EU-Kandidatenstatus für einen „schwierigen Partner“
Warum der Fortschritt Europas eine Neudefinition der Beziehungen zur Türkei erforderlich macht

Die strategischen Interessen der EU gebieten einen neuen Blick auf die Türkei – mit der Absicht, aus den türkischen Regionalmachtbestrebungen einen Beitrag für das eigene Aufbruchsprogramm zu machen: Die Türkei sieht das genau umgekehrt und besteht auf dem Recht, im Aufbruchsprogramm Europas eine angemessene Berücksichtigung zu finden. Unterstützt wird sie darin von den USA, die damit ihre Definition von der Wende europäischer Türkeipolitik festklopfen wollen: nämlich als Beitrag zur Nato, in der sie das Sagen haben. Auftakt für ein fröhliches Hauen und Stechen.

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EU-Kandidatenstatus für einen „schwierigen Partner“
Warum der Fortschritt Europas eine Neudefinition der Beziehungen zur Türkei erforderlich macht

1987 hatte die Türkei einen Antrag auf Vollmitgliedschaft in der EU gestellt. Dieser wurde 2 Jahre später von der EG-Kommission abgelehnt. Und beim Beschluss der EU zur Ost-Erweiterung 1997 wurde der Türkei explizit der Status eines EU-Beitrittskandidaten verweigert.[1] Ende 1999 auf dem Gipfel in Helsinki kürt die EU die Türkei zum Beitrittskandidaten. Dazu erklärt der EU-Kommissar Verheugen:

„Der Kandidatenstatus für die Türkei ist keine Wohltätigkeit seitens der EU, sondern eine politische Strategie, mit der wir unsere eigenen Interessen verfolgen.“ (EU-Kommissar Verheugen)

Offenbar geht die beschlossene „Wende“ in Sachen europäischer Türkei-Politik mit einem gewissen Rechtfertigungsbedarf einher. Darauf, die banale Selbstverständlichkeit eigens zu betonen, mit dem Beitrittsangebot an die Türkei betreibe man keine Wohltätigkeitsveranstaltung, sondern wolle die Interessen Europas voranbringen, kommt Verheugen deshalb, weil er die aktuelle Entscheidung der EU mit dem Bild vergleicht, das Europa-Politiker wie er in der Vergangenheit über die Türkei in Umlauf gebracht haben. Schließlich war da immer die Rede von einem uns ebenso „fernen“ wie „fremden“ Land, das nicht nur „wirtschaftlich rückständig“ sei, sondern auch Defizite in Sachen „Demokratie“ und „Menschenrechte“ aufweise und überhaupt einem „anderen Kulturkreis“ angehöre. Zwar hatte dieses Bild noch nie etwas mit der Wirklichkeit der europäisch-türkischen Beziehungen zu tun – die Türkei ist schließlich seit 1952 Mitglied der Nato-‚Wertegemeinschaft‘, seit Anfang der 60-er Jahre „assoziierter Partner“ der EG/EU und über eine Zollunion und diverse Gremien fest in Europa integriert –, aber es tat seine guten Dienste für die Botschaft: Als Mitglied passt die Türkei definitiv nicht zu unserem Verein! Das galt bis gestern. Heute ist zu vernehmen, dass uns die Türkei „nähergerückt“ sei und dass man einen „anderen Blick“ auf dieses Land zu werfen habe, der manches von dem, was einem früher so befremdlich, also nicht zu Europa passend vorkam, in einem anderen Licht erscheinen lässt. Hieß es z. B. noch früher, dass ein Beitrittsangebot an die Türkei nicht in Frage kommt, weil es „wirtschaftlich keinen Sinn“ macht, so ist heute zu lesen, dass die Türkei besser dasteht, wenn man nur den richtigen Maßstab an sie anlegt:

„Die Wertung sieht ganz anders aus, wenn man politische Kriterien heranzieht.“ (europa blätter)

Nicht, dass die alten Einwände vom Tisch wären, aber – so ist zu erfahren – sie sind neu zu gewichten, wenn man anders – ‚politisch‘ nämlich – auf die Türkei schaut:

„Man muss sich fragen, ob es im Interesse Europas ist, die Türkei mit ihren Problemen allein zu lassen, sie zu zwingen, einen außereuropäischen Kurs zu verfolgen und die Südostflanke unseres Kontinents außerhalb des EU-Bereichs zu belassen.“ (europa blätter)

Es sind die eigenen strategischen Interessen, die den neuen Blick Europas auf die Türkei gebieten. Ihretwegen kehrt man ein ganz anderes Bild von diesem Land hervor als das bislang gültige. Statt die politische und kulturelle Andersartigkeit, die uneuropäischen Sitten und Gepflogenheiten zu betonen, deutet man heute auf eine Türkei als ein Land, das über Qualitäten verfügt, die zu Europa eigentlich ganz gut passen: Die Türkei ist ein „Machtfaktor“, hat eine „wichtige geostrategische Lage“ und verfügt über „Einfluss“ in einer Gegend, auf die man als „Südostflanke unseres Kontinents“ aufzumerken hat. So wird an dieser neuen Begutachtung kenntlich, dass all die abschätzigen Urteile von früher ein Vorwand waren. In ihnen drückte die europäische Gemeinschaft ihre damals gültigen Berechnungen aus. Und deren wesentlicher Kern war, dass sie sich von einem Betritt der Türkei keinen Zugewinn versprach. Nun, bei erneuter Sichtung der Interessen Europas, revidiert man dieses Urteil über die Türkei.

