Rüstungsdiplomatie unter Trump und Biden: INF, Open Skies et al. gekündigt, New START verlängert
Fortschritte in der amerikanischen Friedenspolitik gegen den Rivalen in Moskau
Beinahe wäre auch noch das letzte verbliebene Rüstungskontrollabkommen zwischen den beiden großen Atommächten USA und Russland ausgelaufen. Beinahe wären „die Atom-Arsenale der beiden einstigen Supermächte erstmals seit mehr als vier Jahrzehnten keinerlei Grenzen mehr“ unterlegen, und die Welt wäre „ohne jede Atomwaffenkontrolle“ dagestanden.
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Systematischer Katalog
Gliederung
- I. Bilanz der Trump’schen Friedenspolitik
- 1. Kündigung des INF-Abkommens – neue Freiheiten für die Weltmacht auf dem Kriegsschauplatz Europa
- 2. Kündigung des Missile Technology Control Regime (MTCR)
- 3. Absage an den Nuclear Test Ban Treaty (NTBT)
- 4. Kündigung des Open-Skies-Abkommens – der Offene Himmel verträgt sich nicht mit den Kriegsvorbereitungen der USA – Kriegsschauplatz Europa II
- II. Trumps Verhandlungen über New START – eine „neue Ära der Rüstungskontrolle“
- III. Biden rettet New START – als strategischen Baustein seiner unversöhnlichen Feindschaft gegen Putins Russland
Rüstungsdiplomatie unter Trump und Biden: INF, Open Skies et al. gekündigt, New START verlängert
Fortschritte in der amerikanischen Friedenspolitik gegen den Rivalen in Moskau
Beinahe wäre auch noch das letzte verbliebene Rüstungskontrollabkommen zwischen den beiden großen Atommächten USA und Russland ausgelaufen. Beinahe wären die Atom-Arsenale der beiden einstigen Supermächte erstmals seit mehr als vier Jahrzehnten keinerlei Grenzen mehr
unterlegen, und die Welt wäre ohne jede Atomwaffenkontrolle
dagestanden.
„Sechs wichtige bilaterale Rüstungskontrollverträge haben Moskau und Washington von 1970 bis zum Untergang der Sowjetunion 1991 ausgehandelt. Sie setzten dem wahnwitzigen Rüstungswettlauf zuerst Grenzen und schliesslich ein Ende; sie schufen eine Sicherheitsarchitektur, in der trotz ideologischer Gegnerschaft ein Mass an Berechenbarkeit entstand. Doch der letzte Pfeiler dieses Gebäudes droht bald einzubrechen.“ (NZZ, 11.6.20)
Dazu kam es bekanntlich nicht. Donald Trump, der nach einhelliger Meinung in einer Mischung aus Unfähigkeit und Egomanie die seit Ende des Kalten Krieges errichtete Globale Sicherheitsarchitektur
zerstört hat, tritt rechtzeitig ab. Politische oder überhaupt irgendwelche Gründe für den besonderen Umgang des 45. Präsidenten der USA mit Rüstung und Rüstungsdiplomatie scheint es keine gegeben zu haben; weder das eine noch das andere scheint irgendeinen zu würdigenden politischen oder militärischen Sinn gehabt zu haben. Soweit sich die Öffentlichkeit überhaupt mit der Materie befasst, was in der Regel nur kurzfristig anlässlich der Trump’schen Kündigungen stattfindet, knüpft sie an die überkommene gute Meinung über die Politik der Rüstungskontrolle an und moniert ein einziges Versäumnis der abgewählten amerikanischen Regierung, das eigentlich gebotene Gegenteil ihrer praktizierten Politik zu machen, nämlich dem Wahnwitz
ein Ende zu bereiten und die Welt mit Berechenbarkeit
und einem Ding namens Sicherheitsarchitektur
zu erfreuen, die gerne als Garant für Frieden genommen werden, auch wenn der gar nicht versprochen war. Mit der größten Selbstverständlichkeit messen erwachsene Menschen den Commander in Chief der größten Militärmacht aller Zeiten an schönen höheren Zwecken und Idealen, die sie für unhintergehbar halten, weswegen er ihnen mit seinem Gewaltapparat zu dienen hätte. Nicht einmal, dass Mr. Make America great again!
wirklich kein Hehl daraus gemacht hat, warum er seine prächtige Armee aufrüsten will wie keiner vor ihm und warum er dafür keine diplomatische Verständigung mit dem großen Rivalen brauchen kann, hat da geholfen.
Wenig verwunderlich, dass mit der interessierten Betrachtungsweise also auch alle Fragen, inwiefern die nukleare Bewaffnung zwischen verfeindeten Großmächten zum Stoff einer besonderen Diplomatie wird, vom Tisch sind, obwohl es auch da an aufklärenden Hinweisen nicht fehlt.
„Der Einfluss Russlands auf die Ziele der USA zur Verringerung des nuklearen Risikos kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Russlands Arsenal macht mehr als 45 Prozent des weltweiten Nuklearwaffenbestands aus. Diese Waffen sind mit Trägersystemen gekoppelt, die in etwa 30 Minuten amerikanischen Boden erreichen könnten, was bedeutet, dass Russland eine klare und allgegenwärtige existenzielle nukleare Bedrohung für die Vereinigten Staaten darstellt.“ (russiamatters.org, 21.1.21)
Die allgegenwärtige existenzielle nukleare Bedrohung
, das ist das Kernelement des imperialistischen Selbstbewusstseins der Führer der einzig verbliebenen Weltmacht, gehört einzig in die Hände der USA; sie beanspruchen das Monopol auf das Vernichtungsmittel als Garanten für ihre global unumschränkte politische Handlungsfreiheit, die sich mit keiner Relativierung verträgt, die aber, das ist für die USA das Dilemma, durch den russischen „Einfluss“ relativiert wird, weil Russland als nach wie vor einziges Land auf der Welt mit seiner nuklearen Bedrohung über eine Gegendrohung auf Augenhöhe der Weltmacht verfügt. [1] In der Freude darüber, dass Russland und die USA sich in letzter Minute noch darauf geeinigt haben, Obergrenzen für ihre Massenvernichtungswaffen beizubehalten, kommt dieses Dilemma gar nicht vor. Angesichts dessen, dass beide Seiten ihre Atomwaffen bis zu dieser Obergrenze alles andere als wegzuschmeißen gedenken, vielmehr in Stellung halten und weiterhin mit Milliardenaufwand bzw. einem in den USA seit Trump überhaupt nach oben offenen Militärhaushalt pflegen und weiterentwickeln, kann die Beendigung ihrer Rüstungsanstrengungen schlechterdings nicht der Zweck dieser merkwürdigen Verständigung sein. So viel allerdings ist dran am Ende des wahnwitzigen Rüstungswettlaufs
:
Wegen der atomaren Potenzen des Gegners besteht die Notwendigkeit, ihn als Macht anzuerkennen und mit ihm in diese ganz spezielle Sorte von Abmachungen über die letzten Mittel der Souveränität zu treten. Der Zweck dieser Abmachungen zweier potenter atomarer Massenmörder besteht, auf höchster Ebene, in der gegenseitigen Anerkennung der Tatsache, sich mit den jeweils aufgestellten Atomwaffenarsenalen wechselseitig locker auslöschen zu können, weswegen deren Anwendung sinnlos erscheint: Das eigene Vernichtungspotenzial wird dafür in Anschlag gebracht, dem Gegner die Untubarkeit eines atomaren Schlagabtausches vor Augen zu führen und von ihm die Konzession einzuholen, dass der das auch so sieht.
Gerade weil die einzig verbliebene Supermacht alles daran setzt, Eskalationsdominanz, also kriegsentscheidende Überlegenheit, gegen ihren mächtigsten Feind auch auf dem Feld der Atomwaffen zu gewinnen, ist ihr sehr daran gelegen, sich bei dem, solange dieses Ziel nicht erreicht ist, rückzuversichern, dass er ihre atomare Kriegsdrohung „richtig“ versteht, nämlich nicht als Vorbereitung eines unmittelbaren Angriffs, aber schon als so ernst zu nehmende Vernichtungsankündigung, dass er einen atomaren Schlagabtausch keinesfalls in Erwägung zieht, weil der nur mit ungleich höherem Schaden für Russland allenfalls überhaupt zu überstehen wäre. Die eigentümliche Diplomatie, die so zwischen den beiden sich – bis auf Weiteres – neutralisierenden Atommächten in Gang kommt, betreibt die Russische Föderation mit der Berechnung, durch demonstrative Verhandlungsbereitschaft über ihr Waffenarsenal und entsprechende Vorleistungen sich die Anerkennung ihres Großmachtstatus durch die Weltmacht zu verschaffen und von den gewaltigen Aufwendungen für ihre Selbstbehauptung irgendwie herunterzukommen; und Amerika mit der dazu komplementären Berechnung, den Russen ein paar nützliche Kompromisse abzuringen.
