Ein alter Streit in neuem imperialistischen Lichte:
Fischer bescheinigt der Türkei einen „Platz in Europa“

Seit 17 Jahren bewirbt sich die Türkei um Aufnahme in die Europäische Union. Seitdem wird sie von Europas Regierungen immer wieder hingehalten. Dabei war es von Anfang an die feste Leitlinie aller hitzigen Debatten zum Thema, Vor- und Nachteile, die Europa von einer türkischen EU-Mitgliedschaft zu erwarten hätte, gegeneinander abzuwägen. Nun hat sich für Dezember 2004 die EU selbst einen Termin gesetzt, an dem sie definitiv über den türkischen Antrag befinden will.

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Ein alter Streit in neuem imperialistischen Lichte:
Fischer bescheinigt der Türkei einen „Platz in Europa“

Seit 17 Jahren bewirbt sich die Türkei um Aufnahme in die Europäische Union. Seitdem wird sie von Europas Regierungen immer wieder hingehalten. Dabei war es von Anfang an die feste Leitlinie aller hitzigen Debatten zum Thema, Vor- und Nachteile, die Europa von einer türkischen EU-Mitgliedschaft zu erwarten hätte, gegeneinander abzuwägen. Denn dass es sich um einen Akt der Gewährung handelt, wenn es die Türkei in seinen Verein aufnimmt, es deswegen selbstverständlich Europa ist, das die Bedingungen dafür festlegt, daran gab es in Deutschland wie bei den übrigen Europäern nie die geringsten Zweifel. Zweifel gab es hinsichtlich der Frage, ob ein so „gewaltiges“, „bevölkerungsreiches“, „rückständiges“ und „muslimisches“ Land „überhaupt“ zu Europa „passt“ oder „gehört“. Derart grundsätzliche Bedenken, egal ob es sich um Ideologien oder um Einwände substantieller Art handelt, standen bislang dafür, dass man eine Entscheidung in der Sache weiter vertagen wollte.[1] Nun hat sich für Dezember die EU selbst einen Termin gesetzt, an dem sie definitiv über den türkischen Antrag befinden will. Die deutsche Regierung ist entschieden. Im Lichte der Ereignisse um den „11. September“ und der Schlussfolgerungen, die Deutschland für Europa daraus ableitet, ist sie heute ganz eindeutig dafür, die Türkei nach Europa zu holen. Dennoch bleibt es hierzulande umstritten, wie man mit dem „Problem Türkei“ umgehen soll.

Die Türkei soll Europa zu einem neuen Status in der Welt verhelfen

Wie jeder Staatsmann, der imperialistische Großtaten im Sinn hat, versteht sich natürlich auch der deutsche Außenminister darauf, den neuen weltpolitischen Status, den er für Europa reklamiert, als „Aufgabe“ auszugeben, die ihm die historische „Situation“ erteilt hat. So verleiht man den eigenen Ansprüchen unbestreitbares Recht und Notwendigkeit:

„Es gibt die landläufige Meinung, dass Politiker lernresistent sind. Ich bin das nicht. Früher habe ich zu denen gehört, die zu 51 Prozent für den Türkei-Beitritt waren und zu 49 Prozent Zweifel hatten. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 hat sich das bei mir grundlegend verändert. Seitdem wurde immer klarer, dass die europäische Einigung auch eine strategische Dimension hat. Hier wäre eine Türkei, die europäischen Standards entspricht, ebenso von größter Bedeutung wie die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU…
Jetzt stellen wir fest, dass die Union auch zum strategischen Projekt geworden ist. Das hängt mit zwei Daten zusammen: dem 9. November 1989 und eben dem 11. September 2001. Beide haben das Bild von der Europäischen Union verändert und zugleich verstärkt …
Wir haben eine neue Aufgabe, die dieses Jahrhundert bestimmen wird: Wir müssen die Globalisierung politisch gestalten. Die asymmetrischen Konflikte zu beherrschen und nach Möglichkeit zu lösen, das geht nur, wenn man in kontinentalen Größenordnungen handeln kann. Russland, China, Indien und natürlich die Vereinigten Staaten – die haben die notwendige Größe. Für uns Europäer stellt sich die Frage, ob wir eng genug zusammen wachsen können, um unser Gewicht geltend zu machen. In diesem Lichte muss man auch die Türkei-Diskussion sehen.“ (Berliner Zeitung, 28.2.04)
„Und warum bedarf es überhaupt einer kontinentalen Dimension, um irgendwelche Konflikte beherrschen zu können?
Das will ich Ihnen genau sagen: weil wir sonst nicht oder nur sehr eingeschränkt handlungsfähig sein werden, und zwar in sicherheitspolitischer, strategischer und in ökonomischer Hinsicht. Deswegen hat die EU doch den gemeinsamen Markt, die gemeinsame Währung und die gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik geschaffen…
Kriegen Sie nicht manchmal Angst vor der eigenen Courage? Wir wollen den Balkan stabilisieren, die Türkei und wen eigentlich noch?
Das meine ich mit der strategischen Dimension. Weißrussland, Moldova, der Balkan, die Türkei – mit all diesen Fragen hat die europäische Politik zu tun. Dort wird auch über unsere Sicherheit, Frieden und Stabilität für uns mitentschieden…
Wir haben ein Dreieck, in dem wir strategische Weichen stellen können. Das Dreieck heißt: feste europäische Verankerung der Türkei, das ist ganz entscheidend für die Transformationsperspektive. Wir haben die Frage eines zweiten strategisch zentralen Landes, Irans, nämlich ob dort in den kommenden Jahren die innere Demokratisierung gelingt. Wir haben als Drittes eine dauerhafte Lösung des Nahost-Konflikts. Das alles wird nur gelingen, wenn die EU dabei einen Part von wachsender Bedeutung spielt. In allen Fragen. Und wenn wir darüber zu einer transatlantischen Neudefinition gelangen, dann haben wir die notwendigen Konsequenzen gezogen aus dem ‚11.9.‘ und aus unseren Differenzen in Sachen Irak.“ (FAZ, 6.3.)

