannien auf den Standpunkt der Notwendigkeit, Russland als Feind entgegenzutreten. Mit dieser politischen Nutzanwendung des Falls begründet es sein Recht auf entsprechende „Reaktionen“, d.h. sein Recht, Maßnahmen gegen Russland zu ergreifen, und dafür die Solidarität seiner Partner einzufordern.
Die „Bestrafung“
Die Diagnose, dass und inwiefern der russische Staat die
britische Souveränität und letztlich die Staatenfamilie
und ihre Regeln verletzt hat, ist so gefällt, dass sie
eine hochkalibrige Re
-Aktion rechtfertigt; Fragen
nach der Verhältnismäßigkeit sind mit dieser Einstufung
ausgeschlossen bzw. beantwortet. Mit dem Terminus
„Bestrafung“ wird die Sache zwar quasi-rechtsförmlich
eingekleidet, was aber die politische Substanz gar nicht
adäquat fasst. Da wird ja nicht irgendein Delinquent für
Vergehen zur Rechenschaft gezogen, sondern ein anderer
Staat, selber höchste Gewalt in seinem
Rechtsraum, soll unter die gerechte Gewalt anderer
Staaten gebeugt werden – das ist ein
Generalangriff auf die andere Macht.
Das Instrumentarium, das May zum Einsatz bringt, reicht
von einem weiteren Schritt zur internationalen
Ächtung bis kurz vor den Abbruch der diplomatischen
Beziehungen. Auf dem Gebiet der nationalen Ehre wird
Russland die Würdigung durch einen Besuch der Royals zur
Fußball-WM entzogen; Außenminister Johnson als geübter
Hitler-Vergleicher erinnert an die Olympischen Spiele von
1936. Der Aktionsradius der russischen Diplomatie wird
drastisch eingeschränkt, es werde vorerst keine
bilateralen Kontakte ‚auf hoher Ebene‘ mehr geben
(Theresa May, FAZ, 15.3.18);
die Ausweisung von Botschaftspersonal folgt:
„Bei der Aktion handelt es sich laut May um die größte Zahl an diplomatischen Ausweisungen in Großbritannien seit mehr als drei Jahrzehnten. In der russischen Botschaft in London sollen derzeit weniger als 50 Personen arbeiten, so dass die Ausweisung von 23 Diplomaten den Betrieb trifft.“ (FAZ, 15.3.18)
In Aussicht gestellt wird des Weiteren ein Verbot russischer Medien, May deutet auch mögliche Cyber-Angriffe an. Und schließlich wird die Drohung mit einem Zugriff auf russisches Vermögen in Großbritannien in die Welt gesetzt:
„May kündigte weiter an, alle staatlichen russischen Vermögen im Land einzufrieren, wenn es Beweise dafür gebe, dass diese eingesetzt würden, um Leben und Eigentum von Bürgern in Großbritannien zu bedrohen.“ (Ebd.)
Zur Identifizierung einer solchen Bedrohung genügen verfahrenstechnisch offensichtlich die Staatsangehörigkeit sowie die hoheitliche Definition, dass russischer Geldreichtum im Prinzip nur auf dem Weg der Korruption entstanden sein kann:
„May bekräftigte, die britische Polizeibehörde National Crime Agency werde alle verfügbaren Kapazitäten dafür einsetzen, das geltende Recht durchzusetzen und gegen Nutznießer von Korruption vorzugehen. ‚Es ist kein Platz für diese Leute oder ihr Geld in unserem Land‘, sagte sie.“ (Ebd.)
