Keine neue Verfassung für Chile
Vom linken Fehler und den politischen Leistungen eines Verfassungsprozesses
Wenn die internationale Linke nach Lateinamerika blickt, entdeckt sie immer wieder Bewegungen, die ihre Hoffnung auf einen Wandel der dortigen Elendszustände am Leben halten. So jüngst bei den chilenischen Massenprotesten 2019, die das ehemalige Musterland Lateinamerikas derart lahmlegten, dass der konservative Präsident schließlich in ein lang gehegtes Projekt der politischen Linken in Chile einwilligte und einen verfassunggebenden Prozess auf den Weg brachte, der endlich die als „undemokratisch“ verschriene Verfassung aus der Pinochet-Ära aus dem Verkehr ziehen sollte. Der von Linken gefeierte „progressivste Verfassungsentwurf Lateinamerikas“, der in einem „historisch einmaligen demokratischen Experiment“ ausgearbeitet wurde, fiel dann allerdings in der entscheidenden Volksabstimmung durch. Am Ende des fast vierjährigen Prozesses mussten die Linken noch froh sein, dass die Mehrheit dann auch den Gegenentwurf, den die ultrarechten „Pinochetistas“ im nächsten Anlauf ausgearbeitet hatten, ebenso abgelehnt hat und ‚nur‘ die alte Pinochet-Verfassung in Kraft bleibt. Mit diesem ‚kleineren Übel‘ verabschiedet sich der linke Präsident und ehemalige Verfassungsaktivist Boric Ende 2023 schließlich von dem politischen Projekt einer neuen Verfassung und erklärt den Prozess für beendet. Auch wenn damit politisch bis auf Weiteres in Chile alles beim Alten bleibt, offenbart die Rückschau auf den mehrjährigen Verfassungsprozess doch einiges über den Fehler des linken Kampfs für eine „fortschrittliche demokratische“ Verfassung und deren wirkliche Leistungen.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- Eine „undemokratische“ Verfassung aus Zeiten der Militärdiktatur
- Ein Verfassungsprozess als staatliches Angebot zur Befriedung des Volkes
- Eine volksfreundliche Herrschaft, verbürgt durch die passende Regelfindung
- Der Idealismus des Verfassungskonvents bricht sich an den herrschenden Verhältnissen
- Die Fortsetzung des Ringens um eine neue Verfassung unter umgekehrten Vorzeichen
- Das Ergebnis
Keine neue Verfassung für Chile
Vom linken Fehler und den politischen Leistungen eines Verfassungsprozesses
Wenn die internationale Linke nach Lateinamerika blickt, entdeckt sie immer wieder Bewegungen, die ihre Hoffnung auf einen Wandel der dortigen Elendszustände am Leben halten. So jüngst bei den chilenischen Massenprotesten 2019, die das ehemalige Musterland Lateinamerikas derart lahmlegten, dass der konservative Präsident schließlich in ein lang gehegtes Projekt der politischen Linken in Chile einwilligte und einen verfassunggebenden Prozess auf den Weg brachte, der endlich die als „undemokratisch“ verschriene Verfassung aus der Pinochet-Ära aus dem Verkehr ziehen sollte. Der von Linken gefeierte „progressivste Verfassungsentwurf Lateinamerikas“, der in einem „historisch einmaligen demokratischen Experiment“ ausgearbeitet wurde, fiel dann allerdings in der entscheidenden Volksabstimmung durch. Am Ende des fast vierjährigen Prozesses mussten die Linken noch froh sein, dass die Mehrheit dann auch den Gegenentwurf, den die ultrarechten „Pinochetistas“ im nächsten Anlauf ausgearbeitet hatten, ebenso abgelehnt hat und ‚nur‘ die alte Pinochet-Verfassung in Kraft bleibt. Mit diesem ‚kleineren Übel‘ verabschiedet sich der linke Präsident und ehemalige Verfassungsaktivist Boric Ende 2023 schließlich von dem politischen Projekt einer neuen Verfassung und erklärt den Prozess für beendet. Auch wenn damit politisch bis auf Weiteres in Chile alles beim Alten bleibt, offenbart die Rückschau auf den mehrjährigen Verfassungsprozess doch einiges über den Fehler des linken Kampfs für eine „fortschrittliche demokratische“ Verfassung und deren wirkliche Leistungen.
Eine „undemokratische“ Verfassung aus Zeiten der Militärdiktatur
1980 hat Pinochet Chile eine neue Verfassung gegeben. Im Zuge ihrer „Transición“ hat die Militärjunta sie als Instrument eingesetzt, die herrschenden Verhältnisse gegen das in den freien demokratischen Wahlen enthaltene Risiko eines Machtwechsels abzusichern, sodass, „falls unsere Gegner an die Regierung kommen, sie genötigt sind, nicht viel anders zu handeln, als wir es anstreben würden“ (Jaime Guzmán, ein Autor der Verfassung). Durch die so festgelegte Geschäftsordnung des Staates, die verfassungsrechtlich geregelte Organisation seiner Herrschaft, wollte das Militär seine demokratischen Nachfolger und insbesondere seine Feinde aus dem linken Lager auf sein neoliberales Wirtschaftsmodell verpflichten, das die „Chicago Boys“ unter Pinochet in einer radikalen „Schocktherapie“ dem Land verordneten und für das Chile als wirtschaftsliberales Experimentierfeld galt. Dass ihr Radikalismus in Sachen Privatisierungen, Deregulierungen, Freigabe der Preise etc. für ein möglichst ungehindertes Walten privater Bereicherungsinteressen im Dienste des nationalen Wachstums die Gesellschaft rücksichtslos scheidet in die Profiteure der kapitalistischen Rohstoffökonomie und die Volksmassen mit ihren vielfältigen Schwierigkeiten beim Zurechtkommen, wussten die Militärs aus Erfahrung. Deshalb haben sie sich die nötigen Gewaltkompetenzen gegeben, damit die freie demokratische Konkurrenz um die Staatsmacht die Staatsräson nicht relativiert. Sie haben sich in einem Nationalen Sicherheitsrat (‚Consejo de Seguridad Nacional de Chile‘ – kurz COSENA) als Aufsichtsinstanz in der Politik verankert, sich über dauerhafte Sitze im Senat festgesetzt und mit einer weitreichenden Notstandsgesetzgebung die nötigen Vollmachten gesichert, um die herrschenden Verhältnisse im Fall der Fälle nach innen gewaltsam abzusichern. Und damit bei dem Übergang in die Demokratie auch wirklich nichts schief geht, sorgt ein US-inspiriertes binomiales Wahlsystem in einem Zweikammersystem so weit wie möglich für eine Marginalisierung politischer Alternativen. Die Gesetzesinitiative liegt in den Händen des mit weitreichenden Vollmachten ausgestatteten Präsidenten (bis 1989 bleibt das vorsichtshalber noch Pinochet selbst); und alle maßgeblichen Gesetze zur Freiheit des Eigentums und dem Subsidiaritätsprinzip des Staates in Bezug auf alle zentralen Bereiche der Volksfürsorge sind mit hohen Quoren belegt, also nur über eine qualifizierte Mehrheit in der Legislative zu ändern. [1]
Die Junta hat also ihre Macht dazu genutzt, die unter ihrer Regie herrschenden gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse mit einer passenden Geschäftsordnung für den demokratischen Nachfolgestaat möglichst dauerhaft verbindlich zu machen. Und als solche hat die dann den Rechten unter den Vorzeichen demokratischer Konkurrenz als Handhabe in ihrem Kampf gegen politische Alternativen getaugt.