Ganz offensichtlich liegt es nicht an einer Änderung oder Neubewertung türkischer Reformanstrengungen, sondern an einer neuen Gewichtung deutscher Berechnungen in Bezug auf die Türkei, dass der deutsche Außenminister seine Meinung geändert hat:

Im Prinzip schon seit Gorbatschow und deutscher Wiedervereinigung, endgültig aber seit jenem weltverändernden 11.9.2001 weiß man in Deutschland, dass Europas bisheriges Verfahren, sich Gewicht und Gehör in der Welt zu verschaffen – im Rahmen der Nato und mit den Waffen seines Kapitals –, der Vergangenheit angehört. Wer heute Weltpolitik treiben will – und das will Europa unbedingt –, muss in der Lage sein, strategisch zu Werke zu gehen, und das heißt für Europa: Es muss eine Macht mit einem anderen Status in der Welt werden; eine Macht von der Größe und Klasse, wie es insbesondere die USA schon sind – allen anderen Nationen haushoch überlegen und in der Lage, alle internationalen Beziehungen ganz unilateral zu gestalten. Denn folgenden Anforderungen muss das „strategische Europa“ genügen:

  • Europa will nicht zu den Staaten gehören, die von der „Globalisierung“ betroffen sind, sondern zu denen, die sie gestalten; den Kampf der Nationen um Märkte und Reichtumsquellen will es gewinnen und deswegen die Regeln des globalen Konkurrierens bestimmen.
  • Es darf nicht angreifbar sein von seinen Feinden. Jede Gegenwehr gegen die Unterwerfung fremder Länder unter westliches Weltherrschaftsinteresse – die sich heute auf private Terrorakte und Selbstmordkommandos verlegt hat –, muss es verunmöglichen können. Im Namen eigener Sicherheit verlangt Europa das gesamte Innenleben anderer Staaten unter seine Kontrolle zu bringen.
  • Aus den Konflikten und Streitigkeiten anderer Staaten will es sich auf keinen Fall heraushalten; es beansprucht allgemeine Zuständigkeit für die globalen Gewaltaffären; Europa will sich überall einmischen; und das nicht als bloße Partei, sondern aus der Position des Richters heraus, der über den Konfliktparteien steht und entscheidet, welche ihrer Interessen berechtigt sind und welche nicht und was sie zu tun haben und lassen müssen, damit bei ihnen Frieden und Stabilität im Sinne Europas herrschen.
  • Es muss so gewichtig sein, dass es Ländern von der Größe eines Iran antragen kann, dass ihre komplette Staatsräson die falsche ist, und dass sie sie ganz neu, nämlich nach den Wünschen und Vorstellungen Europas ausrichten müssen.
  • Einer respektablen Mittelmacht wie der Türkei muss es sagen können, dass ihre Ambitionen sich darauf zu richten haben, diese „strategische Dimension“ Europas ausfüllen zu helfen.

Europas Position in der Welt muss eine sein, die es befähigt, andere Staaten auf sich und die eigenen weltumspannenden Ansprüche zu beziehen und darauf zu verpflichten, bei allem, was sie wollen und tun, an Europas Interessen Maß zu nehmen.[2]

Um diesen übergeordneten Platz einer Ordnungsmacht in der Staatengemeinschaft einzunehmen, fordert der deutsche Außenminister auch von der Europäischen Union, sich bei ihrem Einigungsprozess als ein „strategisches Projekt“ zu begreifen: Sie soll sich als imperialistisches Subjekt betätigen, das sukzessive einen Kontinent besetzt, dessen Grenzen ihrerseits allein durch Europas Expansionsdrang definiert werden; als eine Hegemonialmacht, die immer ausgreifender ihre näheren und weiteren „Nachbarn“ dem eigenen Herrschaftsbereich einverleibt oder assoziiert und darauf festlegt, Land und Leute so zu regieren, dass dabei Wohlstand und Macht Europas wachsen.

Versäumt es Europa, diese Konsequenz zu ziehen aus Amerikas globalem Feldzug, dann bleibt es „nicht“ bzw. nur „eingeschränkt handlungsfähig“, was heißt: Dann gehört es zu der Sorte Staaten, über die andere, die die „nötige Größe“ haben, bestimmen können. Dann gehört es zwar nicht zur Masse derjenigen Länder, die wenig bis nichts zu melden haben auf der Welt, bleibt aber doch bloß eine Macht von „beschränkter Handlungsfähigkeit“, gezwungen, auf gleicher Augenhöhe mit anderen zu verkehren und deren Interessen zu berücksichtigen, damit sie sich dem eigenen anbequemen. Dann bleibt Europa auf ewig betroffen und abhängig von den weltpolitischen Entscheidungen der Supermacht Amerika, anstatt dass es selbst die „Fragen“ der Weltpolitik bestimmt, und was der Rest der Staatengemeinschaft zu ihrer „Lösung“ beizutragen hat.