Und weil sich das in einem Rechtsstaat wie dem
Vereinigten Königreich gehört, gibt es auch schon das
passende Gesetz, das man sich für die weltpolitisch
aktuellen Methoden von Wirtschaftskrieg neulich
verschafft hat: Wie es der Zufall will
, schreibt
die FAZ ohne jeden Anflug von Ironie,
„hat der britische Gesetzgeber kurz vor dem Anschlag auf Skripal den Ermittlungsbehörden neue Waffen an die Hand gegeben: ‚Unexplained wealth order‘ heißt ein neues Rechtsmittel, das den Handlungsspielraum der britischen Polizei deutlich ausweitet. Seit Februar können die Fahnder von Verdächtigen verlangen, offenzulegen, woher das Geld stammt, mit dem sie zum Beispiel eine Immobilie erworben haben. Können diese keine plausible Erklärung liefern, wird ein Verfahren zur Konfiszierung des Vermögensgegenstands eingeleitet. Nach dem Giftanschlag in Salisbury aber könnten die ‚unexplained wealth orders‘ von Großbritannien dazu genutzt werden, Vergeltung an Russland zu üben.“ (FAZ, 14.3.18)
Äußerst nützlich ist da die Umkehrung der Beweispflicht,
dass der Verdächtigte sein Vermögen legitimieren muss,
was bekanntermaßen nicht ganz einfach ist vor dem
Hintergrund der Zustände des sogenannten
Raubtierkapitalismus, die der Einzug von Demokratie &
Marktwirtschaft im Russland der 90er Jahre geschaffen
hat. Das neue Gesetz bietet des Weiteren auch
hinreichende Handlungsfreiheit für den gewollten Zugriff
auf missbilligte Vermögen, da die Behörden auch ohne
begründeten Verdacht auf kriminelle Machenschaften
loslegen können:
„Um die Offenlegung der Geldquellen zu erzwingen, benötigen die Behörden zwar einen Gerichtsbeschluss des Londoner High Court. Doch können sie diesen im Rahmen der neuen Rechtsverordnung vergleichsweise einfach erwirken: Es ist dafür nicht zwingend ein begründeter Verdacht auf kriminelle Machenschaften notwendig. Ausreichend ist schon, dass es sich bei dem Verdächtigen erstens um ‚eine politisch exponierte Person‘ aus einem Land außerhalb der EU handelt und zweitens Grund zur Annahme besteht, dass sein reguläres Einkommen nicht für den Erwerb ausreicht.“ (Ebd.)
Mit den politisch exponierten Personen
und dem
unexplained wealth
steht der Premierministerin ein
interessantes Material zur Verfügung, das sich das
Vereinigte Königreich in den Jahren seit dem
Zusammenbruch der Sowjetunion systematisch beschafft hat.
Großbritannien hat sich allen möglichen Figuren, die aus
welchen Gründen auch immer vor Putin geflohen sind, also
als approbierte Putinkritiker
gelten dürfen, als
„sicherer Hafen“ angeboten: politischen Konkurrenten,
Dissidenten, Ex-Geheimdienstagenten genauso wie
Oligarchen, die sich als politische Opfer Putins
präsentieren und ihr Vermögen vor dem Zugriff des
russischen Staats in Sicherheit bringen wollten. Dazu
kommen dann noch allerhand russische Magnaten, die auch
ohne explizite Gegnerschaft zu Putin einen Firmensitz auf
der Insel zu schätzen wissen, allein wegen der Vorteile,
die Großbritannien in der Standortkonkurrenz gegenüber
Russland zu bieten hat: den vermeintlich sichereren
Status unter britannischem Recht, die britischen
Steuerparadiese auf den Kanalinseln und/oder die
Anlagemöglichkeiten, die der Finanzplatz London im
Unterschied zum bescheidenen Bankensektor ihrer Heimat zu
bieten hat.
Alle diese Sorten Russland-Flüchtlinge waren dem britischen Staat sehr recht; bis gestern war deren Geld zwar schon genauso schmutzig wie heute, aber als Bereicherung für den Finanzplatz London hochwillkommen. Als Zweites hat dieses Russen-Sortiment seine Dienste getan als menschliche Manövriermasse für den vom Vereinigten Königreich vertretenen westlichen Einmischungsanspruch und die entsprechenden subversiven Tätigkeiten gegen das „autokratische“ Putin-Regime.
Was dieses Potential seinerseits an zweifelhaften Geldquellen, politischen Gehässigkeiten und einer Intrigenwirtschaft inklusive diverser Morde auf die Insel mitgebracht hat, hat schon immer als nützlicher Stoff für die Anti-Russland-Propaganda aus Großbritannien getaugt, wie etwa in dem alten Fall Litwinenko. Jetzt wird dieses Potential aber noch in ganz anderer Hinsicht funktionalisiert, zur Legitimation für das Vorhaben, Russland nicht nur moralisch ins Abseits zu stellen, sondern materiell massiv zu schädigen. Mit dem Generalverdacht „Korruption“ gegen den gesamten Staat, womit von oben herunter konstatiert wird, dass jedes größere Vermögen dort nur auf unrechte Weise entstanden sein kann, mit dieser robusten Definition eines Tatbestands verschafft sich die englische Regierung das vorwärtsweisende Recht, auf das Privatvermögen der Russenkolonie in London sowie auf russische Kapitalanlagen unter britischer Rechtshoheit zuzugreifen.