Was die Türkei interessant macht:Eine ausgreifende Regionalmacht im südöstlichen Vorfeld Europas

„Die Türkei ist eine Macht im östlichen Mittelmeer, in der Schwarzmeer-Region und auf dem Balkan. Sie wird zum Energie-Umschlagplatz, von dem aus die Gas- und Ölreichtümer des kaspischen Beckens und des Kaukasus auf den Weltmarkt befördert werden.“ (Der türkische Ministerpräsident Ecevit)

Mit dieser Leistungsbilanz wartet der Türke schon seit längerem bei seinen „Partnern“ von der EU auf, um so die Anfrage loszuwerden, was Europa eigentlich sein will: eine „christliche Wertegemeinschaft“, die auf Abgrenzung gegenüber einem „islamischen Staat“ besteht; eine „Wirtschaftsgemeinschaft“, welche die Türkei als eine einzige Belastung betrachtet; oder aber eine „politische Gemeinschaft“ mit Weltmachtperspektiven, für die die mächtige Türkei als Mitbeteiligter einen entscheidenden Zuwachs darstellt. Diese Anfrage ist mit dem Beitrittsangebot seitens der EU inzwischen eindeutig beantwortet: Es geht Europa um die Ausweitung seiner Macht. Deshalb nehmen Europas Macher inzwischen neu zur Kenntnis, was die Türkei als „Machtfaktor“ darstellt und treibt.

So kommt die Türkei als ein Land ins Visier, das in alle Himmelsrichtungen die Entfaltung eigener Macht auf Kosten anderer Staaten betreibt, wie dies auch die Hauptmächte des Kapitalismus als selbstverständlichen Zweck und Bedingung ihres Erfolges wissen. Dabei ist die Türkei nicht nur als Verbündeter der NATO, sondern auch ziemlich autonom unterwegs,[2] wenn es gilt, den eigenen Einfluss auf die Regelung der regionalen Machtverhältnisse zu erweitern:– Durch das Ende des kommunistischen „Systems der Unfreiheit“ sieht die Türkei vor allem sich selbst befreit, nämlich zum Zugriff auf den Machtbereich der kaukasischen und zentralasiatischen Nachfolgestaaten der SU, bei denen sie sich als säkulares Modell islamischer Orientierung ebenso vorstellig macht wie als Mittler einer ökonomischen und politischen Integration in den „Westen“. So greift die Türkei mit ihrem Willen zur Erweiterung ihrer eigenen Machtgrundlagen nicht nur in lauter umstrittene Ordnungsfragen ein (so auf Seiten Aserbaidschans im Krieg gegen Armenien), sondern bestreitet zugleich mit ihrem Anspruch auf Zuständigkeit für diverse „Turkvölker“[3] Russland die beanspruchte Kontrollgewalt über diese Region. Dass die Türkei die Kombination aus Aufbruchswillen und Mittellosigkeit dieser neuen Staaten mit Kreditzusagen ausnutzt, beweist, dass sich dieses Land, wiewohl selbst IWF-Betreuungsfall, von seiner prekären ökonomischen Lage nicht bremsen lässt,[4] wenn es darum geht, seine strategischen Interessen geltend zu machen:

„Die Türkei leistet diesen Ländern auf einer bilateralen Basis wirtschaftliche, kommerzielle, technische und kulturelle Unterstützung und drängt ihre westlichen Partner, dasselbe zu tun.“ (Türkische Botschaft Berlin, Grundsätze der türkischen Außenpolitik, 9.5.00)

Ganz im Stile des sich nach Osten erweiternden Europa, wenn auch mit bescheideneren Mitteln, versucht die Türkei, qua Stiftung „ökonomischer Zusammenarbeit“ zwischen den Schwarzmeer-Anrainerstaaten Geschäftsgelegenheiten für das heimische Kapital zu erschließen und diese „Beziehungen“ zum Mittel der von ihr beanspruchten Vormachtstellung in der Region zu machen.

