Zur Bedeutung atomarer Abschreckung im Ukraine-Krieg

Die Frage, worum es im Ukraine-Krieg geht, was dort auf dem Spiel steht, wird in der demokratischen Öffentlichkeit des Westens, vorbildlich in der deutschen, nicht gestellt, sondern durch die politmoralische Antwort überrundet: Dem Kreml geht es um Eroberung, Unterdrückung der Demokratie in der Ukraine und überhaupt, den Einstieg in einen neuen russischen Imperialismus, dem Oberbefehlshaber um seine persönliche Macht. Der Ukraine geht es um Verteidigung gegen illegale Aggression und den Schutz der demokratischen Werte. Den NATO-Staaten geht es um Hilfe für das Opfer eines völkerrechtswidrigen Angriffs, die europäische Friedens- und überhaupt die regelbasierte Weltordnung. Ideologisch ist die Welt nach anderthalb Jahren Ukraine-Krieg so in Ordnung wie lange nicht.

Experten und Regierungsberater der beiden in der Ukraine engagierten Atommächte stellen die Frage, was in der Ukraine jeweils für sie und überhaupt auf dem Spiel steht, ganz im Ernst, und in professioneller Parteilichkeit geben sie etwas andere Antworten. In Russland wird über Pro & Contra eines Atomwaffeneinsatzes diskutiert; in den USA gibt es entschiedene Einschätzungen dazu. Beides wird im Artikel dokumentiert, um daraus ein paar Schlüsse auf die Eigenart des Abschreckungsverhältnisses zwischen den USA und Russland zu ziehen.

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Zur Bedeutung atomarer Abschreckung im Ukraine-Krieg

Die Frage, worum es im Ukraine-Krieg geht, was dort auf dem Spiel steht, wird in der demokratischen Öffentlichkeit des Westens, vorbildlich in der deutschen, nicht gestellt, sondern durch die politmoralische Antwort überrundet: Dem Kreml geht es um Eroberung, Unterdrückung der Demokratie in der Ukraine und überhaupt, den Einstieg in einen neuen russischen Imperialismus, dem Oberbefehlshaber um seine persönliche Macht. Der Ukraine geht es um Verteidigung gegen illegale Aggression und den Schutz der demokratischen Werte. Den NATO-Staaten geht es um Hilfe für das Opfer eines völkerrechtswidrigen Angriffs, die europäische Friedens- und überhaupt die regelbasierte Weltordnung. Das Bedürfnis nach einem gerechten Kriegsverlauf wird bedient mit bösartigen russischen Überfällen auf zivile Ziele, mit ukrainischen Aktionen, die teils Hoffnung auf einen Durchbruch und die russische Niederlage, teils Bedauern über unzureichende Erfolge, teils Einverständnis mit Angriffen auf Ziele in Russland wachrufen, sowie mit der unermüdlichen Forderung nach Lieferung von Waffen der jeweils nächsthöheren Stufe. Vorbehalte gegen den Fortgang und die Eskalation des Krieges und die deutsche Beteiligung daran haben keine Chance gegen ihre Verurteilung als Parteinahme für einen Verbrecher und Verweigerung von Nothilfe. Gelegentlich geäußerte Ängste vor einem Atomkrieg, der Europa verwüsten würde, fallen auf haltlose Drohungen des Kreml herein. Und so weiter. Ideologisch ist die Welt nach anderthalb Jahren Ukraine-Krieg so in Ordnung wie lange nicht.

Experten und Regierungsberater der beiden in der Ukraine engagierten Atommächte stellen die Frage, was in der Ukraine jeweils für sie und überhaupt auf dem Spiel steht, ganz im Ernst, und in professioneller Parteilichkeit geben sie etwas andere Antworten. In Russland wird über Pro & Contra eines Atomwaffeneinsatzes diskutiert; in den USA gibt es entschiedene Einschätzungen dazu. Beides wird im Folgenden dokumentiert, um daraus ein paar Schlüsse auf die Eigenart des Abschreckungsverhältnisses zwischen den USA und Russland zu ziehen.

Drei kontroverse Beiträge zu einer russischen Debatte über den fragwürdigen Nutzen von Nuklearwaffen für die Atommacht Russland im ukrainischen Stellvertreterkrieg

Sergej Karaganow[1] eröffnet die Diskussion mit einem Zeitschriftenartikel (Profil Nr. 23-24 2023) unter dem bedeutungsschweren Titel: „Eine schwere, aber notwendige Entscheidung: Der Einsatz von Atomwaffen könnte die Menschheit vor einer globalen Katastrophe bewahren“. Darin zeichnet er zunächst aus der Perspektive seines Landes ein ungeschminktes Bild der schwierigen Kriegslage, einerseits im Verhältnis zur Ukraine, andererseits im Verhältnis zum Westen:

„Unser Land und seine Führung stehen meines Erachtens vor einer schwierigen Entscheidung. Es wird immer deutlicher, dass die Auseinandersetzung mit dem Westen auch durch einen Teilsieg oder gar einen vernichtenden Sieg in der Ukraine nicht beendet werden kann.

Wenn wir die Regionen Donezk, Luhansk, Saporoschje und Cherson vollständig befreien, wird dies ein minimaler Sieg sein. Ein etwas größerer Erfolg wird die Befreiung des gesamten Ostens und Südens der heutigen Ukraine innerhalb von ein oder zwei Jahren sein. Aber es wird immer noch ein Stück davon übrig bleiben, mit einer noch verbitterteren, ultranationalistischen Bevölkerung, die mit Waffen vollgepumpt wird – eine blutende Wunde, die unweigerlich zu Komplikationen und erneutem Krieg führt. Die Situation könnte fast noch schlimmer sein, wenn wir unter ungeheuren Opfern die gesamte Ukraine befreien und in Trümmern mit einer weitgehend hasserfüllten Bevölkerung zurückbleiben. Ihre ‚Umerziehung‘ wird mehr als ein Jahrzehnt dauern.

Jede der oben genannten Optionen, insbesondere die letzte, wird Russland von der dringend notwendigen Verlagerung seines geistigen, wirtschaftlichen und militärisch-politischen Zentrums in den Osten Eurasiens ablenken. Wir werden auf dem wenig aussichtsreichen Weg nach Westen stecken bleiben. Und die Gebiete der heutigen Ukraine, vor allem die zentralen und westlichen, werden Ressourcen abziehen – an Führungskräften, Personal und Finanzen. Diese Regionen wurden schon zu Sowjetzeiten stark subventioniert. Die Feindschaft mit dem Westen wird fortbestehen, er wird einen zähen Partisanenbürgerkrieg unterstützen.“

Über die Vorstellung einer möglichen Alternative kommt er auf den entscheidenden Inhalt der Auseinandersetzung aus russischer Sicht:

„Eine attraktivere Option ist die Befreiung und Wiedervereinigung des Ostens und des Südens sowie die Kapitulation der verbliebenen Ukraine mit vollständiger Entmilitarisierung und der Schaffung eines befreundeten Pufferstaats. Ein solches Ergebnis ist jedoch nur möglich, wenn es uns gelingt, den Willen des Westens zu brechen, die Junta in Kiew aufzuhetzen und zu unterstützen, und ihn zu einem strategischen Rückzug zu zwingen.“

Chancen für einen Erfolg, zumindest auf kürzere Frist, sieht er nicht: [2]

„Wir können also kein schnelles Ende der defensiven, aber aggressiven Konfrontation, die der Westen führt, erwarten.“

Im Gegenteil:

„Die USA verwandelten die Ukraine in eine Schlagfaust, um Russland, dem militärisch-politischen Dreh- und Angelpunkt der nicht-westlichen Welt, die dabei ist, sich von den Fesseln des Neokolonialismus zu befreien, die Hände zu binden. Im Idealfall würden die Amerikaner natürlich gerne einfach unser Land in die Luft jagen und damit auch die aufstrebende alternative Supermacht China radikal schwächen. Vielleicht weil wir die Unausweichlichkeit des Zusammenstoßes nicht erkannten, vielleicht weil wir unsere Kräfte schonten, zögerten wir, einen Präventivschlag zu führen. Außerdem haben wir, dem Trend des modernen, vor allem westlichen militärisch-politischen Denkens folgend, die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen leichtfertig zu hoch angesetzt, die Lage in der Ukraine falsch eingeschätzt und eine Spezialoperation nicht ganz erfolgreich begonnen.“

Man sieht: der russische Expertenverstand versteht sich ebenso gut wie der NATO-demokratische auf die Selbstkritik, die Feindseligkeit der Gegenseite nicht genügend ernst genommen zu haben. Was Russland infolge dieser Fehlwahrnehmung und Fehleinschätzung entgangen ist, das ist die Weltkriegs-Qualität der westlichen Ukrainekriegspolitik, wie sie aus dem „Versagen“ und den „menschenfeindlichen Ideologien“ der westlichen Eliten folgt:

„Außerdem, und das ist das Wichtigste, wird es dort [in der westlichen Welt uns gegenüber] nur noch schlimmer werden. Waffenstillstände sind möglich, Versöhnung aber nicht. Wut und Verzweiflung werden in Wellen und unter Manövern weiter wachsen. Dieser Vektor der Bewegung des Westens ist ein eindeutiges Zeichen für das Abdriften in Richtung auf die Entfesselung eines Dritten Weltkriegs. Er beginnt bereits und kann sich durch Zufall oder wachsende Inkompetenz und Verantwortungslosigkeit der herrschenden Kreise des Westens zu einem Flächenbrand auswachsen.“

Für diese totale Kriegsbereitschaft des Westens kennt Karaganow einen entscheidenden negativen Grund, mit dem er auf seinen Vorschlag zur Bewältigung der – andernfalls unausweichlichen – Weltkriegslage hinarbeitet: Die atomare Abschreckung funktioniert nicht mehr. In seiner Redeweise:

„Die Situation wird durch ‚strategisches Parasitentum‘ verschärft – in 75 Jahren relativen Friedens haben die Menschen die Schrecken des Krieges vergessen und haben sogar aufgehört, Atomwaffen zu fürchten. Überall, aber besonders im Westen, ist der Selbsterhaltungstrieb geschwächt.

Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit der Geschichte der Nuklearstrategie und bin zu einem eindeutigen, wenn auch nicht ganz wissenschaftlich anmutenden Schluss gekommen. Das Aufkommen von Atomwaffen ist das Ergebnis des Eingreifens des Allmächtigen, der mit Entsetzen feststellte, dass die Menschen, die Europäer und die sich ihnen angeschlossen habenden Japaner, innerhalb einer Generation zwei Weltkriege auslösten, die Dutzende Millionen von Menschenleben forderten, und der der Menschheit die Waffe des Armageddon in die Hand gab, um denjenigen, die ihre Angst vor der Hölle verloren hatten, zu zeigen, dass es sie gibt. Auf dieser Angst beruhte der relative Frieden des letzten Dreivierteljahrhunderts. Jetzt ist diese Angst verschwunden. Was jetzt geschieht, ist nach den bisherigen Vorstellungen von nuklearer Abschreckung undenkbar – die herrschenden Kreise einer Gruppe von Ländern haben in einem Anfall von verzweifelter Wut einen ausgewachsenen Krieg im Unterleib einer nuklearen Supermacht entfesselt.

Die Angst vor einer nuklearen Eskalation muss zurückgewonnen werden. Sonst ist die Menschheit dem Untergang geweiht.“

Bis zu diesem Punkt – ohne dafür Gott und westlichen Sittenverfall zu bemühen, im Vergleich dazu bemerkenswert nüchtern und ebenso schonungslos – geben die Kollegen Karaganows seinen Überlegungen recht.