Umgekehrt hat die Verfassung bei allen demokratischen Parteien außerhalb des rechten Pinochet-Lagers von Anfang an einen denkbar schlechten Ruf genossen. Sie wird als „undemokratisch“ qualifiziert, und gemeint ist damit die in der Verfassung rechtlich festgelegte Verteilung der politischen Kompetenzen. Die ehemalige Opposition, die als breites Mitte-Links-Bündnis (‚Concertación de Partidos por la Democracia‘) nach dem Volksentscheid gegen eine weitere Amtszeit Pinochets 1990 die politische Führung in Chile übernimmt und für die folgenden 20 Jahre unter sich ausmacht, sieht sich in ihrem Anspruch auf souveräne Gestaltungshoheit durch den Einfluss des Militärs als politische Autorität und Machtfaktor in der Politik behindert. Außerdem sieht sie sich durch die hohen Quoren für Änderungen von Verfassungsparagraphen – ebenso wenig eine chilenische Besonderheit in demokratischen Rechtsstaaten wie Ämter auf Lebenszeit – entscheidend in ihrer Freiheit der Gesetzgebung beschränkt, weil dies der rechten Opposition zu viel Macht einräumt. Was sie der Sache nach kritisiert, ist also ihre unzureichende Machtfülle; dieses Leiden sieht und propagiert sie aber als den übergreifenden Mangel des Systems der jungen Demokratie. Über eineinhalb Jahrzehnte hinweg dreht sich die politische Auseinandersetzung weniger um die materielle Verfassung der chilenischen Verhältnisse – das neoliberale Wirtschaftsmodell bleibt als unbestrittenes Erfolgsmodell Chiles über den politischen Streit erhaben –, als vielmehr um Reformen einer „undemokratischen“ Verfassung: um die rechtlichen Befugnisse und um die Reichweite der Kompetenzen der demokratisch gewählten Repräsentanten, also um die rechtlichen Regelungen und Verfahren der Machtausübung. Ihren Kampf gegen „diktatorische Enklaven“ führen die amtierenden Demokraten der Concertación-Regierung mit dem Bewusstsein, dass von dessen Erfolg abhängt, ob die Vision einer zivilen Staatsordnung für Chile überhaupt erst wahr wird oder ob die Relikte aus Zeiten der Militärdiktatur in neuer Form weiter existieren. Ihr Reformbedarf fokussiert sich entsprechend auf den verfassungsrechtlich institutionalisierten Einbau des Militärs in den chilenischen Staat, der den führenden Köpfen aus der Zeit der Diktatur nebenbei ad personam weitreichende völkerrechtlich verbriefte Immunität gegenüber einer strafrechtlichen Verfolgung zusichert. [2] Denen wird ihre Dienstleistung an der Einheit der Nation, ihre gründliche Ausrottung der linken Guerilla und Vertreibung der Gegner der Militärdiktatur nach dem Putsch gegen Allende, immer weniger gedankt; im demokratischen Nachfolgestaat mit seinem modernen menschenrechtlichen Ethos sieht sich die Führung der ehemaligen Opposition einer nationalen Aufarbeitung der ‚Gräuel der Militärdiktatur‘ verpflichtet. 2005 gelingt dem Präsidenten Ricardo Lagos die weitreichendste Verfassungsreform, die mit zahlreichen „autokratischen Elementen“ aufräumt und so den linken demokratischen Machthabern ihren beanspruchten Machtzuwachs quer durch die staatlichen Institutionen verschafft. [3]
Ein Verfassungsprozess als staatliches Angebot zur Befriedung des Volkes
Damit kehrt allerdings keine Ruhe rund um die Verfassung ein, sondern das politische Projekt einer „wahrhaft demokratischen Verfassung“ kommt erst so richtig in Fahrt. Mit den Erfolgen auf dem Feld der demokratisch perfektionierten Konkurrenz um die politischen Zuständigkeiten hat sich ja weder am politischen Streit und der Machtkonkurrenz zwischen den Fraktionen Wesentliches geändert, noch mangelt es unter den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen an Anlässen für politische Unzufriedenheit und Streit. Denn das staatliche Wirtschaftsprogramm, das mustergültig die Freiheit der Kapitalinteressen im Land garantiert und den ganzen sozialstaatlichen Aufgabenbereich privaten Rentabilitätskriterien überantwortet, sorgt dafür, dass das Volk verlässlich schlecht zurechtkommt, seinen Protest immer wieder auf die Straße trägt und damit der Herrschaft immer wieder mehr oder weniger weitreichende Ordnungsprobleme beschert, so dass diese sich in ihrem Anspruch auf freies und ungehindertes Durchregieren behindert sieht. [4]
Die linken Anwälte des Volkes sehen in den Protesten weniger die ausbleibenden Leistungen der Demokratie für die ungehinderte Herrschaft und Entfaltung der überkommenen und nach wie vor gültigen Interessen, eher einen Verstoß der Herrschaft gegen das Anrecht des Volkes auf eine volksfreundliche Regierung. Sie definieren und anerkennen die Kritik von unten an den Lebensumständen, die der Staat den Leuten beschert, als Herausforderung an diesen Staat, der den unerfüllten Ansprüchen mit sozialstaatlichen Leistungen gerecht zu werden hat. Ihren sozialdemokratischen Reformbedarf im Umgang mit der menschlichen Basis und Ressource der Nation übersetzen sie in das Bedürfnis nach einem Katalog von Aufgaben und Pflichten der Hoheit gegenüber ihrer Gesellschaft, von Selbstverpflichtungen und entsprechenden Verfahrensregeln der Staatsgewalt. So wird dem Volk das politische Angebot gemacht, sich seine Nöte in eine mangelnde rechtliche Berücksichtigung seitens der herrschenden Politik zu übersetzen und sich mit dem Programm einer wahrhaft ‚demokratischen‘ Verfassung in seinen Anliegen politisch gewürdigt zu sehen. Der schlechten Erfahrung, dass sich auch mit den sozialdemokratischen Hoffnungsträgern und ihren angekündigten Reformen herzlich wenig an den kritisierten Lebensumständen ändert, liefern die linken Machthaber und Aspiranten auf die Macht im Staat gleich die richtige rechtfertigende Deutung mit dazu: Die „neoliberale Pinochet-Verfassung“ mit ihren hohen Quoren behindert eine wahre, volksfreundliche Reformpolitik; den linken Volksfreunden sind politisch die Hände gebunden, also braucht es eine neue Verfassung, die ihnen die Macht zu den versprochenen guten Werken garantiert. [5]
In diesem prinzipiellen Bedürfnis, dem chilenischen Staat ein ganz neues Regelwerk zu verpassen, das linker Politik zum Durchbruch verhilft, führt der politische Willensbildungsprozess die chilenische Linke in ein Wahlbündnis – die ‚Nueva Mayoria‘. Dessen sozialdemokratische Präsidentschaftskandidatin und ehemalige Präsidentin Michelle Bachelet betreibt 2013 den Wahlkampf für ihre zweite Präsidentschaft fortan mit dem Versprechen, einen demokratischen Verfassungsprozess einzuleiten. Für die Beteiligung der Bürger am staatlichen Reformbedarf wird im Laufe ihrer zweiten Amtszeit mit lauter Kampagnen zur staatsbürgerlichen und verfassungsrechtlichen Bildung agitiert, damit der Chilene auch die verlangte demokratische Beteiligung richtig versteht. Immerhin wird ihm nichts Geringeres abverlangt, als von seiner sozialen Notlage zu abstrahieren und sie vom Standpunkt der reformbedürftigen Staatsmacht, also als Problem des Staates mit seiner eigenen Verfasstheit zu betrachten und sich für die wohlmeinenden Vorschläge zu interessieren und zu engagieren, wie in Chile ‚im Prinzip‘ künftig besser über ihn und seinesgleichen regiert werden sollte. Aus dem präsidialen Verfassungsentwurf wird aber nichts. Das rechte Lager legt nach der Machtübernahme durch Präsident Piñera das Verfassungsprojekt seiner linken Konkurrenz auf Eis.
Zumindest bis zu den Massenprotesten 2019. Im Oktober kommt es nach Fahrpreiserhöhungen der Metro von Santiago de Chile zunächst zu Aufrufen von Schülern zum kollektiven Schwarzfahren, dem sich immer mehr Pendler anschließen. [6] Die Hetze der Regierung gegen die „Kriminellen“ und das rigorose Vorgehen der Polizei an den U-Bahnhöfen befeuern die Empörung und das Rechtsbewusstsein vieler Chilenen, denen die Not, sich in ihrer Armut einzuteilen und mit Preiserhöhungen klarzukommen, nur allzu vertraut ist und die sich mit dem Protest solidarisieren. Es kommt zu Plünderungen und brennenden Straßenbarrikaden, die Gewerkschaften rufen zum Generalstreik auf. Die rechte Piñera-Regierung nimmt die sozialen Proteste als Anschlag auf die Rechtsordnung, sieht ihr Gewaltmonopol herausgefordert, macht von der Notstandsgesetzgebung Gebrauch, um den Ausnahmezustand im Land zu verhängen, und schickt – zum ersten Mal seit dem Ende der Militärdiktatur – das Militär auf die Straße, um wieder für ‚Ruhe und Ordnung‘ zu sorgen. Daraufhin entwickelt sich der Protest innerhalb kürzester Zeit erst recht zu einem Massenaufruhr, der dreißig Jahre gelungener Herrschaft in Chile und die international so geschätzten stabilen Verhältnissen im kapitalistischen Musterland Lateinamerikas auf die Probe stellt. Das auf dem chilenischen Markt engagierte Finanzkapital verliert das Vertrauen in die Stabilität der herrschenden politischen Verhältnisse als Grundlage seiner privaten Bereicherungsinteressen und zieht angesichts der „bürgerkriegsähnlichen Zustände“ und „politischer Unsicherheit“ massenhaft ab. [7] Damit schickt es die nationale Währung auf Talfahrt und leitet eine substantielle ökonomische und politische Krise ein.
Die Brutalität, mit der die Regierung die Machtfrage beantwortet und gegen die Proteste vorgeht, bestätigt die alte wie die neue politische Linke [8] einmal mehr in ihrer generellen Kritik, dass der rücksichtslose staatliche Umgang mit dem Volk undemokratisch sei. Dass sich die Regierung mit ihrem „Gewaltexzess“ auch noch im verfassungsmäßig gebilligten Rahmen der Ordnungsstiftung bewegt, zeige insofern nur endgültig, dass die rechtlichen Verhältnisse und Befugnisse der Staatsgewalt neu geregelt gehören, damit die nicht das berechtigte Interesse des Volkes an staatlicher Berücksichtigung missachtet. Der staatlichen Gewaltanwendung müssen daher generell und verfassungsrechtlich verankert Schranken gesetzt werden; die Herrschaft darf nicht einfach auf Gewalt beruhen, sondern muss ihre Basis im Volkswillen haben, womit solche Formen der Gewaltanwendung gegen das Volk, wie sie die Rechten praktizieren, überflüssig werden und – umgekehrt – der soziale und politische Frieden herrscht, der dem Staat die souveräne Freiheit für seine Wohltaten sichert. Mit dieser Agitation ergreift die Linke den sozialen Aufstand als Gelegenheit, um die Massen für ihren politischen Reformbedarf zu mobilisieren. Sie leitet den Protest an und bringt die disparaten Unzufriedenheiten auf eine gemeinsame Linie: Die unterschiedlichen Bewegungen – angefangen von den Studenten, die gegen die Abhängigkeit der Aufstiegschancen in der chilenischen Konkurrenzgesellschaft von ausreichend privaten Geldmitteln protestieren, über die indigene Mapuche mit ihren Autonomiebestrebungen, die Umweltaktivisten mit ihren Einsprüchen gegen Raubbau und Zerstörung von Lebensgrundlagen bis hin zu den Feministinnen mit ihrem Kampf gegen den allgegenwärtigen Machismo und sexualisierte Gewalt usw. – erhalten mit dem Ruf nach ‚Würde‘ ihre gemeinsame Protestparole, die alle Beschwerden in die die methodische Forderung nach einem ‚respektvollen‘ Umgang des Staates mit seinem Volk überführt. [9] Sie machen ihrer generellen Enttäuschung Luft, dass die Regierenden ihnen die Verwirklichung dieses Ideals guter Herrschaft schuldig bleiben: Es geht prinzipiell nicht gerecht zu – dieses Urteil enttäuschter Hoffnung auf eine ihren Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechende Obrigkeit richten sie gegen die amtierende Regierung – „Die Regierung stiehlt, die Bullen töten, das Fernsehen lügt“, „Piñera ist ein Mörder und Krimineller“ – und gegen die ganze herrschende politische Klasse Chiles: „No son 30 pesos, son 30 años de abuso de poder!“ („Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre Machtmissbrauch!“) Und ganz im Sinne der linken Agitation entdecken die Protestierenden in den staatlichen Gewaltaktionen die immer noch „diktatorische Fratze“ ihrer demokratischen Herrschaft und im Vorgehen des Staates gegen sein eigenes Volk einen „Verrat an der Demokratie“.