Hier und heute wird die Welt von Amerika neu aufgeteilt, und daraus folgt für Fischer: Entweder die EU nimmt es jetzt entschlossen in Angriff, eine Macht vom gleichen Range Amerikas zu werden und so dem transatlantischen Partner Respekt und Mitsprache beim Neuordnen der Welt abzunötigen – oder das ganze große europäische Einigungswerk samt gemeinsamem Markt und Geld hat seinen Sinn und Zweck verfehlt.

In diesem Lichte, von der Warte einer europäischen Weltordnungsmacht aus – die es zwar noch nicht gibt, in deren Namen aber Fischer heute schon die Welt sortiert – betrachtet man heute in Deutschland die Frage eines Türkei-Beitritts zur Europäischen Union. Der Türkei kommt in Fischers Entwurf eines „Staatensystems des 21. Jahrhunderts“ die ehrenvolle Aufgabe zu, die „kontinentale Dimension“ herstellen zu helfen, die Europa fehlt und die es dringend braucht, um „global handlungsfähig“ zu sein. Ihre spezielle Bedeutung hat sie darin, „Brücke“ zu sein, womit der deutsche Außenminister ausdrückt, dass in seinen strategischen Planspielen das Land nichts weiter ist und zählt als das, wozu Deutschland es benutzen will:

„Die Türkei hat die strategische Bedeutung einer Brücke, und zwar auch im neuen Kontext des Staatensystems in einer Konfliktstruktur im 21. Jahrhundert.“
„Bei Fischers Umdenken war die Türkei-Frage zentral. Nach dem 11. September ist der Brückenschlag in die islamische Welt zu einer drängenden Notwendigkeit geworden; und einer zugleich muslimischen und demokratischen, einer europäisierten Türkei soll dabei eine Schlüsselrolle zukommen.“ (Die Zeit, 4.3.)

Prädestiniert für ihre Schlüsselrolle als europäischer Brückenkopf ist sie zum einen durch ihre geostrategisch „zentrale Lage“ inmitten des „Krisendreiecks Balkan – Kaukasus – Naher- und Mittlerer Osten“: Dass dort Feindseligkeiten der verschiedensten Art herrschen, Kriege drohen oder schon in Gang kommen und auf unabsehbare Zeit Konfrontationen angezettelt werden, ist für friedliebende Weltpolitiker aus Europa eine einzige Einladung, geradezu ein Sachzwang, mitzumischen und den Frontlinien eine klare weltordnungspolitische Ausrichtung im Sinne europäischer Oberhoheit zu geben – eben eine „Konfliktstruktur“ fürs neue Jahrhundert. Äußerst interessant ist die Türkei zum anderen durch ihre Qualifikation, „islamisch geprägt“, aber „westlich orientiert“ zu sein: Ein Beitritt der Türkei würde der EU eine neue Perspektive geben – und ein Signal an die gesamte islamische Welt, dass Demokratie, Rechtsstaat und westlicher Lebensstil mit dem Islam vereinbar sind. (Schönbohm) Damit „unsere politisch-gesellschaftlichen Wertvorstellungen“ und der islamische Glaube zusammenpassen, ist keine aufklärerische Missionierung der türkischen Gesellschaft erforderlich. Das „Modell einer islamischen Demokratie“ verwirklicht die türkische Regierung in dem Maße, wie sie es mit ihrer Politik Europa recht macht. Demokratie und Rechtsstaat, die Titel für das hierzulande praktizierte Verfahren der politischen Herrschaft, stehen für den Anspruch, dass sich die Türkei zum Kronzeugen wie zum Hebel dafür machen soll, dass und wie man sich als islamische Nation an Europa auszurichten hat. Als solche soll die Türkei Teil Europas werden, damit Europa mehr Einfluss und Einwirkungsmöglichkeiten auf die islamische Welt gewinnt. Bei allem, was die USA den Staaten des „Erweiterten Mittleren Osten“ an „Modernisierungs- und Demokratisierungsbedarf“ verordnet haben, bei sämtlichen „Initiativen“ zur „Umgestaltung“ der dortigen Souveräne zu prowestlichen Vasallen muss und wird laut Fischer viel mehr Europa drin sein. Und zu diesem Zweck, um viel mehr europäische Ordnungskompetenz in dieser Weltgegend durchzusetzen, soll der Türkei der Beitritt in Aussicht gestellt werden. Alles, was sie als „Regionalmacht des Mittleren Ostens“ an Beziehungen und Einfluss in den und auf die Staaten der Region zu ihrem politischen Besitzstand zählt, betrachtet Deutschland ausschließlich unter dem Blickwinkel potentieller Machtmittel Europas, die es durch den Beitritt mehren möchte. Damit Europa mehr weltpolitisches Gewicht geltend machen kann, soll die Türkei dann als Mitglied ihr „strategisches Potenzial“ entfalten und einsetzen und auf diese Weise auch ihre staatlichen Ambitionen ausreichend bedient sehen.