„Die Türkei spielt eine führende Rolle bei der Aufstellung der BSEC (Black Sea Economic Cooperation). Die Idee hinter diesem regionalen Kooperationsschema ist es, eine große Gemeinschaft von Schwarzmeerküstenstaaten und anderen interessierten Balkanländern und kaukasischen Nationen durch wirtschaftliche Joint Ventures und zunehmenden Handel ins Leben zu rufen.“ (Türkische Botschaft Berlin)
  • Mit ihrem „Südostanatolienprojekt“, dem geplanten Bau von 21 Staudämmen und 17 Wasserkraftwerken, führt die Türkei, eines der „wasserreichsten Länder im Nahen Osten“, vor, wie sich aus einer vorgefundenen Naturbedingung ein strategisches Gut verfertigen lässt. Steht dieses Projekt zum einen für ein ziemlich gigantisches land- und energiewirtschaftliches Entwicklungsprogramm, so lässt sich damit zugleich der Wasserabfluss aus Euphrat und Tigris in die Nachbarstaaten Irak und Syrien kommandieren, also zum Mittel der Durchsetzung eigener Machtansprüche gegenüber diesen Ländern machen:
    „Türkische Politiker unterschiedlicher Couleur haben in der letzten Zeit keinen Zweifel daran gelassen, dass sie Euphrat und Tigris als ‚Bodenressourcen der Türkei‘ betrachten und jeden rechtlichen Anspruch Syriens und des Irak, die grenzüberschreitenden Ströme als ‚internationale Wasserressourcen‘ zu verstehen, ablehnen. Wasser sei ein Bodenreichtum der Türkei – genau wie das Erdöl ein Bodenschatz der arabischen Welt sei.“ (U. Steinbach, Die Türkei im 20. Jahrhundert, 1996, S.277)[5]
  • Wie ernst es der Türkei damit ist, ihr Recht auf eine autonome Machtentfaltung in der Region geltend zu machen, ist an den Territorialstreitigkeiten mit dem NATO- und EU-Partner Griechenland zu sehen, an denen sie festhält ungeachtet der Vermittlungsversuche seitens der Vormächte, diesen sie störenden Konflikt zu „entschärfen“. Solchen diplomatischen Bemühungen begegnet die Türkei mit der vertrauten Tour, sich für alle „Vermittlungsanstrengungen aufgeschlossen“ zu zeigen, aber gleichzeitig darauf zu verweisen, dass die andere Seite eine Verständigung unmöglich macht, weil sie sich einseitig Rechte anmaßt, die ihr nicht zustehen:
    „Die Beziehungen zwischen der Türkei und Griechenland basieren auf dem Lausanne-Vertrag aus dem Jahr 1923, der eine Balance von Rechten und Pflichten beider Partner schuf. Die Probleme entstehen im wesentlichen aus den Versuchen Griechenlands, diese empfindliche Balance zu unterminieren.“ (Türkische Botschaft)
  • Weil sich die Türkei mit ihren grenzüberschreitenden Aktivitäten zahlreiche Feinde in der Region macht, hat sie zur Stärkung ihrer Abschreckungsmacht einen „militärischen Kooperationsvertrag“ mit Israel geschlossen:
    „Obwohl das Abkommen kein formelles Bündnis darstellt, wird es vor allem innerhalb des Mittleren Ostens als gewichtiger neuer Machtfaktor gewertet. Grundlagen der strategischen Zusammenarbeit sind die gemeinsame Westorientierung sowie gespannte Verhältnisse zu den gleichen arabischen wie islamischen Staaten.“ (Europäische Sicherheit, 9/99)
  • Darüber hinaus verfügt die Türkei über ein umfassendes militärisches Potential, um ihren Vormachtansprüchen gegenüber anderen Staaten in der näheren und weiteren Region die nötige Unwidersprechlichkeit zu verleihen. Diesen Gewaltapparat baut die Türkei gegenwärtig mit umfangreichen Aufrüstungsprogrammen entscheidend aus, nicht zuletzt im Hinblick auf die von ihr angestrebte strategische Position als „Umschlagplatz“ für die Öl- und Gasvorkommen aus der Region des Kaspischen Meeres. Schließlich greift sie mit diesem von Amerika geförderten Ansinnen nachhaltig in die Rechnungen der dort ansässigen Staaten ein und zielt darauf ab, im Verein mit den USA Russland das Öl als Quelle seiner Macht streitig zu machen.[6]
  • Mit dem Einsatz dieser Militärmaschinerie hat die Türkei inzwischen außerdem die Konsolidierung ihrer Staatsmacht nach innen entscheidend vorangetrieben. Mit Kriegsaktionen im Innern und über die Grenzen hinaus in den Irak hinein sowie mit glaubwürdigen Kriegsdrohungen gegenüber Syrien ist es der Türkei – mit Duldung bzw. Billigung ihrer NATO-Partner – gelungen, die ‚Kurdenfrage‘ zu erledigen, nämlich alle politischen Ambitionen dieser Völkerschaft mit flächendeckendem Terror gründlich zu zerschlagen. Sie präsentiert sich damit als eine Macht, die willens und fähig ist, ihren nationalen Herrschaftsanspruch gegen die Gegner im eigenen Land, aber auch gegen seine feindlichen Nachbarn durchzusetzen.

Alles in allem also eine recht imponierende imperialistische Leistungsbilanz, die auch nicht dadurch geschmälert wird, dass die Türkei bei ihren raumgreifenden Aktivitäten hie und da auf Schranken stößt, die ihr vom „Westen“, vor allem von der NATO-Führungsmacht USA, gesetzt werden.[7] Letzteres verweist vielmehr auf die Eigenart des türkischen Imperialismus: Die Türkei benutzt ihre NATO-Mitgliedschaft als Rückendeckung für die Verfolgung ihrer eigenen Machtansprüche. Was umgekehrt die Kalkulation einschließt, mit der erfolgreichen Durchsetzung ihrer nationalen Anliegen ihr Gewicht im Bündnis erhöhen zu können. Und eben dieses berechnende Interesse lässt die Türkei erwartungsvoll auf die europäischen NATO-Partner spekulieren, die sich für ihr Aufbruchsprogramm ihrerseits die nicht geringe Macht ihres türkischen Partners zunutze machen wollen. Diesem Begehren präsentiert sich die Türkei als Angebot, um die Konkurrenz zwischen den Hauptmächten für sich auszunutzen und Anspruch auf die Verbesserung des eigenen Status in Europa zu erheben.[8]