So bekommt die radikale Enttäuschung der Massen über die vermisste staatliche Fürsorge und die Forderung nach ‚Würde‘ im linken Ruf nach einer neuen, ‚echt‘ demokratischen Verfassung ihre konstruktive politische Perspektive; umgekehrt findet das linke Programm einer besseren, durch eine neue Verfassung grunderneuerten Herrschaft so seine breite Basis in den Protesten. Deren Aktivisten machen sich vorauseilend eigenständig und basisdemokratisch in Nachbarschaftszirkeln an die Erstellung einer Wunschliste für eine neue staatliche Geschäftsordnung. Und sie bekommen Gelegenheit, mit ihren Vorschlägen gehört zu werden.
Nach den gescheiterten Versuchen, die Straßenschlachten gewaltsam niederzuschlagen und das Volk mit gewissen sozialen Zugeständnissen zur Rückkehr in den Dienst an den herrschenden Interessen zu bewegen, ringt sich der konservative Präsident nämlich zu einem ungewöhnlichen Angebot durch, um die Lage im Land wieder unter Kontrolle zu bekommen und seine drohende Absetzung abzuwenden. Er greift die linke Forderung nach einer „Demokratisierung Chiles“ auf und einigt sich mit einem breiten Bündnis aus vierzehn Oppositionsparteien auf einen „Acuerdo por la paz social y una nueva constititución“ („Vereinbarung für den sozialen Frieden und eine neue Verfassung“). Unter der Bedingung der Wiederherstellung des sozialen Friedens und gegen das Versprechen der Linken, das Ihre für die Beendigung des Protests zu tun, wird gemeinsam mit der Opposition ein verfassunggebender Prozess im Modus eines „historisch einmaligen demokratischen Experimentes“ auf den Weg gebracht. Das Experiment besteht in dem ‚besonders demokratischen‘ Verfahren des staatlich organisierten Verfassungsprozesses, an dem das Volk gleich dreifach beteiligt sein und damit für seine Legitimität bürgen soll: Der Verfassungskonvent wird per Wahl vom Volk besetzt, Vorschläge für die neue Verfassung können basisdemokratisch in dessen Beratungen eingebracht werden, und das Volk entscheidet am Ende per Wahl über die Annahme der ausgearbeiteten Verfassung.
Befrieden lassen sich die aufgebrachten Volksteile schon in der ersten Phase: Mit dem Versprechen eines garantiert basisdemokratischen Verfassungsprozesses ebbt der Protest rasch ab. Das verschafft den linken Protagonisten des volksfreundlichen Verfassungsverfahrens in der Folge die nötige Ruhe und Freiheit, sich um die Modalitäten der Erstellung des Paragraphenwerks zu kümmern – und sich über die Details des von ihnen allen geschätzten Verfahrens wahrer Repräsentation des Volkswillens gründlich zu zerstreiten. [10]
Eine volksfreundliche Herrschaft, verbürgt durch die passende Regelfindung
Trotz aller internen Streitigkeiten unter den Linken kommt das „demokratische Experiment“ zunächst einmal ganz in ihrem Sinne gegen die Rechten in Gang: Bei der Wahl der Mitglieder des Verfassungskonvents im Mai 2021 verschafft die Gunst der Stunde parteilosen Intellektuellen und Linken eine Mehrheit und marginalisiert die etablierten Parteien der Mitte, der Konservativen wie der radikalen Rechten, die sich alle nur in der Berechnung auf den Prozess eingelassen haben, ihn auch maßgeblich in ihrem Sinne mitzugestalten. [11] So steht umgekehrt aus Sicht der reformbegeisterten linken Versammlungsmehrheit dem Projekt einer wirklich demokratischen Verfassung, die „soziale Reformen für eine gerechtere Gesellschaft“ ermöglichen soll, nun endlich nichts mehr entgegen. Die Gelegenheit, endlich die demokratischen Machtverhältnisse entscheidend zu bestimmen und den Unwillen der Rechten zu einer alternativen politischen Gestaltung eines ‚zukünftigen Chiles‘ qua Mehrheit auszuschalten, auch wenn die nichts unversucht lassen, um den verfassunggebenden Prozess zu torpedieren, be- und ergreift die einberufene Versammlung als historische Chance, ihr Ideal einer wahren volksfreundlichen Herrschaft zu verwirklichen. Die gewählten linken Repräsentanten des Verfassungskonvents treten wohlmeinend im besten Gewissen an, allen bisher minderbemittelten Interessen im Land durch die auf ‚legitime‘ Weise, unter Einbezug des Volks zustande gekommenen Paragraphen einer neuen Verfassung ihr Recht im Staat zu garantieren und ihren beschädigten Anliegen damit zum Durchbruch zu verhelfen. Die diversen Unzufriedenheiten dürfen und sollen sich melden und ‚einbringen‘; und sie werden aufgegriffen als Beitrag zu den Beratungen über die Grundsätze eines Regelwerks des politischen Kommandos über die Gesellschaft. Gemäß dem erzdemokratischen Ideal der Linken, dass ein wahrhaft inklusives Verfahren auch die Güte des Resultats verbürgt, wird der Modus der Ausarbeitung des Verfassungsentwurfs ausgestaltet – streng paritätisch, unter Berücksichtigung aller Minderheiten im Land und mit allerlei basisdemokratischen Momenten des Einbezugs der Bürger. So soll schlussendlich über die Modalitäten der Abfassung des neuen Entwurfs durch eine echte Volksbeteiligung an der Konsensbildung über das Verfassungswerk garantiert sein, dass die Herrschaft nach Regeln über das Volk bestimmt, denen es zustimmen kann, und umgekehrt so die Herrschaft ihre wahre Souveränität in der Legitimation durch den Volkswillen erhalten.
Dem neoliberalen Geist der herrschenden Pinochet-Verfassung setzt die Verfassunggebende Versammlung im Ergebnis ein Paragraphenwerk aus dem Geist einer progressiven und inklusiven Verfassung entgegen. In der verfassungsmäßigen Geschäftsordnung sollen alle gegensätzlichen Bedürfnisse ihren gebührenden Platz finden, damit sollen dann umgekehrt all diese Gegensätze für die Staatsgewalt aber auch erledigt und gelöst sein:
- Der Entwurf trägt der Not des Arbeitsvolkes, in der chilenischen Konkurrenzgesellschaft irgendwie über die Runden zu kommen, dadurch Rechnung, dass er sie mit einem ‚Recht auf Arbeit‘ ausstattet und sie damit auf ihre Rolle verpflichtet, sich als Eigentumslose in den Dienst fremder Reichtumsvermehrung zu stellen, bzw. umgekehrt den Staat darauf verpflichtet, sich um die Erhaltung des Arbeitsvolks als nationale Ressource zu kümmern. Dass der verfassungsrechtliche Anspruch auf einen Arbeitsplatz noch keinen schafft, weiß auch der Verfassungskonvent; der verordnet nach dem Vorbild europäischer Sozialstaaten eine neue Stellung des Staates zu den Nöten seines Volkes, ihrem Lohnarbeiterdasein ein Leben abzuringen. Ein ‚Recht auf Bildung, Gesundheit, Pflege, soziale Absicherung und Altersvorsorge‘ hat zwar auch die alte Verfassung gewährt, der neue Entwurf nimmt den Staat allerdings weitreichender für eine staatliche Volksfürsorge in die Pflicht. Was diese neuen Aufgaben und Kompetenzen des Staates für Auswirkungen auf die Zustände in den öffentlichen Schulen und Krankenhäusern haben, ist damit freilich weiterhin offen, steht ja, wie alles, auf einem anderen Blatt als in den mehr oder weniger wohlmeinenden Paragraphen eines sozialdemokratisch inspirierten Verfassungskonvoluts. Gleiches gilt für das neu geschaffene ‚Recht auf Wohnraum‘ und ‚auf Nahrungsmittelsicherheit‘. Außerdem verbietet der Entwurf die staatliche Repression von Gewerkschaften und stattet die chilenische Arbeiterklasse mit dem ‚Recht auf Assoziation‘ und einem ‚Streikrecht‘ aus. Er verspricht ein neues System der Lohnfindung, das dem chilenischen Kapital eine organisierte Arbeiterschaft mit dem Recht auf gesetzlich geregelten Vertragsbruch als ihr Erpressungsmittel im Lohnkampf gegenüberstellt. Das folgt streng der Illusion, dass die gewerkschaftliche Beteiligung der Arbeiter am gemeinschaftlichen Prozess der Lohnfindung im Resultat einen Lohn verbürgt, von dem sich leben lässt. Was das hergibt, ist allerdings überhaupt keine Frage der Neufassung von Rechtstiteln, die einer mehr oder weniger organisierten Arbeiterschaft hoheitlich qua Verfassung zugestanden werden, sondern eine ökonomische Machtfrage;deren Beantwortung hängt ganz von der Potenz der Gewerkschaften ab, der Gegenseite Konzessionen abzunötigen.