Was die Türken in und durch Europa werden wollen, ihre Projekte und drängenden Nöte, kommen in Deutschlands strategischen Plänen erst einmal herzlich wenig vor. Von der Türkei nimmt man nicht mehr zur Kenntnis, als dass sich das Land ökonomisch mittlerweile in einem dauernden Überlebenskampf befindet, vor allem deswegen dringend um EU-Aufnahme und Teilhabe am europäischen Binnenmarkt nachsucht und mit einem Reformeifer und -tempo, der selbst den größten Beitrittsskeptikern Respekt abverlangt (Die Welt, 24.2.), bemüht ist, dem Katalog von Bedingungen, die Europa dafür setzt, zu entsprechen. Dadurch sieht man sich in Deutschland in dem Standpunkt bestätigt, dass „wir“ den Türken die Reformen nicht nur völlig zu Recht abverlangen, sondern diese auch im ureigensten türkischen Interesse liegen.

Für ihre Funktion für Europa muss die Türkei eine andere werden

Aus der Perspektive der Funktion, die Deutschlands Großeuropavision für die Türkei vorsieht, wird dann auch all das zum Thema, was die Staatsgewalt dort an Problemen mit ihrem Laden hat. Denn natürlich braucht die deutsche Regierung nicht die warnenden Stimmen der Vertreter der Opposition, um zu sehen, dass sich die Gemeinschaft mit dem Zugewinn an Macht, den die Türkei verspricht, auch einen großen Haufen Probleme einhandelt. Und nur so, als eine Liste von zu gewärtigenden negativen Folgen für Europa nimmt die deutsche Politik zur Kenntnis, dass die Türkei ihrerseits Erwartungen mit einer EU-Mitgliedschaft verbindet und dass der Lebenszweck des türkischen Staates nicht darin aufgeht, die „Brücke“ für Europa in die islamische Welt zu spielen. Sogar die gar nicht verborgenen außenpolitischen Positionen der Türkei, ihr spezielles Verhältnis zu Nato und Amerika, von dem dieser Staat bislang „lebt“, werden da ignoriert, weil es der EU um eine Ablösung der bisherigen außenpolitischen Staatsräson der Türkei geht. Alle unerwünschten Folgen türkischer EU-Zugehörigkeit be- und verhandelt die deutsche Politik – immer schon, und davon macht Fischer auch bzw. erst recht heute, wo er die Türkei strategisch Europa zuschlägt, nicht die geringsten Abstriche –, mit der gleichen imperialistischen Unverschämtheit, mit der sie die Türkei identifiziert mit ihren Ansprüchen an sie: Sie sind aus der Welt zu schaffen, und dafür verantwortlich ist allein die türkische Regierung:

Die Türkei, die beitritt, wird eine andere sein, verkündet Fischer Deutschlands Forderung in Form einer Prognose, an der es keine Zweifel geben kann. Wir reden über eine langfristige Perspektive. Wir reden über die Modernisierungsperspektive, die funktionieren muss, wir reden über die zu erfüllenden Kopenhagener Kriterien, versichert er all denen, die eben völlig zu Unrecht befürchten, die Regierung habe vor, das Land in seinem jetzigen Zustand beitreten zu lassen.

Die „Kopenhagener Kriterien“, anhand derer Europa die türkische „Beitrittsreife“ überprüft und die die Türkei erfüllen muss, bevor sie auch nur mit einer Zusage für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen rechnen kann, geben Auskunft, wie fundamental die Unzufriedenheit Europas mit der Verfasstheit des türkischen Staatswesens ist:

„Institutionelle Stabilität als Garantie für eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten; eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten, sowie die Übernahme des Acquis Communautaire.“ (aus: Informationen zur politischen Bildung)

Nicht wenig und nicht wenig Widersprüchliches, was die Türkei an der Funktionsweise ihres Gemeinwesens ändern soll, damit sie Europa passt.