Was da mit dem Titel gerechte Vergeltung
problemlos abgehakt wird, zielt – ganz im Rahmen der seit
mehreren Jahren stattfindenden westlichen
Sanktionspolitik – auf eine ernstliche Schädigung der
materiellen Basis der russischen Staatsmacht. Und zwar
nicht erst dann und dadurch, dass russisches Eigentum in
Großbritannien konfisziert wird, sondern als Angriff auf
die internationale Kreditwürdigkeit Russlands, der dank
der Empfindlichkeit der Finanzmärkte schon allein durch
eine solche Drohung bewirkt wird. Immerhin läuft ja auch
seit einiger Zeit unter Politikern und Politikberatern
eine Debatte, in der die Anwendung härterer Mittel wie
der Sanktionierung russischer Staatsschuldtitel oder der
Ausschluss Russlands aus dem internationalen
Zahlungssystem SWIFT gefordert wird – die Unzufriedenheit
der NATO-Mitglieder und vor allem im amerikanischen
Kongress angesichts der bisherigen, für ungenügend
befundenen Wirkung der Russland-Sanktionen wächst nämlich
zusehends. Nachdem sich Russland zum einzig wahren
Glauben an die Vorzüge von Marktwirtschaft und Demokratie
bekehrt und in eine solide Abhängigkeit vom
Weltmarktgeschäft hineinbegeben hat, verfügt der Westen
damit über eine Waffe eigener Art: Russland ließe sich
ganz aus dem Weltmarkt ausschließen, indem man ihm den
Zugang zu Kredit und die internationale Zahlungsfähigkeit
verweigert – eine sehr fortschrittliche Fassung von
„containment“.[4]
Es ist abzusehen, dass angesichts solcher Perspektiven etliches Russen-Kapital die Flucht aus London antreten und den schon durch den Brexit beschädigten Finanzplatz weiter schädigen dürfte; aber das ist der Regierung May die Sache offensichtlich wert – es geht ihr schließlich um Höheres.
*
Die Fortentwicklung des Feindbilds, wie sie die britische Premierministerin mit ihrer abenteuerlichen Beweisführung betrieben hat, ist das eine, sie dient zur Legitimation einer Politik. Das andere sind der Standpunkt und die politischen Maßnahmen, die damit legitimiert werden. Und wiederum etwas Drittes sind die politischen Gründe für diese Maßnahmen, die sollen zwar von aller Welt mit dem Feindbild verwechselt werden, liegen aber ganz woanders – nämlich zum Teil im imperialistischen Standpunkt der Nation, die hier zur Ächtung Russlands schreitet, zum anderen Teil in der imperialistischen Lage, in der sich diese Nation befindet.
3. Warum und zu welchem Zweck das Vereinigte Königreich in aller Souveränität einen ernstlichen Konflikt mit Russland vom Zaun bricht
In der Staatsraison Großbritanniens besitzt das Bündnis mit Amerika von jeher oberste Priorität: Noch vor seiner Mitgliedschaft in und seinem Verhältnis zur EU ist das Land NATO-Staat an der Seite Amerikas mit eigenen Atomwaffen und Mitgliedschaft in den „five eyes“, der vereinten Geheimdienste der angelsächsischen Länder, mit deren Hilfe Amerika seine Kontrollmacht über die Staatenwelt ausübt. Mit dieser Staatsraison steht es im Verhältnis zu Russland ein für das strategische Interesse an einem fortgesetzten entschiedenen Rollback der Macht im Osten. Es pflegt traditionell die Gegnerschaft gegen Russland, ungebremst von Berechnungen auf dessen ökonomische Benutzung, bis hin zur Feindseligkeit und betätigt sich mit diesem Standpunkt als Gegengewicht gegen die deutsche Linie in Sachen Russland und als Scharfmacher in Europa.
In dieser Rolle macht sich Großbritannien wiederum zum Vorkämpfer einer harten Linie gegenüber Russland, seitdem sich der Kontrahent nicht nur gegen den europäischen Expansionismus, die per NATO und Osterweiterungen vollzogene Einkreisung, zur Wehr setzt, sondern eigenmächtig in weltpolitisch umstrittenen Gebieten militärische Fakten schafft. Was im regierungsamtlichen Feindbild als Bestandteil des „Musters“ von schlechtem russischem Benehmen zitiert wird – Georgien, die Krim, Syrien –, das sind die Fälle, in denen die gegensätzlichen Interessen der westlichen Weltordner und Russlands aufeinander treffen und sich Russland zu deren Ärger zu behaupten vermag; und damit ist der Grund der zunehmenden Feindschaft der unter dem Titel „der Westen“ versammelten Staaten angesprochen: Sie bestehen auf dem von ihnen beanspruchten Monopol auf Kontrolle der Staatenwelt, und diese sogenannte „regelbasierte Ordnung“ ist das hohe Gut, gegen das Russland verstößt.