- Auch der zu erwartenden Naturzerstörung – Nebenprodukt von kapitalistischer Landwirtschaft und Rohstoffabbau für den Weltmarkt, von denen diese Nation lebt – verspricht der Entwurf rechtlich beizukommen. Der Natur soll ein unveräußerliches Recht auf Schutz garantiert, dieser Schutz also als vorrangige Staatspflicht verankert werden. Das ändert zwar nichts an der ökonomischen Rolle der Natur als rücksichtslos ausbeutbarer Ressource und kostenloser Müllkippe, eröffnet aber den Anwälten von Flüssen und Wäldern in Zukunft einen staatlichen Klageweg gegen deren Zerstörung. Auch sollen die ‚natürlichen‘ Reichtümer nicht exklusiv der privaten Bereicherung überlassen werden, sondern auch dem ‚Gemeinwohl‘ dienen. Das gilt im Speziellen für das kostbare Gut Wasser, das ganzen Gemeinden durch den expandierenden Bedarf der Agrarindustrie und Forstwirtschaft abhanden kommt. Dafür etabliert der Verfassungsentwurf eine rechtliche Definition von ‚Gemeingütern‘ und modifiziert damit die Rechtsverhältnisse, d.h. die offiziell statuierten Freiheiten, gemäß denen die Privateigentümer exklusiv über die natürlichen Ressourcen verfügen dürfen, und die Bedingungen, zu denen der Staat sich den Zugriff im Sinne einer gemeinwohldienlichen Verwendung vorbehält. Dieser rechtliche Vorbehalt bedient in erster Linie die Illusion, mit dieser Neuregelung werde die Staatsgewalt endlich im Sinne der armen Landbevölkerung in die Pflicht genommen, die Geschäftsinteressen der Eigentümer der Quellen auch wirklich zu beschneiden; Letzteres bleibt allerdings eine Frage des politischen Willens, diese neuen staatlichen Kompetenzen auch entsprechend anzuwenden. Und was das angeht, ist gerade in Sachen Raubbau an den elementaren Lebensbedingungen und gerade in Ländern wie Chile etc. unübersehbar, wie wenig die versprochene rechtliche Einhegung daran etwas ändert.
- Die elenden Lebensbedingungen der Mapuche in den ehemaligen Reservaten fasst der Verfassungskonvent nicht als soziales Problem ins Auge, sondern von vornherein als Ausweis eines Missstandes höherer Art, nämlich des mangelnden staatlichen Respekts vor ihrer völkischen Identität durch die alte Verfassung, die Chile als nationalen Einheitsstaat definiert, die Bevölkerung nur als ein Volk von Chilenen anerkennt und die verschiedenen indigenen Völker auf seinem Territorium keiner positiven staatsrechtlichen Diskriminierung würdigt. Dem setzt der neue Entwurf eine ‚plurinationale‘ Definition der Nation entgegen und achtet die ‚Koexistenz verschiedener Völker und Nationen im Rahmen der Einheit des Staates‘. Die abtrünnigen Indios sollen durch die Anerkennung ihrer nationalen Subidentitäten innerhalb der chilenischen Gesamtidentität in die Nation eingemeindet werden. In diesem Sinne nimmt der Entwurf den chilenischen Staat in die Pflicht, die freie Selbstbestimmung und politische Teilhabe der indigenen Völker zu garantieren, und kommt den aufständischen Mapuche mit weitreichenderen Autonomie-Rechten entgegen. Die in der Region bislang teils gewaltsam geltend gemachten separatistischen Ansprüche auf ‚Wiederherstellung‘ der vorkolonialen ‚Mapuche-Nation‘ sollen befriedet werden, indem ihnen ein neuer Rechtsstatus innerhalb des chilenischen Staates zugewiesen wird. Neben einem verbesserten Anrecht auf demokratische Teilhabe an den nationalen Herrschaftsfunktionen bekommen sie eigene Institutionen zur ‚Selbstverwaltung‘ zugestanden und dürfen sich so mit ihrem ganzen Elend unter eigener politischer Führung ganz autonom der Zentralgewalt zu- und unterordnen.
- Zugleich erhält auch der Anspruch moderner Konkurrenzbürger nach Gleichberechtigung und Anerkennung ihrer persönlichen Freiheit in dem Entwurf sein fortschrittliches politisches Recht zugesprochen. Im Sinne des Ideals demokratischer Teilhabe erhält der Kampf gegen jegliche Form der Diskriminierung in dem Entwurf einen prominenten Stellenwert. Der Staat wird abstrakt verpflichtet, die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in seiner Gesellschaft zu fördern und Gleichstellung zu garantieren. Paritätische Verhältnisse werden quer durch alle staatlichen Institutionen und öffentlichen Einrichtungen bis hinein ins Militär grundrechtlich untermauert. An die herrschenden ökonomischen und staatlichen Hierarchien und Kommandoverhältnissen wird also nicht gerührt; sie sind affirmiert, wenn der Entwurf die Staatsgewalt verfassungsrechtlich darauf verpflichtet, dass die Chilenen in Zukunft wirklich frei und gleich um ihren Platz in der Gesellschaft konkurrieren dürfen sollen. So soll mit dem neuen Gesellschaftsvertrag dem chilenischen Volk von oben eine politisch korrekte Sittlichkeit zugleich spendiert und anerzogen werden.
- Auch die Staatsmacht selber, die Verteilung der Entscheidungskompetenzen und Machtbefugnisse innerhalb des Herrschaftsapparats will der Entwurf rechtlich reformieren im Sinne einer neuen ‚integrativen und basisdemokratischen‘ Organisation der Herrschaft, die mit der bisherigen Machtverteilung innerhalb des Staates abrechnet: Mit ihren Maßnahmen zur politischen, finanziellen und verwaltungstechnischen Dezentralisierung, die eine politische Beteiligung und Autonomie der Regionen vorsieht, verspricht das Paragraphenwerk, mit den Machtklüngeln im Zentralstaat Schluss zu machen. So wird ein Gegenbild der bisherigen Funktionsweise politischer Herrschaft entworfen, mit der die herrschende Klasse ihren verlässlichen politischen Einfluss und die Kontrolle über den Staat und dessen Räson organisiert hat. Mit einer Neuordnung der staatlichen Gewaltenteilung soll mit dem Modus der wechselseitigen Sicherung der Privilegien der herrschenden Kreise aufgeräumt werden und deren Hoheit über die Neubesetzung von Ämtern und ihre alleinige Verfügung über die Gesetzgebung im Sinne einer ‚demokratischeren‘ Machtverteilung und -kontrolle aufgebrochen werden. [12] Was unter dem Titel der ‚Demokratisierung‘ einer noch zu autoritären Demokratie negativ einen Angriff auf die bestehenden Machtverhältnisse darstellt, soll positiv einen neuen Modus der Konkurrenz um die Macht im Staat stiften, mit besseren Teilhabebedingungen für all jene, die sich z.B. in ihrer Rolle als Lokalpolitiker dazu berufen fühlen, mit neuen Kompetenzen noch ganz anders als bisher im Staat mitzumischen. Die Möglichkeit der Beteiligung an der herrschaftlichen Organisation der Verhältnisse soll mit dem Verfassungsprozess denn auch nicht enden, sondern in der Verfassung institutionalisiert werden, damit auch in Zukunft und über jeglichen ‚gesellschaftlichen Wandel‘ hinweg die Funktionalität einer Herrschaft sichergestellt ist, die ihre Grundlage im Volkswillen hat, weil sie ihm entspricht.
- Am Ende soll auch das Militär seine weitreichenden Gewaltbefugnisse nach innen im Rahmen der Notstandsgesetze verlieren. Der Verfassungsentwurf stutzt dessen Sonderrolle als oberste Kontrollinstanz der Politik zurecht, degradiert es rechtlich zu einem – zu Gehorsam und politischer Enthaltung verpflichteten – ausführenden Organ und Instrument der Politik, reduziert seine Aufgaben im Grundsatz auf den Schutz vor ‚äußerer Aggression in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht‘ und nimmt dem Personal dieses Gewaltapparats den privilegierten ökonomischen Sonderstatus bezüglich Pensionen und Gehältern. So sollen die Militärs zu Staatsdienern und gleichrangigen Mitgliedern der chilenischen Gesellschaft werden; dank der neuen Verfassung repräsentieren die demokratischen Institutionen den Volkswillen so umfassend, dass sich ihr Gewaltbedarf nach innen unter normalen Umständen auf den Aufgabenbereich der Polizei reduziert. Auch die volksfreundliche Herrschaft rechnet, Chiles politisch Verantwortliche haben da ja einschlägige Erfahrungen, allerdings vorausschauend mit Auseinandersetzungen mit und innerhalb der staatlichen Macht, die sie als Angriff auf die Staatsgewalt und Ausnahmesituation definiert, die sie zur Aussetzung der bürgerlichen Freiheiten und demokratischen Rechte und zur gewaltsamen Wiederherstellung der Ordnung nötigt und berechtigt. In diesem Sinne werden die Notstandsparagraphen nicht abgeschafft, aber neu und ‚enger‘ gefasst.