  • Die Türkei soll in ihrer Gesellschaft einen politischen Willen installieren, der unerschütterlich auf Europa als den Erfolgsweg der Nation setzt. Dieser darf nicht nur der Wille und die Leitlinie der türkischen Regierung sein; er muss der von allen Parteien getragene und fest in den Köpfen des Volkes verankerte, gültige Nationalismus des Landes sein. Der islamische Glaube soll alle Momente einer anderen politischen Moral oder eines alternativen nationalen Programms verlieren und auf den gesellschaftlichen Stellenwert einer Privatreligion „abgeschwächt“ sein. Dies die Voraussetzung dafür, dass die Türkei zuverlässig die ihr zugedachte stabilisierende Rolle wahrnehmen kann, als Vorbild für andere muslimische Länder in der Nachbarschaft Europas (Schröder) zu wirken. Dabei wissen die europäischen Anschlusspolitiker sehr gut, was sie der Türkei mit ihrer Forderung nach einer pro-europäisch gleichgeschalteten Gesellschaft zumuten. Und sie sind auch die Ersten, die Zweifel anmelden an den Fortschritten, die Ankara in dieser Hinsicht vermeldet. Doch die Schwierigkeiten, die die türkische Regierung bei der Durchsetzung ihres europafreundlichen Kurses mit ihrem Volk bekommt, kümmern Europas Politiker nicht. Sie interessieren sich nur für den erfolgreichen Vollzug des eigenen Forderungskatalogs, und sie sind dreist genug, der Türkei bei der auftragsgemäßen Bekämpfung von Opposition, auf die sie mit ihrer politischen Linie trifft oder durch diese erst hervorruft, den Vorwurf zu machen, bei ihr seien Religions- und Pressefreiheit noch immer eingeschränkt.
  • Endlich endgültig lösen soll die Türkei ihr Kurdenproblem. Den Bürgerkrieg gegen die Kurden hat die türkische Regierung gewonnen und diesen Sieg möchte Europa quittiert bekommen. Der jahrzehntelange massive Gewalteinsatz, der vonnöten war, um die Kurden so niederzukämpfen, dass ihre Subsumtion unter das europäische Minderheitenstatut überhaupt machbar ist und sie sich mit dem Status einer Volksgruppe mit Recht auf eigene Sprache und Kultur zufrieden geben, ist damit abgehakt und als selbstverständliche türkische Leistung einkassiert. Kritisch ist Europa auch hier ausschließlich vom Standpunkt der verlangten Erfolgsgarantie. Die erscheint zweifelhaft, wenn mancherorts und vor allem im Osten des Landes immer noch ein gewisser „Ausnahmezustand“ herrscht. Deswegen handelt sich die türkische Regierung bei allen Maßnahmen, die sie für notwendig hält, um den Kurden alle Überreste von Staatsgegnerschaft auszutreiben, die Rüge ein, sie verstoße gegen die Menschenrechte und schütze ihre Minderheiten nicht angemessen.
  • Eine funktionierende Marktwirtschaft, die stark genug ist, dem europäischen Wettbewerbsdruck standhalten zu können, soll die Türkei zustande bringen – und dahin soll sie sich entwickeln, ohne dass die EU den Kredit zur Verfügung stellt, der dafür alle Mal die unerlässliche Voraussetzung wäre, den die Türkei aber nicht hat. Das Land soll sein „Wohlstandsgefälle“ zur EU beheben, insbesondere dafür Sorge tragen, dass nicht „Millionen muslimischer Arbeitskräfte“ zur Arbeitssuche in die EU kommen – aber eine Ausweitung europäischer Struktur- und Regionalfonds auf die anatolischen Kleinbauern ist Europas Finanzen und vor allem dem Nettozahler Deutschland unmöglich zuzumuten. Benutzt die Türkei ihren Kredit, um aus ihrem äußerst strukturschwachen Süden und Osten die gewünschte „starke und prosperierende Region“ zu machen, beschwert sich Europa über die horrenden Staatsschulden und viel zu hohen Inflationsraten.
  • Die vierte Bedingung, die die EU sich selbst stellt, ist umgekehrter Natur, und auf sie kann bzw. darf die Türkei keinen Einfluss nehmen: Vor der Aufnahme neuer Mitglieder sollte sich die Gemeinschaft reformieren und damit erweiterungsfähig werden. Um fit zu werden für die Aufnahme neuer Kandidaten, will die EU ihre „Entscheidungsstrukturen“ möglichst so „tragfähig“ machen, dass neue Mitglieder sie nicht zum Zwecke eigener nationaler Vorteilsnahme und gegen den Willen der Führungsmächte missbrauchen können. Der Türkei wird mitgeteilt, dass sie sich darauf einzustellen hat, im Falle ihres Beitritts in eine fertige und institutionell abgesicherte Hierarchie der europäischen Mächte eingeordnet zu werden, an der sie nichts mehr ändern können soll.

Die Resultate, die die Türkei bei ihren Bemühungen, europäischen „Standards“ zu „entsprechen“, zuwege bringt, werden von Europas Regierungen in regelmäßigen so genannten Fortschrittsberichten überprüft. Die „Bewertung“ folgt dabei stur dem Leitfaden, dass die Türkei genau so funktionieren soll, wie Europa es von ihr verlangt, Europa aber nichts davon wissen will, dass es selbst mit seinen Forderungen ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die Türkei das nicht schafft. Die türkische Regierung bekommt dann bescheinigt, auf einem guten Weg zu sein, gleichzeitig jedoch in aller Deutlichkeit gesagt, dass noch eine Menge Hausaufgaben zu erledigen (Schröder) sind. Denn es reicht nicht, wenn die Konditionen Europas türkisches Gesetz sind: Sie müssen erst noch wirklich umgesetzt, praktisch wirksam und vor allem nachweislich unumkehrbar (Rau) sein.

Einem harten Test auf Nachgiebigkeit und Kooperationsbereitschaft ohne Gegenleistung wird die Türkei im Vorfeld des Entscheids über ihren Kandidatenstatus in der „Zypern-Frage“ unterzogen. Die EU beansprucht die Insel als einen strategischen Posten im östlichen Mittelmeer, wo es im Zuge europäischer Inbesitznahme des Kontinents heute um „die Frage geht“, ob das Mittelmeer ein Meer der Kooperation oder der Konfrontation wird (Fischer), ob also das Mittelmeer und seine staatlichen Anrainer zur Domäne Europas gehören oder nicht. Deswegen wird mit der griechisch- zypriotischen Regierung die Aufnahme der Insel in die Union ausgehandelt, die nicht anerkannte türkische „Republik“ im Norden offiziell ignoriert und ihrer Schutzmacht, der Türkei, der ersatzlose Verzicht auf ihre nationalen Interessen im Nordteil der Insel und auf ihre Zuständigkeit für den türkischen Volksteil – nicht zuletzt dorthin umgesiedelte Festlandstürken – zugemutet.[3] Der Test geht überraschend gut aus:

„Es sei eine ‚sehr kluge‘ Entscheidung Erdogans gewesen, dass er sich ‚persönlich so positiv‘ in die Zypernverhandlungen eingeschaltet habe. Das sei ‚sicherlich sehr hilfreich‘, damit die EU-Kommission zu einer positiven Bewertung der Türkei komme.“ (Schröder, FAZ 24.2.)