Iwan Timofejew[3] bestimmt die strategische Lage Russlands so:

„Der Artikel von Sergej Karaganow geht davon aus, dass die Ukraine-Krise und die Beziehungen zum Westen eine tiefe ‚blutende Wunde‘ für Russland darstellen. Menschenleben und materielle Ressourcen werden geopfert, und wir werden von vielversprechenden Beziehungen zur Weltmehrheit abgelenkt.

Selbst ein militärischer Sieg im Ukraine-Konflikt wird das Problem nicht lösen. Der Westen wird damit fortfahren, Russland weiterhin energisch einzudämmen, seine materielle Erschöpfung zu verfolgen und die Voraussetzungen für einen revolutionären Umsturz zu schaffen. Diese Einschätzung der Lage scheint richtig zu sein.“

Für die Erklärung der Entstehung und Zuspitzung der Kriegslage kommt der Autor ohne Karaganows Theorie der verfaulenden westlichen Weltherrschaft aus. Im Kampf der Ukraine erkennt er einen regelrechten Staatsgründungskrieg; im Westen sieht er das entschlossene Vorgehen einer durchaus ernstzunehmenden Elite gegen Russlands Abwendung vom Westen am Werk, hat daher nicht den Trost eines absehbaren Untergangs des Imperialismus zu bieten:

„Wir erleben heute eine akute Phase der Verschärfung der Widersprüche, die mit dem Ende des Kalten Krieges nicht gelöst wurden und sich seitdem noch verschärft haben. Die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen haben sich seit Mitte der 1990er Jahre langsam verschlechtert, obwohl Moskau mehrere Versuche unternommen hat, sie zu korrigieren und Kompromisse zu erzielen. Russland hat lange Zeit unterschätzt, dass unser Land im Westen als eine untergehende Macht wahrgenommen wird, die keine gleichberechtigten Beziehungen verdient. Der Westen wiederum hat die Entschlossenheit der russischen Führung unterschätzt, bis zum Äußersten zu gehen, um ihrem Standpunkt Gehör zu verschaffen. Der ukrainische Flächenbrand ist eine verspätete Folge von Fehlern und Widersprüchen, die sich seit mehr als dreißig Jahren aufgestaut haben. Was Anfang der 1990er Jahre nach dem jugoslawischen Szenario in Form eines großen Bürgerkriegs hätte passieren können, geschieht jetzt, zu einer Zeit, da Russland und die Ukraine in der Welt längst als unterschiedliche Staaten wahrgenommen werden und dies auch rechtlich der Fall ist. Der offene militärische Konflikt hat die zuvor schleichenden Prozesse – die Erweiterung der NATO, die Militarisierung des Bündnisses, die Ausweitung der militärischen und politischen Präsenz in der Ukraine und im postsowjetischen Raum – angefacht und aus dem Schatten geholt. Drei Jahrzehnte lang verliefen diese Prozesse schleichend. Nach dem Ausbruch des offenen Konflikts machten sie einen Sprung und erreichten ein seit dem Ende des Kalten Krieges qualitativ neues Niveau. Es besteht nun kein Zweifel mehr an ihrer Unumkehrbarkeit. Ebenso dramatisch war in den letzten anderthalb Jahren die Neuausrichtung Russlands auf seine eigenen Kräfte und seine Hinwendung zur Weltmehrheit in Bezug auf die wirtschaftliche und humanitäre Zusammenarbeit. Was seit den Tagen von Jewgeni Primakow langsam und zögerlich vonstattenging, hat sich nach dem Februar 2022 zwangsläufig beschleunigt.

Russland und der Westen befinden sich nun in einer harten Konfrontation, deren Dauer noch auf Jahre hinaus absehbar ist. Es ist alles andere als klar, auf welcher Seite die Zeit steht. Eine in Russland weit verbreitete Ansicht ist, dass der Westen unter dem Druck objektiver historischer Prozesse bald zusammenbrechen wird. Dann wird sich das Problem der Ukraine scheinbar von selbst lösen. Was aber, wenn er nicht zusammenbricht? Oder er wird zusammenbrechen, nachdem Russland selbst zusammengebrochen ist oder seine historischen Chancen verpasst hat? Was ist, wenn die Zeit auch nach einem militärischen Sieg in der speziellen Militäroperation gegen uns läuft? Denn die Eindämmungspolitik des Westens wird auch dann nicht aufhören.

Dies ist genau das Szenario, das Sergej Karaganow sieht. Und es ist schwierig, ihm darin zu widersprechen. Um es mit den Worten des Autors zu sagen, der Westen wird sich nicht ‚verpissen‘.“

Während Karaganow aus diesem Szenario den Schluss zieht (darauf wird noch eingegangen), Russland müsse die Wirkung der nuklearen Abschreckung durch den Schock eines Atomschlags wiederherstellen, also das Tabu des Nuklearwaffeneinsatzes brechen, damit die andere Seite davon ablässt, die atomare Abschreckung insgesamt durch ihr Vorgehen infrage zu stellen, sieht Timofejew mit seinem nüchterneren Blick auf die westlichen Befehlshaber das Risiko vor allem auf der eigenen Seite:

„Der Logik nach besteht die Lösung darin, den Einsatz zu erhöhen, also in einer raschen Eskalation auf der nuklearen Konfliktleiter. Kurz gesagt: eine Krise von solchem Ausmaß zu schaffen, dass der Westen schockiert und gezwungen wäre, seine Haltung gegenüber Russland völlig zu überdenken und es in Ruhe zu lassen, auch indem er einem neuen Status quo in der Ukraine zustimmt. Das Einzige, was einen derartigen Schock auslösen könnte, ist der tatsächliche Einsatz von Atomwaffen, jedoch ohne dass der Atomkonflikt auf die Ebene strategischer Waffen eskaliert.

Obwohl dies logisch erscheint, ist die Umsetzung dieses Ansatzes äußerst gefährlich. Dieser Ansatz unterschätzt die westlichen Eliten und ihre Entschlossenheit, die Eskalationsleiter mit Russland zu erklimmen und ihm gegebenenfalls zuvorzukommen.“

Dmitri Trenin[4] steigt mit der gleichen Diagnose der strategischen Lage Russlands in seine „Antwort auf den Artikel von Sergej Karaganow“ ein:

„Mit seinem jüngsten Artikel hat Sergej Karaganow die komplexe Frage des Einsatzes von Atomwaffen im Rahmen der militärischen Sonderoperation in der Ukraine, die nun schon 16 Monate andauert, in die Öffentlichkeit gebracht. Viele Reaktionen auf diese Veröffentlichung laufen auf die bekannte Formel hinaus, dass es in einem Atomkrieg keine Gewinner geben kann und dass er nicht geführt werden kann. Vor diesem Hintergrund antwortete Präsident Wladimir Putin auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg auf eine Frage in dem Sinne, dass Atomwaffen der Abschreckung dienten und die Bedingungen für ihren Einsatz in Doktrindokumenten festgelegt seien; die theoretische Möglichkeit, diese Waffen einzusetzen, bestehe, aber es bestehe keine Notwendigkeit, sie jetzt einzusetzen.

Im Prinzip liegen Atomwaffen in der russischen Politik seit Beginn des Ukraine-Konflikts ‚auf dem Tisch‘, um die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten von einer Einmischung in den Konflikt abzuhalten. Dennoch haben die wiederholten öffentlichen Hinweise des russischen Präsidenten und anderer Beamter auf den nuklearen Status Russlands die schleichende Eskalation der Beteiligung von NATO-Staaten an den Feindseligkeiten in der Ukraine bisher nicht verhindert. Infolgedessen hat sich gezeigt, dass die nukleare Abschreckung, auf die sich viele in Moskau als zuverlässiges Mittel zur Sicherung der vitalen Interessen des Landes verlassen hatten, sich als ein Instrument von sehr viel geringerem Nutzen erwiesen hat. (...)

Es ist wahrscheinlich, dass diese US-Strategie auf der Überzeugung beruht, dass die russische Führung es nicht wagen wird, in dem aktuellen Konflikt Atomwaffen einzusetzen, und dass ihre Hinweise auf das russische Atomwaffenarsenal nichts weiter als ein Bluff sind. Selbst die Stationierung russischer nicht-strategischer Atomwaffen in Weißrussland wurde von den Amerikanern äußerlich gelassen hingenommen. Diese ‚Furchtlosigkeit‘ ist eine direkte Folge der geopolitischen Veränderungen der letzten drei Jahrzehnte und des Generationenwechsels an der Macht in den Vereinigten Staaten und im Westen im Allgemeinen.

Die einschränkende Angst vor der Atombombe, die in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts herrschte, ist verschwunden. Atomwaffen sind von der Bildfläche verschwunden. Die praktische Schlussfolgerung daraus liegt auf der Hand: Eine russische Reaktion ist nicht zu befürchten.“

Den Grund für diese fatale Furchtlosigkeit des Westens sieht der Autor eher in einem Machtgewinn des Westens seit dem Ende der Sowjetunion als in einem moralischen Verfall der Eliten; entsprechend hart fällt seine Diagnose der Bedeutung der amerikanischen Ukrainekriegsstrategie aus:

„In der Tat haben sich die Vereinigten Staaten nun eine Aufgabe gestellt, die während des Kalten Krieges unvorstellbar war: eine andere nukleare Supermacht in einer für sie strategisch wichtigen Region zu besiegen, ohne auf Atomwaffen zurückzugreifen, sondern nur durch die Bewaffnung und Kontrolle eines Drittlandes. Die Amerikaner agieren vorsichtig, testen die Reaktion des Gegners und gehen immer wieder an die Grenzen des Möglichen, was die nach Kiew gelieferten Waffen und die Wahl der Ziele betrifft. Von der Lieferung der Panzerabwehrwaffen gehen die USA nun dazu über, F-16-Kampfjets und Langstreckenraketen an die Ukraine zu liefern.“

Bei aller Vorsicht unterliegen die USA mit ihrer Eskalationspolitik allerdings einer fundamentalen Fehleinschätzung, an der freilich Russland selber in geradezu fahrlässiger Weise mitgewirkt hat:

„Dies ist eine äußerst gefährliche Fehleinschätzung. Der Verlauf des Ukraine-Krieges deutet auf eine Eskalation des Konflikts hin, sowohl horizontal – durch die Ausweitung des militärischen Einsatzgebietes – als auch vertikal – durch die Erhöhung der Stärke der eingesetzten Waffen und der Intensität ihres Einsatzes. Es sollte nüchtern erkannt werden, dass dieser Weg zu einem direkten bewaffneten Zusammenstoß zwischen Russland und der NATO führt. Wenn die Dynamik nicht gestoppt wird, wird es zu einem solchen Zusammenstoß kommen, und in diesem Fall wird der Krieg, der sich auf Europa ausweitet, fast zwangsläufig zu einem Atomkrieg werden. Und nach einiger Zeit wird ein Atomkrieg in Europa sehr wahrscheinlich zu einem Schlagabtausch zwischen Russland und den Vereinigten Staaten führen.