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So offenbart ein Blick in die Paragraphen den prinzipiellen Widerspruch des Verfassungsidealismus und seine Leistungen für die demokratische Herrschaft: Das Paragraphenwerk ist einerseits ein Spiegelbild der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft mit ihren Gegensätzen und Verheerungen. Andererseits werden diese Gegensätze aber gar nicht als solche ins Auge gefasst, sondern ausschließlich im Modus ihrer positiven obrigkeitlichen Fassung: als staatlich zu betreuende, zu beaufsichtigende und hoheitlich zu regelnde Interessenkollisionen, als Elemente einer staatlichen Rechtsordnung also, die die herrschenden Verhältnisse überwinden soll, ohne an ihnen ernstlich zu rütteln oder gar an die kapitalistische Quelle der Übel zu rühren. Das mit Beteiligung der Betroffenen entworfene herrschaftliche Paragraphenwerk elaboriert so das Ideal der Integration aller bisher in der chilenischen Herrschaft unterprivilegierten politischen Ansprüche der Bürger in den Prozess der hoheitlichen Willensbildung und Verfügungsgewalt über Land und Leute: das rechtsförmige Bild einer Staatsgewalt, die durch den geregelten Umgang mit ihnen alle gesellschaftlichen Gegensätze versöhnt statt gewaltsam unterdrückt. Dieser Staatsgewalt kann das Volk also endlich ungehindert zustimmen. Für die linken Aktivisten des Verfassungsentwurfes soll ihr basisdemokratisches Verfahren des Verfassungsprozesses also das gewünschte Resultat verbürgen: ein herrschaftliches Regelwerk, das dem Bedarf des Volkes nach Anerkennung und Betreuung seiner berechtigten Ansprüche an die Herrschaft gerecht wird, wodurch sich die Herrschaft die Zustimmung des Volkes dann auch wirklich verdient hat, die sie für ihre Souveränität braucht und beansprucht. So sollen Volk und Herrschaft geeint sein.
Das eigentliche Verfahren einer verfassungsmäßigen Regelsetzung, das dem Paragraphenwerk überhaupt erst staatliche Verbindlichkeit verleiht, steht allerdings erst noch an: die Inkraftsetzung des Entwurfs durch die Herrschaftsinstanzen, die über die entscheidende Macht im Staat verfügen. Es braucht die Zustimmung, am Ende die verbindliche Ratifizierung durch eben die Instanzen, deren Machtpositionen der Entwurf einhegen und auf volksdienliche Ausrichtung der Herrschaftsausübung festlegen will, also angreift. Das Volk darf sein Votum abgeben, am Ende aber entscheiden Präsident und Parlament darüber, ob überhaupt und wie der wohlmeinende Entwurf staatliche Verbindlichkeit bekommt.
Der Idealismus des Verfassungskonvents bricht sich an den herrschenden Verhältnissen
Erstens bricht sich der linke Verfassungsidealismus an den die Gesellschaft bestimmenden ökonomischen Interessen und den etablierten Herrschaftsansprüchen ihrer politischen Anwälte. Das Verfassungskonstrukt provoziert den erbitterten Widerstand der gesamten herrschenden Klasse. Die verspürt von Haus aus kein Bedürfnis nach einer Neuausrichtung der staatlichen Maximen, die sich irgendeiner Vorstellung eines Allgemeinwohls verpflichtet weiß, die ihre ökonomische und politische Vormacht zu relativieren droht. Gegen das politische Versprechen einer verbesserten rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung, die den Ansprüchen der Geschädigten auf eine gerechtere Herrschaft mit einer neuen staatlichen Geschäftsordnung Rechnung trägt, halten sie an der Unverträglichkeit eines solchen Vorhabens mit ihren geltenden Rechten und Freiheiten fest und betrachten jedes Ansinnen einer politischen Korrektur der Herrschaftsgrundsätze prinzipiell als einen Anschlag auf die etablierten politischen Verhältnisse, wie sie in Chile seit Jahrzehnten funktionieren, also auf sich. Jenseits der einzelnen Bestimmungen und ganz jenseits der Frage, welche praktische Rolle solchen Rechtsprinzipien und Regelungen der staatlichen Geschäftsordnung unter den herrschenden Verhältnissen zukommt, sehen sie ihr elementares Anrecht darauf bestritten, dass die politische Gewalt die Geltung ihrer etablierten Ansprüche gegen alle Unzufriedenheiten als Ordnungsmacht durchzusetzen hat, statt denen von oben irgendwie entgegenzukommen. Das rechte Lager bringt daher seine Machtposition im Staat in Anschlag und kündigt den erbitterten Widerstand seiner Parlamentsmehrheit an. Es wird alles in seiner Macht Stehende unternehmen, damit der Verfassungsentwurf keinesfalls als verbindliche neue Geschäftsordnung ratifiziert wird und ihm damit von Seiten der herrschenden Gewalt aus die Legitimität verliehen würde, die ihn überhaupt – Volksvotum hin oder her – erst Realität werden ließe.
Mit der Ankündigung ihres Kampfs gegen die verfassungsmäßige Beschränkung ihrer bestehenden Machtposition im Staat wendet sich die Rechte im Bewusstsein ihrer Macht zugleich ans Volk, um ihm klarzumachen, was es sich einhandelt, wenn es für Korrekturen an den existenten Machtverhältnissen stimmen sollte. Vor der Volksabstimmung fahren die herrschenden Eliten alles auf, was sie an Einfluss auf die politische Willensbildung zu bieten haben, und nutzen ihre Hoheit über die Medienlandschaft, um gegen den Entwurf zu agitieren. In einer umfassenden Kampagne verkehren sie die linke Illusion eines dem Wohle des gesamten Volkes verpflichteten Staates in das spiegelbildliche Zerrbild einer Herrschaft, die das chilenische Volk systematisch seiner gerechten Herrschaft beraubt und mit dem drohenden ‚Sozialismus‘ in das Chaos stürzt, das sie damit herbeizuführen androhen: Die Rechten verstehen sich durchaus auch als Volksfreunde – des Volkes nämlich, von dem sie, wie alle Volksfreunde, sicher sind, dass es selbst will, was sie von ihm beanspruchen. Ihrem geschätzten Chilenen-Volk sagen sie daher nach, dass sein oberstes Bedürfnis und erstes Grundrecht in der machtvollen Durchsetzung der Ordnung im Staat besteht – und zwar der Ordnung, die es gibt, gegen alle, die sich von ihr nicht bedient sehen. Das wollen angeblich die Linken opfern und damit die sittlichen und materiellen Lebensgrundlagen des Volks zerstören. [13] Die Wirtschaft macht im Bewusstsein ihrer ökonomischen Machtmittel die Abhängigkeit der Massen von ihrem Geschäftserfolg zum erpresserischen Argument dafür, dann gefälligst auch für diese Lebensgrundlage und gegen den Verfassungsentwurf Partei zu ergreifen. Diesen antilinken Widerstand soll das Volk nicht nur eingedenk seiner wohlverstandenen materiellen Eigeninteressen leisten, sondern angesichts des von den Linken vorgesehenen Generalangriffs auf den chilenischen Wertehimmel als patriotische Pflicht zur nationalen Notwehr begreifen, in der das echte Volk und dessen wirklich wohlmeinende Herrschaft ihre Einheit retten, indem sie sie gemeinsam gegen links praktizieren.
- Zweitens bricht sich besagter Verfassungsidealismus am machtpolitischen Realismus des mittlerweile zum obersten politischen Repräsentanten des chilenischen Staats aufgestiegenen ehemaligen Studentenführers und linken Aktivisten für das Projekt einer fortschrittlichen Verfassung, Gabriel Boric. Ausgerechnet dieser Hoffnungsträger der Linken rückt mit seinen Rechnungen und Berechnungen hinsichtlich der nationalen Durchsetzung einer neuen Verfassung unter den gegebenen Machtverhältnissen den Idealismus der linken Verfassungsaktivisten zurecht, durch eine neue demokratisch zustande gekommene Geschäftsordnung des Staats die herrschenden Machtverhältnisse grundlegend zu korrigieren. Der regierende linke Demokrat definiert den ‚Volkswillen‘, der im Ergebnis des Verfassungskonvents seinen Ausdruck finden soll, streng im Sinne des Auftrags zur Versöhnung der Gegensätze im Land im Dienste des nationalen Gemeinwohls. Als „Präsident aller Chilenen“ dringt er auf einen Kompromiss mit dem unversöhnlichen politischen Lager der Rechten, von dessen parlamentarischer Duldung seine Minderheitsregierung abhängig ist, und versucht die politischen Gegner für das Verfassungsprojekt als gemeinsames nationales Fortschrittsprogramm zu gewinnen – streng nach der Maxime, dass die Einwände des mächtigen politischen Gegners am besten dadurch erledigt werden, dass sie Recht bekommen. Um den linken Verfassungsentwurf für die herrschenden Interessen verträglich zu machen, kündigt er eine Woche vor der finalen Volksabstimmung an, das Verfassungswerk noch vor seinem Inkrafttreten zu „entschärfen“,nämlich vorauseilend den Kernbestand des von den Rechten bekämpften Demokratisierungsprogramms zu korrigieren: genau die Paragraphen, die dem staatlichen Gewalteinsatz Schranken setzen, die existierende Machtverteilung innerhalb der staatlichen Institutionen reformieren und die erweiterte staatliche Verpflichtung auf soziale Dienste festschreiben sollen. [14] So führt Boric den linken Verfassungsidealisten praktisch vor Augen, dass das Verfahren des Verfassungsprozesses die eine Sache ist und die herrschenden Machtverhältnisse die andere.
- Drittens bricht sich der Verfassungsidealismus am Konservatismus einer Mehrheit des Volks, das mit Blick auf seine Lebenssorgen und praktischen Erfahrungen, Enttäuschungen und Unzufriedenheiten mit der Herrschaft, die über seine Lebensumstände praktisch gebietet, aufgerufen ist, sich auf deren Standpunkt zu begeben und Stellung zu nehmen zu den Idealen, allgemeinen Grundsätzen und machtinternen Regelungen, über die sich die fürs Regieren Zuständigen erbittert streiten.