Ein Respektserweis in berechnender Absicht: Europa will die „strategische Bedeutung“ der Türkei für eigene Interessen nutzen

„Jeder weiß, dass die Türkei noch einen langen Weg vor sich hat. Wer aber über die Stabilität der Region nachdenkt, der kann nicht anders.“ (Bundeskanzler Schröder)

So kommentiert Schröder die Gipfel-Entscheidung von Helsinki, die Türkei zum EU-Beitrittskandidaten zu küren, und gibt damit kund, dass die Türkei nicht wegen ihres Beitrags zur Stabilität des europäischen Geldes gefragt ist, sondern wegen ihrer Rolle als Regionalmacht. Europa will sich nämlich selber als Ordnungsmacht neu aufstellen. Deshalb ist ein „Nachdenken“ über Stabilität im strategischen Sinn angesagt, und zwar über die Grenzen des Raumes hinaus, den die EU mit ihrer Osterweiterung in Besitz nehmen will. Unübersehbar will die EU nicht nur ihre Grenzen ausweiten, sondern über die hinaus ihren Einfluss ausdehnen. Europa rechnet mit den Ambitionen und Fähigkeiten der verschiedenen Staaten in der Region, um die Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern, und will diese Bemühungen maßgeblich bestimmen. Dabei ist der anspruchsvolle Gesichtspunkt maßgebend, ob das, was die verschiedenen Nationen mit- und gegeneinander treiben, mehr förderlich oder mehr störend für das Kontrollregime ist, das die EU in der Region etablieren will. Mit diesem Programm ‚regionaler Stabilität‘ tritt die EU in Konkurrenz zu den Ansprüchen anderer Mächte, die sich zur Festlegung und Beaufsichtigung der Machtverhältnisse vor Ort befugt sehen, allen voran denen der USA, aber auch Russlands.

Wenn ein deutscher Kanzler in diesem Sinn über die Region nachdenkt, schaut er aus seiner, sprich: europäischen Perspektive auf die Betätigungsfelder der türkischen Politik und entdeckt zunächst einmal jede Menge störende „Instabilität“:

  • Da ist Russland, der Nachfolgestaat einer Weltmacht, der einen exemplarischen Krieg in der Region um die Geltung seiner Macht führt, sich also ersichtlich nicht mit einer definitiven Trennung von seinem ehemaligen Besitzstand abfinden will.
  • Da findet sich eine Ansammlung neuer Staaten, die, kaum gegründet, lauter kriegsträchtige Streitfragen miteinander austragen.
  • Da gibt es unsichere Kantonisten wie Syrien, Irak und den Iran, die, wenn auch mit unterschiedlichem Vermögen, um bestimmenden Einfluss in der Region kämpfen.
  • Da findet der Streit um Existenzrecht und Ausstattung eines neuen Staates Palästina statt, eine weltpolitische Affäre, die schon allein deshalb mit besonderer Sorge zu betrachten ist, weil Europa auf diesen „Friedensprozess“ vergleichsweise wenig Einfluss hat.
  • Und da gibt es eine mit dem Ende der Sowjetunion zu neuer Bedeutung gelangte Öl- und Gasregion, auf die sich die konkurrierenden Interessen der Anrainerstaaten ebenso richten wie die der kapitalistischen Hauptmächte, wobei die USA zum Leidwesen der EU-Staaten auch in dieser Weltordnungsaffäre eine „dominante Position“ einnehmen.

Wegen dieser strategischen Sondierung des gesamten Raumes kommt für die aufstrebenden Euro-Imperialisten ihr alter NATO- und EU-Partner Türkei als ein potentieller „Stabilitätsfaktor“ ins Visier, den sie in die eigenen raumgreifenden Interessen „einbinden“ müssen:

„Wir können nicht einerseits die strategische Bedeutung der Türkei für Europa immer wieder hervorstreichen, ihr innerhalb der NATO große Lasten aufbürden, sie als wichtige Regionalmacht hofieren und sie auf europäische Standards verpflichten, wenn wir nicht andererseits auch bereit sind, ihr eine klare europäische Perspektive zu geben, die über eine reine Zollunion hinausgeht.“ (Regierungserklärung Schröder, 16.12.99)

Von wegen „nicht können“ – die Europäer wollen heutzutage etwas anderes: Sie beauftragen sich mit der Wahrnehmung hegemonialer Interessen im Osten ihres Kontinents und nehmen sich vor, aus den türkischen Regionalmachtbestrebungen einen Beitrag für das eigene Aufbruchsprogramm zu machen. Und dabei weiß der deutsche Kanzler ganz genau, dass diese Absicht nur mit Konzessionen an die Türkei zu verwirklichen ist.