Die Amerikaner und ihre Verbündeten spielen tatsächlich russisches Roulette. Ja, bisher war die russische Reaktion auf die Zerstörung der Nord-Streams, den Drohnenangriff auf den strategischen Luftwaffenstützpunkt in Engels, das Eindringen vom Westen bewaffneter Saboteure in das Gebiet Belgorod und viele andere Aktionen der von Washington unterstützten und gelenkten Seite relativ zurückhaltend. Diese Zurückhaltung hat, wie Präsident Putin kürzlich deutlich machte, einen guten Grund. Russland, so der Oberbefehlshaber, sei zwar in der Lage, jedes Gebäude in Kiew zu zerstören, werde sich aber nicht auf die Terrormethoden des Feindes einlassen. Putin erklärte jedoch auch, dass Russland verschiedene Möglichkeiten zur Zerstörung westlicher Kampfflugzeuge erwägt, falls diese in NATO-Ländern stationiert sind und sich am Krieg in der Ukraine beteiligen.

Bislang hat die russische Strategie im Ukraine-Konflikt dem Gegner die Eskalationsinitiative überlassen. Der Westen hat dies ausgenutzt und versucht, Russland auf dem Schlachtfeld zu zermürben und von innen zu schwächen. Es macht für uns keinen Sinn, dieses Schema aufrechtzuerhalten.“

Daraus folgt für Trenin, was Karaganow zur Debatte gestellt hat und was Timofejew zwar logisch, aber verkehrt findet:

„Im Gegenteil, es ist sinnvoll, unsere nukleare Abschreckungsstrategie zu präzisieren und zu modernisieren und dabei die praktischen Erfahrungen aus dem Ukraine-Konflikt zu berücksichtigen. Die bestehenden doktrinären Bestimmungen wurden nicht nur vor dem Beginn der militärischen Sonderoperation formuliert, sondern offensichtlich auch ohne eine genaue Vorstellung davon, was während der speziellen Militäroperation geschehen könnte.

Russlands außenpolitische Strategie umfasst neben dem eigentlichen Militär auch außenpolitische, informationstechnische und andere Aspekte. Dem Hauptgegner muss unmissverständlich – und zwar nicht mehr verbal – signalisiert werden, dass Moskau sich nicht an die von der anderen Seite aufgestellten Regeln halten wird in einem Spiel, das zu seinem Schaden geführt wird. Natürlich muss parallel dazu ein vertraulicher Dialog mit unseren strategischen Partnern und neutralen Staaten geführt werden, in dem die Motive und Ziele unseres Handelns dargelegt werden. Die Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen im gegenwärtigen Konflikt sollte nicht verschwiegen werden. Eine solche reale, nicht nur theoretische Aussicht sollte ein Anreiz sein, die Eskalation des Krieges zu begrenzen und zu stoppen und letztlich den Weg für ein unseren Vorstellungen entsprechendes strategisches Gleichgewicht in Europa zu ebnen.“

Alle drei Experten beziehen sich in ihrer Diagnose des Drangsals, zu dem der Ukraine-Krieg sich für ihr Land entwickelt hat und weiter entwickeln wird, auf die atomare Bewaffnung Russlands als Sicherheitsgarantie für die Nation; die werde durch die Eskalation des Kriegsgeschehens durch den Westen und deren duldsame Hinnahme durch die eigene Seite fortschreitend außer Kraft gesetzt. So redet Sergej Karaganow – wie schon zitiert – von „75 Jahren relativen Friedens“, gegründet auf die „Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung“, die Russland „wiederherstellen“ müsse so wie zu Zeiten des Kalten Krieges:

„Der Feind muss wissen, dass wir bereit sind, einen präventiven Vergeltungsschlag für alle seine gegenwärtigen und vergangenen Aggressionen zu führen, um ein Abgleiten in einen globalen thermonuklearen Krieg zu verhindern.

Ich habe schon oft gesagt und geschrieben, dass das Risiko eines nuklearen ‚Vergeltungsschlags‘ oder eines anderen Angriffs auf unser Territorium minimiert werden kann, wenn die Strategie der Einschüchterung und sogar des Einsatzes richtig aufgebaut ist. Nur wenn ein Verrückter im Weißen Haus sitzt, der auch noch sein Land hasst, wird Amerika es wagen, zur ‚Verteidigung‘ der Europäer zuzuschlagen, einen Vergeltungsschlag zu führen und, um ein Beispiel zu nennen, Boston für Posen zu opfern. Sowohl die USA als auch Europa wissen das sehr gut, aber sie ziehen es vor, nicht darüber nachzudenken. Und wir haben mit unseren friedliebenden Erklärungen zu dieser Gedankenlosigkeit beigetragen. Da ich die Geschichte der amerikanischen Nuklearstrategie studiert habe, weiß ich, dass Washington, nachdem die UdSSR eine überzeugende Fähigkeit zum nuklearen Gegenschlag erlangt hatte, nicht ernsthaft die Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen auf sowjetischem Territorium in Erwägung zog, auch wenn es in der Öffentlichkeit bluffte. Wenn die Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen in Betracht gezogen wurde, dann nur gegen ‚vorrückende‘ sowjetische Streitkräfte in Westeuropa.“

Dmitri Trenin beginnt – auch schon zitiert – mit dem Verweis „auf die bekannte Formel ..., dass es in einem Atomkrieg keine Gewinner geben kann und dass er nicht geführt werden kann“. Als Fazit seiner Überlegungen zu einer womöglich notwendigen Eskalation der Auseinandersetzung mit dem Westen durch Einsatz von Atomwaffen kommt er auf die allumfassende Bedeutung atomarer Abschreckung zurück, die durch ein Zuschlagen mit Nuklearwaffen womöglich wieder in Kraft zu setzen wäre:

„Um eine universelle Katastrophe zu vermeiden, ist es notwendig, die Angst in die Politik und das öffentliche Bewusstsein zurückzubringen: im Atomzeitalter ist sie die einzige Garantie für die Erhaltung der Menschheit.“

Iwan Timofejew entwickelt ein ähnliches Szenario immer weiter verschärfter russischer Atomschläge, um bei der Sinnlosigkeit des dann unvermeidbaren letzten Schritts anzukommen:

„Was dann? Strategische Waffen einsetzen? Aber derjenige, der sie zuerst eingesetzt hat, stirbt als zweiter bei einem Vergeltungsschlag. Das ist eine Katastrophe mit zig Millionen Opfern in Russland, Europa und Amerika. Der Rest der Welt, einschließlich der Mehrheit der Weltbevölkerung, wird es ebenfalls schwer haben – Störung der globalen Wirtschaftsprozesse, mögliche Klimaveränderungen, Strahlung und andere Faktoren.

Nicht alle werden in den Himmel kommen. Vielleicht werden viele überleben. Aber sie werden in einer radioaktiven Hölle bleiben. In einem solchen Szenario wird der russische Staat höchstwahrscheinlich katastrophal geschwächt, wenn nicht gar zerstört werden.“

Um ebendiesen letzten Übergang auszuschließen, nur dafür, als absolute Bestandsgarantie für den Staat, behält die atomare Abschreckung ihren Sinn:

„Nuklearwaffen behalten ihre Bedeutung als Abschreckungsinstrument. Im Falle einer direkten militärischen Aggression gegen Russland und einer Bedrohung der Existenz des Staates kann ihr Einsatz unvermeidlich werden. In voller Übereinstimmung mit den aktuellen ‚Grundsätzen der Staatspolitik der Russischen Föderation auf dem Gebiet der nuklearen Abschreckung‘. In anderen Fällen sollten andere Instrumente der Außenpolitik eingesetzt werden.“

Wie gesagt: Alle drei Experten gehen in ihrer Bestimmung der prekären Kriegssituation Russlands davon aus, dass die auf eine Eskalation hinausläuft – bzw. auf keinen Fall hinauslaufen darf –, die durch die „Formel“ von der Unmöglichkeit eines Atomkriegs eigentlich immer als ausgeschlossen gegolten hat. Sie veranschlagen Russlands strategische Nuklearwaffen als eine Sicherheitsgarantie, die vom Westen in der Ukraine praktisch übergangen wird. Die Sache, auf die sie sich da beziehen: die eigentümliche Leistung atomarer Abschreckung, ist deswegen eine sachliche Erläuterung wert, ohne den parteilichen Standpunkt enttäuschten Vertrauens. Denn wenn diese angebliche Überlebensversicherung versagt, sobald die russische Seite sie benötigt und sich darauf verlässt, dann kann Frieden, sei er auch nur ein „relativer“, und auch wenn er ein Dreivierteljahrhundert irgendwie gehalten hat, nicht der strategische Endzweck von Tausenden Nuklearwaffen und der Inhalt der darauf gegründeten eigenen Sorte militärischer Abschreckung gewesen sein.

*

Was stattdessen?

Tatsächlich sind die militärische Qualität dieser Waffengattung, ihre unfassbare Bedrohlichkeit, und die dadurch ganz neu definierte Ebene strategischer Konfrontation zwischen den beiden großen Atommächten schon sehr bald nach ihrer Kopie durch die Sowjetunion zum Gegenstand einer von den USA erdachten und praktisch umgesetzten Politik der nuklearen Abschreckung gemacht worden. Diese Politik hatte – und hat – ihren Ausgangspunkt in dem gar nicht selbstverständlichen, für die USA als Siegermacht des Weltkriegs zunächst überhaupt nicht naheliegenden Standpunkt, dass angesichts einer nachholenden massiven nuklearen Bewaffnung des neuen Hauptfeinds ein Krieg mit derartigen „Massenvernichtungswaffen“ nach dem konventionellen – dem nunmehr als „konventionell“ geltenden – Schema von Angriff, Verteidigung, Überwältigung des Gegners bis zu einem Sieg, den die stärkere Seite als Erfolg verbucht, nicht mehr sinnvoll machbar sei. Zu einer Wegwerfaktion hat das nicht geführt; vielmehr zu der immer klarer und konsequenter herausgearbeiteten Schlussfolgerung der imperialistisch erfahreneren, technologisch überlegenen, diplomatisch federführenden Macht, dass Sicherheit auf der obersten Ebene strategischer Konfrontation nur zu erreichen sei, wenn die amerikafeindliche Gegenseite ihrerseits die Unmöglichkeit regulärer Kriegführung mit Atomwaffen „einsieht“, i.e. anerkennt und bei aller fortbestehenden und fortschreitenden Feindseligkeit respektiert. Der unnachsichtige Unvereinbarkeitsbeschluss des „freien Westens“ gegen das „sozialistische Lager“, das Kriegsverhältnis zwischen Ost und West, ließ sich so und nur so etablieren, aufrechterhalten und ausbauen, dass es „eingefroren“ wurde: als Kalter Krieg auf Basis eines in Rüstungskontrollabkommen festgeschriebenen Einvernehmens darüber, dass eine direkte kriegerische Konfrontation in wechselseitiger Vernichtung resultieren müsse und deswegen nicht infrage komme. Die Schönheit dieses Einvernehmens, von Beginn an sichtbar in diplomatischen Treffen, bei denen die Unterhändler beider Seiten ihre gegeneinander gerichteten Vernichtungswerkzeuge offen auf den Verhandlungstisch legten, entfaltete sich in der Folge logisch konsequent. Strategisch wurde eine Schrittfolge des unbedingt zu vermeidenden Atomkriegs ausgearbeitet, die über die Abfolge von Erst- und Zweitschlag das – den russischen Experten noch erinnerliche – Prinzip der „gesicherten wechselseitigen Vernichtung“ – „wer zuerst zuschlägt, stirbt als Zweiter“ – in die Weltgeschichte einführte. Militärisch musste daraus eine Aufrüstung folgen, die dem Imperativ der Glaubwürdigkeit verpflichtet war und geblieben ist: der absolut unverwüstlichen Fähigkeit zur „massiven Vergeltung“, für die die USA nie irgendwelchen Gesichtspunkten gefolgt sind, sondern die Kriterien gesetzt haben. Ob dabei immer der Wille zur Festigung des „Gleichgewichts des Schreckens“ leitend war oder der Wille, sich aus der Fessel des „atomaren Patts“ zu befreien, und die permanente (Wieder-)Herstellung letztlich gleichgewichtiger atomarer Abschreckung – „nur“ – das Ergebnis, kann dahingestellt bleiben. Denn entscheidend war immer die Politik, die die „Supermächte“, maßgeblich und federführend wieder die imperialistische Vormacht Amerika, auf Grundlage der von den USA vorbuchstabierten, vom weltpolitischen Gegner anerkannten Prämisse der Undurchführbarkeit des strategischen Atomkriegs verfolgt haben und weiter verfolgen: Unter der Bedingung des Verzichts auf wechselseitige Vernichtung haben sie sich Handlungsfreiheit verschafft: für Konfrontationen gegen einander unterhalb des „verbotenen“ direkten Angriffs auf die Souveränität des andern; mit ihrer allen anderen Staaten unbedingt überlegenen Militärmacht für gewaltsame Eingriffe ins Weltgeschehen überhaupt; beides zusammengenommen für Stellvertreterkriege an Fronten in aller Welt.