Beim Volk treffen die rechten Einwände offensichtlich den Nerv einer Mehrheit. Was reformfreudige Bürger, Feministinnen und LGBTQ*-Bewegte als zentrale Errungenschaft des Reformentwurfs feiern, bricht sich an den etablierten Rollenbildern und dem Selbstverständnis, das sich die Massen in ihrem Lebenskampf um ein Stück privaten Erfolg mit Anstand und Rechtschaffenheit zur zweiten Natur gemacht haben. Im christlich geprägten Chile sorgt vor allem das Recht auf Abtreibung für massiven Widerstand frommer Lebensschützer, ebenso alle anderen „Abartigkeiten“, die der Verfassungsentwurf aus Sicht christlicher Moralisten mit seinen Antidiskriminierungsparagraphen ins Recht setzt. Wo schon der Zugang zu sauberem Trinkwasser zum alltäglichen Lebenskampf gehört, ist auch ein bürgerliches Umweltbewusstsein ein ziemlicher Luxus; da treibt viele Chilenen – ganz im Sinne der Agitation der Rechten – doch eher die Sorge um ihre Arbeitsplätze um. Umgekehrt bringen die vorweg vom Präsidenten angekündigten Eingriffe das Projekt auch bei den ursprünglichen Befürwortern in Verruf.
So wird die neue Verfassung im September 2022 überraschend deutlich abgelehnt – das Votum des Volkes gibt mehrheitlich den Einwänden recht, die ihm von den Rechten als die seinen nahegelegt werden. Für eine Mehrheit der Chilenen ist der Verfassungsentwurf, den sie ohnehin nur in Gestalt der gegensätzlichen Agitation der Zuständigen zur Kenntnis nehmen, offenbar kein attraktives Angebot, mit lauter neuen sozialen Rechten womöglich ein Anrecht auf Besserstellung zu erlangen, sondern ein Angriff auf ihre gewohnten Lebensverhältnisse und die akzeptierte sittliche Ordnung, für die zwar nichts als das falsche Bewusstsein der Gewöhnung spricht, aber das sehr laut und nachdrücklich.
Der Versuch, das Land mit einer garantiert dem Volkswillen entsprechenden Verfassung zu beglücken und damit die Gesellschaft grundlegend zu verbessern, ohne die Eigentumsordnung und den Kapitalismus infrage zu stellen, scheitert so an den vorhandenen Interessengegensätzen, die er aufrührt. Das in Verfassungsparagraphen gegossene linke Versprechen einer guten Herrschaft und eines echt demokratischen Staats scheitert damit am Volkswillen, den die Linken nach ihrem Bild einer wahren Volksherrschaft definiert haben. So feiern am Ende die Rechten – „Heute hat der gesunde Menschenverstand gesiegt“ (Javier Macaya, Vorsitzender der Rechtsaußenpartei UDI, FR, 5.9.22) –, dass der Volkswille ihre Ablehnung vorauseilend bestätigt hat, ihnen also erspart bleibt, den Entwurf ihrerseits scheitern lassen zu müssen, und dass damit der politische Kampf in ihrem Sinne rundum erledigt ist.
Die Fortsetzung des Ringens um eine neue Verfassung unter umgekehrten Vorzeichen
Damit ist das „basisdemokratische“ Experiment eines ‚transformativen Konstitutionalismus‘, wie es politologisch gelehrt heißt, auf dem Boden der Macht-Realitäten gelandet, und die Frage einer Neufassung der staatlichen Geschäftsordnung wieder ganz auf der Ebene der Machtkonkurrenz der politisch Zuständigen. Dafür, dass sie dort nicht ad acta gelegt wird, sorgt der linke Präsident. Boric quittiert das „Rechazo“ (die Ablehnung) des linken Verfassungsentwurfs damit, dass er seinem Volk zu dessen „demokratischer Reife“ gratuliert und die Ablehnung als Auftrag für einen neuerlichen gemeinsamen nationalen Anlauf zu einer Verfassungsreform begreift, die er nicht sterben lassen will. Diesmal aber nach einem Verfahren, bei dem die engagierten Anwälte minderbemittelter Interessen außen vor bleiben und die politischen Herrschaftsvertreter ihren prinzipiellen Bedarf nach einer Reform der staatlichen Rechtsverhältnisse unter sich regeln, und sich auf die Weise – so die Vorstellung des Präsidenten – im Interesse der Nation ohne störende Einflüsse der Einzelnen einigen können. [15] Entlassen ist das Volk aus dem Prozess damit nicht: Es darf und soll, wie von demokratischen Wahlen gewohnt, über das für die Verfassung zuständige Personal aus dem von den Parteien präsentierten Angebot auswählen und am Ende ausnahmsweise das fertige Ergebnis absegnen.
Das Volk tut mehrheitlich, was ihm die Wahlpflicht vorschreibt, und wählt Kandidaten in die „Constituyente“. Während die Linken ihrer Enttäuschung durch das demonstrative Ungültigmachen der Stimmzettel Ausdruck verleihen, erringen nun die Rechten die Mehrheit und bestimmen damit den erneuten Anlauf zu einer neuen Verfassung. [16] Der ehemalige Vorkämpfer einer echt demokratischen Organisation der Herrschaft wird angesichts dessen – ganz Präsident ‚aller Chilenen‘ – einerseits selbstkritisch gegen ‚seine‘ Linke, die nicht im Sinne der gesamten Nation, sondern zu eigensinnig gegen die rechten politischen Kräfte agiert und damit die Volkszustimmung verspielt habe. Andererseits fordert er ausgerechnet die ‚Pinochetistas‘ auf,
„nicht den gleichen Fehler zu machen wie wir. In diesem Prozess darf es nicht um Vendetta gehen, sondern um Chile und seine Leute“. Die neue Verfassung müsse im Dialog mit allen politischen Kräften geschrieben werden.“ (amerika21.de, 10.5.23)
So seine Mahnung angesichts dessen, dass die Verfassungsgebung nun ausgerechnet von denjenigen dominiert wird, die nie eine neue Verfassung wollten und gar kein Bedürfnis nach einem politischen Konsens mit dem Präsidenten und seinem politischen Anhang haben, wenn es um die Zukunft ihres Landes geht. Im Gefolge des gescheiterten Angriffs auf ‚ihre Verfassung‘ und entsprechend ihrer neuen Machtposition entdecken sie nämlich jetzt ihrerseits einigen Reformbedarf, wie sich die über 30 Jahre alte Verfassung des großen chilenischen Staatsmannes von zwischenzeitlichen demokratischen Korrekturen bereinigen und für den Abwehrkampf gegenüber linken, sozialen Experimenten perfektionieren lässt: Der definierten Problemlage der Nation entsprechend –
„Die wirklichen Probleme der Chilenen heute: Verbrechen, Terrorismus in der Region Araucanía (das Gebiet der Mapuche) und entfesselte Einwanderung in den Norden“ (Antonio Kast, El País, 8.5.23) –
wird der neue Entwurf spiegelbildlich zum Detailreichtum des verworfenen linken Entwurfs ausgestaltet und die überkommene Pinochet-Verfassung erweitert: Die Rechte des Militärs, speziell in Bezug auf seinen Einsatz nach innen, und die Definition von Ausnahmezuständen werden gestärkt; die Ausweisung von Zuwanderern erleichtert; bisherige Härtefall-Regelungen z.B. für Familien mit Kindern ungeachtet internationaler Vereinbarungen abgeschafft; die privatrechtliche Verfügung über natürliche Lebensgrundlagen wie Wasser fortgeschrieben; das nationale Sozialwesen als Geschäftsfeld privaten Kapitals bekräftigt; das Streikrecht der Gewerkschaften weiter beschränkt; kleinen Parteien wird durch eine 5 %-Sperrklausel der Zugang zur Teilnahme an der hoheitlichen Entscheidungsfindung erschwert; die reaktionäre Sittlichkeit des chilenischen Volkes mit der Betonung der traditionellen Familie und einer weiteren Verschärfung des Abtreibungsrechts bedient usw. usf. Und bei alledem wird die Forderung nach „qualifizierten Mehrheiten“ bedient, was zukünftige Gesetzesänderungen in allen diesen Bereichen weiter erschweren soll. So elaboriert die Rechte ihrerseits ein Verfassungswerk, das ihrem Herrschaftsbedarf staatsrechtlich verlässliche Geltung verschaffen soll: dem Bedarf nach einer mit staatlicher Gewalt zu sichernden Ordnung, in der sich das Volk mit all seinen unbefriedigten materiellen Interessen verlässlich unter die herrschenden Interessen unterordnet, weil es seinen unterstellten Generalanspruch an seine Herrschaft erfüllt bekommt – deren Souveränität.
Nun ist es also umgekehrt an den gescheiterten Linken, das Volk zu einem „Rechazo“ des rechten Verfassungsentwurfs zu mobilisieren. Mit dem offensichtlichen Dilemma, dass der neuerliche Volksentscheid über die neue Verfassung ungeachtet seines Ausgangs auf jeden Fall gegen sie ausgeht: Entweder bleibt bei Ablehnung die bisherige Verfassung in Kraft, die sie als ‚undemokratisches Erbe Pinochets‘ unbedingt überwinden wollten, oder sie wird bei Zustimmung des Volks in der erweiterten Fassung seiner gewählten Nachfolger nach allen demokratischen Regeln neu in Kraft gesetzt. Am Ende reicht es bei der neuerlichen Volksabstimmung knapp für die Ablehnung dieses Gegenentwurfs – und Chile bekommt keine neue Verfassung.