An welche Leistungen des potentiellen „Stabilitätsfaktors“ Türkei gedacht ist, hat der deutsche Außenminister an zwei aufschlussreichen Beispielen deutlich gemacht:

„Der Nah-Ost-Friedensprozess hängt im wesentlichen von dieser Stabilität ab.“ Und: „Auch im Kaukasus und Zentralasien wird die Türkei eine wichtige Rolle spielen.“ (Bundestagsdebatte, 3.12.99)

Die Türkei ist in diesen Weltgegenden schon eingemischt, in denen die EU an Einfluß gewinnen will. Europa ist daher an einer Funktionalisierung der türkischen Stellung interessiert. Die Türkei soll mit der Betätigung ihrer Macht europäische Machtansprüche auf neues Terrain zu transportieren: Das ist gemeint, wenn die Türkei als ein „Brückenkopf“ verhandelt wird.[9]

Wegen dieser Ambitionen wurde in Helsinki die Türkei zum Kandidaten der EU aufgewertet:[10]

„Wenn wir jetzt der Regierung in Ankara keine klare Perspektive geben, ist die Türkei für den Westen verloren.“ (Verheugen, Welt, 9.12.99)

Gemeint ist selbstredend: verloren für Europa. Bloß: Die Türkei nicht verloren zu geben, ist einerseits nicht gleichbedeutend damit, sie schon für sich gewonnen zu haben. Andererseits haben Europas Politiker, wenn sie ihr bescheinigen, noch „einen langen Weg“ vor sich zu haben, sich offenkundig vorgenommen, die Türkei erst noch zu dem „Partner“ herzurichten, der zu ihren strategischen Ambitionen passt.

Die neue Frage für Europa: Wie lässt sich der „Machtfaktor“ Türkei an den eigenen Interessen ausrichten?

„Wenn man ja zu dieser Stabilitätsfunktion der Türkei in der Region sagt, dann stellt sich in der Tat die entscheidende Frage, welche Türkei in Zukunft dieser Partner sein wird. Ist es eine Türkei, die sich über ihren Weg selbst im Unklaren ist und die isoliert ist, oder ist es eine europäisch ausgerichtete Türkei…“ (Außenminister Fischer)

Das ist ersichtlich eine rhetorische Frage. Weder ist die Türkei als Mitglied der NATO sonderlich isoliert, noch sind ihre Ansprüche in der Region und an Europa übermäßig unklar – unklar ist vielmehr, ob sie sich dem Verlangen, sich an Europa auszurichten, d.h. unterzuordnen, so ohne weiteres fügt. Um dieser Entscheidung nachzuhelfen, bringt die EU einen nach wie vor gültigen Vorbehalt in Anschlag, den der Kandidat auszuräumen hat. Sie veranstaltet, deutlich unterschieden von ihrem Umgang mit den übrigen Erweiterungskandidaten, einen eigenen „Prozess der Heranführung“, der nicht mit dem Versprechen verbunden ist, so bald wie möglich in „konkrete Beitrittsverhandlungen“ einzusteigen. Die „klare europäische Perspektive“, welche die EU der Türkei mit dem neuen Kandidatenstatus gegeben hat, ist also gar nicht so klar; es sei denn, sie bewährt sich als das probate Mittel, die gewünschte Ausrichtung der Türkei an Europa wirksam voranzubringen. So ist dem Beitrittsangebot von Helsinki ein Dokument namens „Schlussfolgerungen“ beigelegt, welches nicht nur die „Streitfragen“ auflistet, sondern zugleich vorgibt, wie sie zu einer EU-konformen Lösung gebracht werden sollen. Darin heißt es zum Beispiel in Art. 4:

„Der Europäische Rat wird die Situation hinsichtlich ungelöster Streitfälle, insbesondere im Hinblick auf die Auswirkungen auf den Beitrittsprozess und mit dem Ziel, ihre Beilegung durch den internationalen Gerichtshof zu fördern, spätestens bis 2004 überprüfen…“ (Welt, 13.12.99)

Besagte „ungelöste Streitfälle“ betreffen vorrangig die türkischen Territorialstreitigkeiten mit Griechenland, denn die Kriegsträchtigkeit dieses „Konflikts“ liegt quer zu einem europäischen Aufbruchsprogramm, das nur seine eigenen Kriegsnotwendigkeiten kennt und respektiert wissen will. Die Türkei soll sich also in dieser elementaren Souveränitätsfrage dem Europäischen Rat als einer ihr übergeordneten Instanz unterstellen, und ihre Bereitschaft dazu erklärt die EU zum Kriterium ihrer Beitrittswürdigkeit.[11] Das jedenfalls ist der geltend gemachte Anspruch der EU-Verhandlungsführer, der allerdings auf einen Verhandlungspartner trifft, der sich das Recht zum Einspruch gegen die Beitrittskonditionen nimmt:

„Die Türkei kann nicht akzeptieren, dass die in den Schlussfolgerungen enthaltenen Probleme zwischen der Türkei und Griechenland … bis spätestens 2004 vor den Internationalen Gerichtshof gebracht werden müssen.“ (Presseerklärung Ecevit, 10.12.99)

Wegen der elementaren Interessen, die die Türkei in den „Prozess der Heranführung“ an die EU einzubringen hat und berücksichtigt sehen will, besteht sie darauf, dass die Beitrittskonditionen auszuhandeln und nicht einseitig festzulegen sind. So Ecevit:

„Die Tür ist geöffnet worden ohne jede Vorbedingung für die volle Mitgliedschaft der Türkei in der EU.“ [12]

Die EU hat es also mit einem Kandidaten zu tun, dessen Nationalismus sich nicht so einfach disziplinieren lässt wie bei den übrigen Anwärtern. Dabei ist das, was sie an der Türkei stört und so gern als menschenrechtlichen Vorbehalt geltend macht,[13] genaugenommen nur die Kehrseite dessen, was Europa an der Türkei so attraktiv findet: Gerade weil die Türkei ein veritabler „Machtfaktor“ ist, dessen „strategische Bedeutung“ von der EU heftig umworben wird, bekommt diese es mit einem Kandidaten zu tun, der auf seinem Recht besteht, im Aufbruchsprogramm Europas eine angemessene Berücksichtigung zu finden.