Dabei konnte von Gleichheit der weltpolitischen Handlungsfähigkeit bei allem letztlichen „Gleichgewicht des Schreckens“ nie wirklich die Rede sein. Für die Sowjetunion war das „atomare Patt“ tatsächlich im Wesentlichen eine Existenzversicherung angesichts einer vom Westen unter dem Stichwort „containment“ praktizierten Weltkriegssituation; für deren dezimierten Rechtsnachfolger ist es dabei geblieben. Für die Weltmacht des demokratischen Imperialismus war und ist dasselbe „Patt“ eine erzwungene Konzession an den Feind, die ihre Dominanz in eigentlich untragbarer Weise beschränkt. Diese Beschränkung hat Amerika aber immer sehr offensiv definiert und gehandhabt: als Instrument seiner Handlungsfreiheit. Es hat sich nie in einen ausufernden Abwehrkampf verstricken lassen, vielmehr immer wieder seinen Gegner in die Verlegenheit gebracht, den Bestand seines Herrschaftsbereichs verteidigen, sogar seine im Prinzip anerkannte strategische Gleichrangigkeit mit der westlichen Supermacht durch eine überfordernde Aufrüstung unter Beweis stellen zu müssen. Ganz anders als der haben die USA die Festlegung auf den Ausschluss einer direkten Konfrontation dazu genutzt, mit dem qualitativen Ausbau ihrer sub-atomaren Kriegsmacht und mit einem System von Bündnissen die Staatenwelt auf eine „Weltordnung“ zu verpflichten, die ihren Zugriff auf diese Welt als Quelle ihres nationalen Reichtums und Ressource ihrer Macht zum Inhalt hat. Per Saldo hat sich die Politik der atomaren Abschreckung für die USA gelohnt, nämlich als Garantie ihrer Freiheit bewährt, ganz nach eigenem Ermessen, allein dem eigenen Kalkül mit Aufwand und Ertrag folgend, den Globus imperialistisch zu bewirtschaften und die Ansprüche und Einsprüche ihres Gegners ins Leere laufen zu lassen.

*

Genau das ist es, und zwar in kritischer Zuspitzung, was die drei russischen Experten in parteilicher Betroffenheit am Kriegsverlauf in der Ukraine registrieren: Wirkliche, weltpolitisch wirksame, militärisch fundierte Handlungsfreiheit schafft das atomare „Gleichgewicht“ allein für die Seite, die unterhalb dieser höchsten strategischen Ebene die größere Macht zu entfalten vermag. Das hat Russland bei seinem Einmarsch in die Ukraine sich zugetraut: auf Basis der ausgeschlossenen direkten atomkriegerischen Konfrontation die Zurückdrängung und Einschnürung seiner Macht in Europa zu verhindern, schon Geschehenes rückgängig zu machen. Konfrontiert ist es damit, dass es damit nicht durchkommt. Die westliche Seite schafft es, auf dem von Russland gewählten Schauplatz dessen Militäraufgebot aufzuhalten, nachhaltig zu verschleißen, strategisch in die Defensive zu drängen. Nicht Russland bringt sie, sie bringt Russland in die Verlegenheit, in einem konventionellen Krieg existenziell, als Atommacht herausgefordert zu sein. Und das ist eine Verlegenheit ganz anderer Art als die jeden „normalen“ Militäreinsatz begleitende Frage eines strategisch erfolgreichen, politisch lohnenden, also kriegspolitisch vernünftigen Verhältnisses von Aufwand – an Ressourcen und Menschenmaterial – und Ertrag – an effektivem Machtgewinn. Für eine Eskalation, die sich an diesem Kriterium orientiert, sind die Waffen der atomaren Abschreckung nicht gemacht und nicht tauglich – wie schon zitiert:

„Im Prinzip liegen Atomwaffen in der russischen Politik seit Beginn des Ukraine-Konflikts ‚auf dem Tisch‘, um die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten von einer Einmischung in den Konflikt abzuhalten. Dennoch haben die wiederholten öffentlichen Hinweise des russischen Präsidenten und anderer Beamter auf den nuklearen Status Russlands die schleichende Eskalation der Beteiligung von NATO-Staaten an den Feindseligkeiten in der Ukraine bisher nicht verhindert. Infolgedessen hat sich gezeigt, dass die nukleare Abschreckung, auf die sich viele in Moskau als zuverlässiges Mittel zur Sicherung der vitalen Interessen des Landes verlassen hatten, sich als ein Instrument von sehr viel geringerem Nutzen erwiesen hat.“ (Dmitri Trenin)

Die großen „Massenvernichtungswaffen“ passen einfach nicht zu dem Sicherheitsproblem, das die Atommacht Russland in der Ukraine lösen will; sie verschaffen ihr nicht die Handlungsfreiheit, um die sie dort mit konventionellen Mitteln kämpft. Und das deswegen, weil die westliche Atommacht ihre „Feindseligkeiten in der Ukraine“, mit denen sie gegen die „vitalen Interessen“ Russlands vorgeht, zwar „schleichend“ eskaliert, aber gerade nicht als den Ernstfall behandelt, den die „nukleare Abschreckung“ verhindern soll und nach der Logik des Kalten Kriegs auch verhindert hätte. Nochmals Dmitri Trenin:

„In der Tat haben sich die Vereinigten Staaten nun eine Aufgabe gestellt, die während des Kalten Kriegs unvorstellbar war: eine andere nukleare Supermacht in einer für sie strategisch wichtigen Region zu besiegen, ohne auf Atomwaffen zurückzugreifen, sondern nur durch die Bewaffnung und Kontrolle eines Drittlandes.“

Die USA treiben einen Krieg voran, den Russland verlieren soll, und betreiben ihn gleichwohl nicht mit den Waffen, mit deren Einsatz sie die Schwelle zum „verbotenen“ strategischen Schlagabtausch überschreiten würden. So respektiert der Westen bei seiner Eskalation des konventionellen Krieges in der Ukraine das Gebot der atomaren Abschreckung – das „atomare Patt“ –; aber er respektiert es eben nicht als die ultimative Drohung, mit deren Verwirklichung er in diesem Krieg zu rechnen hätte. So nehmen die USA ihrem russischen Feind diesen letzten unbezwingbaren Schutzschirm dort vor Ort gewissermaßen aus der Hand, ohne die „Waffe“ der atomaren Abschreckung damit selber aus der Hand zu geben.

Während Trenin auf Grundlage dieser Lagebestimmung hier auf amerikanischer Seite das Risiko einer selbstmörderischen Fehlkalkulation sehen möchte, weil am Ende Russland um den Ersteinsatz einer Atomwaffe, und das je nachdem mit allen Konsequenzen, womöglich nicht herumkommt, rechnet Iwan Timofejew damit, dass die USA sich womöglich nicht einmal dann gezwungen sehen – und bei ihrem Einsatz in der Ukraine vor diesem Risiko zurückschrecken – würden, in den finalen atomaren Schlagabtausch einzusteigen; eher rechnet er mit einer fortbestehenden Freiheit des Westens, sich seine Antwort so einzuteilen, dass die Lage für ihn unter Kontrolle bleibt:

„Die US-Regierung und andere westliche Atommächte werden mit großer Wahrscheinlichkeit sorgfältig abwägen, in welchem Maße sie reagieren. Sie werden sich bemühen, die Eskalation unter Kontrolle zu halten, indem sie dort und dann zuschlagen, wo sie es für richtig und vorteilhaft erachten.“

Die fundamentale Verlegenheit, die sich daraus für Russland ergibt, spiegeln die Diskussionsbeiträge aller drei Experten wider, wenn sie die Szenarios durchkalkulieren, die sich für Russland aus dem Versuch ergeben würden, dem Westen bei weiterer Eskalation des Ukraine-Kriegs mit dem Einsatz atomarer Waffen entgegenzutreten. Sergej Karaganow, der Initiator der ganzen Debatte, tut das in einer seltsamen Mischung aus Verzweiflung und Optimismus:

„Und hier komme ich zu dem schwierigsten Teil dieses Artikels. Wir können noch ein oder zwei oder drei Jahre diesen Krieg führen, Tausende und Abertausende unserer besten Männer opfern und Zehn- und Hunderttausende Bewohner des Gebiets zermalmen, das jetzt Ukraine heißt, Menschen, die in einer tragischen historischen Falle gefangen sind. Aber diese Militäroperation kann nicht mit einem entscheidenden Sieg enden, ohne dem Westen einen strategischen Rückzug oder gar eine Kapitulation aufzunötigen. Wir müssen den Westen bei seinen Versuchen stoppen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und die Welt zu dominieren; ihn vielmehr dazu zwingen, sich mit sich selbst zu beschäftigen und seine gegenwärtige Krise auf mehreren Ebenen zu verdauen. Grob gesagt, muss sich der Westen einfach ‚verpissen‘ und darf Russland und die Welt nicht daran hindern, voranzukommen. (...)

Wir können das ‚ukrainische Szenario‘ nicht wiederholen. Wir haben ein Vierteljahrhundert lang nicht auf diejenigen gehört, die davor gewarnt haben, dass die NATO-Erweiterung zu einem Krieg führen würde, wir haben versucht, zu verzögern, zu ‚verhandeln‘. Und das Ergebnis ist ein schwerer bewaffneter Konflikt. Jetzt ist der Preis der Unentschlossenheit um eine Größenordnung höher.

Was aber, wenn sie sich nicht zurückziehen? Wenn sie ihren Selbsterhaltungstrieb völlig verloren haben? Dann müssen wir eine Reihe von Zielen in einer Reihe von Ländern angreifen, um diejenigen, die den Verstand verloren haben, zur Vernunft zu bringen.“

In dieses verwegene Kalkül bezieht Karaganow die restliche Staatenwelt mit ein, der Russland letztlich Gutes tut, wenn es in seinem Widerstand gegen den Westen bis zum Äußersten geht:

„Das ist eine moralisch schreckliche Entscheidung – wir setzen Gottes Waffen ein und verurteilen uns selbst zu schwerem spirituellem Verlust. Aber wenn wir es nicht tun, wird nicht nur Russland untergehen, sondern höchstwahrscheinlich die gesamte menschliche Zivilisation.“

Und auch wenn die beglückten Staaten das nicht gleich akzeptieren:

„Wir können kaum mit einer schnellen Unterstützung rechnen, auch wenn viele im globalen Süden Genugtuung über die Niederlage ihrer ehemaligen Unterdrücker empfinden, die geplündert, Völkermorde begangen und ihnen fremde Kulturen aufgezwungen haben.