In der Sichtweise Deutschlands und Europas bedeutet der Streit um Zypern für die Türkei eben nichts als eine „weitere Gelegenheit“, zu „beweisen“, dass sie „ein verlässlicher Partner für Europa sein will“ und deswegen den Beitritt verdient.

Die „Türkeifrage“ im Lichte der europäischen Kontroverse um Erweiterung contra Vertiefung der EU: Stärkt oder schwächt ein Beitritt der Türkei Deutschlands Status in Europa?

Schließlich gibt es noch ein, und zwar ganz wesentliches Problem, das Deutschland und die übrigen Europäer mit der Europatauglichkeit der Türkei haben, und an dem kann die Türkei auch mit noch so viel Reformen nichts ändern. Es betrifft die EU-interne Kontroverse um Vertiefung oder/und Erweiterung der Gemeinschaft, die innereuropäische Streit- und Konkurrenzfrage schlechthin, und die gegensätzlichen Positionen, die die beteiligten EU-Nationen da vertreten. So erfährt der von der Türkei beantragte Beitritt eine Bewertung eigener Art: Er wird von Europas Regierungen der Prüfung unterzogen, inwieweit er die Durchsetzung der je eigenen nationalen Interessenlage in diesem Streit befördert oder behindert. Zur Frage, ob überhaupt und wie die Union zu einem einheitlichen politischen Subjekt „zusammenwachsen“ soll und welche Staaten da dazugehören sollen, lautet der deutsche Standpunkt wie folgt: Um sich die imperialistische Handlungsfreiheit zu erobern, von der aus deutscher Sicht Sein oder Nichtsein Europas abhängen, muss die Union nicht nur an der dafür „notwendigen Größe“ (weiter)bauen. Europa braucht dafür auch endlich eine machtvolle Führung, die es vermag, den Rest der Gemeinschaft unter ihren Willen zu beugen. Und es versteht sich hierzulande von selbst, dass die von Deutschland geforderte „Identität“ Europas von der deutschen Führungsmacht im Verbund mit Frankreich definiert wird und die mittlerweile 25 Mitgliednationen auf Deutschland hören müssen, damit Europa funktionieren kann. Dagegen vertreten andere EU-Mächte, exemplarisch Großbritannien, die kongeniale Gegenposition, dass eine oberhoheitliche europäische Machtzentrale, die die Souveräne Europas zur Unterordnung zwingt, eine Gefahr für die eigene Nation darstellt, die es abzuwehren gilt – grundsätzlich, und umso entschiedener dann, wenn die europäische Kommandomacht nicht von einem selbst ausgeht. Die einen wie die anderen Mitglieder begutachten den türkischen Beitrittswunsch im Hinblick darauf, wie er sich auf die eigenen europapolitischen Ansprüche auswirkt. So hatte man in Großbritannien bislang den Verdacht, dass Deutschland und Frankreich den Beitritt „immer wieder verzögern“, weil sie die EU „als exklusiven Club“ behalten möchten; also machte England sich zum Anwalt der Türkei – und an dieser Haltung hat auch Fischers Schwenk in der Frage nichts geändert –, weil es die „enge politische Union“ gar nicht will und sie mittels der Türkei hintertreiben möchte. In Frankreich sprechen maßgebliche Politiker von einer drohenden „Entstellung“ Europas durch die Türkei, womit man in Paris zum Ausdruck bringt, dass man es nicht zulassen wird, dass die Türkei das französische Gewicht in Europa mindert und so die französische Vormachtstellung angreift. Aus Italien hört man, dass dort Berlusconi sehr für einen möglichst frühen Beitritt ist, weil er sich davon eine Stärkung der EU-Mittelmeerachse und damit ein Hilfsmittel für die Nichtunterordnung seines Landes unter die Achse Berlin-Paris verspricht. Und so weiter.

In Deutschland, wo politischer Konsens darüber herrscht, dass man ein Europa will, in dem „wir“ durchgreifend das Sagen haben, und auch die Forderung Fischers nach einem Europa, das den USA strategisch das Wasser reichen kann, unumstritten ist, wirft die projektierte Aufnahme der Türkei die Frage auf, ob eine solche nicht eher eine Gefahr für die als einen Beitrag zur Festigung der deutschen Machtstellung in der Union darstellt und deswegen die „europäische Vision“ zu zerstören droht. Dies ist die Sorge Nr. 1, die eine echte und volle türkische EU-Mitgliedschaft der deutschen Politik bereitet, und um dieses Problem kreisen letztlich sämtliche öffentlichen Debatten, die nationalbewusst Nutzen und Nachteil eines Beitritts ventilieren. Wegen der Unwägbarkeiten, was eine Aufnahme der Türkei für Deutschland Status in der EU bedeutet, ist die Sache in allen deutschen Parteien strittig. Gegner eines Türkei-Beitritts teilen das Ziel, das die Befürworter damit verfolgen, und machen sich Sorgen um dessen Gelingen:

„Wir müssen eine europäische Identität herausbilden. Daran müssen wir kontinuierlich arbeiten. Wenn man das aufgibt und sagt, in den nächsten Jahren folgen wir nur strategischen Überlegungen, dann wird Europa nicht stärker, sondern schwächer.“ (Schäuble)
„Wenn die EU weltpolitisch gegenüber den USA und den kommenden Giganten in Asien bestehen will, muss sie sich zu einer engen politischen Union weiterentwickeln. Ein Erweiterungswahn, der die Grenzen der Integrationsfähigkeit Europas sprengt, wie etwa die Vollmitgliedschaft der Türkei, würde die europäische Vision zerstören… dann wird Europa eine Freihandelszone ohne politische Kraft… Diese Regierung geht nicht auf die Interessen Deutschlands ein. Schröder und Fischer haben hier Perspektiven, die nicht realisierbar sind oder innerhalb Europas Zerwürfnisse zur Folge hätten.“ (Stoiber)