*
Das hat Trump anders gesehen.
I. Bilanz der Trump’schen Friedenspolitik
Trump hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass er Rüstungskontrollverträge nicht bloß für überflüssig, sondern für äußerst schädlich hält. Für das großartigste Land der Welt verbietet sich schlicht die Selbstverpflichtung auf vertragliche Vereinbarungen, die seine Freiheit beschränken, also die Nation schwächen. Warum sollte die Weltmacht sich selbst fesseln? Trump geht mit der größten Selbstverständlichkeit davon aus, dass kein Land der Welt, Russland eingeschlossen, für die USA einen ernsthaften Gegner darstellt, dass auch die enormen militärischen Fähigkeiten dieses Rivalen in jedem erdenklichen Konfliktfall beherrschbar sind. Obamas Standpunkt, Russland zur Regionalmacht
zu erklären, die für die USA keine Bedrohung
mehr darstellt, setzt Trump dahingehend fort, den alten Systemgegner einseitig aus seiner Rolle als – wenn schon nicht mehr auf Augenhöhe, dann doch überhaupt – einer militärisch zu respektierenden Macht zu entlassen.
Die Notwendigkeit einer Rüstungsdiplomatie mit dem Kreml, die seine Vorgänger noch gesehen hatten, entfällt damit. Die Rüstungskontrollverträge kündigt er als nicht hinzunehmende Selbstfesselung, einen nach dem anderen. Er hat angekündigt und wahr gemacht, alles zu missachten, was der Herstellung von uncontested superiority der USA durch atomare Runderneuerung und noch einiges mehr im Weg steht, und dafür auch noch die letzten bad deals über Rüstungskontrolle abzuschaffen, die seine Vorgänger sich von den Russen haben andrehen lassen.
1. Kündigung des INF-Abkommens – neue Freiheiten für die Weltmacht auf dem Kriegsschauplatz Europa
Als ersten Rüstungskontrollvertrag kündigt Trump den INF, weil der die Entwicklung und Aufstellung von nuklear bewaffneten landgestützten Kurz- und Mittelstreckenraketen verbietet. Diese Waffenkategorie fehlt Amerika jetzt in seinem Kontinuum der Machtentfaltung gegen Russland auf dem Kriegsschauplatz Europa, und das ist aus zwei Gründen unbedingt korrekturbedürftig. Erstens verfügt das unter Putin reanimierte Russland inzwischen über taktische Atomwaffen mit geringerer Sprengkraft und kürzerer Reichweite für den Einsatz auf dem Gefechtsfeld, die es sich unter laufendem INF-Vertrag als Mittel gegen die haushohe konventionelle Übermacht der NATO beschafft hat. Diesen Raketen hat die Weltmacht mit ihrem Bündnis bislang nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen, was sie im Konfliktfall zu der Abwägung zwingen könnte, sich mit dem Gegner über eine Beendigung der Auseinandersetzung auf dem erreichten Niveau der Eskalation zu verständigen – oder wuchtigere Kriegsmittel einzusetzen und den all-out war zu riskieren. Mit neuen Kurz- und Mittelstreckenraketen beheben die USA dieses für eine Weltmacht untragbare Dilemma. Sie sichern ihre Übermacht gegen den Feind auch in dieser Waffenkategorie und erlegen ihm die unschöne Entscheidung auf, eine erlittene Niederlage anzuerkennen oder sehenden Auges in eine immer größere auf den nächsten Eskalationsstufen hineinzulaufen. Die (Wieder-)Herstellung amerikanischer Eskalationsdominanz im Krieg gegen Russland ist der eine Grund, warum der INF-Vertrag ausgedient hat und neue Raketen hermüssen. Der andere ist der, dass mit diesen Waffen zugleich eine nukleare Vernichtungsdrohung gegen den europäischen Teil der Russischen Föderation entsteht, die, im Verein mit den bereits von den USA und ihren NATO-Partnern dislozierten see- und luftgestützten Atomwaffen, der Vernichtungsdrohung durch die amerikanischen Interkontinentalraketen gleichkommt und der politischen Führung in Washington die Option eines großen Kriegs gegen den Kreml eröffnet, der das eigene Homeland im Idealfall weitgehend unversehrt lässt. [2]) [3]
2. Kündigung des Missile Technology Control Regime (MTCR)
Als nächstes gekündigt hat Trump das allgemein weniger bekannte Missile Technology Control Regime (MTCR), eine informelle politische Übereinkunft zwischen Staaten, denen es darum geht, die Verbreitung von Trägersystemen und Trägertechnologie zu begrenzen
(mtcr.info). Dieses von den USA und ihren wichtigsten NATO-Partnern noch zu Lebzeiten der Sowjetunion erfundene und jahrzehntelang gepflegte Kontrollregime zielte seinerzeit darauf, analog zum Auftrag der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEA), die militärische Nutzung der Kernenergie durch Unbefugte zu verhindern, den Export von Trägerwaffen, insbesondere von Langstreckenraketen, unter die Aufsicht der Guten zu stellen, auf dass die Verfügung über das mächtigste aller Kriegsmittel das Privileg der paar handgezählten Atommächte bleibe. [4] Und dies nicht ohne Erfolg, wie die bis heute sehr kurze Liste der Newcomer auf diesem Feld belegt. [5] Dass die amerikanische Führung ihre Selbstverpflichtung in Sachen MTCR jetzt beendet, hat, wie man hört, seine Gründe in militärtechnologischen Fortschritten auf diesem Gebiet im Allgemeinen und deren unverschämter Ausnutzung durch den Rivalen China im Besonderen:
„Angesichts der zunehmenden Verbreitung der UAS-Technologie [Unmanned Aircraft System] insbesondere durch China und der wachsenden Nachfrage nach UAS für die militärische und kommerzielle Anwendung müssen wir die US-Politik darauf ausrichten, den nationalen Sicherheitsanliegen der USA Rechnung zu tragen.“ (R. Clarke Cooper, Assistant Secretary of State for Political-Military Affairs. defenseone, 24.7.20)
Für die Verhinderung der Proliferation neuer Trägerwaffen wie Drohnen, die als Mittel der autonomen Kriegführung eine Schlüsselrolle in den Kriegsszenarien des 21. Jahrhunderts spielen und auch Staaten der unteren Güteklasse eine ganz neue Schlagkraft verleihen, hat sich das MTCR für die Weltmacht als nutzlos erwiesen. Genauer, um die Proliferation durch den Rivalen China zu verhindern, der sich eine Spitzenposition bei der Entwicklung dieser Waffenkategorie erobert hat – und eine beherrschende Stellung beim Export dieser begehrten Ware dazu:
„China verfüge bereits über ein umfangreiches Portfolio bewaffneter Drohnen und sei weltweit der größte Exporteur von bewaffnungsfähigen Drohnen.“ (ÖMZ 3/2021, S. 368)
Die Sache ist also ganz klar: Amerika kann sich nicht länger an eine überholte
Vereinbarung halten, die China und anderen Ländern geholfen hat, sich hineinzudrängen und Marktanteile zu stehlen
(Christopher Ford, Assistant Secretary of State for International Security and Nonproliferation. defenseone, 24.7.20), Marktanteile, die zweifelsfrei Amerika zustehen. Es gilt, den militärischen und politischen Einfluss, den China durch den Export dieses Kriegsmittels gewinnt, zu bekämpfen, seine einschlägige Industrie zu schädigen und sicherzustellen, dass die Kundschaft dem richtigen Einfluss unterliegt und mit der richtigen Kriegstechnologie versorgt wird. Daran hängt schließlich, wie weit das US-Militär andere nationale Streitkräfte auch auf diesem Gebiet als interoperable Bestandteile seiner globalen Abschreckungsmacht behandeln kann.