Aber am Ende werden die Sieger nicht verurteilt. Und den Rettern wird gedankt. Die europäische politische Kultur erinnert sich nicht an das Gute. Aber der Rest der Welt erinnert sich mit Dankbarkeit daran, wie wir den Chinesen geholfen haben, sich von der brutalen japanischen Besatzung zu befreien, und den Kolonien, das koloniale Joch abzuwerfen. Wenn wir zunächst nicht verstanden werden, wird es noch mehr Anreize geben, uns zu verbessern. Dennoch besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass es möglich sein wird, zu gewinnen, den Feind ohne extreme Maßnahmen zur Vernunft zu bringen, ihn zum Rückzug zu zwingen. Und in einigen Jahren China den Rücken zu stärken – wie es jetzt uns den Rücken stärkt – um es im Kampf mit den Vereinigten Staaten zu unterstützen. Dann kann dieser Kampf ohne einen großen Krieg auskommen. Und wir werden gemeinsam zum Wohle aller, auch der Bewohner der westlichen Länder, gewinnen.“

Dmitri Trenin gelangt mit seiner Skizze eines mutmaßlichen Atomkriegsverlaufs zu dem halb offenen Schluss, dass für Russland in seiner Kriegslage ein Atomwaffeneinsatz zwar möglicherweise zwingend, ein eindeutiger Erfolg aber nicht absehbar ist:

„Was russische Nuklearschläge gegen NATO-Staaten angeht: Rein hypothetisch gesehen würde Washington auf diese Schläge höchstwahrscheinlich nicht mit einem eigenen Nuklearschlag gegen Russland reagieren – aus Angst vor einem russischen Vergeltungsschlag gegen die Vereinigten Staaten. Das Ausbleiben einer solchen Antwort würde die über Jahrzehnte aufgebaute Mythologie um Artikel 5 des Nordatlantikvertrags zerstören und zur tiefsten Krise der NATO führen – vielleicht sogar zur Auflösung der Organisation. Es ist nicht auszuschließen, dass die atlantischen Eliten der NATO- und EU-Länder unter diesen Bedingungen in Panik geraten und von nationalen Kräften weggefegt werden, die mit eigenen Augen sehen, dass die Sicherheit ihrer Länder in Wirklichkeit nicht von dem nicht existierenden US-Atomschirm abhängt, sondern vom Aufbau ausgewogener Beziehungen zu Russland. Es kann auch passieren, dass Amerika Russland in Ruhe lässt.

Es ist möglich, dass die eben beschriebene Rechnung aufgeht. Aber es ist auch möglich, dass sie nicht stimmt. Ja, es wird wahrscheinlich keinen sofortigen Atomschlag der USA gegen Russland geben. Es ist unwahrscheinlich, dass die Amerikaner Boston für Posen opfern werden, genauso wenig wie sie während des Kalten Krieges Chicago für Hamburg geopfert haben. Aber es ist auch wahrscheinlich, dass die USA in irgendeiner Form reagieren werden. Diese nichtnukleare Antwort – welche Art von Antwort, sei dahingestellt – wird für uns wahrscheinlich heikel und schmerzhaft sein. Wahrscheinlich wird Washington damit ein ähnliches Ziel verfolgen wie wir: den Willen der russischen Führung, den Krieg fortzusetzen, zu lähmen und Panik in der russischen Gesellschaft zu schüren.

Es ist unwahrscheinlich, dass die russische Führung nach einem solchen Schlag kapitulieren wird: In diesem Stadium steht die Existenz Russlands auf dem Spiel. Höchstwahrscheinlich wird ein Vergeltungsschlag folgen – und dieses Mal, so ist anzunehmen, gegen den Hauptfeind, nicht gegen seine Satelliten.

Halten wir vor diesem Point of no Return inne und fassen wir die vorläufigen Ergebnisse unserer Analyse zusammen. Die ‚nukleare Patrone‘ muss unbedingt und demonstrativ in die ‚Trommel des Revolvers‘ eingelegt werden, mit dem die US-Führung heute rücksichtslos spielt. Um einen verstorbenen amerikanischen Staatsmann zu paraphrasieren: Wozu brauchen wir Atomwaffen, wenn wir uns weigern, sie im Angesicht einer existenziellen Bedrohung einzusetzen?

Es gibt keinen Grund mehr, irgendjemandem mit Worten Angst zu machen. Wir müssen uns auf einen möglichen Einsatz praktisch vorbereiten, indem wir die möglichen Optionen und ihre Folgen sorgfältig ausarbeiten.“

Zum Stichwort „existenzielle Bedrohung“ stellt er abschließend eine Abwägung an, die ein bemerkenswertes Eingeständnis enthält:

„Der Krieg in der Ukraine hat einen langwierigen Charakter angenommen. Soweit man das Verhalten der russischen Führung beurteilen kann, rechnet sie mit einem strategischen Erfolg und stützt sich dabei auf die Ressourcen Russlands, die um ein Vielfaches größer sind als die der Ukraine, und auf die Tatsache, dass für Russland in diesem Krieg viel mehr auf dem Spiel steht als für den Westen. Dieses Kalkül ist wahrscheinlich richtig, aber es muss berücksichtigt werden, dass der Feind die Chancen Russlands anders einschätzt als wir und möglicherweise Schritte unternimmt, die zu einem direkten bewaffneten Zusammenstoß zwischen Russland und der NATO bzw. den Vereinigten Staaten führen könnten.“

In existenzieller Gefahr ist die russische Seite, nicht Amerika; mit einem „strategischen Erfolg“ rechnet sie nicht nur, weil sie ihn sich zutraut, sondern weil sie ihn unbedingt braucht; das darf der Westen nicht übersehen.

Iwan Timofejew schließlich findet für die Unbrauchbarkeit der strategischen Abschreckungsmacht Russlands für einen Sieg im eskalierenden Ukraine-Krieg das eingängige Bild:

„Sergej Karaganow schätzt die aktuellen Risiken einer langsamen Eskalation richtig ein. Der Westen legt die Messlatte für Waffenlieferungen an die Ukraine immer höher. Waren es früher defensive Systeme, so werden sie Schritt für Schritt durch immer fortschrittlichere Angriffswaffen ergänzt. Grob gesagt, versucht man, Russland auf niedriger Flamme zum Kochen zu bringen. Die nukleare Eskalation ist eine Möglichkeit, aus dem Kessel herauszuspringen, indem man die Temperatur drastisch auf den Siedepunkt bringt. Das Problem dabei ist, dass man durch den Sprung aus dem Kessel direkt in den Ofen gelangen kann.“

Er folgert daraus die Notwendigkeit, den Krieg in der Ukraine so zu entscheiden, wie er von Beginn an gedacht war und geführt worden ist, nämlich mit konventionellen Waffen, unter Wahrung des Abstands zur höheren Ebene der atomaren Abschreckung – für die allerletztlich Nuklearwaffen natürlich unentbehrlich bleiben –:

„Es stellt sich die Frage: Wenn die diskutierten Vorschläge riskant sind und wahrscheinlich nicht zu einer Lösung der Probleme mit dem Westen führen werden, gibt es dann eine Alternative? Die gibt es. Mit einer ‚blutenden Wunde‘ in Gestalt eines feindseligen Westens und der Ukraine weiterleben. Aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Konfrontation mit Russland auch eine ‚blutende Wunde‘ für den Westen ist, aus der Ressourcen und politisches Kapital abfließen.“

Für einen Erfolg setzt er dabei auf den ganz unbestimmten Faktor Zeit, in bestimmterer Weise auf das Stück weltpolitischer Handlungsfreiheit, das Russland unter der Prämisse einer nach wie vor wirksamen atomaren Abschreckung immer noch bleibt – keine sehr glanzvolle Option, weil sie mit eingestandener Abhängigkeit von der anderen großen antiamerikanischen Macht verbunden ist; immerhin enthält die Anarchie der Konkurrenz aber wenigstens die Möglichkeit eines aus eigener Kraft erreichbaren Erfolgs:

„Es ist nicht nur Russland, das auf niedriger Flamme kocht, sondern auch der allmächtige Westen. Für die USA scheint eine solche ‚Wunde‘ angesichts ihres enormen Potenzials kein übermäßiges Problem darzustellen. Aber das allmähliche Aufkochen der Beziehungen zu China verändert die Art und die Gefahr der ‚Wunde‘ in Gestalt eines feindlichen Russlands.

Moskau hat die Möglichkeit, den Status quo auf dem Schlachtfeld zu konsolidieren, einem Tsunami von Sanktionen zu widerstehen und Versuche der internen Destabilisierung abzuwehren. Ja, der Preis ist bereits hoch. Aber ein nuklearer Präventivschlag wird die Verluste nicht wettmachen und nicht zu einer Lösung führen. Mit der Zeit wird Russland die Möglichkeit haben, die ‚blutende Wunde‘ zu schließen oder den ‚Blutverlust‘ zu verringern, denn Moskau ist bei Weitem nicht das einzige Problem, das den USA und dem Westen Kopfschmerzen bereitet.

Darüber hinaus könnte die Ausrichtung nach Osten dazu führen, dass die westliche Richtung für Russland zunehmend zweit- und schließlich drittrangig wird. Die Hoffnungen auf eine Versöhnung mit dem Westen sind unter den derzeitigen Bedingungen illusorisch. Die Rivalität mit dem Westen ist ein langfristiger Faktor mit allen daraus resultierenden Kosten und Verlusten. Letztlich sind die internationalen Beziehungen jedoch zu Anarchie und Konkurrenz verdammt.“

Eine amerikanische Antwort

In der Frage weltpolitischer Handlungsfreiheit auf der Basis des kalten Kriegs-Verhältnisses atomarer Abschreckung zwischen den USA und Russland bietet Jake Sullivan in einer Ansprache vom Juni des Jahres [5] das passgenaue Gegenstück zur Debatte zwischen den drei russischen Experten; Gegenstück sowohl in der Sache, nämlich bezüglich des imperialistischen Status der USA in der Auseinandersetzung mit dem russischen Gegner, als auch bezüglich der dazugehörigen Programmatik und des affirmativen Selbstbewusstseins.