Das neue Problem für Europa:Was die Türkei von einem Beitritt verlangt

„Die Transparenz gegenüber anderen wird sehr groß sein, aber wir als EU-Länder können die politische Entscheidung nicht aus der Hand geben… Wie Sie wissen, ist die Türkei seit Helsinki EU-Beitrittskandidat. Sie steht damit bereits jetzt in einem privilegierten Verhältnis zur EU.“ (Der außenpolitische Repräsentant der EU, Solana)

Diese Erklärung Solanas ist die Antwort der EU auf den Antrag der Türkei, als „europäisches“ Mitglied der NATO einen „Anspruch auf eine direkte Beteiligung an den Konsultations- und Entscheidungsmechanismen der im Entstehen begriffenen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (ESVP) zu haben (FAZ, 19.6.00). Diesen Anspruch sieht die Türkei durch ein Votum der USA gedeckt, die bei allem „grundsätzlichen Einverständnis“ mit dem Vorhaben der Europäer, eine eigene Eingreiftruppe aufzustellen, den Einfluss der NATO in diesem neuen militärischen Verbund gesichert wissen will. So verlangen die USA von der EU, auf keinen Fall NATO-Mitglieder, die nicht der EU angehören, zu „diskriminieren“, also von einer gleichberechtigten Mitarbeit in den zuständigen Gremien auszuschließen.

„Die Türkei wittert jedoch eine Diskriminierung. Sie verweist unter anderem auf das Kommuniqué des Nato-Jubiläumsgipfels in Washington vor einem Jahr, in dem festgehalten wurde, es sei ‚von höchster Bedeutung‘, dass bei einem von der EU geführten Kriseneinsatz die ‚im vollsten Umfang mögliche Beteiligung‘ nicht der EU angehörender Bündnispartner gewährleistet werde.“ (FAZ, 19.6.00)

Dabei beruft sich die Türkei darauf, dass sie die von den „Europäern“ geforderte „Anpassung“ der NATO an ihre militärischen Bedürfnisse immer schon unterstützt, besteht allerdings im Hinblick auf die eigene Rolle als Nahost-Basis der NATO darauf, dass alle Nato-Länder gesondert konsultiert werden und zustimmen müssen, will Europa sich der NATO-„Strukturen“ bedienen:

„Die Türkei hat diesen Prozess der Anpassung unterstützt, von dem sie glaubt, dass er notwendig sei, um die NATO wiederzubeleben und sie flexibler zu gestalten, um so den neuen Herausforderungen der Ära nach dem Kalten Krieg zu begegnen. Weil die Türkei die volle Integration in alle westlichen Einrichtungen anstrebt, betrachtet sie die WEU-Mitgliedschaft als Endziel.“ (Türkische Botschaft Berlin)

Was immer der Türkei als „Endziel“ vorschweben mag – dazu gehört vor allem eine Einbeziehung in die ESVP, die mindestens ihrem assoziierten Status in der WEU entspricht; Ankara bekundet unermüdlich die Bereitschaft, eigene „Einsatzverbände“ für die geplante europäische Eingreiftruppe zur Verfügung zu stellen –, alle diese Angebote stoßen bei der EU auf wenig Gegenliebe, weil die Türkei sie ersichtlich als Vehikel dazu benutzen will, zum mitentscheidenden Subjekt der europäischen Politik aufzusteigen. Der gewährte Beitrittskandidatenstatus ist des „Privilegs“ genug, damit soll sich die Türkei – siehe die Äußerungen von Solana – abfinden.

So geht es auch bei der deutsch-türkischen Auseinandersetzung über die Lieferung von Leopard-Panzern um die damit verknüpften Rechte und Kompetenzen. Deutschland betont mit seinen Bedenken, wer hier auf Waffenlieferungen angewiesen und wer der Lieferant ist. Ein solch einseitig abhängiger Kunde ist die Türkei jedoch nicht. Sie verlangt eine Waffenbrüderschaft von Gleich zu Gleich, mit eigener Lizenzproduktion und Weiterverkaufsrechten, und besteht darauf, nicht mit den „Menschenrechten“ traktiert, also bevormundet zu werden. Doch eben darauf pocht der deutsche Kanzler:

„Die Menschenrechtslage in der Türkei muss sich in einer Weise ändern, die es uns erlaubt zu sagen, dass da etwas in Bewegung gekommen ist, was mehr als nur Kosmetik ist. Ich kann nicht feststellen, dass es eine solche Bewegung gegeben hat.“ (ARD, Bericht aus Berlin, 14.4.00)

Der Haken ist bloß der: Als NATO-Mitglied hat die Türkei in den USA eine, und zwar eine machtvolle Alternative für die gewünschte Ausstattung ihrer Macht.