3. Absage an den Nuclear Test Ban Treaty (NTBT)
Drittens fassen die USA seit Trump wieder echte Atomtests ins Auge – Nuclear Test Ban Treaty hin oder her. Die freihändig erwogene Beendigung eines seit einem Vierteljahrhundert eingehaltenen rüstungsdiplomatischen Agreements hat ihre guten Gründe in der Kalkulation mit dem Atomkrieg gegen Russland. Trumps Fachleute klären auf:
„,Das Verteidigungsministerium ... hatte nur ein einziges Atomwaffenlabor, die Defense Nuclear Agency, die 1997 geschlossen wurde. Die DNA hatte dem Verteidigungsministerium ein tiefes Verständnis von der Militärwissenschaft über die Auswirkungen von Kernwaffen vermittelt. Die DNA muss wieder aufgebaut werden. Sie muss die unterirdischen Kernwaffentests zur Erforschung der Auswirkungen von Kernwaffen wieder aufnehmen und ein Team von Tausenden von Kernwaffenspezialisten aufbauen, die in Nukleareinheiten auf der ganzen Welt eingesetzt werden, um unser Militär darin zu schulen, wie man auf einem nuklearen Schlachtfeld kämpft und gewinnt. Glücklicherweise ist soeben wichtige Hilfe eingetroffen. Zwei hochrangige Nuklearwaffenwissenschaftler des Los Alamos National Laboratory haben soeben die erste wissenschaftliche Abhandlung verfasst, in der sie genau darlegen, warum wir nicht darauf vertrauen können, dass die Atomwaffen in Amerikas Beständen detonieren werden, wenn sie gebraucht werden... Warum also sind unterirdische Atomtests notwendig? Am dringendsten, um sicherzustellen, dass die wichtigsten Sprengkopftypen in unserem Bestand zuverlässig und effektiv sind. Auch um fortgeschrittene Technologien zu erforschen, um Überraschungen durch Gegner zu vermeiden; um Waffen mit sehr geringer Sprengkraft zu entwickeln, um Russland abzuschrecken; um angesichts der Hyperschalltechnik nukleare Optionen für die Raketenabwehr zu evaluieren; um unsere Verteidigung gegen elektromagnetische Impulse (EMP) zu beschleunigen; um jeden Sprengkopftyp zu testen, der einem tiefgreifenden Lebensverlängerungsprogramm unterzogen wurde; um unsere Nuklearwissenschaftler auszubilden (die derzeit recht unerfahren sind); vor allem, um unsere Fähigkeit zur Nichtverbreitung zu stärken; und aus vielen anderen Gründen. Kurz gesagt, um Amerika zu retten.‘ (Robert R. Monroe, Vizeadmiral der US-Marine im Ruhestand, ist der ehemalige Direktor der Defense Nuclear Agency.)“ (Washington Times, 27.2.19)
Zum einen verlangt die gerade laufende Modernisierung der nuklearen Triade mit neuen Sprengköpfen Daten zur Verbesserung von Atomwaffendesigns
, die Computer-Simulationen nicht hergeben. Zum anderen braucht Amerika Praxistests, weil nur so die Effektivität
seines nuklearen Arsenals im Ernstfall sicherzustellen ist. Die vorhandenen nukes sollen schließlich nicht versagen, sondern ihrer militärischen Bestimmung im Krieg gegen die großen Rivalen gemäß am richtigen Ort, zum exakt richtigen Zeitpunkt und exakt mit der notwendigen Sprengkraft detonieren. [6]
4. Kündigung des Open-Skies-Abkommens – der Offene Himmel verträgt sich nicht mit den Kriegsvorbereitungen der USA – Kriegsschauplatz Europa II
Auch Trumps Austritt aus dem Open-Skies-Vertrag, einer wichtigen vertrauensbildenden Maßnahme im OSZE-Raum
, hat in der weltöffentlichen Wahrnehmung kein nennenswertes Echo gefunden, sieht man von der eher diffusen Sorge über eine bedauerliche Verschlechterung der Verhältnisse zwischen den Großmächten einmal ab, die gut ohne eine Befassung mit der Frage auskommt, was der ‚Offene Himmel‘ war, warum er nach dem Kalten Krieg eröffnet wurde, und mit welchen Kalkulationen Trump ihn dichtgemacht hat. Der Austritt erfolgt nach dem schon bekannten Muster:
„Moskau scheint [!] Open-Skies-Bilder zu nutzen, um eine aggressive neue russische Doktrin zu unterstützen, die darauf abzielt, die lebenswichtige Infrastruktur in den Vereinigten Staaten und Europa mit präzisionsgelenkter konventioneller Munition ins Visier zu nehmen.“ (Mike Pompeo, On the Treaty on Open Skies, state.gov, 21.5.20)
Dass Russland die im Open-Skies-Abkommen zwischen den Vertragsstaaten vereinbarten Beobachtungsflüge über ihren Ländern wie alle anderen auch dazu nutzt, sich die kritische Infrastruktur
bei seinen Gegnern genauer anzuschauen, um im Fall des Falles mit seiner präzisionsgelenkten konventionellen Munition
nicht daneben zu schießen, wollen die USA nicht länger dulden, prangern also den Missbrauch des Vertrags durch Russland an: Russland hat schamlos und beständig gegen den Vertrag verstoßen.
(Pompeo, ebd.)
Was in den 90er Jahren als vertrauensbildende Maßnahme
zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt vertraglich festgelegt wurde – Der OH-Vertrag erlaubt kooperative Beobachtungsflüge über den Territorien der Vertragsstaaten... Er dient der Transparenz militärischer Aktivitäten auch in Krisenzeiten und der zusätzlichen Verifikation von Rüstungskontrollvereinbarungen.
(Wolfgang Richter, Angriff auf den Open-Skies-Vertrag. SWP-Aktuell, Nr. 38, S. 2 f, Mai 2020); was damals als Instrument der wechselseitigen Versicherung, sich nicht mit Krieg zu überziehen, implementiert wurde – das ist mit Transparenz militärischer Aktivitäten auch in Krisenzeiten
gemeint –, wertet die Weltmacht unter Trump als gefährliche Konzession an den aggressiven Kreml. Der besondere militärische Wert der in Open Skies festgelegten Rechte, die Russland verlieren soll, liegt in Folgendem:
„OH-Beobachtungsflüge werden nach kurzer Ankündigung gestartet. Die Absicht dazu muss der beobachtende dem beobachteten Staat mindestens 72 Stunden im Vor- aus mitteilen. Allerdings wird ihm die Auswahl der Flugstrecke erst zur Kenntnis gegeben, nachdem die Beobachter am vertraglich festgelegten Ankunftsort im beobachteten Staat eingetroffen sind. Nach Bekanntgabe der Flugstrecke erfolgt ein Abstimmungsprozess, der nicht länger als acht Stunden dauern darf... Dies beschränkt die Möglichkeiten des beobachteten Staates, wesentliche Veränderungen am Boden vorzunehmen, etwa größere Truppenverlegungen. OH-Beobachtungsflüge sind daher auch flexibler als Satelliten, denn deren Energiereserven sind begrenzt und erlauben nur wenige Veränderungen der festgelegten Umlaufbahnen. Dagegen können OH-Flüge kurzfristig und lageangemessen über einem Gebiet nach Wahl des beobachtenden Staates erfolgen. Die Beobachtung im vereinbarten Höhenspektrum ist auch unterhalb einer Wolkendecke möglich, welche die optische Satellitenbeobachtung behindert.“ (Ebd.)
Was sich die 34 Vertragsstaaten [7] mit dem ‚Offenen Himmel‘ von Vancouver bis Wladiwostok
1992 zugesichert hatten, war die gegenseitige mehr oder weniger unangekündigte Flugüberwachung ihrer Territorien über Stunden hinweg – was, bei Lichte betrachtet, mit „Vertrauen“ im landläufigen Sinn herzlich wenig zu tun hat, sehr viel aber mit dem Bedürfnis von Militärs, möglichst alles über den Gegner zu wissen, um auf jeden Fall vor Überraschungsangriffen gefeit zu sein, idealiter alle denkbaren Konfliktverläufe antizipieren und beherrschen zu können, usw. usf.
Mit Open Skies runden die vertragschließenden Parteien das Bild, das ihnen die Satellitenbeobachtung über den Stand der Waffenkonkurrenz vermittelt, ab durch Informationen, die sich aus dem Orbit nicht gewinnen lassen, wie der SWP-Experte erläutert: Fluginspektionen sind flexibler
und erlauben eine langfristige Beobachtung interessanter Objekte, unbehindert durch Wolkenbildung; sie erfolgen nach kurzer Ankündigung
, sodass der beobachtete Staat wenig Gelegenheit hat, die von den Beobachtern ausgewählten Militäreinheiten sowie deren Bewaffnung einer minutiösen Erfassung zu entziehen. [8]
Kein Wunder, dass dieses Instrument der legitimen Spionage weidlich genutzt wurde, auch als zusätzliche Verifikation von Rüstungskontrollvereinbarungen zwischen den beteiligten Staaten. [9]
Nun ist es nicht so, dass der Vertrag seine militärstrategische Bedeutung für die USA verloren hätte; die Administration Trump hat sich vielmehr dazu entschieden, den Verlust der eigenen Informationsgewinnung in Kauf zu nehmen, weil sie Russland umgekehrt dieses wichtige Instrument des Einblicks in ihre Militärstrategie in Europa entziehen will. Ihre Kriegsvorbereitungen auf dem europäischen Schauplatz gebieten, dieses schöne Mittel der vertraglich zugesicherten, konzertierten Militärspionage wegzuschmeißen.