Er beginnt mit einem uneingeschränkt positiven Rückblick auf die „Ära“, in der die USA und die Sowjetunion sich im Rahmen einer Diplomatie der Rüstungskontrolle auf die Politik der gegenseitigen atomaren Abschreckung verständigt haben:

„Nächsten Monat ist es 60 Jahre her, dass Präsident Kennedy – in einer körnigen Schwarz-Weiß-Fernsehansprache – eine Rede an die Nation hielt. Er saß hinter demselben Schreibtisch, hinter dem heute fast jeden Tag Präsident Biden sitzt und dem ich fast jeden Tag gegenübersitze. ‚Meine lieben Mitbürger‘, sagte er. ‚Ich spreche heute Abend zu Ihnen im Geiste der Hoffnung... Die Verhandlungen über einen Vertrag zum Verbot aller Atomtests wurden in Moskau abgeschlossen...‘

Das Zustandekommen des Atomteststoppabkommens war ein großer Moment nach Jahren ununterbrochener Verhandlungen, genauer gesagt von Stop-and-Start-Verhandlungen, nach Jahren des Dialogs, des Engagements und des Mutes. Nicht nur für unsere eigene nationale Sicherheit, sondern auch für Sicherheit und Stabilität in der Welt. Und wie die hier Anwesenden sehr gut wissen, war dies einer der ersten Schritte, die dazu beitrugen, eine Ära verantwortungsvoller Rüstungskontrolle und nuklearer Abschreckungsmaßnahmen langsam einzuläuten. Eine Ära, in der es den Nationen gelang, Fragen der strategischen Stabilität von ihren anderen Streitthemen abzukoppeln und eigenständig zu behandeln [to compartmentalize], auch wenn sie sonst bei so gut wie keinem Thema miteinander kooperieren konnten. Eine Ära, in der Gegner in praktisch jedem Bereich unterschiedlicher Meinung sein und debattieren konnten, und dennoch immer Wege fanden, zusammenzuarbeiten, um die nuklearen Risiken zu begrenzen. Eine Ära, in der sich die Staats- und Regierungschefs der Welt auch und insbesondere in Zeiten der Spannung für Transparenz entschieden, weil das, was auf dem Spiel stand, zu wichtig, zu entscheidend für unsere gemeinsame Zukunft war. Das ist das Fundament der nuklearen Stabilität und Sicherheit, auf das wir uns seit Jahrzehnten verlassen haben. Und es ist das Fundament, das die Arms Control Association über Generationen hinweg zu bewahren geholfen hat.“

Aus Sicht Amerikas, die der Sicherheitsberater hier wiedergibt, war diese segensreiche Errungenschaft „nuklearer Abschreckungsmaßnahmen“ das Werk der USA; die Sowjetunion, der seinerseits abschreckungsfähige Partner in dem epochalen Deal, kommt als solcher gar nicht vor. Er rangiert anonym in der allgemein gefassten Kategorie der „Gegner“, mit denen es unter amerikanischer Führung gelungen ist, „Fragen der strategischen Stabilität“ aus der fortbestehenden Feindschaft – ein wenig beschönigend: „in praktisch jedem Bereich unterschiedlicher Meinung sein“ – auszuklammern. Beides zusammengenommen ist die denkbar zarteste Andeutung des seinerzeit tatsächlich von Amerika geltend gemachten, zwischen „Ost“ und „West“ institutionalisierten Interesses der USA, sich auf die Art „insbesondere in Zeiten der Spannung“ ihrer von einer echten strategischen Bedrohung abgetrennten imperialistischen Handlungsfreiheit zu versichern. Als Garantie dafür benennt er die vereinbarte „Transparenz“, die hier an die Stelle der per Rüstungskontrolle „transparent“ gemachten, aus dem kriegsträchtigen Weltgeschehen herausgehaltenen Sache tritt: der Fähigkeit und Entschlossenheit der zwei großen Atommächte, im Ernstfall durch wechselseitige Vernichtung die beiderseits anerkannte Unmöglichkeit eines weltpolitisch sinnvollen Nuklearkriegs praktisch zu beweisen.

Diese schmeichelhafte Erinnerung an die Logik des Kalten Kriegs der Jahrzehnte bis zur Selbstaufgabe der Sowjetunion ist die Folie für die Beschuldigung Russlands, sich an den idyllischen Verhältnissen von einst vergangen zu haben und weiter zu vergehen:

„Aber in den letzten Jahren hat dieses Fundament zu erodieren begonnen. Und heute stehen wir an einem Punkt, den unser Präsident als ‚Wendepunkt‘ in unserer nuklearen Stabilität und Sicherheit bezeichnen würde. Ein Punkt, der neue Strategien erfordert, um das gleiche Ziel zu erreichen, das wir seit dem Kalten Krieg verfolgen: die Verringerung des Risikos eines nuklearen Konflikts.

Deshalb möchte ich heute darlegen, was wir unternehmen wollen, um das zu erreichen. Ich beginne mit den Rissen, die wir im Fundament sehen: die neuen Bedrohungen, die die nukleare Ordnung nach dem Kalten Krieg infrage stellen. Und dann werde ich erläutern, wie wir sowohl unsere nukleare Abschreckung als auch unsere Rüstungskontrollstrategien anzupassen versuchen, um diesem Moment zu begegnen.

Wie wir alle in letzter Zeit gesehen haben, sind einige der größten Risse in unserem nuklearen Fundament von Russland ausgegangen. Letztes Jahr haben russische Streitkräfte rücksichtslos das Kernkraftwerk Saporischschja in der Ukraine – das größte in Betrieb befindliche Kernkraftwerk in Europa – angegriffen und beschlagnahmt, ohne sich um die möglichen katastrophalen Folgen eines nuklearen Zwischenfalls zu kümmern. Anfang dieses Jahres hat Präsident Putin unrechtmäßig Russlands Umsetzung des New-START-Vertrags ausgesetzt, der Obergrenzen für die Anzahl der zerstörerischsten Waffen in unseren Arsenalen setzt – jener Waffen, die die Welt um ein Vielfaches zerstören könnten. Nur einen Monat später begann Präsident Putin mit der Stationierung taktischer Atomwaffen in Belarus. Und wie wir alle erst vor wenigen Tagen erfahren haben, hat Putin offiziell angekündigt, dass er aus dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa aussteigen wird. Er hat damit den letzten Nagel in den Sarg eines Abkommens geschlagen, das einst ein Eckpfeiler der europäischen Sicherheit war und das Moskau schon vor Jahren zu verletzen begann. Aber schon vor Russlands brutalem Angriff auf die Ukraine hat Putin das nukleare Fundament destabilisiert, das unsere Vorgänger gelegt haben. Seit Jahren treibt er die Entwicklung gefährlicher neuer nuklearer Fähigkeiten voran (z.B. durch Marschflugkörper mit Nuklearantrieb, die in hohem Maße Radioaktivität versprühen), während er gleichzeitig altes Material modernisiert und aufstockt, das nicht durch Rüstungskontrollabkommen geregelt ist, wie z.B. Raketen und Torpedos für den Gefechtsbereich. Russlands Aktionen haben dem Rahmenwerk für nukleare Rüstungskontrolle nach dem Kalten Krieg schwere Schläge versetzt.“

Bemerkenswert ist hier wieder, dass die extreme Bedrohungslage, die Russland aus amerikanischer Sicht heraufbeschwört – „Waffen, die die Welt um ein Vielfaches zerstören könnten“ –, zwar angesprochen wird, aber so, dass Amerika zugleich darüber steht: Es sieht nicht wirklich sich, seine Sicherheit angegriffen, geschweige denn die eigene strategische Macht in Verlegenheit gebracht. Der Ukraine-Krieg, immerhin die brisante aktuelle Konfrontation zwischen der Atommacht Russland und dem Westen, kommt als die Gefahr eines „nuklearen Zwischenfalls im Kernkraftwerk Saporischschja“ vor, immerhin auch per Erwähnung „taktischer Atomwaffen in Weißrussland“. Vor allem aber ist das Vertragswerk zur Rüstungskontrolle in Gefahr – die Kündigungen von amerikanischer Seite kommen nicht vor –; in diesem Zusammenhang steht auch die „Entwicklung gefährlicher neuer nuklearer Fähigkeiten“, die in unliebsamer Weise an den Grund der von Amerika gehüteten Errungenschaft der Rüstungskontrolle erinnert: die Fähigkeit Russlands zu atomarer Abschreckung.

Auf die Erwähnung dieses virtuellen Vernichtungsverhältnisses, das Russland strategisch auf eine Stufe mit den USA hebt, folgt in Sullivans Rede eine Verallgemeinerung, die die Sonderstellung dieses Gegners nachdrücklich relativiert: Aufgabe der Sicherheitspolitik, die die USA als Weltmacht sich und der Welt schuldig sind, ist außerdem durch die Existenz drei weiterer feindseliger – einer bedeutenden, einer illegalen und einer womöglich werdenden – Atommächte vorgegeben:

„Aber wir müssen nicht nur auf Russland schauen, um die gesamte Bandbreite des Kontextes zu erfassen, in dem wir uns heute in Bezug auf nukleare Sicherheit und Stabilität befinden. Auch die Volksrepublik China hat ihren Ansatz geändert. Bis zum Jahr 2035 wird sie voraussichtlich über 1500 nukleare Sprengköpfe verfügen – eine der größten nuklearen Aufrüstungen in Friedenszeiten in der Geschichte. Doch im Gegensatz zu Russland, das damit droht, den Verhandlungstisch und die Rüstungskontrollvereinbarungen zu verlassen, auf die sich unsere Länder seit Jahren verlassen, hat sich die VR China bisher nicht zu einem substanziellen Dialog über Rüstungskontrolle bereit erklärt. Sie hat es abgelehnt, Größe und Umfang ihrer Nuklearstreitkräfte mitzuteilen oder Raketenstarts zu melden. Und sie hat kein großes Interesse an Diskussionen über den Ausbau ihrer Atomstreitkräfte gezeigt. Kurz gesagt, wir haben noch keine Bereitschaft der VR China gesehen, die strategische Stabilität von allgemeineren Fragen in den Beziehungen abzukoppeln und als eigenständiges Thema zu behandeln. Und diese Bereitschaft ist, wie ich bereits erwähnte, seit Jahrzehnten das Fundament der nuklearen Sicherheit, ja der strategischen Stabilität.

Schließlich sehen wir zunehmende nukleare Bedrohungen durch Nordkorea und den Iran.

Allein im letzten Jahr erklärte Kim Jung Un, dass er ‚das mächtigste Atomwaffenarsenal der Welt‘ anstrebe, und kündigte Pläne an, die Entwicklung von taktischen Atomwaffen über Interkontinentalraketen bis hin zu unbemannten Unterwasser-Atomwaffen zu beschleunigen. Er kündigte ein umfassendes neues ‚Atomwaffengesetz‘ an, das Pjöngjang einen atomaren Erstschlag gegen Nicht-Atomwaffenstaaten erlauben würde – ein direkter Verstoß gegen den Atomwaffensperrvertrag (NPT). Und er hat mehr ballistische Raketen getestet als je zuvor in der Geschichte der DVRK.

Zum Iran: Nach der Abkehr der vorherigen Regierung von einer Vereinbarung, die Teherans nukleare Entwicklung strikt einschränkte und seine Erlangung einer Atomwaffe verhinderte, wurde das iranische Atomprogramm unbeaufsichtigt gelassen. Infolgedessen betreibt der Iran jetzt modernere Zentrifugen. Er hat mehr Uran angereichert, auch in waffentauglicher Qualität. Und das mit einer geringeren internationalen Überwachung seines Programms als zu der Zeit, als es noch unter den strengen Auflagen des Wiener Nuklearabkommens (JCPOA) stand.“

Was für Amerika daraus folgt, ist eine „neue Ära“ der „strategischen Stabilität“, in der es mit der rückblickend fingierten Idylle des rüstungskontrollierten Kalten Krieges vorbei ist:

„Alles in allem sind die Risse in unserem nuklearen Fundament nach dem Kalten Krieg erheblich und tief. Und heute treten wir in eine neue Ära ein – eine Ära, die neue Strategien und Lösungen erfordert, um die Ziele zu erreichen, die wir immer verfolgt haben: die Verhinderung eines Wettrüstens, die Verringerung des Risikos von Fehleinschätzungen und Eskalationen, und insbesondere die Gewährleistung des Schutzes und der Sicherheit unserer Bürger – und der Menschen auf der ganzen Welt – vor nuklearen Bedrohungen.“

„Die Verhinderung eines Wettrüstens“ ist die diplomatische Fassung des im Folgenden klar ausgesprochenen Vorhabens, mit der Aufrüstung Amerikas Maßstäbe zu setzen, die für andere Mächte unerreichbar sind. Das Ziel „der Verringerung des Risikos von Fehleinschätzungen und Eskalationen“ rechnet immerhin mit der fortbestehenden Notwendigkeit, im Verhältnis zu jedem atomar gerüsteten Gegner einen Konsens über die Nicht-Anwendung dieser „Massenvernichtungswaffe“ zu erzielen, damit die eigene Freiheit zum feindlichen Umgang mit ihm nicht durch Unklarheiten beeinträchtigt wird. Das ist er dann auch schon: der Dienst an „unserer Bevölkerung und den Menschen auf der ganzen Welt“. Also:

„Gleiche Ziele, neue Strategie. Das ist der Kern unseres Konzepts der strategischen Stabilität, das sich auf zwei Hauptstoßrichtungen herunterbrechen lässt: erstens auf die Aktualisierung unserer Abschreckungsfähigkeiten und -pläne, zweitens auf die Förderung neuer Maßnahmen zur Rüstungskontrolle und Risikominderung. Dies sind die zwei Seiten derselben sprichwörtlichen nuklearen Medaille. Die verantwortungsvolle Verbesserung unserer Abschreckungsfähigkeiten ermöglicht es uns, aus einer Position der Stärke und des Vertrauens heraus über Rüstungskontrolle zu verhandeln; und neue Rüstungskontrollen helfen uns, die Entscheidungen unserer Gegner zu nuklearen Fähigkeiten zu begrenzen und zu gestalten.