4. Warum die englische Regierung sich diese Art von Russland-Bestrafung schuldig ist
Dass es May gelingt, ihre Nation in eine Aufwallung patriotischen Entsetzens zu versetzen und die Beliebtheitswerte der Labour Party drastisch absinken zu lassen, wird hierzulande offenherzig als geschickte Instrumentalisierung des Vorfalls gewürdigt:
„Es ist der britischen Regierung nicht vorzuwerfen, wenn sie sich mit ihrem Vorgehen in die politische Offensive bringt. Beherzt nutzte sie den Mordversuch an dem Doppelagenten Sergej Skripal in Salisbury, um Einigkeit und Stärke zu demonstrieren. Davon war in den vergangenen Monaten nicht allzu viel zu spüren. Zugleich gelang es Theresa May, die Opposition zu spalten.“ (FAZ, 21.3.18)
So viel zum weniger bedeutenden Teil der Übung; der weitaus gewichtigere Adressat sind die NATO-Partner, die westlichen Führungsmächte. Nachdem Großbritannien einen Macht- und Souveränitätsverlust hinnehmen muss, indem die EU-Partner es in den Brexit-Verhandlungen spüren lassen, dass sie am längeren Hebel sitzen, ist es sich einen Machtbeweis schuldig. Es benützt den Fall in seinem Kampf um die Geltung der Nation in der neuen Welt(un)ordnung, indem es die Solidarität, den tatkräftigen Rückhalt der anderen Europäer bzw. des „Westens“ auf einem anderen Feld als dem des Brexit-Streits einfordert: vermittelt über das gemeinsame strategische Interesse an und mit der NATO. Dass es May gelingt, die USA [5] und die Führungsmächte der EU, Deutschland und Frankreich, auf ihre Sicht der Dinge zu polen, also sich für ihre Definition der Gefährdungslage und die dadurch begründete Eskalation gegenüber Russland die Zustimmung der ansonsten gar nicht mehr so einigen westlichen Mächte zu besorgen, ist laut fachmännischem Kommentar nach Brexit und den Selbstzweifeln der Nation über ihren weltpolitischen Status eine ordentliche Leistung:
„Ein gemeinsames außenpolitisches Vorgehen des Westens unter britischer Führung, das ist mehr, als sich London in Zeiten des Brexits erträumen durfte.“ (FAZ, 21.3.18)
5. Warum die NATO und das übrige Europa sich der britischen Russland-Kampagne anschließen
Ein hochwillkommener Beweis dafür, dass die NATO überhaupt nicht obsolet ist
Die britische Regierung findet auch prompt die große Bereitschaft der NATO-Partner für die Herstellung einer Einheitsfront gegen Russland. Die Zuständigkeit des Kriegsbündnisses erstreckt sich jetzt offenkundig auch auf eher individuelle Mordtaten, jedenfalls dann, wenn man einen militärischen Kampfstoff dingfest machen kann:
„Die Bündnispartner zeigten sich ‚sehr besorgt‘ über den erstmaligen Einsatz von Nervengift auf dem Territorium der NATO seit ihrer Gründung im Jahr 1949... ‚Die NATO betrachtet jegliche Verwendung chemischer Waffen als eine Bedrohung von internationalem Frieden und Sicherheit‘, heißt es in der Erklärung des Nordatlantikrats.“ (FAZ, 15.3.18) [6]
NATO-Sekretär Stoltenberg zeigt sich außerordentlich erfreut über die britische Unterstützung, aus einem Giftanschlag auf einen abgetakelten Doppelspion einen Beweis für die Unersetzlichkeit des Kriegsbündnisses zu verfertigen und alle 29 Mitglieder auf Linie zu bringen:
„Noch einmal vielen Dank dafür, Herr Außenminister, dass Sie hierher gekommen sind... Wir haben unsere starke politische Unterstützung für das Vereinigte Königreich zum Ausdruck gebracht, und das ist wichtig, denn es zeigt, dass alle 29 NATO-Verbündete einig sind, wir stehen solidarisch hinter dem Vereinigten Königreich und das Vereinigte Königreich ist nicht alleine, wir antworten als Bündnis.“ (Joint press point with NATO Secretary General Jens Stoltenberg and UK Foreign Secretary Boris Johnson, 19.3.18)
Die bewährte Sprachregelung, die Einordnung eines eher kleinformatigen Anlasses in ein „Muster“ russischer „Aggression“, erlaubt schließlich nicht nur das Bestehen auf der unzweifelhaften Existenznotwendigkeit der NATO. Es rechtfertigt den bisherigen Aufmarsch in Osteuropa und die wachsenden Verteidigungshaushalte:
„Wir sind nun dabei, den größten Ausbau unserer gemeinsamen Verteidigung seit dem Ende des Kalten Krieges umzusetzen, mit Kampfgruppen, die im östlichen Bündnisgebiet aufgestellt werden, mit einer hohen Kampfbereitschaft unserer Kräfte, mit denen die NATO Response Force verdreifacht wird. Und wir sehen zum ersten Mal seit mehreren Jahren erhöhte Verteidigungsausgaben in Europa und Kanada.“ (Ebd.)