Mit ihrer Herrichtung Osteuropas, des Baltikums, der Ostsee, Polens, der Ukraine ... als Aufmarschraum für ihre NATO-Streitkräfte [10] und des mitteleuropäischen Hinterlands als logistische Drehscheibe für den Nachschub an Truppen und Kriegsmaterial sind die USA nicht länger bereit, dem russischen Gegner Informationen über Strategie & Taktik der NATO – und gar nicht bloß nebenbei auch den Einblick in den Stand der Erneuerung der Raketenstreitmacht auf amerikanischem Boden –, bis hin zu einem möglichen Einmarsch über unterschiedliche „Szenarien“ – über Estland, den Suwalki-Korridor, den Westbalkan, das Mittelmeer ... – in die Hände zu spielen. Den Trumpf, mit für den Kreml schwer bis unberechenbaren Kräften an seinen Grenzen zu stehen, wollen sich die USA nicht nehmen lassen.
Europa, der andere Nutznießer des ‚Offenen Himmels‘, wird nicht gefragt.
II. Trumps Verhandlungen über New START [11] – eine „neue Ära der Rüstungskontrolle“
Am Ende seiner Ära hinterlässt Trump der Welt einen großen diplomatischen Scherbenhaufen
– und mit New START den letzten Pfeiler
der Sicherheitsarchitektur, ein großes Rüstungskontrollabkommen, das er nicht einfach gekündigt hat. Warum eigentlich?
Jedenfalls nicht deswegen, weil Trump ausgerechnet für diesen schwachen Vertrag aus Obamas Zeiten [12] über das Rückgrat der amerikanischen Macht, die strategische Raketenwaffe, viel übrig gehabt hätte. Sondern deswegen, weil der große Dealmaker und sein Adlatus die große Chance gesehen haben, ihren Kontrahenten im Schacher über diese Materie in einzigartiger Weise über den Tisch zu ziehen: Von der Position aus, dass es mit dem Gegner eigentlich nichts zu verhandeln gibt, der aber allen Grund hat – und dies auch zu erkennen gibt –, die Weltmacht Amerika zu fürchten, kann man ja mit gesundem Selbstbewusstsein in Verhandlungen treten. Entsprechend sehen sie dann aus. [13]
„Billingslea sagte, die Vereinigten Staaten seien nicht an ,Rüstungskontrolle um der Rüstungskontrolle willen interessiert... New START enthält viele eklatante Mängel, und Präsident Trump hat kein Interesse, einen von seinem Vorgänger gebilligten mangelhaften Vertrag aufrechtzuerhalten.‘“ (Washington Times, 7.5.20)
Der Trump-Diplomat lässt zum Auftakt der Verhandlungen zur Verlängerung von New START auftragsgemäß keinen Zweifel daran, dass die USA eigentlich null Interesse an Rüstungskontrolle im Allgemeinen und Verhandlungen über New START im Besonderen haben. Wenn Russland, unter dem Eindruck des gewaltigsten Auf- bzw. Totrüstungsprogramms, das die USA seit den Star-Wars-Zeiten Ronald Reagans aufgelegt haben, auf die Beibehaltung von Obergrenzen bei den Interkontinentalraketen erpicht ist, also die Zurückhaltung der USA auf diesem Feld haben will, dann muss es etwas liefern. Es muss sich überhaupt erst die Verhandlungsbereitschaft der USA erkaufen, die penetrant darauf herumreiten, einen Deal nicht nötig zu haben:
„‚Wir wollen wissen, warum die Russen so krampfhaft auf eine Verlängerung drängen, und wir wollen, dass die Russen uns erklären, warum es in unserem Interesse ist, dies zu tun.‘“ (Ebd.)
Wenn die Russen sich schon unbedingt zu Abrüstungsverhandlungen treffen wollen und so krampfhaft
versuchen, den Vertrag ohne jede Vorbedingung
(Putin) zu verlängern, bestätigt das die amerikanische Prätention: Der Gegner ist offensichtlich verzweifelt genug, verhandeln zu müssen, ist also bereits in jeder Hinsicht so unterlegen, wie man ihn sich wünscht.
„‚Das ist Geld, das sie offen gesagt nicht haben‘, fügte er [Billingslea] hinzu, ,da ihre Wirtschaft wegen des Virusausbruchs am Boden liegt, aber auch angesichts der Tatsache, dass ihr gesamter Haushaltsprozess von einem hohen Ölpreis abhängt, den sie nicht haben und den sie in absehbarer Zukunft nicht haben werden‘. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Russlands versetzten die Vereinigten Staaten in eine starke Verhandlungsposition, sagte er. ,Wir werden einfach keine Zugeständnisse machen.‘“ (Ebd.)
Der sicheren Niederlage unter dem Bedrohungsszenario der USA kann Russland entgehen, sollte es einwilligen, dass die Verhandlungsmasse des Vertrages unter Behebung seiner vielen eklatanten Mängel
dahingehend geändert wird, dass es sich zu einseitigen Konzessionen bereitfindet – dann wären die Bedingungen für einen good deal nach Trumps Geschmack gegeben. Die neue Ära der Rüstungskontrolle
, die Billingslea einläutet, stellt Russland vor die Alternative Unterordnung unter die USA oder Totrüstung. Die droht dem Kreml zwar auch, wenn er einlenkt; aber das wäre dann immerhin für beide Seiten billiger zu haben:
„‚We know how to win these races, and we know how to spend the adversary into oblivion,‘ he said. ‚If we have to, we will, but we sure would like to avoid it.‘“ (armscontrol.org, Juni 2020) [14]
Unter den vielen Dingen, die Russland tun kann, um beiden Seiten unnötige Kosten und den Amerikanern viel Ärger mit dem russischen Militär zu ersparen, wäre als Erstes einmal, einseitig abzurüsten, und zwar in allen Waffengattungen und Bestandteilen des russischen Militärrepertoires, die die USA stören.
So besteht z.B. eine der eklatanten Schwächen
des New-START-Vertrags für die USA darin, dass er lediglich den einsatzbereiten russischen Gefechtsköpfen Obergrenzen setzt. Was beide Seiten daneben – als Reserve zum Nachladen, für Tests – an nicht unmittelbar einsatzbereiten Sprengköpfen halten, ist für den militärischen Einsatz nicht minder existenziell und übersteigt die Zahl der einsatzfähigen um ein Vielfaches. Für den amerikanischen Verhandlungsführer ein guter Grund, von Russland die Verschrottung des Zeugs zu fordern. Was, nach Lage der militärischen Dinge, die Durchschlagskraft der konventionellen US-Waffen in Sachen Prompt Global Strike [15] und ihres Raketenabwehrschirms erheblich erhöhen, also die relative militärische Überlegenheit der USA untermauern würde.
Die taktischen Waffen (Atomwaffen mit kürzerer Reichweite und geringerer Explosivkraft für die Verwendung auf dem Gefechtsfeld), die die Russische Föderation sich für die Behauptung auf dem Kriegsschauplatz Europa an ihrer Westgrenze zugelegt hat, dienen eindeutig dem Zweck, die NATO zu bedrohen
, und müssen schon deswegen verboten werden. [16]
Ebenso Russlands neue Hyperschall-Waffen (Stratosphären-Gleitflugkörper mit mehr als fünffacher Schallgeschwindigkeit, die keine ballistischen Flugbahnen beschreiben und daher schwer abgefangen werden können), mit denen es sich gegen die Entwertung seines überkommenen Arsenals durch den US-Abwehrschirm zur Wehr setzt.
Vorsichtshalber benennt man einfach alle störenden Waffensysteme, die kürzlich von Mr. Putin
mit großem russischen Stolz vorgestellt wurden, als Hauptproblem
, das als Vorbedingung für die Verhandlungen über New START beseitigt gehört: [17]
„‚Sie sollen diese Programme einfach einpacken und wegwerfen.‘“ (Washington Times, 7.5.20) [18]
Nach dem alten Sowjet-Motto trust, but verify bestehen die USA auf einer Verschärfung des Verifikationsregimes, weil ihnen die Kontrollen, die im Vertrag bisher festgelegt sind, nicht weit genug gehen. [19] Sie fordern die vollständige Aufsicht über die russischen Raketensilos, die Zustimmung des Rivalen zu ihrer Übergriffigkeit auf russische Waffenbestände, Lagerung, Produktion, Entwicklungen und Planungen; gefordert wird, dass der Gegner freiwillig und vertraglich gesichert das herausrückt, was man ansonsten umständlich über Militärspionage in Erfahrung bringen müsste. [20]
Last but not least:
„Marshall Billingslea ... sagte in einem Exklusivinterview, dass Russland, bevor es über eine Verlängerung des zehn Jahre alten Atomwaffenbegrenzungsvertrags nachdenken kann, ‚erstmal die Chinesen an den Verhandlungstisch bringen muss‘.“ (Washington Times, 7.5.20)
Der Kreml soll also nicht nur akzeptieren, dass die USA den Verhandlungsgegenstand nach ihrem Belieben definieren und Konzilianz die für ihn einzig mögliche und richtige Verhandlungsstrategie ist, sondern auch noch dafür sorgen, dass die USA ihr Raketen-Problem mit dem anderen großen Rivalen loswerden. Ein richtig guter und für die Weltmacht nützlicher Abrüstungsvertrag wäre nämlich einer, der nicht nur das Raketenproblem mit Russland lösen, sondern auch gleich China mit seinen derzeit etwa 300 Atomsprengköpfen und den dazugehörigen Trägerwaffen auf ein für den amerikanischen Abwehrschirm handhabbares Niveau herunterhandeln und es so seiner Zweitschlagsfähigkeit, dem militärischen Kernstück seiner Souveränität, berauben würde.