Was Europa in Rechnung zu stellen hat: Die Türkei ist ein „wichtiger strategischer Partner“ der Führungsmacht USA

„Ich begrüße ausdrücklich, dass die EU die Türkei als echten Mitgliedskandidaten einstuft. Ich hoffe, dass nun die Türkei und die EU die nächsten Schritte in Angriff nehmen. Es wird zum Guten der Türkei und Südosteuropas sein…“ (US-Präsident Clinton anlässlich der Verleihung des Karlspreises in Aachen)

Die Weltmacht USA nimmt sich die Freiheit, die europäischen Avancen gegenüber der Türkei gar nicht als das zu nehmen, als was sie gemeint sind: als das Bemühen um eine alternative Einbindung der Türkei, die ihrem gemeinten Gehalt nach nur auf Kosten des NATO-Bündnisses, also auch nur auf Kosten der strategischen Interessen der NATO-Führungsmacht zu haben ist. Wenn der US-Präsident dem neuen EU-Status der Türkei seinen ausdrücklichen Segen erteilt und sich wünscht, die EU möge „die nächsten Schritte in Angriff nehmen“, sprich: die Türkei möglichst bald in ihren Verein aufnehmen, sagt er auch nur in aller Bescheidenheit, auf welche Funktion die USA die „Wende“ in der europäischen Türkei-Politik festklopfen wollen: auf die eines sachdienlichen Beitrags zur Stärkung des Bündnisses, dem Amerika als Führungsmacht vorsteht. Europa soll der Türkei durch die Einbindung in die Wirtschaftsgemeinschaft eine ökonomische Fundierung ihrer Rolle als „Machtfaktor“ verschaffen und damit zugleich die „Stabilität im Inneren“ fördern.

So ist in der amtlichen amerikanischen Mitteilung an die europäische Adresse, sie habe in Sachen Türkei-Politik noch eine „unerledigte Aufgabe“ (Clinton) vor sich, zugleich die Warnung nicht zu überhören, auf keinen Fall den strategischen Interessen Amerikas in die Quere zu kommen. Denn gemäß dieser Interessen nimmt die Türkei auf der Landkarte der USA, auf der die Staatenwelt fein säuberlich nach Gegnerstaaten, Problemfällen, Konkurrenten und Verbündeten sortiert ist, in der Kategorie der verbündeten Staaten einen ziemlich wichtigen Platz ein. So der amerikanische Verteidigungsminister:

„Die Türkei ist das wesentliche Verbindungselement im Verhältnis zu Russland und Zentralasien und dem Kaukasus, welches die Kluft überbrückt zwischen der westlichen und der islamisierten Welt. Kein anderes Land befindet sich in einer solchen Position und ist in der Lage, solche großartigen Resultate zu erzielen.“ (American Turkish Council, 31.3.00)[14]

Dieses Lob der Türkei gilt zugleich den USA selbst, d.h. deren „Weitblick“, auch nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes die „geostrategische Bedeutung“ der Türkei gepflegt und sie so erst in die Lage versetzt zu haben, die genannten „großartigen Resultate“ zu erzielen, die auf dem strategischen Konto der Türkei wie auf dem der NATO-Ordnung gleichermaßen positiv zu Buche schlagen. Denn da sind die USA sicher, dass sie dank einer „Sicherheitspartnerschaft“, die nun schon fast 50 Jahre Bestand hat, in der Türkei einen souveränen Helfershelfer ihrer Macht großgezogen haben,[15] der – bei aller Eigenwilligkeit – seinen Beitrag dazu leistet, dem Kontrollwillen der Weltmacht USA die nötige Wirksamkeit in der Region zu verschaffen. Dieser Wille richtet sich vor allem gegen Russland, dem die Aussichtslosigkeit rivalisierender Großmachtansprüche praktisch vor Augen geführt werden muss. Dabei, aber nicht nur dabei, hat die Türkei, die über die „zweitgrößte Streitkraft der NATO nach den Vereinigten Staaten“ verfügt, nach amerikanischen Vorstellungen einen gewichtigen Part zu spielen:

„Richard Holbrookes Formulierung von 1994, die Türkei sei Amerikas strategischer Verbündeter an allen drei Krisenfronten Golf, Kaukasus und Balkan, von gleicher Bedeutung wie Deutschland in Europa, gilt für jede Administration seit den fünfziger Jahren. Ein halbes Jahrhundert amerikanischer Prioritätensetzung, basierend auf geopolitisch-strategischen Grunddaten, hat eine Konstante der Außenpolitik Washingtons geschaffen: Amerika hat an der Türkei ein vitales Interesse.“ (NZZ, 13.6.00)

Dass die Europäer für dieselben Leistungen der Türkei eine andere Adresse und eine andere Ausrichtung vorgesehen haben: sich selber nämlich, das bleibt der amerikanischen Regierung auch nicht verborgen und führt zu der diplomatischen Belehrung, welche Art von Partnerschaft die USA auf keinen Fall beschädigen lassen wollen:

„Die Notwendigkeit, Südosteuropa und Russland in den Wirkungskreis der europäischen Einheit einzubeziehen, unterstreicht die fortgesetzte Bedeutung der transatlantischen Allianz sowohl für Europa als auch für Amerika. Die dauerhafte Herausforderung, vor der wir stehen, besteht deshalb darin, im Prozess des europäischen Zusammenwachsens die transatlantische Partnerschaft zu erhalten und zu stärken.“ (Clinton bei der Karlspreisverleihung, 2.6.00)

Es ist also nicht zu übersehen, dass das Werben um die Türkei eine Konkurrenzaffäre zwischen Amerika und Europa darstellt.