Ich beginne mit der Abschreckungsseite der Medaille – hier verfolgen wir einen zweigleisigen Ansatz.

Erstens: Wir modernisieren unser Atomprogramm hier im Lande. In der Praxis bedeutet das, jedes Glied unserer nuklearen Triade zu ersetzen – landgestützte Interkontinentalraketen, U-Boote mit ballistischen Raketen und atomwaffenfähige Bomber. Es bedeutet, dass wir unsere nukleare Kommando-, Kontroll- und Kommunikationsarchitektur aktualisieren, indem wir die veralteten Techniken durch Systeme der nächsten Generation ersetzen. Und es bedeutet, dass wir in unsere Atomindustrie und unsere Verteidigungsindustrie investieren müssen, um sicherzustellen, dass wir über eine reaktionsfähige Atomindustrie und eine widerstandsfähige Basis für den zukünftigen Wettbewerb verfügen. Und ich möchte an dieser Stelle klarstellen, dass wir unsere Atomwaffen nicht aufstocken müssen, um wirkungsvoll abzuschrecken. Das hatten wir schon. Diese Lektion haben wir gelernt. Ebenso wenig müssen die Vereinigten Staaten immer gefährlichere Atomwaffen einsetzen, um die Abschreckung aufrechtzuerhalten. Effektive Abschreckung bedeutet ‚besser‘ und nicht ‚mehr‘. Es bedeutet sicherzustellen, dass wir über die notwendigen Kapazitäten und Fähigkeiten verfügen, um von größeren Aggressionen gegen unser Land, unsere Verbündeten und unsere Partner abzuschrecken – und wenn nötig zurückzuschlagen. Um diese Effektivität zu erhöhen, investieren wir in hochmoderne nichtnukleare Fähigkeiten, die dazu beitragen werden, unseren militärischen Vorsprung über Jahrzehnte aufrechtzuerhalten: z.B. konventionell bewaffnete Hyperschallraketen, die in der Lage sind, stark gesicherte, strategisch bedeutende Ziele zu erreichen – im Gegensatz zu den atomwaffenfähigen Raketen ähnlicher Art, die Russland und China derzeit entwickeln; z. B. neue Instrumente im Weltraum und Cyberspace, die uns helfen werden, unseren Vorsprung in allen Bereichen zu wahren. Zusammengenommen werden diese Modernisierungsbemühungen sicherstellen, dass unsere Abschreckungsfähigkeiten über das kommende Jahrzehnt sicher und stark bleiben – wenn die Vereinigten Staaten zum ersten Mal in ihrer Geschichte zwei fast gleichstarke Atommächte abschrecken müssen.“

So viel bleibt von der in der guten alten Zeit entwickelten Logik atomarer Abschreckung also auf alle Fälle in Kraft: Die „nukleare Triade“, das Arsenal für die seit Kennedy erarbeitete Strategie des gesicherten Zweitschlags gegen einen auf Entwaffnung zielenden feindlichen Erstschlag, wird so „ersetzt“, dass sie auch unter neuesten Kriegsbedingungen funktioniert. Was hinzukommen muss, ist eine Rüstung auch mit nuklearen, daneben aber explizit „nichtnuklearen Fähigkeiten“, die nicht mehr nur die atomare Abschreckung in diesem alten Sinn sicherstellen, sondern für einen erfolgreichen, kriegerisch sinnvollen Einsatz gegen „größere Aggressionen“ taugen. Dafür braucht die Weltmacht Nr. 1 natürlich erst recht die Fähigkeit, gleich „zwei fast gleichstarke Atommächte abschrecken“ zu können, damit ihr bei der „Abwehr“ alles dessen, was sie als „größere Aggressionen“ definiert, ihre Handlungsfreiheit erhalten bleibt.

Für beides: für die letzte „strategische Stabilität“ wie für deren „Abkopplung“ von allem an Krieg, was sich unterhalb dieser Ebene – z.B. auch gegen Nordkorea – als nötig erweisen könnte, braucht Amerika zusätzlich zur eigenen Dominanz das ganze System von Militärbündnissen, mit dem die Biden-Regierung ihr Regime über die Staatenwelt – wieder, nach dem Trump-Intermezzo – untermauert:

„Aber wir können es nicht allein schaffen, was mich zur zweiten Säule unserer Abschreckungsstrategie führt: Investitionen in und Stärkung unserer Bündnisse im Ausland. Das ist die oberste Priorität von Präsident Biden – in vielerlei Hinsicht sogar sein strategischer Leitstern – seit seinem allerersten Tag als Präsident der Vereinigten Staaten. Und während wir daran gearbeitet haben, unsere Bündnisse weiter zu vertiefen, haben wir immer daran gedacht, dass einer unserer größten Erfolge bei der Nichtverbreitung von Kernwaffen im Atomzeitalter die erweiterte Abschreckung durch die USA war, die so vielen unserer Partner die Sicherheit gegeben hat, dass sie keine eigenen Kernwaffen entwickeln müssen. Im April beispielsweise bekräftigte der Präsident unseren eisernen Pakt zur gegenseitigen Verteidigung mit Südkorea – einschließlich unserer Verpflichtung zur erweiterten Abschreckung. Und gemeinsam mit Präsident Yoon unterzeichnete er die Washingtoner Erklärung. Sie hat mehr Mechanismen für die Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern – auch im Falle einer potenziellen Nuklearkrise – geschaffen und stellt ein erneutes Bekenntnis zu unseren gemeinsamen Nichtverbreitungszielen dar.

Gemeinsam mit unseren NATO-Verbündeten arbeiten wir gezielt und mit Nachdruck an der Modernisierung der nuklearen Fähigkeiten des Bündnisses – von der Sicherstellung einer breiten Beteiligung an der atomaren Abschreckungsmission des Bündnisses bis hin zur Sicherstellung der Einsatzfähigkeit unserer F-35-Flugzeuge für den Abwurf moderner nuklearer Fliegerbomben. All diese neuen Schritte – von der Wiederbelebung unseres Atomprogramms hier zu Hause bis zur Stärkung unserer Bündnisse im Ausland und all die Elemente, die in diese beiden Kategorien fallen – sind jeder für sich genommen notwendig. Aber erst zusammengenommen tragen sie dazu bei, die gleichen strategischen Stabilitätsziele zu erreichen, die wir schon immer hatten. Sie werden unseren Gegnern und Konkurrenten zeigen, dass jedes Wettrüsten mit den Vereinigten Staaten bestenfalls kontraproduktiv und schlimmstenfalls zerstörerisch ist. Und sie werden den Vereinigten Staaten helfen, Rüstungskontrollabkommen aus der von mir beschriebenen Position der Stärke und des Selbstvertrauens heraus auszuhandeln.“

Denn die bleiben immer noch notwendig; zuerst und vor allem im Verhältnis zu Russland:

„Vor fast 20 Jahren in einer Rede an die Arms Control Association hat der damalige Senator Biden gesagt: ‚Wir müssen neue Ansätze entwickeln und eine neue internationale Zusammenarbeit fördern, um den sich verändernden Bedrohungen zu begegnen.‘ Diese Worte treffen heute mehr denn je zu. Und unter der Führung des Präsidenten treiben wir drei neue Ansätze voran, um die Rüstungskontrolle zu stärken und die nuklearen Risiken in diesem sich wandelnden Nuklearzeitalter zu verringern.

Erstens: Wir haben unsere Bereitschaft erklärt, ohne Vorbedingungen bilaterale Rüstungskontrollgespräche mit Russland und China zu führen. Wobei ich betonen möchte: ‚ohne Vorbedingungen‘ bedeutet nicht ‚ohne Rechenschaftspflicht‘. Wir werden die Atommächte weiterhin für ihr rücksichtsloses Verhalten zur Rechenschaft ziehen. Und wir werden unsere Gegner und Konkurrenten weiterhin für die Einhaltung von Nuklearabkommen zur Verantwortung ziehen. So werden die Vereinigten Staaten beispielsweise Russland weiterhin im Einklang mit den bestehenden Nuklearabkommen im Voraus über den Start von ballistischen Raketen und größere strategische Übungen informieren. Gestern haben wir jedoch rechtmäßige, verhältnismäßige und reversible Gegenmaßnahmen als Reaktion auf Russlands Verstöße gegen New START beschlossen, einschließlich der Aussetzung unserer täglichen Benachrichtigungen an Russland, die gemäß dem Vertrag erforderlich sind. Diese Schritte werden dazu beitragen, sicherzustellen, dass Russland nicht in den Genuss von Vorteilen aus einem Vertrag kommt, dessen Einhaltung es ablehnt, und dass das Prinzip der Gegenseitigkeit – ein zentraler Grundsatz der strategischen Rüstungskontrolle – gewahrt bleibt. Es wird Russland auch die Vorteile einer Rückkehr zur vollständigen Einhaltung des Vertrages vor Augen führen, wozu auch gehört, dass sie wieder detaillierte Informationen über unsere Nuklearstreitkräfte erhalten – ein Austausch, auf den wir im direkten Gespräch mit russischen Offiziellen weiterhin drängen. Aber obwohl Russland angekündigt hat, New START auszusetzen, hat es sich dennoch öffentlich verpflichtet, den zentralen Rahmen des Vertrags einzuhalten, was auf eine mögliche Bereitschaft hindeutet, die strategischen Nuklearstreitkräfte bis Ende 2026 weiter zu begrenzen. Wir stimmen dem zu. Keines unserer Länder hat ein Interesse daran, sich auf einen unbegrenzten Wettbewerb bei den strategischen Nuklearstreitkräften einzulassen. Wir sind bereit, uns an den zentralen Rahmen zu halten, solange Russland dies tut. Und anstatt zu warten, bis alle unsere bilateralen Differenzen beigelegt sind, sind die Vereinigten Staaten bereit, auf Russland zuzugehen, um nukleare Risiken zu bewältigen und einen Rahmen für die Rüstungskontrolle nach 2026 zu entwickeln. Wir sind bereit, in diese Gespräche einzutreten.“

Dass die Weltmacht nicht von gleich zu gleich mit Russland verhandelt, sondern vom Standpunkt der Verpflichtungsverhältnisse, auf die sie ihren Hauptfeind festnageln will, stellt Sullivan zwischendrin schon nachdrücklich klar: Subjekt des Ganzen ist und bleibt die Biden-Regierung. Am Ende klingt er dann aber doch nicht nur nach neuer Ära, sondern nach der alten Zeit: Die USA sind bereit, Russland auch längerfristig zu „strategischer Stabilität“ per Rüstungskontrolle zu bewegen, auch ohne dass zuvor „alle unsere bilateralen Differenzen beigelegt sind“ – im Klartext: damit Amerika seine „Differenzen“ gegen Russland im „compartment“ unterhalb der „nuklearen Risiken“, also ohne Rücksicht auf diese, in aller weltherrschaftlichen Freiheit austragen kann.