Die „Grenzen“ für „Europas Integrationsfähigkeit“ sprengen würde die Türkei nach Stoibers Auffassung bezeichnenderweise aus dem gleichen Grund, aus dem sie nach Fischers Dafürhalten andererseits unbedingt zum strategischen Besitzstand Europas gehören soll: wegen ihrer Größe und Bedeutung als stattliche Macht im Osten. Für Stoiber ist sie zu groß – allein aufgrund ihrer bis zum Beitritt auf gute 80 Millionen „angeschwollene“ Bevölkerung hätte sie doch tatsächlich genauso viel Stimmrechte wie Deutschland – und zu eigenmächtig, als dass man sie einseitig für die deutschen europapolitischen Strategien funktionalisieren und unter Kontrolle bringen könnte. Sie würde die bestehenden Machtverhältnisse durcheinander bringen und wäre in der Lage, eigene „Vorstellungen“ in Sachen europäischer Innen- und Außenpolitik mit Nachdruck zu vertreten. Und es wäre eben alles andere als ausgemacht, dass sich die Türkei dann in den innereuropäischen Streit- und Konkurrenzfragen auf Deutschlands Seite schlägt und nicht umgekehrt für weitere „Zerwürfnisse“ in der Gemeinschaft sorgt, indem sie mit anderen Mitgliedern Allianzen gegen Deutschland schmiedet. Gerade die Forderung der deutschen Regierung, das Bündnis zu einer strategischen Gegenmacht gegen Amerika auf- und auszubauen, will erst einmal gegen die übrigen EU-Mächte, die ihre eigenen Vorstellungen davon haben, welchen Weg Europa gehen muss, durchgesetzt sein. Die Spaltung Europas in der Irakkriegsfrage hat ja gezeigt, dass manche Nation ihre strategische Bedeutung immer noch besser in der Unterordnung unter die real existierende Weltmacht aufgehoben sieht. Beitrittsskeptiker warnen vor den gleichen Berechnungen, die die anderen – großen wie kleinen – EU-Staaten mit der Türkei anstellen, weil deren Regierungen dabei natürlich auf die Interessen ihres Landes achten.

Besonderes Gewicht kommt bei derlei Erwägungen natürlich der Frage zu, was eine Türkeiaufnahme für das europäisch-amerikanische Kräfteverhältnis bedeutet. Der Nachdruck, mit dem die USA Europa zur Aufnahme der Türkei drängen, macht misstrauisch:

„Ein ungeheurer Vorteil für Washington wäre indes, dass eine um die Türkei erweiterte Europäische Union für Jahrzehnte als politischer Konkurrent nicht mehr in Frage käme – der zu erwartende innereuropäische Dauerzwist würde die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft lähmen und sie leichter manipulierbar machen.“ (FAZ, 17.2.)

Ist der Beitritt wirklich geeignet, Europa einen Machtzuwachs auf Kosten Amerikas zu verschaffen, oder holt man sich nicht umgekehrt mit der Türkei ein „trojanisches Pferd der USA“ nach Europa. Gehen damit nicht die Berechnungen Amerikas auf, die EU einerseits für eine ökonomische und politische Stabilisierung der Türkei zu benutzen, also Europa die Kosten für die Aufrechterhaltung der Türkei als verlässlicher Nato-Bündnispartner aufzuhalsen, und gleichzeitig über die Türkei die strategischen Interessen Amerikas fest in Europa zu verankern und auf diese Weise den strategischen Emanzipationsplanungen Deutschlands entgegenzuwirken.

Solche Befürchtungen plagen Schäuble, Stoiber und Co. Sie plädieren deswegen dafür, sich vorrangig an die Konsolidierung der deutsch-französischen Unionsführung und deren Kontrolle über Resteuropa zu machen, anstatt diesen Prozess durch die Aufnahme der Türkei nur noch schwieriger zu gestalten. (Die Neumitglieder aus dem Osten sind ja noch gar nicht „verdaut“.) Andernfalls setze Europa seine „Finalität“ gerade aufs Spiel, wenn es quasi aus Übereifer und ohne vorherige Klärung der Machtfrage in Europa „nur strategischen Überlegungen“ folgt.

Umgekehrt übersieht oder unterschätzt Außenminister Fischer keineswegs die Risiken für Europas interne Handlungsfähigkeit. Er kalkuliert andersherum, gewissermaßen gemäß der Devise, dass „sein wird, was sein muss“:

„Wir entkommen dieser strategischen Dimension der europäischen Verantwortung nicht. Es mag sein, dass sie uns temporär sehr viel abverlangt. Aber ich glaube daran, dass diese Herausforderung letztlich in der Auflösung solcher Krisen endet…
Wenn wir heute den Türken sagen, eure Perspektive ist nur die einer privilegierten Partnerschaft, dann sollte man lieber gleich ehrlich sagen: ihr kommt nicht rein. Das wird man dann abwägen müssen mit der neuen strategischen Situation. Das würde die Türkei zurückwerfen mit ungewissem Ausgang. Die Türkei wäre wieder auf sich gestellt, mit all den negativen Konsequenzen, die das hat, in einer Situation, in der wir zugleich vor der strategischen Herausforderung stehen, einen neuen größeren Mittleren Osten zu schaffen…
Die Verfassung ist ein Optimum dessen, was man an Integration erreichen kann. Sie ist auch dynamisch genug, um aus sich heraus wachsenden Ansprüchen gerecht zu werden…
Die Spaltung im Irak-Konflikt hat bei den Europäern eher die Erkenntnis gefördert, die strategische Dimension auszufüllen…
Ich glaube, der Druck wird so stark werden, dass die Geschichte die Dinge in die richtige Richtung schiebt.“ (Fischer)