Und damit lässt sich gleich auch noch die Notwendigkeit künftiger Aufrüstungsschritte der NATO bis hin zur nuklearen Bewaffnung begründen:
„‚Der Anschlag von Salisbury ist vor allem Ausdruck eines bestimmten Musters, das wir seit einigen Jahren beobachten: Russland wird immer unberechenbarer und immer aggressiver... Wir sehen neuerdings, wie Russland Nuklearwaffen in die Militärdoktrin und in Militärübungen zusammenführt‘, sagte Stoltenberg. Es bestehe ‚die Gefahr, dass die russische Regierung sich schrittweise vom Einsatz konventioneller Waffen in Richtung Nuklearwaffen bewegen könnte‘. Die NATO-Staaten müssten darum ihre Verteidigungsbereitschaft und ihre Fähigkeiten weiter verbessern... ‚Wir müssen wachsam und entschlossen sein‘... Russland dürfe sich nicht verkalkulieren.“ (zeit.de, 18.3.18)
Stoltenberg dankt Boris am Ende auch für den Schulterschluss zwischen NATO und EU:
„Das zeigt die Bedeutung der starken Zusammenarbeit zwischen NATO und EU, und wir haben es geschafft, diese Zusammenarbeit auf eine neue Ebene zu bringen, eine nie dagewesene starke Zusammenarbeit, und das ist ein Teil unserer Antwort auf ein immer selbstsicherer auftretendes Russland. Großen Dank an Dich, Boris.“ (Joint press point ... , a.a.O.)
Dass der britische Antrag, einen Fall von
Körperverletzung auf britischem Boden als Fall für den
Kriegsapparat der NATO zu handeln, von den anderen
Mitgliedern zwar mehr oder weniger begeistert, aber
immerhin geteilt wird, hat seinen Grund darin, dass die
NATO-Partner in einem Punkt tatsächlich einig sind: Das
Bedürfnis nach einer lautstarken Bekräftigung der
Solidarität im Bündnis rührt aus der Unzufriedenheit mit
dem Umstand, dass das Zurückdrängen der Russen nicht so
aufgegangen ist, wie man es sich erhofft hatte, geht
allerdings darin auch wieder nicht auf. Eine die
Mitglieder beunruhigende Infragestellung der NATO ist
schließlich aus der anderen Himmelsrichtung gekommen: Es
war der amerikanische Präsident, der das Bündnis für
„obsolet“ erklärt und mit seinem Programm America
first!
überdies die Einheit des Westens gekündigt
hat. Gegenüber dieser von Amerika ausgehenden
Untergrabung des imperialistischen Gewichts und
Drohpotentials der europäischen Bündnismächte dient die
Eskalation der Feindschaft gegenüber Russland als das
Mittel der Wahl. Ein gemeinsamer Feind ist wirklich der
einzige Grund, der ein Bündnis solcher Mächte, die
sogenannte Wertegemeinschaft namens NATO zusammenhält.
„Doch über alldem steht die europäische Geschlossenheit an erster Stelle“
Dass die europäischen NATO-Partner und die EU Großbritannien den Gefallen tun, die Aufblähung des Falls zu einer Herausforderung der internationalen Sicherheit zu unterschreiben, begründet sich aus der Herausforderung ihrer strategischen Rolle in der sogenannten Weltordnung durch die neue amerikanische Linie: Die Europäer sehen sich vor der Notwendigkeit, diese Spaltung durch eine neue Einigkeit zu reparieren, deren Inhalt in der zwar aus unterschiedlichen Interessen begründeten, aber gemeinsamen Feindschaft gegen Russland besteht. Dieser Konfrontation sind die Europäer schließlich auch nur mit dem Bündnis gewachsen. Daher kommt der Schulterschluss mit dem Brexit-Land zustande, das sich ansonsten von den europäischen Partnern eine Abfuhr nach der anderen einhandelt. Allerdings auch wieder nur bedingt, denn die anderen Nationen haben wiederum ihre Interessen und Gründe.[7]
Einige Mitglieder der EU wollen sich schließlich ihre
Berechnungen mit Russland nicht so einfach nehmen bzw.
von der britischen Linie diktieren lassen. In diesem Sinn
reserviert sich Deutschland einen ganz eigenen Grund für
die Ausweisungen und betont, dass es die Ausweisung
von vier russischen Diplomaten nicht nur als Reaktion auf
den Fall Skripal ansieht. Der Schritt sei auch eine
Reaktion auf den Cyberangriff auf das IT-System der
Bundesregierung, der sich ‚mit hoher Wahrscheinlichkeit
russischen Quellen zurechnen lässt‘.