Für den Fall, dass es zu so schönen Verhandlungen kommen sollte, lässt man den werten Rivalen in Peking schon einmal wissen, dass die USA – analog zum Umgang mit Russland – unterhalb seiner Entmachtung und deren Überwachung mit eingehenden, kurzfristigen
Inspektionen vor Ort gar nichts an Agreements in Erwägung ziehen:
„,Dies ist von entscheidender Bedeutung, weil wir über zwei Länder mit einer unterirdischen Erfolgsbilanz in Bezug auf die Einhaltung von Verträgen sprechen‘, sagte er. Russland hat fast jedes einzelne Abkommen verletzt, das wir jemals mit ihm geschlossen haben – und die Chinesen verletzen eine Reihe von Abkommen, die sie ebenfalls unterzeichnet haben. Auf die Frage nach Vertrauensbildung in die Rüstungskontrolle sagte Billingslea: ,Ich glaube nicht, dass wir den Chinesen zum jetzigen Zeitpunkt wirklich vertrauen können, insbesondere wenn man bedenkt, wie sie sich im Zusammenhang mit dem Ausbruch [des COVID-19-Coronavirus] verhalten haben. Das gibt uns wenig Grund, darauf zu vertrauen, was sie uns erzählen‘, sagte er... ‚Jede Vereinbarung mit den Chinesen würde eine Reihe von Überprüfungsmaßnahmen erfordern, wie Inspektionen vor Ort, kurzfristige Inspektionen und andere Verfahren.‘“ (Washington Times, 7.5.20)
Und wo man schon dabei ist, sich die verwirklichten Ansprüche an die Verhandlungen und Drohungen an die beiden Rivalen in bunten Farben auszumalen, erlaubt man sich in Washington noch den Scherz, den Partner weltöffentlich ein wenig unter Druck zu setzen und diese Ergebnisse als einvernehmlich erzielt zu verkünden –
„Trumps Chefunterhändler für Rüstungskontrolle, Marshall Billingslea, warf den Russen vor, eine historische Chance verpasst zu haben. ‚Die Vereinigten Staaten haben sich nach Kräften bemüht‘, schrieb er am Freitag auf Twitter, aber die Russen hätten ,einen Rückzieher bei der Vereinbarung‘ gemacht, die Zahl der nuklearen Sprengköpfe aller Art zu begrenzen.“ (apnews.com, 16.10.20) –
sodass dem Kreml nichts anderes übrig bleibt, als dies zu dementieren, was man ihm wiederum als „Verpassen einer historischen Chance“ um die Ohren hauen kann.
„Vor kurzem erklärte ein US-Vertreter, dass Russland sie unterstützt hätte, und wir ,würden noch vor der US-Präsidentschaftswahl die Vereinbarung treffen, dass wir alle Atomsprengköpfe auf Eis legen‘; [21] dass Russland ,sehr gerne hätte, dass China sich daran beteiligt‘. Hören Sie, das ist ja wirklich schmutzig!“ (Interview mit Lawrow, 14.10.20)
*
Als der politische Amokläufer Trump aus dem Amt und durch einen Mann ersetzt ist, der den respektvollen Umgang mit seinen Partnern und Alliierten wiederherzustellen verspricht und die Rückkehr Amerikas auf die diplomatische Weltbühne verkündet, atmet die Welt auf. Die Erleichterung nimmt jedenfalls keinen größeren Schaden, wenn Biden gleich in seiner ersten großen Rede den Kuschelkurs
, den sein Vorgänger (Putin’s puppy
) mit dem Killer
in Moskau gefahren haben soll, für beendet erklärt, den Russen unter seiner Präsidentschaft eine beinharte Konfrontationspolitik ankündigt und auch damit rechnet, im Fall des Falles, z.B. bei weiteren Cyber-Attacken, einen echten Krieg
gegen Großmächte wie China und/oder Russland führen zu müssen.
„,Wenn wir in einem Krieg, einem echten Krieg mit einer Großmacht enden, dann als Folge eines Cyberangriffs von großer Tragweite‘, warnte er beim ersten Besuch im Büro der Geheimdienstkoordination (ODNI) seit seinem Amtsantritt. ‚Und die Fähigkeiten (für einen solchen Cyberangriff) nehmen exponentiell zu.‘“ (tagesschau.de, 28.7.21)
Kaum im Amt, stellt Biden klar, dass er die Kontinuität der US-Militärpolitik, die jenseits von Parteizugehörigkeit und Umgangsformen ungerührt seit Jahrzehnten ihren Gang geht, nicht nur fortzuführen gedenkt, sondern die Feindschaft gegen den großen Rivalen weiter eskaliert; sodass diesbezüglich weder daheim noch im Kreml Missverständnisse aufkommen können.
Unter dem neuen Präsidenten verstärkt die US-Marine ihre Aktivitäten im zum strategischen Hotspot erklärten Schwarzmeergebiet; sie lässt regelmäßig ihre nuklear bewaffneten Raketenkreuzer dort herumfahren, baut ihren neuen Stützpunkt an der ukrainischen Schwarzmeerküste aus, sorgt dafür, dass ihr neuer Freund in Kiew so langsam zu einer Kriegsmarine kommt, der sich strategische Teilaufgaben gegen Russland zuweisen lassen, veranstaltet Großmanöver mit ihren NATO-Partnern, in denen unter anderem verstärkt nächtliche Landungsaktionen geübt werden; testet ihre neue, in Rekordzeit einsatzfähige Raketen-Artillerie [22] und lässt den Kreml wissen, dass er mit diesem long-range strategic fire künftig almost anywhere
an seinen langen Grenzen zu rechnen hat. [23]
Bidens Airforce bügelt Versäumnisse der Trump-Ära im hohen Norden aus und stationiert ihre nuklearwaffenfähigen Langstrecken-Bomber neuerdings auch in Norwegen, um der russischen Aggression auch auf dem potentiellen Kampfplatz „Arktis“ gut gerüstet entgegentreten zu können.
Daneben treibt der Neue Trumps Milliarden-Programm zur Entwicklung von 12 neuen Atom-U-Booten, zur Erneuerung der Flugzeugträger-Flotte, zur Ausstattung der Luftwaffe mit 100 neuen Stealth-Bombern voran, legt ein 1 Trillion Dollar Program
zur Entwicklung einer neuen Generation landgestützter Interkontinentalraketen auf, die bis 2029 die alten Minuteman III ersetzen soll, usw. usf.
Und auch was die Rüstungsdiplomatie mit Russland angeht, herrscht Kontinuität zwischen Präsident Nr. 45 und 46: Bei keinem der von Trump gekündigten Rüstungskontrollabkommen hat sich sein Nachfolger bislang dazu aufgerufen gesehen, die globale Sicherheitsarchitektur wieder in Ordnung zu bringen. Bis auf New START.
III. Biden rettet New START – als strategischen Baustein seiner unversöhnlichen Feindschaft gegen Putins Russland
Dass die neue Administration ein großes Theater um die von ihr in letzter Minute vollbrachte Rettung des letzten großen Rüstungskontrollabkommens aufführt – Hauptdarsteller: Menschheit, Rüstungsspirale, der nukleare Abgrund sowie ein weiser Weltenlenker – darf man ihr nicht verdenken. Ein bisschen Irreführung der Leute über den edlen Dienst am Weltfrieden, dem die Weltmacht sich verschreibt, wenn sie mit ihrem Gegenspieler um die militärische Durchschlagskraft ihres potentesten Massenvernichtungsmittels ringt, kann bei der Materie ganz bestimmt nicht schaden.
Die Sache, um die es bei diesem Abkommen geht, ist eine ganz andere. Bei allen von Trump wie Biden mit neuer Energie vorangetriebenen Bemühungen, ihren russischen Gegenspieler in die Enge zu treiben und Stück für Stück zu entmachten – durch einen zivilen Krieg per Sanktionen; fortschreitende militärische Einkreisung; Perfektionierung des Abwehrschirms; Aufrüstung mit Billionenaufwand – stößt die Weltmacht – immer noch und bis auf Weiteres – an eine fatale Schranke: die Atomraketen der Russischen Föderation als letzten Garanten ihres souveränen Staatswillens. An dieser Waffenkategorie, genauer an der Zweitschlagsfähigkeit Russlands, endet die amerikanische Eskalationsdominanz. Dem mächtigsten Kriegsmittel der USA steht eine ebenbürtige Gegenmacht gegenüber, an der sich die Freiheit zum Einsatz dieses Mittels bricht. An der Herstellung dieser Freiheit und damit eines Zustands, der einem Gewaltmonopol der USA über die Staatenwelt gleichkommt, arbeitet die Weltmacht mit allem Nachdruck – und mit dem nötigen Risikobewusstsein. US-Strategen wissen um die Gefahren, die mit dem Programm, Russland seiner Zweitschlagsfähigkeit zu berauben, einhergehen.