Im Klartext also:

  • Angesichts der Herausforderung, die das amerikanische Kriegsprogramm, die Staatenwelt pro-amerikanisch zu gestalten, für Europas gleich gelagerten Ambitionen darstellt, kann es sich Europa sowieso nicht erlauben, seine „strategische Dimension“ hintanzustellen.
  • Erteilt man jetzt dem türkischen Gesuch eine endgültige Absage, muss sich Deutschland über die zu befürchtenden Folgen im Klaren sein: Dann muss man damit rechnen, dass die Türkei von ihrer europafreundlichen Linie abrückt, „auf sich gestellt ist“, sprich nicht mehr auf Europa als seine nationale Perspektive setzt, und deswegen für Europa verloren ist. Denn mit einer „privilegierten Partnerschaft“ – die Idee einer „festen strategischen Anbindung“ der Türkei, ohne sie bei den entscheidenden europäischen Streitfragen mitbestimmen zu lassen – lässt sich die Türkei nach „so viel Jahren Vorarbeit“ nicht mehr „abspeisen“. Da sind Fischer und die Regierung realistisch. Sie kalkulieren die langfristige Gewährung der Vollmitgliedschaft als den zu zahlenden Preis, ohne den die gewünschte Funktionalisierung der Türkei für europäische Weltmachtpläne nicht zu haben ist.
  • Die kühne „Strategie“ deutscher Europapolitik muss es von daher sein, die Erweiterung der Union durch den Anschluss der Türkei als Produktivkraft zu sehen auch für den notwendigen Vertiefungsprozess der Gemeinschaft – sozusagen als heilsamen Zwang, der dazu führen muss, dass sich auch in der Frage, wer in Europa die politische Linie bestimmt, die Dinge in die richtige Richtung bewegen.
  • Dabei setzt Fischer darauf, dass die furchtbare Konsequenz, vor der Stoiber und Beitrittsgegner so nachdrücklich warnen – die EU als „Freihandelszone ohne politische Kraft“ –, für kein Mitgliedsland in Frage kommt, weil keine Nation auf den Einfluss in der Welt, den sie durch Europa besitzt, verzichten will; dass außerdem gerade die Irakkrieg-Erfahrungen die europäischen Abweichler doch gelehrt haben müssen, dass ihre Kalkulationen, mehr weltpolitisches Gewicht und damit auch mehr Macht in Europa durch einen bedingungslosen Schulterschluss mit Amerika zu erreichen, nicht aufgegangen sind; dass daher auch ihre Nationen, wollen sie eine weltpolitisch relevante Rolle erringen, letztlich nicht umhin kommen, auf den Ausbau des europäischen Bündnisses zu einem strategischen Gegenspieler der USA zu setzen; und dass letztendlich beides zusammen – sowie eine Verfassung, deren Leistungsfähigkeit in Sachen europäischer Willensbildung deutschen Ansprüchen durchaus gerecht wird, dazu führen werden, dass Deutschlands Visionen von Europa wahr werden.

So weit die Differenzen in der Sache. Eine demokratische „Dimension“ hat die Auseinandersetzung aber natürlich auch noch: Beide Seiten verstehen sich darauf, ihre Kalkulationen in eine leicht fassliche kulturhistorische Grundsatzfrage zu übersetzen und dem gebildeten Volk die eigenen Zukunftsberechnungen bezüglich der Brauchbarkeit der Türkei für Deutschlands Europastrategie als Urteil über die Europa-Eignung der Türken vorzubuchstabieren. Denn nichts als die Quintessenz solcher Berechnungen wird ausgesprochen, wenn man hierzulande über die „Fundamente“ einer „europäischen Identität“ räsoniert und darüber gerechtet wird, ob christlich-abendländische Werte und türkisch-islamische Kultur überhaupt miteinander verträglich sind. In der Fassung werden umgekehrt die kompliziertesten imperialistischen Kalkulationen mit dem gemeinen Rassismus kompatibel, dessen Pro und Contra so unverwüstlich wahlkampftauglich ist.

[1] Der damalige Stand der europäischen Berechnungen in Bezug auf die Türkei ist nachzulesen in GegenStandpunkt 3-2000, S.181: „Warum der Fortschritt Europas eine Neudefinition der Beziehungen zur Türkei erforderlich macht.“ Und im GegenStandpunkt 1-98, S.155: „Warum die Türkei nicht in die Europäische Union passt – Über die Unvereinbarkeit europäischer und türkischer Berechnungen.“

[2] Denn darauf kommt es an bei der Weltordnung: Nicht, dass sie menschenrechtlich und friedlich sei, sondern dass sie von Europa ausgeht. Und weil es Fischer heute darum geht, diesen Anspruch klar und deutlich anzumelden, spart er sich die Heuchelei mit den Menschenrechten.

[3] Näheres dazu in unserem Zypern-Artikel in dieser Ausgabe