(FAZ, 28.3.18) Das hat dann auch den
Vorteil, dass sich die deutsche Beteiligung an der
internationalen Bestrafungsaktion nicht zu rechtfertigen
braucht, nachdem die Öffentlichkeit dann doch an der
Beweislage herumzweifelt.[8]
So viel steht dann aber doch fest, dass nämlich die Priorität bei der Formierung der EU gegenüber den USA liegt:
„Unsere Weltordnung ist eine andere geworden. Anders als noch in Zeiten des Kalten Krieges können wir uns nicht mehr darauf verlassen, dass die Vereinigten Staaten uns schon den Rücken freihalten werden. Umso wichtiger wird es nun, dass die EU einerseits unabhängiger und eigenständiger wird – sowohl mit Blick auf eine europäische Verteidigungsunion als auch den europäischen Energiemarkt. Andererseits muss Europa gegenüber Russland mit einem Plan, mit neuen Perspektiven aufwarten. Doch über alldem steht die europäische Geschlossenheit an erster Stelle. Nur mit ihr und durch sie sind wir stark.“ (Guy Verhofstadt: Für ein neues Verhältnis zu Russland, FAZ, 23.3.18)
Und für diese Geschlossenheit ist trotz Brexit die Gemeinschaft mit dem NATO-Partner und der Atommacht Großbritannien weiterhin vonnöten. Auch die EU kämpft – spiegelbildlich wie die Brexit-Politiker – gegen einen Machtverlust, den sie durch den Austritt einer ihrer bisherigen Führungsmächte befürchtet.[9] Als Beitrag zur Sicherung ihrer Rolle als imperialistisches Subjekt, zur Sicherung ihrer Machtfülle und ihrer strategischen Reichweite, ist auch ein versuchter Giftmord auf englischem Boden willkommen, um den Zusammenschluss mit Großbritannien zu bekräftigen. Diesem höheren Anliegen werden schließlich alle Bedenken und Vorbehalte untergeordnet, und in Gestalt einer kollektiven Ausweisungsaktion russischer Diplomaten demonstriert Europa seine Einigkeit und Stärke.
Phänomenal, was Putin so alles erreichen kann.
*
Im Folgenden wendet sich die öffentliche Aufmerksamkeit
vom Fall Skripal und der Erörterung der Beweislage ab,
ganz nach der bewährten Technik bzw. der „Verantwortung“
der Öffentlichkeit, weniger der Aufklärung als der
Aktualität Rechnung tragen zu müssen – wobei diese
Aktualität durch die Taten der wichtigen und berechtigten
Machtinstanzen hergestellt wird. Zum einen verhängen die
USA – endlich! – neue Sanktionen gegen Russland: Die
Vereinigten Staaten haben weitere Sanktionen gegen
Russland verhängt. Sie richten sich gegen 38 Firmen und
Einzelpersonen.
Und die Freude ist groß, als es
prompt zu einem mittleren Börsencrash in Moskau kommt.
Zudem verkündet die US-Regierung einen Fortschritt im Verhältnis von praktizierter Feindschaft und den zur Rechtfertigung herangezogenen Anlässen:
„Die amerikanische Regierung teilte mit, der Grund für den Schritt sei nicht ein einzelnes Ereignis: ‚Sie gründen sich auf das wachsende Muster bösartiger Aktivitäten Russlands in der Welt‘.“ (FAZ, 7.4.18)
Wenn die Feinddefinition so gut verankert ist, braucht man ja auch die Repressalien gegen Russland gar nicht mehr aus „einzelnen Ereignissen“ herauszuleiern, sondern kann gleich auf der prinzipiellen Ebene des in der Rechtfertigungslogik festgezimmerten „Musters“ loslegen.
Im Anschluss daran wird dem syrischen Präsidenten wieder einmal ein Einsatz von Giftgas zugeschrieben und damit die Charakterisierung des absolut Bösen anhand der Verwendung dieses – im Unterschied zu den anderen üblichen Tötungsverfahren völkerrechtlich verbotenen und moralisch geächteten – Kriegsmittels fortgeschrieben; vom Gift in Salisbury führt die Spur also direkt weiter zum Gift in Syrien. Und die Öffentlichkeit darf erfreut einen neuen Akt der Dreieinigkeit und Demonstration der Gewaltbereitschaft von Amerika, Frankreich und Großbritannien registrieren.