Das gebietet Verständigung mit dem Feind.
„Wir, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Joseph R. Biden und der Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin, stellen fest, dass die Vereinigten Staaten und Russland gezeigt haben, dass wir selbst in Zeiten der Spannungen in der Lage sind, Fortschritte bei unseren gemeinsamen Zielen zu erzielen: Vorhersehbarkeit im strategischen Bereich, Verringerung des Risikos bewaffneter Konflikte und der Gefahr eines Atomkriegs. Die jüngste Verlängerung des New-START-Vertrags ist ein Zeichen unseres Bekenntnisses zur Kontrolle der Kernwaffen. Wir bekräftigen heute den Grundsatz, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf.“ (U.S.-Russia Presidential Joint Statement on Strategic Stability, whitehouse.gov, 16.6.21)
Eine Verständigung also in dem Sinne, Vorhersehbarkeit
auch für dieses Mittel herzustellen: dafür muss der fremde Wille anerkannt, erkundet und erpresst werden, und die Konzession des Gegners zur Nicht-Anwendung dieser Waffen in Form von Agreements eingeholt werden. Daneben ziehen die USA aus der den Russen aufgenötigten Verhandlungsbereitschaft militärstrategisch überaus wichtigen Sekundärnutzen: dem Gegner ein paar nützliche Konzessionen in Bezug auf Art und Zahl der alles entscheidenden Kriegsmittel abzuringen; per Verifikationsregime möglichst großen Einblick in seine militärischen Fähigkeiten zu gewinnen; ihn umgekehrt mit den eigenen Vernichtungskapazitäten nachhaltig zu beeindrucken, ohne allzu viele strategisch oder rüstungstechnologisch verwertbare Einsichten preiszugeben; die Anzahl seiner Sprengköpfe runterzuverhandeln, um darüber die Durchschlagskraft der eigenen Kriegsmittel zu erhöhen; Zeit zu gewinnen, um erspähte Vorteile im Arsenal des Feindes durch Erfindung passender Gegenmittel zunichtezumachen, u.ä.m. [24]
Das und nichts anderes ist der Grund für Bidens Verlängerung des letzten verbliebenen Rüstungskontrollabkommens: Die Beziehungen zu Russland sollen, wie er ständig betont, stable and predictable bleiben, weil und während die USA alles daran setzen, ihrem Feind die Mittel für aggressive behavior und malign activities zu nehmen. Und das ist, so die von Trumps Standpunkt abweichende Einschätzung der Biden-Leute, keine Kleinigkeit, weil es ja schließlich gilt, die gefährlichen Errungenschaften der Russischen Föderation bei der Entwicklung von Atomwaffen der nächsten Generation – von Interkontinentalraketen neuen Typs, Hyperschallwaffen, atomar angetriebenen Marschflugkörpern und Unterwassertorpedos mit ungeheurer Sprengkraft – zu überrunden und so schnell wie möglich und zweifelsfrei uncontested superiority auch über diesen schlagkräftigsten aller Feinde herzustellen.
Das kann man auch so ausdrücken: Der New-START-Vertrag und seine Obergrenzen für das amerikanische und russische Nukleararsenal provide useful breathing room for rebuilding American nuclear forces...
(defensenews.com, 23.1.21)
[1] Nähere Erläuterungen hierzu finden sich in: „Nicht erst unter Trump, unter Trump aber in neuer Entschiedenheit: Die amerikanische Weltmacht treibt die Entmachtung ihres russischen Rivalen voran“ in der Ausgabe 3-19 dieser Zeitschrift.
[2] Offiziell gekündigt wird der Vertrag seinerzeit von Pompeo mit dem schon mehrfach erprobten ‚Argument‘, das durch Wiederholung zwar nicht besser wird, aber seine Wirkung tut: Die Vereinigten Staaten werden nicht Vertragspartei eines Abkommens bleiben, das von Russland vorsätzlich verletzt wird.
(bbc.com, 2.8.19)
[3] Weitere Erläuterungen zur Kündigung des INF-Vertrags finden sich in der Ausgabe 3-19 dieser Zeitschrift, S. 47 ff.
[4] Die Arbeitsweise wurde am Vorbild des CoCom (ein von westlichen Staaten geschaffenes Komitee zur Koordinierung von Exportkontrollen zur Durchsetzung des im Kalten Krieg seitens der USA und ihrer westlichen Verbündeten verhängten strategischen Ost-Embargos), sowie der Nuclear Suppliers Group (NSG) und der Australia Group (AG) orientiert.
(Wikipedia, s.v. Missile Technology Control Regime)
[5] Seit seiner Einführung hat das MTCR mehrere Raketenprogramme verlangsamt oder gestoppt, indem es potenziellen Käufern den Zugang erschwerte oder bestimmte Aktivitäten und Programme stigmatisierte. Argentinien, Ägypten und der Irak haben ihr gemeinsames Condor-II-Programm für ballistische Raketen aufgegeben. Auch Brasilien, Südafrika, Südkorea und Taiwan haben ihre Raketen- und Trägerraketenprogramme auf Eis gelegt oder eingestellt.
(The Missile Technology Control Regime at a Glance, armscontrol.org)
[6] Unter Trump haben die USA ein Programm zur Erneuerung sämtlicher Atomsprengköpfe im aktiven nationalen Arsenal aufgelegt – und die zuständige Behörde damit ausgelastet wie seit den Reagan-Jahren nicht mehr:
Die von Präsident Joe Biden nominierte Beauftragte für die Entwicklung von Nuklearsprengköpfen, Jill Hruby, sagte am Donnerstag, die USA sollten ihre Pläne zur Steigerung der Produktion von Plutoniumkernen, einer Schlüsselkomponente für Atomwaffen, fortsetzen und dafür zwei Standorte nutzen... Wie der Vorsitzende des Senatsausschusses für Streitkräfte, Jack Reed, D-R.I., es beschrieb, führen die Bemühungen um die Modernisierung der Atomwaffen – zu denen fünf Sprengkopfprogramme und die Neufinanzierung von Produktionsanlagen gehören – zu der höchsten Arbeitsbelastung der NNSA [National Nuclear Security Administration] seit den 1980er Jahren. Die Organisation ist eine halbautonome Einrichtung des Energieministeriums. Der Vorsitzende des Unterausschusses für strategische Streitkräfte im Senat, Angus King (I-Maine), forderte Hruby auf, zu bekräftigen, dass das Ziel von 80 Sprengköpfen Teil der für die Abschreckung und den Frieden unerlässlichen Wartung und Modernisierung von Kernwaffen ist.
(defensenews.com, 27.5.21)
[7] Im Wesentlichen Staaten der NATO und des ehemaligen Warschauer Pakts: Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Spanien, Portugal, die USA, Kanada, Bulgarien, Georgien, Kirgisistan, Polen, Rumänien, Russland, Slowakei, Tschechien, Ukraine, Ungarn, Weißrussland und die Türkei. Neu beigetreten sind Schweden, Finnland, Lettland, Litauen, Georgien, Slowenien, Bosnien-Herzegowina.
(Wikipedia, s.v. Vertrag über den Offenen Himmel)
[8] Die Auflösung der Sensoren reicht aus, um Raketentypen, Kampfpanzer, Schützenpanzer, andere gepanzerte Kampffahrzeuge, Artilleriesysteme, Flugzeug- oder Hubschraubertypen voneinander zu unterscheiden. Sensible Informationen über Funk- und Radaremissionen oder die Software von Zielerfassungs- und Leitsystemen können dagegen nicht detektiert werden.
(Wolfgang Richter, a.a.O., S. 3)
[9] Seit der OH-Vertrag in Kraft trat, haben die Vertragsstaaten etwa 1500 Beobachtungsflüge unternommen, davon rund 500 über Russland und Belarus mit Beteiligung von etwa 200 Missionen der USA. Dagegen hat Russland über den USA zwischen 2002 und 2016 nur ungefähr 70 Flüge durchgeführt und die Masse seiner Flugquoten für europäische Länder genutzt.
(Ebd.)
[10] Die unmittelbare Reaktion der NATO bestünde zunächst darin, die rasche Verlegung ausreichender Streitkräfte zur Verstärkung der baltischen Staaten und Polens zu genehmigen, um Russland von dem Versuch einer schnellen Landnahme abzuhalten und ihm die Möglichkeit weiterer Übergriffe zu verwehren. Ein solcher Notfall würde also die Planung, den Aufbau und die Stationierung einer großen und schlagkräftigen Streitmacht in weit weniger als dreißig Tagen erfordern.