Der regierende ehemalige Protagonist des Kampfs für eine fortschrittliche Verfassung entnimmt der doppelten Absage des Volkes schon wieder einen neuen, ganz methodischen, demokratischen Auftrag: Egal ob rechts oder links, das Volk hat die politischen Streitereien satt – „Chile will Lösungen“. Also sollen sich die zerstrittenen politischen Lager im Dienst an der nationalen Einheit unter seiner Führung irgendwie einigen, damit die „Demokratie [endlich] Ergebnisse liefert“. Einigkeit der für die Herrschaft Verantwortlichen, gemeinsames Abarbeiten der politischen Agenda – das ist laut Präsident am Ende also das erste Bedürfnis des Volks und damit der entscheidende Auftrag einer demokratischen Herrschaft, die das Volk verdient und die die Zustimmung des Volks verdient. Damit beendet er den Verfassungsprozess.
Das Ergebnis
Die vom Präsidenten ganz methodisch geforderte Leistung zur nationalen Einheitsstiftung bleibt der Verfassungsprozess also schuldig. Er befriedet nicht die Gegensätze der Herrschaftsanwärter, sondern mischt sie gründlich auf. Das liegt freilich nicht an den Mängeln des einen oder des anderen Verfassungsentwurfs. Umgekehrt: Der Dauerstreit um die richtige Ausgestaltung der Verfassung beruht auf den gegensätzlichen Vorstellungen über die Ausrichtung der Herrschaft und ihre Stellung zum Volk. Als Instrument, um den für richtig erachteten Weg der Nation über die eigene Legislaturperiode hinaus als bindendes Grundgesetz zu verstetigen und künftige demokratisch gewählte Regierungen darauf zu verpflichten, bilden Verfassungsreformen in Ländern wie Chile einen festen Bestandteil der politischen Kultur. Wer und was sich in diesen Streits durchsetzt, entscheidet nicht die Güte der Verfassung und ebenso wenig ein Volkswille, der mit einer Verfassung der Herrschaft den verpflichtenden Inhalt ihres Willens vorgeben würde; was an Verfassungsreformen Geltung erlangt und was Verfassungsparagraphen ‚wert‘ sind, entscheidet sich an den Machtverhältnissen. Eine Verfassung ist also kein Mittel zur Transformation politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse – sie ist umgekehrt das Instrument, um gültige Machtverhältnisse zu verstetigen. [17] Und als solches ist sie in Chile laufend in der politischen Klasse umstritten. Das beschert dem Volk immer wieder einmal, aber stets nur ausnahmsweise die Rolle, in diesen Streit per Stimmabgabe eingreifen zu dürfen. Am Ende hat es nicht zufällig mit seinen Voten den Status quo, also die Macht der herrschenden Elite bestätigt.
Die linken Aktivisten sind enttäuscht, aber in ihrem Verfassungsidealismus offensichtlich nicht belehrt; das Volk ist mit seinen unerfüllten Ansprüchen an seine Herrschaft auf seinen Protest und/oder die nächsten Wahlen zurückverwiesen; der Präsident mit seinem Programm eines nationalen demokratischen Fortschritts gescheitert, aber nicht entmutigt; die Macht der herrschenden Kreise ungebrochen – und die kapitalistische Grundlage ohnehin unberührt. So widersprüchlich, so ‚unfertig‘, aber nicht zuletzt dank der Linken, die sie unbedingt verbessern wollen, so unverwüstlich funktioniert Demokratie in Chile.
[1] Den neoliberalen Geist der Verfassung kann man dem Ton entnehmen, in dem die Verfassungsväter diese demokratische Geschäftsordnung Chiles als antilinkes Bollwerk verfasst und ihre Nachfolger institutionell auf die Rolle des Garanten der Freiheit des Eigentums verpflichtet haben. Zum Beispiel werden staatliche Eingriffe ins Eigentum unter den Generalverdacht des Raubs gestellt: „Niemand kann in irgendeinem Fall seines Eigentums und der Potenzen, die aus seinem Besitz erwachsen, beraubt werden, es sei denn aufgrund eines allgemeinen oder Sonder-Gesetzes, das die Enteignung aus Gründen des öffentlichen Nutzens oder des nationalen Interesses zulässt, das vom Gesetzgeber qualifiziert wurde.“ (§ 19)
[2] Das war die zentrale Bedingung Pinochets, seine Niederlage in den Wahlen von 1989 einzugestehen und den Platz für einen neuen Präsidenten zu räumen; unterstützt durch die Drohung, das Militär als Gewalt und damit letztgültige Entscheidungsinstanz im Staat einzusetzen: „Wenn sie auch nur einen meiner Männer anrühren, ist der Rechtsstaat beendet.“
[3] Zur Illustration dieser geeinten Mitte-Links-Initiative für eine Reform der staatlichen Geschäftsordnung, die ihrem Bedürfnis nach Freiheit ihrer Macht innerhalb der staatlichen Gewaltenteilung entspricht: Das Verfassungsgericht wird um drei Richter erweitert, die alle explizit nicht vom Militär oder Sicherheitsrat ernannt werden; die eingesetzten – nicht gewählten – Senatoren (Armeegeneräle und Ex-Präsidenten) werden abgeschafft; der Präsident erhält die autonome Befugnis (am COSENA vorbei), die Oberkommandierenden der vier Teilstreitkräfte abzusetzen; der COSENA selbst wird um zivile Mitglieder erweitert, so dass die Militärs ihre Mehrheit verlieren, und kann nur noch vom Präsidenten einberufen werden etc.
[4] Die Proteste sind so vielfältig wie die chilenischen Elendsverhältnisse: Die indigenen Mapuche im Süden des Landes zetteln regelmäßig ohnmächtige Guerilla-Aktionen gegen die Provinzregierung an, weil ihnen die mit ihren Weltmarkterfolgen wachsende Forstwirtschaft zunehmend die Überlebensbedingungen auf ihren verbliebenen Ländereien streitig macht und ihnen schlicht das Wasser abgräbt. Schüler und Studenten fordern Reformen des Bildungssystems und besetzen Schulen und Hochschulen, um dagegen zu protestieren, dass die Aufstiegschancen in der chilenischen Konkurrenzgesellschaft jenen vorbehalten sind, deren Eltern es sich finanziell leisten können, den Nachwuchs auf private Schulen zu schicken. Das staatliche Gesundheitswesen sorgt immer wieder für Proteste in der Bevölkerung, die sich eine ordentliche, d.h. private Gesundheitsversorgung nicht leisten kann, um den Zuständen in den staatlichen Krankenhäusern zu entgehen. Lokale Gewerkschaftsverbände mobilisieren gegen das staatliche Rentensystem – lange Zeit im Kapitaldeckungsverfahren privaten Rentenfonds überantwortet und in seiner Tauglichkeit als Spekulationsobjekt auf den Finanzmärkten untauglich für eine Alterssicherung der Arbeiterschaft. Umweltaktivisten protestieren gegen weitere sogenannte ‚zonas de sacrificio‘ (Opferzonen) – ganze Landstriche, die von der weitgehend auflagenfreien industriellen Weiterverarbeitung der chilenischen Rohstoff-Exportschlager derart verpestet wurden, dass nicht nur Krebsraten steigen und akute Vergiftungserscheinungen zunehmen, sondern ganze Gebiete schlicht unbewohnbar werden. In den südlichen Regionen lässt das Lachsfarming – dank des enormen Antibiotika-Einsatzes inzwischen Chiles lukratives Exportgeschäft Nr. 2 – mittlerweile reihenweise Fjorde umkippen, ruiniert den ansässigen Fischern ihre Existenzgrundlage und sorgt nebenbei mit Todesfällen und sonstigen Horrorgeschichten aus dem dortigen Arbeitsalltag selbst in Chile für Skandale etc. etc.
[5] In diesem Sinne hat die vormalige linke Präsidentin Bachelet auch jenseits aller Inhalte die Pinochet-Verfassung mit dem Hinweis auf die Weise ihrer Entstehung disqualifiziert: „Die aktuelle Verfassung hat ihren Ursprung in einer Diktatur, sie wird den Notwendigkeiten unserer Zeit nicht gerecht. Sie wurde durch einige wenige über eine Mehrheit durchgesetzt, deswegen wurde sie ohne Legitimität geboren und konnte nicht von den Bürgern als ihre eigene akzeptiert werden.“ (Zitiert nach amerika21.de, 20.10.15)Dagegen hat sie in ihrem Vorschlag gleich drei unterschiedliche Verfahrensweisen einer demokratischen Beschlussfassung vorgeschlagen, über die das Volk als erstes abstimmen sollte.
[6] Die hiesige Presse kann mehrheitlich gar nicht verstehen, wie man wegen einer Lappalie von 30 Pesos so einen Aufstand machen kann; im Alltag der Chilenen stellt sich das etwas anders dar: „Am 4. Oktober wird angekündigt, dass der Preis der Metro um 30 Pesos auf 830 Pesos (etwas weniger als ein Euro) zu Stoßzeiten und auf 750 Pesos zu weniger viel befahrenen Uhrzeiten erhöht wird. Die Preise des öffentlichen Nahverkehrs unterliegen wie eigentlich alles in Chile den ‚Regeln des freien Marktes‘, Angebot und Nachfrage. Wenn es mehr Fahrgäste gibt, ist der Preis höher. Das heißt, die Arbeiter*innen, die gezwungen sind zu den Stoßzeiten (7:00 Uhr – 8:59 Uhr und 18:00 – 19:59 Uhr) fahren zu müssen, bezahlen den höchsten Preis... An Werktagen transportiert die Metro täglich 2,6 Millionen Menschen. Zahlen der gewerkschaftsnahen Stiftung Fundación Sol zufolge verdient die Hälfte der Chilen*innen weniger als 400 000 Pesos im Monat (etwas mehr als 400 Euro), zahlt also allein für den Weg zur Arbeit und zurück nach Hause knapp ein Zehntel ihres Monatslohns.“ (Sophia Boddenberg, Revolte in Chile. Unrast Verlag, Münster 2020, S. 142 ff.)