[1] Die
Chemiewaffenübereinkunft sieht vor, dass die
Vertragsstaaten geringe Mengen auch solcher Chemikalien
herstellen und aufbewahren dürfen, die nur einen
militärischen Zweck haben. Dafür gibt es gute Gründe:
Forschung zu medizinischen Zwecken und zur Verteidigung
gegen Chemiewaffen.
(FAZ,
24.3.18) Die entsprechende militärische
Forschungsanstalt der britischen Armee befindet sich in
Porton Down 10 km entfernt vom Tatort.
[2] Die deutsche Öffentlichkeit tut auch ihre Pflicht. Da der Fall für die Beantwortung der bei der Motiv-Forschung üblichen Frage ‚Cui bono?‘ gewisse Schwierigkeiten bereitet – warum sollte Russland kurz vor seinen Wahlen und in Erwartung der Fußball-WM seinen guten Ruf im Ausland dermaßen schädigen? Warum hätte es da nicht weniger auffällige Mordmittel verwenden sollen? –, wird man erfinderisch:
Doch warum sind sich die Briten so sicher, dass die
Spur nach Russland führt? Haben sie doch eindeutige
Beweise?… Sollte tatsächlich Russland hinter der
Vergiftung stecken, bleibt die Frage: Warum würde man
ein Gift nehmen, das nachweisbar ist? ‚Das war klar,
dass der Stoff identifiziert wird‘, sagt der Toxikologe
[ein deutscher Toxikologe und Dozent an einer
Universität, der anonym bleiben möchte, DW]. Es sei
denn, man habe damit bewusst etwas demonstrieren wollen
– nach dem Motto: ‚Wir können uns erlauben, auch in
anderen Ländern gegen die abtrünnigen Bürger des Landes
vorzugehen‘, sagt er. Das sei die einzige
Erklärung.
(DW,
22.3.18)
[3] Damit ist dann auch für die Presse die Schuldfrage so ziemlich endgültig beantwortet; angesichts der Entschiedenheit der europäischen Führungsmächte ist die Glaubwürdigkeit der britischen Regierung eine ausgemachte Sache. Ausnahmen wie der FDP-Vertreter Kubicki werden umgehend verdächtigt, von den Russen gekauft worden zu sein.
[4] „Einige der reichsten Russen haben Wohnsitze im Land; der prominente russische Oligarch Roman Abramowitsch ist zum Beispiel schon lange in London ansässig, und seine Metallgesellschaft Evraz hat sogar ihren Hauptsitz in der britischen Hauptstadt. Das Vereinigte Königreich könnte sich den Umstand zunutze machen und die russische Elite innerhalb der eigenen Grenzen treffen, was das gesamte Gefüge der russischen Elite, ihrer Firmen und der Regionen erschüttern würde, die finanziell und politisch von vielen dieser Firmen abhängig sind.
Das Vereinigte Königreich hat ebenfalls als Umschlagplatz für Russen gedient, um Schwarzgelder zu transferieren. Laut dem ehemaligen russischen Zentralbankchef Sergej Ignatjew fließen mutmaßlich 20 Prozent der zig Milliarden, die jedes Jahr aus Russland abgezogen werden, durch das Land. Und obwohl der finanzielle Einbruch der letzten Jahre einen Exodus russischer Firmen vom Londoner Finanzplatz bewirkt hat, stellen die verbliebenen, darunter Gazprom und Megafon, immer noch eine Macht dar. Wenn London gegen die russischen Geldflüsse energisch durchgreift oder die Aktivitäten russischer Firmen einfriert, könnte sich das auf die wirtschaftliche Stabilität Russlands verheerend auswirken.“ (worldview.stratfor.com, 13.3.18)
Um der hybriden Bedrohung aus Russland
entgegenzutreten, müssen das Vereinigte Königreich und
seine westlichen Partner den russischen Staat selbst
treffen... Der leichteste Weg wäre die Unterbindung des
Handels von russischen Staatsschuldpapieren über
westliche Clearinggesellschaften wie Euroclear und
Clearstream... Wenn sich russische Schuldtitel nicht
mehr über solche Stellen erwerben ließen, wären sie auf
dem Sekundärmarkt nicht mehr handelsfähig, was die
Mehrheit der EU- und US-Investoren davon abhalten
würde, sie weiterhin zu kaufen... Das Vereinigte
Königreich sollte die Führung übernehmen, die
Passivität überwinden, die die westliche
Sanktionspolitik gegen Russland seit 2014
charakterisiert, und Moskaus Annahme zunichte machen,
dass der Westen letztlich seine finanziellen Interessen
über seine Werte stellt.