(The Military Mobility Project, CEPA, März 2021)
[11] „Der New Strategic Arms Reduction Treaty (New START) wurde am 8. April 2010 unterzeichnet und trat am 5. Februar 2011 in Kraft... New START setzt den von den ehemaligen Präsidenten Ronald Reagan und George H.W. Bush begonnenen zweiseitigen Prozess der nachweislichen Reduzierung der strategischen Atomwaffenarsenale der USA und Russlands fort...
Obergrenzen für Nuklearsprengköpfe: Sieben Jahre nach Inkrafttreten (5. Februar 2018) traten die Obergrenzen des New START in Kraft, die die Anzahl der strategischen Nuklearsprengköpfe und -bomben auf 1.550 begrenzen... Jeder schwere Bomber wird als ein Sprengkopf gezählt.
Grenzwerte für Raketen, Bomber und Trägersysteme: Stationierte ballistische Interkontinentalraketen (ICBMs), U-Boot-gestützte ballistische Raketen (SLBMs) und schwere Bomber, die für nukleare Einsätze vorgesehen sind, sind auf 700 begrenzt. Die Zahl der stationierten und nicht stationierten ICBM-Trägerraketen, SLBM-Trägerraketen und Bomber ist auf 800 begrenzt...
Der New-START-Vertrag sieht keine Begrenzung der Zahl der nicht dislozierten ICBMs und SLBMs vor, aber er überwacht sie und sieht kontinuierliche Informationen über ihre Standorte und Inspektionen vor Ort vor, um sicherzustellen, dass sie nicht zu den dislozierten hinzukommen...
Der New-START-Vertrag enthält direkte Obergrenzen für die dislozierten Sprengköpfe und sieht Inspektionen vor Ort vor, um beiden Seiten die Gewissheit zu geben, dass die Obergrenzen eingehalten werden. Im Rahmen des neuen Vertrags tauschen beide Seiten Listen über die Anzahl der Sprengköpfe aus, die auf einzelnen Raketen installiert sind. Bei Inspektionen des ,Typs Eins‘ kann jede Seite eine ICBM oder SLBM auswählen, die sie kurzfristig inspiziert und deren Sprengköpfe zählt. Die Wiedereintrittsvehikel (RVs) [Sogenannte MIRVS sind auf Interkontinentalraketen und U-Boot-gestützten ballistischen Raketen montierte Sprengköpfe (bis zu 14 auf einer einzigen Trägerrakete, wie man hört), die – weil unabhängig voneinander manövrierfähig – den gleichzeitigen Angriff mehrerer Ziele auf verschiedenen Flugbahnen erlauben und daher von den Abwehrschirmen der gegnerischen Seite nur schlecht neutralisiert werden können. Anm. d. Autors] können von jeder Partei geheim gehalten werden, um sensible Informationen zu schützen, aber die tatsächliche Anzahl der RVs muss für die Inspektoren erkennbar sein. Diese Inspektionen sollen beide Seiten davon abhalten, eine Rakete mit mehr als der angegebenen Anzahl von Sprengköpfen einzusetzen...
Um die russischen mobilen ICBMs zu überwachen, unterliegen alle neuen Raketen dem Vertrag, sobald sie eine Produktionsstätte verlassen, und jede Rakete und jeder Bomber wird mit einer eindeutigen Kennung versehen. Russland muss die Vereinigten Staaten 48 Stunden, bevor eine neue feststoffbetriebene ICBM oder SLBM die Produktionsstätte in Wotkinsk verlässt, sowie bei ihrer Ankunft am Bestimmungsort benachrichtigen, was die Überwachung durch nationale Mittel wie Satelliten erleichtert. Der Vertrag verbietet nicht die Modernisierung der strategischen Streitkräfte innerhalb der allgemeinen Vertragsgrenzen... Der Vertrag erlaubt zehn Vor-Ort-Inspektionen von installierten Gefechtsköpfen und dislozierten und nicht dislozierten Trägersystemen auf ICBM-Stützpunkten, U-Boot-Stützpunkten und Luftwaffenstützpunkten (,Typ 1‘-Inspektionen). Darüber hinaus sind acht Vor-Ort-Inspektionen in Einrichtungen erlaubt, an denen sich nur nicht-einsatzbereite Trägersysteme befinden dürfen (,Typ 2‘-Inspektionen).“ (New START at a Glance, armscontrol.org, factsheet)
[12] Zu den Gründen, die den Friedensnobelpreisträger damals dazu bewogen haben, mit Russland die Reduktion der nuklearen Potentiale zu vereinbaren, finden sich Erläuterungen in „Obamas ‚Reset‘ mit Russland“ in GegenStandpunkt 1-12 und in der Ausgabe 3-19, S. 45 ff.
[13] Mit einer weitreichenden Expertise für innovative Befragungstechniken und Bestrafungsaktionen aller Art ist Marshall Billingslea echter Fachmann auf dem Gebiet der Bekämpfung von rogue states, und damit selber schon ein diplomatisches Statement an den lieben Verhandlungspartner:
Billingslea war an der Politik der Bush-Regierung zur Erweiterung der Verhörtechniken beteiligt... Von 2002 bis 2003 war Billingslea unter Verteidigungsminister Donald H. Rumsfeld der Ansprechpartner des Pentagons für die in Guantánamo Bay untergebrachten Militärhäftlinge. In dieser Position spielte er laut einem Senatsbericht von 2008 eine Rolle bei der Förderung von Verhörtechniken, die der Kongress später als Folter verbot – einschließlich der Verwendung von Kapuzen oder Augenbinden, Schlafentzug, längerem Stehen, dem Rasieren von Bärten, dem Entfernen von Kleidung und dem Einsatz von Militärhunden zur Einschüchterung von Gefangenen.
(Wikipedia, s.v. Marshall Billingslea)
2019 nominierte Trump Billingslea für den höchsten Menschenrechtsposten im Außenministerium, aber seine Nominierung kam Anfang 2020 ins Stocken, da Bedenken über seine Rolle bei der Förderung von erweiterten Verhörtechniken bestanden, die der Kongress später als Folter verbot.
(armscontrol.org, Juni 2020)
[14] ‚Wir wissen, wie man solche Rennen gewinnt und wir wissen, wie man den Gegner auslöscht,‘ sagte er. ‚Wenn wir es müssen, werden wir es tun, aber wir wollen es bestimmt vermeiden.‘
[15] Der Prompt Global Strike ist eine seit 9/11 praktizierte Militärstrategie, die es den USA ermöglicht, mithilfe verschiedener Waffensysteme jedes beliebige Ziel auf dem Globus innerhalb von Minuten zu zerstören. Zu diesem Mix zählen u.a. mit konventionellen Sprengköpfen bestückte Interkontinentalraketen, U-Boot-gestützte ballistische Raketen, Hyperschall- und Weltraum-(=kinetische) Waffen.
[16] Billingslea: ‚Ich verstehe nicht, wie es in irgendjemandes Interesse sein kann, Russland zu erlauben, sein Inventar an taktischen Nuklearwaffensystemen aufzustocken, mit denen es die NATO bedrohen will... Wir können nicht einem Konstrukt zustimmen, das 55 Prozent oder mehr des russischen Arsenals unangetastet lässt.‘
(defenseone, 13.10.20)
[17] Gemeint sind im Wesentlichen folgende fünf Waffensysteme: Die neue ballistische Interkontinentalrakete Sarmat und die Hyperschallrakete Avangard, ein manövrierfähiges Trägersystem für nukleare oder konventionelle Sprengköpfe. Drei weitere neue Waffen sind eine neue luftgestützte Interkontinentalrakete namens Kinschal und der Burewestnik, ein nuklear angetriebener Unterschall-Marschflugkörper mit Nuklearsprengkopf... Die letzte neue strategische Waffe ist ein Drohnen-U-Boot, das mit einem großen Nuklearsprengkopf bewaffnet ist und Häfen in die Luft jagen kann.
(Washington Times, 7.5.20)
[18] Der russische Außenminister beschwert sich über die amerikanische Hybris, sich die Definitionshoheit darüber vorzubehalten, was die USA in einem möglichen neuen Vertrag ein- bzw. ausgeschlossen haben wollen:
„Sergej Lawrow: Wir gingen und gehen immer davon aus, dass die Vereinbarungen auf dem Gebiet der strategischen Stabilität sich auf die Präsentation der Interessen jeder verhandelnden Seite, auf die Analyse von Gefahren stützen, die mit der Gegenseite unter Umständen verbunden wären, und auf die Suche nach Kompromissen, die auf einer ausbalancierten Basis die Interessen jeder Seite und dementsprechend auch reale Gefahren berücksichtigen würden. Das sieht vor allem die Mittel vor, mit denen Atomsprengköpfe auf das Territorium der Gegenseite befördert werden könnten.