An diesem Sonderverhältnis zu Russland hält der Sicherheitsberater in seiner Rede insbesondere deswegen fest, weil er immer die ganze Welt im Blick hat: Das abschreckende Einvernehmen mit dem alten und neuen Hauptfeind ist ein Vorbild dafür, wie auch China mit seiner in allmählich strategische Größenordnungen hineinwachsenden Atomwaffenmacht in ein Abschreckungsregime einzubinden wäre, das per „Rüstungskontrollrahmen“ Handlungsfreiheit für Amerika im großen Bereich seiner normalen imperialistischen Überlegenheit gewährleistet. Hier bezieht Sullivan gleich alle vier der fünf anerkannten Atommächte in die neue Rüstungskontrolldiplomatie mit ein, die bisher schon so oder so mit den USA im Weltkriegsgeschäft waren. Er vereinnahmt insoweit sogar den russischen Feind für eine Abschreckungspolitik, die China auf die Abschottung seiner angestrebten Nuklearmacht gegen seine „Meinungsverschiedenheiten“ mit den USA festlegen würde. Dabei stehen wieder Kriterien der Transparenz und der Vermeidung von Missverständnissen für die Sache, deren nicht handhabbare Bedrohlichkeit die USA so in den Griff kriegen wollen. Außerdem braucht es angesichts der von Amerika vorangetriebenen qualitativen Fortschritte in der strategischen Rüstung eine neue klare Scheidung zwischen der höchsten Ebene der „nuklearen Abschreckung“ und dem Gebrauch der „nichtnuklearen Fähigkeiten“, die die Weltmacht für ihr Kontrollregime über alle denkbaren „Aggressionen“ in der Staatenwelt braucht und sich beschafft. Entsprechende neue Richtlinien muss die Führungsmacht ihren „P5“-Kollegen auch noch vorgeben:

„Nun wird die Art der Beschränkungen, denen die Vereinigten Staaten nach dem Auslaufen des Vertrags zustimmen können, natürlich von der Größe und dem Ausmaß der atomaren Aufrüstung Chinas abhängen. Deshalb sind wir auch bereit, ohne Vorbedingungen mit China zu verhandeln, um sicherzustellen, dass der Wettbewerb gesteuert wird und nicht in einen Konflikt ausartet. Wir hoffen, dass Peking bereit sein wird, unter den vielen Themen, die für diplomatische Gespräche auf dem Tisch liegen, auch substanzielle Gespräche über strategische Nuklearfragen zu führen – was der Sicherheit unserer beiden Länder und der Sicherheit der ganzen Welt zugute käme.

Die Vereinigten Staaten sind weiterhin bereit, sich an neuen multilateralen Rüstungskontrollbemühungen zu beteiligen, unter Teilnahme der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats (P5): die USA, Russland, China, das Vereinigte Königreich und Frankreich. Wir geben uns nicht der Illusion hin, dass es einfach sein wird, in diesem Rahmen Maßnahmen zur Risikominderung und zur Rüstungskontrolle zu erreichen. Aber wir glauben, dass es möglich ist. Und wie Sie alle wissen, haben sich vier der fünf Atommächte – mit einigen Ausnahmen, die ich gerade erwähnt habe – de facto bereits zu einer gewissen Transparenz und Zurückhaltung in ihrer Atompolitik und -haltung verpflichtet. Auch haben die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich ihre Entschiedenheit zu verantwortungsvollem Handeln wiederholt unter Beweis gestellt. Und einige der P5 haben untereinander Atomabkommen. So haben beispielsweise die USA und Russland ein Abkommen über die Benachrichtigung über den Start ballistischer Raketen miteinander geschlossen, das ich bereits erwähnt habe. So auch Russland und China. Aber diese bestehenden Abkommen sind begrenzt und bruchstückhaft. Wir können mehr tun. Die P5 bietet die Möglichkeit, nukleare Risiken und den Druck des Wettrüstens durch eine Mischung aus Dialog, Transparenz und Vereinbarungen unter Kontrolle zu halten. Beispielsweise ist die Formalisierung eines Systems zur Meldung von Raketenstarts innerhalb der P5 eine unkomplizierte Maßnahme, die dem gesunden Menschenverstand entspricht. Dies ist ein kleiner Schritt, der dazu beitragen würde, das Risiko von Missverständnissen und Fehleinschätzungen in Krisenzeiten zu verringern; ein Schritt, der auch möglicherweise Impulse für weitere Maßnahmen zur Bewältigung nuklearer Risiken und des Wettrüstens geben könnte:

  • von der Beibehaltung von Menschenbeteiligung [‚Human-in-the-Loop‘ [6]] an der Führung, Kontrolle und dem Einsatz von Atomwaffen
  • über die Einrichtung von Krisenkommunikationskanälen zwischen den P5-Hauptstädten
  • über die Verpflichtung zu Transparenz in Bezug auf Nuklearpolitik, -doktrin und -budgetierung
  • bis zur Einrichtung von Leitplanken zur Sicherung des Zusammenspiels zwischen nichtnuklearen strategischen Fähigkeiten und nuklearer Abschreckung.

Dies sind alles Bereiche, in denen wir in einem multilateralen Kontext und in Zusammenarbeit mit den P5 weitere Schritte unternehmen könnten.“

Auf Grundlage dieser Sicherheit, die es anstrebt, tritt Amerika in Gestalt seines führenden Sicherheitsberaters wieder so auf, wie Sullivan es zu Beginn seiner Rede vorgeführt hat: als der maßgebliche Kontrolleur der globalen Gewaltverhältnisse. Als hilfreiche Weltmacht nehmen die USA sich der ‚Normen und Werte des neuen Nuklearzeitalters‘ an; sie belehren die ganze Welt über alle wichtigen Sicherheitsbelange, denen sie zu folgen hat:

„Dies führt zu meinem dritten und letzten Punkt: Die Vereinigten Staaten werden dazu beitragen, Normen zu setzen und die Werte des neuen Nuklearzeitalters zu festigen. Wir machen bereits einige Fortschritte, auch in allen wichtigen multilateralen Gremien, die sich um die Begrenzung der Risiken von Atom- und Massenvernichtungswaffen bemühen:

  • die Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrags
  • die Abrüstungskonferenz
  • die Chemiewaffenkonvention
  • die Biowaffenkonvention (BWÜ).

In all diesen Foren führen wir ergebnisorientierte Diskussionen. Und wir sorgen dafür, dass unsere Rahmenbedingungen den Bedrohungen von heute und morgen gewachsen sind. Zum Beispiel: Die Einführung von Waffen, die auf aufkommenden Technologien basieren, werden neue, vernetzte und unvorhersehbare Eskalationspfade schaffen. Deshalb arbeiten wir daran, neue Leitplanken zu errichten – vor allem im Weltraum und Cyberspace. Und mit dem Aufkommen der künstlichen Intelligenz wird dieses ganze Bild natürlich noch komplexer und schwieriger; es wird die neuartigen Ansätze erfordern, die ich im Verlauf meiner Rede beschrieben habe. Der Ansatz, den wir verfolgen, berücksichtigt Technologien und Instrumente, die einen möglichen Atomkonflikt verkomplizieren könnten, wie etwa Hyperschallwaffen und KI-gestützte Systeme. Und – wie der Präsident oft sagt – wir stellen sicher, dass wir dabei nicht nur als Vormacht, sondern als Vorbild vorangehen. Deshalb haben wir uns verpflichtet, keine zerstörerischen Tests von direkt aufsteigenden Antisatellitenraketen durchzuführen, und wir fordern unsere Verbündeten, Partner und Konkurrenten auf, das Gleiche zu tun. Und deshalb haben wir Vorschläge für ein verantwortungsbewusstes Verhalten im Weltraum und Grundsätze für den Einsatz von KI im militärischen Bereich vorgelegt – beides wird von uns in internationalen Gremien forciert.“

Folgt noch ein Schlusswort, das zusammenfassend deutlich macht, wie schief diejenigen russischen Experten liegen, die meinen, ausgerechnet die Sicherheitspolitiker der USA hätten die Gefahren des strategischen Atomkriegs aus den Augen verloren. Die haben sich ihren zeitgemäßen Umgang mit der Politik der nuklearen Abschreckung erarbeitet und arbeiten weiter an deren Perfektionierung:

„Heute, da wir uns neuen Bedrohungen wie auch den Rissen in unserem nuklearen Fundament nach dem Kalten Krieg gegenübersehen, glaube ich nicht nur, dass wir diese Hoffnung wiederfinden können. Ich glaube, dass wir das auch müssen. Denn wenn es um nukleare Risiken geht, ist das, was auf dem Spiel steht – für unsere Menschen und für unsere Welt – zu wichtig, zu folgenreich für unsere gemeinsame Zukunft, um es nicht zu tun. Wir machen uns keine Illusionen über die Aufgabe, die vor uns liegt – über die harte und wahrscheinlich langwierige Arbeit, die nötig ist, um ein neues, stärkeres Fundament für diese Ära zu legen. Aber durch neue Abschreckungs- und Rüstungskontrollmaßnahmen, die zu diesem Zeitalter passen, können wir diesen Moment der Gefahr in einen Moment der Möglichkeit verwandeln.“

Jake Sullivan jedenfalls redet von nichts anderem als Abschreckung. Freilich komplementär zu seinen russischen Kollegen nicht defensiv, sondern vom Standpunkt des Vorhabens, Amerikas Arsenale so zu optimieren, dass es den atomar wie den nicht nuklear gerüsteten Mächten auf der Welt überlegen ist.

Dieser imperialistischen Entschlossenheit ist sogar der Krieg der feindlichen Atommacht in der Ukraine subsumiert. Auch für den gilt: Wer, wenn nicht „we can turn this moment of peril into a moment of possibility“!

[1] Doktor der historischen Wissenschaften, Ehrenvorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik

[2] Seine Begründung dafür ist ein ideologisches Bild vom Verfall der Moral und der Macht der westlichen Eliten und deren Gegenwehr, das seine Herkunft aus der verkehrten Imperialismustheorie der sowjetischen KP erkennen lässt. Für seine Diagnose spielt es erst einmal keine Rolle. Wer will, kann es – wie die gesamte Debatte in ihrem Originalzusammenhang – im Anhang nachlesen.

[3] Kandidat der Politikwissenschaften, außerordentlicher Professor am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen, Generaldirektor des Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten, Programmdirektor des Valdai International Discussion Club

[4] Forschungsprofessor an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der Nationalen Forschungsuniversität Higher School of Economics, Leitender Forscher am Zentrum für Internationale Sicherheit der IMEMO RAS

[5] Remarks by National Security Advisor Jake Sullivan for the Arms Control Association (ACA) Annual Forum, whitehouse.gov, 2.6.23

[6] „Human in the loop“ bedeutet, dass auch in einem stark automatisierten Ablauf immer noch menschliche Interaktion erforderlich sein muss.