[7] „Das Vertrauen in der chilenischen Wirtschaft ist stark beschädigt: Das Land erlebt derzeit eine massive Kapitalflucht wie sonst nur das notorische Krisenland Argentinien in der Region. 50 Milliarden Dollar sollen seit Beginn der Proteste das Land verlassen haben. Der Kapitalmarkt ist ausgetrocknet, die Nachfrage nach chilenischen Anleihen ist gleich null.“ (jammerte das Handelsblatt in seiner Rückschau auf die Ereignisse am 21.12.21)
[8] Präsidentin Bachelet hatte im Zuge ihrer „Demokratisierung“ der politischen Verhältnisse in Chile 2015 das Wahlrecht dergestalt reformiert, dass die Begünstigung der bisherigen Machtblöcke aufgebrochen wurde; via Verhältniswahl verbunden mit einer Erhöhung der Anzahl der Repräsentanten und erleichtertem Zugang für unabhängige Kandidaten und kleine Parteien sollten „eine bessere Repräsentation sowie mehr und bessere Ideen im Parlament“ herauskommen. (Bachelet, zitiert nach amerika21.de, 28.01.15) Diese Reform hat in den folgenden Parlamentswahlen 2017 einem neuen linken Bündnis (‚Frente Amplio‘) aus lauter Kleinstparteien, die aus ehemaligen Protestbewegungen hervorgegangen waren und sich alle als Verfassungsaktivisten verstehen, das Tor zur Politik geöffnet. An ihrer Spitze der spätere Präsident Boric.
[9] Deswegen lassen sie sich auch nicht durch Piñeras Ankündigung eines neuen ‚Sozialpaktes‘, damit das Land wieder „zur Normalität zurückkehren“ könne, befrieden. Mit ihrer Enttäuschung und ihrem generellen Misstrauen in die Versprechungen der Regierenden sind sie über konkrete Forderungen nach kompensatorischen Eingriffen und Hilfen des Staates, die sie in ihren jeweiligen individuellen Lebenslagen bräuchten, um in den herrschenden Verhältnissen zurechtzukommen, hinaus. Unter Anleitung linker Aktivisten setzen sie ihre Hoffnung auf das Versprechen einer generellen rechtsförmlichen Verpflichtung der Politik auf gutes Regieren durch eine neue Verfassung.
[10] Schon vor der Eröffnung des Verfassungsprozesses kommt es zu einem politischen Zerwürfnis: Das linke Parteienbündnis des Frente Amplio zerlegt sich über die Unterschrift Borics unter den parteiübergreifenden Vertrag für eine neue Verfassung, da dieser unter Ausschluss einiger kleinerer Oppositionsparteien (z.B. der Kommunisten) ausgehandelt und mit einem hohen Quorum versehen wurde. (Zwei Drittel der Wähler müssen sich für die Aufnahme des Verfahrens entscheiden, sonst bleibt die alte Verfassung in Kraft.)
[11] „Bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung am 15. und 16. Mai 2021 musste Piñeras rechtskonservative Koalition jedoch eine erneute Niederlage einstecken und erreichte nur etwa 21 % der Stimmen, wodurch sie eine Sperrminorität verpasste. Piñeras Zustimmungswert in der Bevölkerung lag 2021 nur bei etwa 10 bis 20 %.“ (Wikipedia, s.v. Präsidentschafts- und Parlamentswahl in Chile 2021) Die Linken profitieren bei dieser Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung von einer niedrigen Wahlbeteiligung (es herrscht nicht wie sonst üblich die Pflicht zur Stimmabgabe und wegen der grassierenden Corona-Pandemie trauen sich v.a. viele Ältere aus dem konservativen Lager nicht an die Wahlurnen). „Mehr als zwei Drittel der Gewählten gehörten keiner Partei an.“ (The Economist, 5.9.22) Damit ist eine vom Volk gewählte Verfassunggebende Versammlung im Amt, die keinerlei Entsprechung in Abgeordnetenhaus und Senat hat.
[12] So verliert gemäß dem Verfassungsentwurf z.B. das Staatspräsidium seine Befugnisse für exklusive Gesetzesinitiativen; der Senat wird abgeschafft und durch eine paritätisch und plurinational zusammengesetzte Kammer der Regionen ersetzt, die bei der Ausarbeitung von Gesetzen mit regionalen Beschlüssen mitwirkt; die Justiz wird ent-hierarchisiert und die Kompetenz zur Ernennung des Personals auf einen Justizrat übertragen; autonome bisher von Einzelpersonen geführte Leitungen von Institutionen, die der Exekutive unterstellt sind (wie z.B. in der Staatsanwaltschaft oder Strafverteidigung), werden durch Kollegialräte (‚consejos superiores colegiados‘) ersetzt, an deren Besetzung Kongress und Zivilgesellschaft beteiligt sind, usw.
[13] In diesem Sinne erhalten auch die in der Verfassung vorgesehenen Sonderrechte der Indigenen ihre rechte Deutung: Mit dem Zugeständnis von Autonomierechten würde man die „Mapuche-Terroristen“ nur dazu ermuntern, die Nation zu zerlegen, anstatt dass man die Einheit der Nation mit der gebotenen Gewalt durchsetzt.
[14] „In einem internen Abkommen beschlossen die Regierungsparteien fünf ergänzende Verfassungsänderungen“ in den zentralen Themen „Plurinationalität, soziale Rechte wie Erziehung, Gesundheit und Rente, Sicherheit, politische Ordnung und Justiz... So sollen die vorgesehenen weitgehenden Rechte der indigenen Gemeinschaften wieder eingeschränkt, der Privatsektor etwa im Gesundheits- und Bildungsbereich oder bei der Rente weiterhin gefördert und die Regelungen für die Verhängung des Ausnahmezustandes aus der alten Verfassung fast unverändert beibehalten werden. Damit solle ‚Sicherheit über den Fahrplan für die Umsetzung der neuen Verfassung geschaffen und eine brutale und millionenschwere Desinformationskampagne der Rechten bekämpft werden‘, sagte Senator Juan Latorre, Vorsitzender der Partei Revolución Democrática.“ (amerika21.de, 23.8.22)
[15] Das neue Verfahren: „Experten“, die von Senat und Abgeordnetenhaus gemäß dem Parteienproporz ernannt werden – übrigens bezüglich der Genderfrage ganz paritätisch besetzt, darin bleibt sich der Präsident treu –, erarbeiten einen Vorentwurf. Diesen bekommen die Mitglieder der „Constituyente“, des einzigen direkt vom Volk gewählten Verfassungsgremiums, zum Ausarbeiten. Damit beim neuen Anlauf nationaler Einheitsstiftung mittels einer neuen Verfassung keine die Staatsaufgaben störenden Ansprüche mitmischen, sind zur Wahl dieses Gremiums nur Kandidaten der Parteilisten, also keine Unabhängigen zugelassen, und zur Sicherheit gibt es noch eine Sperrklausel gegen kleine Parteien. Das ist das endgültige Aus für basisdemokratische Experimente, Parteilose haben keine Chance, die Quoren zu schaffen, und selbst gemäßigte Linke sind auf den Wahllisten so gut wie gar nicht vertreten. In einem letzten Schritt legen die Mitglieder der „Constituyente“ dann nach 5 Monaten Arbeit am Verfassungstext ihr Ergebnis einem dritten Expertengremium, einem aus 13 Anwälten bestehenden „Verfassungsrat“, zur Überprüfung der Einhaltung von 12 verbindlich vorgegebenen „Prinzipien“ vor, darunter solchen, die explizit zentrale Regelungen aus dem abgelehnten Verfassungsentwurf ausschließen, insbesondere das Konzept des plurinationalen Staates; fest vorgegeben ist ferner auch die Autonomie der Zentralbank und das Recht, Ausnahmezustände im Inneren zu verhängen.
[16] Diesmal haben wegen der Wahlpflicht 13 Millionen Chilenen gewählt (bei der Wahl zum ersten Verfassungskonvent während der Corona-Pandemie und ohne Wahlpflicht waren es nur 8 Millionen), 21 % haben dabei ihren Wahlzettel ungültig gemacht. Nach einer Studie der ‚Universidad de Chile‘ haben von diesen zusätzlichen 5 Millionen 60 % für die extrem rechte Partei „Republicanos“ des bekennenden ‚Pinochetista‘ und erklärten Gegners jeder Verfassungsreform, Kast gestimmt, 30 % für andere rechte Parteien und nur 10 % für die regierenden Linken oder für die Abgeordneten der Ex-Concertación (Mitte-Links-Bündnis).
[17] Das belegt auch das gerne zitierte Paradebeispiel des ‚transformativen Konstitutionalismus‘ in Lateinamerika: Die bolivarische Verfassung Venezuelas, die demokratisch vorbildlich in einer Verfassunggebenden Versammlung unter Einbeziehung von Vorschlägen aus Bürgerversammlungen erarbeitet wurde und per Volksentscheid Gültigkeit erlangte, diente dem Präsidenten Hugo Chávez, der die Macht erobert hatte, als Instrument einer „politischen Transformation“ im Staat zur Verstetigung seiner neuen Staatsräson und wurde in den folgenden Jahren im Zuge des „Chavismo“ untermauert. Spiegelbildlich dazu das Schicksal der „progressiven“ Verfassung Kolumbiens, die über die Jahre von der rechten Konkurrenz Stück um Stück ihrer ‚progressiven Momente‘ beraubt wurde.