Und die USA haben jetzt alles auf den Kopf gestellt. Sie wollen die Beförderungsmittel außen vor lassen, denn sie haben jetzt viele Waffen, die kein Gegenstand der Verhandlungen sind. Sie reden immer wieder von unseren neuen Ressourcen, die präsentiert wurden und jetzt intensiv in die Bewaffnung eingeführt werden. Aber wir sind bereit, zwei von fünf dieser neuen Waffentypen in den Kontext des aktuellen Vertrags aufzunehmen. Und sie wissen das.
Frage: Und welche Waffentypen genau könnten wir da aufnehmen?
Sergej Lawrow: Ich will jetzt nicht über einzelne Details reden. Das sind die Waffentypen, für die der aktuelle Vertrag gilt: interkontinentale ballistische Raketen, U-Boot-Raketen und strategische Bomber.
Frage: Und die Amerikaner würden an unserer Stelle sagen, er würde für diese Waffentypen nicht gelten – und basta.
Sergej Lawrow: Und sie sagen ja, dass er dafür nicht gilt. Denn sie haben das PGS-Programm [Prompt Global Strike]. Es geht nicht um nukleare, sondern um strategische Beförderungsmittel, die im Sinne dieses Programms weltweit Ziele binnen einer Stunde treffen könnten. Vorerst haben sie das nicht zum Gegenstand unserer Gespräche gemacht. Auch das Thema Militarisierung des Weltraums wird vorerst nicht erwähnt, obwohl der Weltraum und auch der Cyberraum laut ihren Doktrinen zu den potenziellen Kriegsschauplätzen gehören. Und das können wir unmöglich vernachlässigen.
Sie wollen die Tatsache nicht berücksichtigen, dass sie selbst ihren Beitritt zum Kernwaffenteststopp-Vertrag und auch zu vielen anderen Dokumenten offiziell durchkreuzt haben. Anstatt sich mit konkreten Beförderungsmitteln zu beschäftigen, die das Territorium beider Länder gefährden könnten, schlagen sie vor, die Sprengköpfe zu zählen. Damit wollen sie das Thema nichtstrategische Atomwaffen, nämlich sogenannte taktische Atomwaffen in den praktischen Umgang einführen. Diesbezüglich war eigentlich klar, dass die Amerikaner vor der Besprechung der Einschränkung dieser Kategorie der Waffen zunächst diese taktischen Raketen samt taktischen Sprengköpfen auf ihr Territorium verlegen sollten. Sie werden auf dem Territorium von fünf NATO-Ländern gelagert. Mehr noch: Washington verstößt grob gegen den Atomwaffensperrvertrag und zieht die NATO-Länder zu Manövern heran, bei denen der Umgang mit Atomwaffen geübt wird. Das ist eine äußerst grobe Verletzung des Atomwaffensperrvertrags. Anstatt diese Waffen auf ihr Territorium abzuziehen und dadurch den Weg für diese Kontakte zu ebnen, wollen sie die aktuelle Situation einfach als Realität gelten lassen und schlagen vor, alle Waffen zu zählen. Das geht aber nicht.“ (Interview mit dem Außenminister Russlands Sergej Lawrow für die Funksender Sputnik, Komsomolskaja Prawda und Goworit Moskwa, Moskau, 14.10.20)
[19] Dabei ist das, was es gibt, schon recht eindrucksvoll; was man nebenbei erfährt, wenn die Sorge ventiliert wird, was den USA alles verloren geht, sollte der Vertrag auslaufen: Beide Länder würden im Falle des Auslaufens des New-START-Abkommens einen wichtigen Knotenpunkt der Transparenz über die Nuklearstreitkräfte der jeweils anderen Seite verlieren: Bis Ende 2019 haben die Vereinigten Staaten und Russland zusammen 321 Vor-Ort-Inspektionen durchgeführt und 19.261 Benachrichtigungen ausgetauscht.
(Hans M. Kristensen & Matt Korda (2020) Russian nuclear forces, 2020, Bulletin of the Atomic Scientists, 76:2, 102-117, 103), siehe hierzu auch die Vertragsbestimmungen in Fußnote 11.
[20] Dazu Lawrow: Und die zweite ihrer Forderungen ist, wieder die Verifikationsmechanismen einzusetzen, die es noch in den 1990er-Jahren gab und die im Grunde erniedrigend waren. Damals standen ihre Inspekteure am Ein- bzw. Ausgang aller Betriebe und maßen mit dem Rollmaßband die Container, in denen Raketen ausgeführt wurden, und maßen alles, was auf das Gelände des jeweiligen Betriebs eingeführt wurde. Ja, wir durften auch in einem solchen Objekt in der Stadt Magna sein. Aber bei der Besprechung des aktuellen New-START-Vertrags wurde beschlossen, dass wir auf diese intrusiven und für Partner nicht gerade angebrachten Handlungen verzichten werden, die unter den aktuellen Bedingungen eigentlich unpassend sind, wenn man bedenkt, dass wir bereits großenteils zu den gleichberechtigten Vereinbarungen übergegangen sind, die im jetzigen Dokument verankert sind. Aber die Amerikaner wollen alle Sprengköpfe zählen und erneut auf die von mir eben erwähnten strengen Verifikationsmaßnahmen zurückgreifen. Und zudem wollen sie uns zwingen, China dazu zu überreden.
(Interview mit Lawrow, 14.10.20)
[21] Zwischenzeitlich spitzt sich die amerikanische Forderung nach einem „freezing“ aller Gefechtsköpfe zu, d.h. dem Einfrieren ihrer Zahl auf dem aktuellen Stand, auf das sofortige Einstellen aller Modernisierungen und Tests – was Russland vehement ablehnt:
Rjabkow antwortete Billingslea, dass ‚Russland [den Vereinigten Staaten] 25 Mal angeboten hat, dem Vorschlag von Präsident Putin zuzustimmen... Anstatt diesen einfachen Plan zu akzeptieren, stellen sie unannehmbare Forderungen.‘
(armscontrol.org, 21.1.21)
[22] Die US-Armee hat am Donnerstag heimlich zwei Langstreckenraketenwerfer in die Nähe des russischen Außenpostens am Schwarzen Meer gebracht, einige Raketen abgefeuert und sie dann schnell an ihren sicheren Stützpunkt in Deutschland zurückgebracht. Und das alles innerhalb weniger Stunden. Der eintägige Einsatz der neuen, in Europa stationierten Artilleriebrigade der Armee war eine Übung für die Hightech-Kriegsführung. Er war eindeutig auch eine Botschaft an Moskau. Die U.S. Army in Europa hat ihre Feuerkraft auf große Entfernungen wiederhergestellt. Und sie will, dass die Russen das wissen.
(Forbes, 23.11.20)
[23] Die US-Luftwaffe stationiert zum ersten Mal B-1-Bomber in Norwegen und sendet damit eine klare Botschaft an Moskau, dass das US-Militär in der strategisch wichtigen arktischen Region operieren und seine Verbündeten in der Region gegen jegliche russische Aggression in der Nähe der Landesgrenze verteidigen wird... Die USA vermuten, dass Russland die Aufrechterhaltung seines eigenen Zugangs zur Arktis als zunehmend wichtig erachtet, da fast 25 % seines Bruttoinlandsprodukts aus Kohlenwasserstoffen nördlich des Polarkreises stammen.
(edition.cnn.com, 9.2.21)
[24] Das am häufigsten angeführte Argument ist die Leistung von New START, größere Sicherheit über die Zusammensetzung des gegnerischen Arsenals zu bieten als nachrichtendienstliche Methoden, aber auch eine seltene Gelegenheit für einen Dialog zwischen den Streitkräften. Frank Klotz [ehemaliger Administrator der NNSA, National Nuclear Security Administration] weist auch auf die Rolle des Vertrags hin, die es ermöglicht, das Ausmaß der von Russland mittelfristig eingesetzten Waffen vorherzusagen und somit die Größe der amerikanischen Streitkräfte zu bestimmen... In Bezug auf drei der in Russland in der Entwicklung befindlichen neuen strategischen Waffen (Kinschal, Burewestnik, Poseidon) räumt er ein, dass diese Waffen nicht unter New START fallen würden, ist jedoch der Ansicht, dass sie in den nächsten fünf Jahren wahrscheinlich kein militärisch bedeutsames Risiko darstellen werden, und ist daher der Meinung, dass sie in parallelen oder nach der Verlängerung stattfindenden Verhandlungen über einen künftigen Vertrag behandelt werden sollten... Schließlich stellt er fest, dass der Wegfall der Verifikationsmaßnahmen die Vereinigten Staaten dazu zwingen würde, ihre Ausgaben für den Nachrichtendienst zu erhöhen oder die vorhandenen Mittel umzuschichten, was zu Lasten anderer Bereiche ginge.
(The New START Treaty: assessment and outlook. Emmanuelle Maitre, Bruno Tertrais, Fondation pour la recherche stratégique, Note n° 60/20, 24.9.20, S. 7)