(Theresa May Should Go After Putin’s Debt –
The Russian government’s greatest weakness is its
dependence on Western investors
, Foreign Policy,
21.3.18)
[5] Zwar versetzt Trump nach der Solidaritätserklärung die westliche Welt wieder einmal in helle Aufregung, weil er Putin trotz schriftlichen Verbots zur Wiederwahl gratuliert und den versuchten Giftmord weglässt:
Präsident Trump hat sich nicht an die besonderen
Warnungen seiner Berater für die nationale Sicherheit
gehalten, als er dem russischen Präsidenten Wladimir
Putin zu seiner Wiederwahl gratulierte – einschließlich
eines besonderen Vermerks in seinem Briefing-Material
in Großbuchstaben: ‚DO NOT CONGRATULATE‘.
Dann setzt sich die Trump-Regierung aber mit insgesamt 60 Mann an die Spitze der anschließenden Ausweisungswelle russischer Diplomaten und schließt bei der Gelegenheit gleich auch noch das russische Konsulat in Seattle wegen allzu großer Nähe zu einem U-Boot-Stützpunkt.
[6] Dabei kommt sogar
der berühmte Artikel 5 der NATO ins Gespräch: London
hat ... davon abgesehen, sich auf Artikel 5 zu berufen,
möglicherweise, weil die notwendige Einstimmigkeit
wegen Befindlichkeiten etwa der Türkei wohl ohnehin
nicht hergestellt werden kann.
(FAZ, 15.3.18) Was ein Experte der FAZ
nach längerem völkerrechtlichen Hin und Her für
einsichtig erklärt, weil ein Giftanschlag auf zwei
Personen dann doch vielleicht nicht so direkt als
bewaffneter Angriff
anzusehen ist: Die Frage
ist freilich, ob eine Attacke, wie diejenige in
Salisbury, so sie denn Russland zugerechnet werden
kann, als ‚bewaffneter Angriff‘ anzusehen ist. Ein
solcher setzt freilich traditionell eine erhebliche
militärische Gewaltanwendung voraus.
(Ebd.)
[7] Die EU-27 können
sich nicht restlos auf die von Großbritannien
vorgegebene Schuldzuweisung einigen und bauen in ihre
Solidaritätserklärung den Vorbehalt ein, dass man gerne
noch ein paar Beweise geliefert bekommen möchte:
EU-Diplomaten räumten jedoch ein, dass es den Briten
bisher nicht gelungen sein soll, eine ‚lückenlose,
nicht widerlegbare‘ Beweiskette bis zum Kreml
vorzulegen.
(DW,
19.3.18) Man zögert auch mit einer Verhängung
von Sanktionen: Die Entscheidung der EU, nicht
sofort Sanktionen zu beschließen, war keine
Überraschung, nachdem sich mehrere Minister dafür
ausgesprochen hatten, dass weitere Beweise notwendig
seien. Spaniens Alfonso Dastis sagte: ‚Wir denken, dass
es jetzt an der Zeit ist für eine gründliche
Überprüfung aller Umstände unter Beteiligung der
OPCW.‘
(The Guardian,
19.3.18)
[8] Auf der Grundlage
kann man dann sogar in CDU-Kreisen die Distanz zu
Großbritannien pflegen, ganz ohne die eigene Kanzlerin
in den in der Öffentlichkeit ventilierten Verdacht auf
„Überreaktion“ hineinzuziehen. Wenn man fast alle
NATO-Staaten zur Solidarität zwingt, sollte man dann
nicht sichere Belege haben? Man kann zu Russland
stehen, wie man will, aber ich habe im Studium des
Völkerrechts einen anderen Umgang der Staaten
gelernt.
(Armin Laschet, FAZ,
5.4.18)
[9] Bundestagspräsident
Schäuble lässt es sich nicht nehmen, bei der
Gelegenheit ein wenig nachzutreten: ‚Ich habe
durchaus noch Hoffnung, dass die Briten in der EU
bleiben‘, sagte der CDU-Politiker den Zeitungen der
Funke Mediengruppe. Nach dem Giftanschlag auf den
russischen Ex-Doppelagenten Sergej Skripal in Salisbury
hätten die Briten gesehen, ‚wie gut es ist, wenn man in
der Welt nicht alleine ist‘. ‚Die Briten erfahren viel
Solidarität und fangen an, die Sache etwas
differenzierter zu sehen. Sie erkennen: Europa
funktioniert.‘
(tagesschau.de,
30.3.18)