Was ansteht: Ein diplomatischer Kampf um den Status der Türkei in Europa

„Einige Mitglieder der Europäischen Union glauben, dass es viele Jahre dauern wird, bis die Türkei Vollmitglied wird … Aber ich bin davon überzeugt, dass wir dieses Ziel in einer weitaus kürzeren Zeit erreichen werden.“ (Ecevit)
„Die Türkei will der Europäischen Union beitreten und nicht wir der Türkei.“ (Fischer)

Bei der Türkei hat es die Europäische Union also mit einem Kandidaten zu tun, der mit seiner Aufwertung ganz andere Berechnungen verbindet als die EU-Veranstalter mit ihrer Neudefinition der Beziehungen zur Türkei. Das mag bei anderen Adressaten europäischer Ein- und Unterordnungsbegehren nicht weiter stören, in diesem Fall aber ist es von Belang: Dank der besonderen Qualitäten ihrer Macht sieht sich die Türkei in der Lage, für ihre Ansprüche an Europa zu kämpfen, sich also definitiv nicht mit dem zufrieden zu geben, was die EU an „Perspektive“ für sie vorgesehen hat. Sich wie die übrigen Beitrittskandidaten alternativlos von der Europäischen Union abhängig zu erklären und die eigene Staatsräson ganz danach auszurichten, bloß dabei sein zu dürfen, das ist die Sache der Türkei nicht. Als veritable NATO-Macht, deren „strategische Bedeutung“ die Grundlage eigener nationaler Erfolgsrechnungen ist, stellt die Türkei auch für einen EU-Anschluss eigene Bedingungen: Sie will von den Mächten, die sich ihrer Leistung als „Machtfaktor“ versichern wollen, mit dem ihr zukommenden Respekt behandelt werden.[16] Dass der an die EU gerichtete Vorwurf der „Diskriminierung“, der schon in der alten Lage die europäisch-türkischen Beziehungen begleitete, auch mit der Aufwertung zum Kandidaten nicht vom Tisch ist, beweist, dass die Türkei auf einer „echten“ Aufwertung durch die EU besteht. Und dies schließt nicht nur den Anspruch auf so etwas wie „wirtschaftliche Entwicklung“ ein, sondern eben auch den auf einen ihr angemessenen Status, der es der Türkei erlaubt, nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte in Europa zu haben, die den eigenen nationalen Erfolgsansprüchen Genüge tun.

Damit will sich Europa nicht anfreunden. Von europäischer Seite aus ergeht eine Klarstellung nach der anderen, dass die der Türkei gewährte „Perspektive“ als Unterordnung unter die Ansprüche der EU gemeint ist. Wenn der deutsche Außenminister den sachdienlichen Hinweis für nötig befindet, wer hier eigentlich wem beitreten will, verweist das darauf, dass Europas Macher auf ihrer Lesart des neuen Verhältnisses bestehen.[17] Dass die EU die Türkei zum Teil Europas machen will, heißt eben nicht, dass sie ihre Sache an türkischen Interessen relativiert, schon gleich nicht an solchen, mit denen sich die Türkei als selbstbewusster und verlässlicher Partner der konkurrierenden Macht der USA ausweist; und schon gleich nicht im Rahmen eines EU-Programms, bei dem die europäischen Macher davon ausgehen, auch bei den angestammten Mitgliedern der Gemeinschaft entschiedener auf Linie achten zu müssen. Diese „diskriminierende“ Leitlinie europäischer Politik ist also keine Frage der Überheblichkeit, sondern eine des europäischen Projekts.

Deswegen steht zwar das Ziel, aber keineswegs der Weg fest, wie die Türkei an Europa „herangeführt“ werden soll. Gegenwärtig dringen die Zuständigen in der EU darauf, dass die Türkei sich auf baldige regelmäßige Termine einlassen müsse, bei denen die angemahnten Fortschritte in ihrer Anpassung an EU-Standards überprüft werden sollen, die z.B. die Rolle des Militärs im Staat sowie Rechtsstaatsverhältnisse betreffen. Dagegen macht die Türkei den Standpunkt geltend, dass sie den Bedarf nach innerstaatlichen Korrekturen schon selber erkannt sowie, natürlich nach eigenen Staatsbedürfnissen, in die Hand genommen habe; und dass statt des von der EU projektierten Prüfverfahrens ohne verlässliche Beitrittsperspektiven jetzt umgekehrt Verhandlungen anstünden, in denen ‚konkret‘ über einen baldigen Beitritt der Türkei und darüber, was die dafür allenfalls noch zu leisten hätte, geredet werden müsste. Das wiederum weist die EU entschieden zurück und beharrt darauf, die Türkei müsse sich eine verlässliche Beitrittsperspektive erst noch verdienen.

So wird von der EU derzeit ausprobiert, was das Angebot eines Beitrittskandidatenstatus als Mittel der Einwirkung auf den türkischen Willen vermag, ohne damit die türkische Lesart ins Recht zu setzen, einen berechtigten Anspruch auf Mitgliedschaft in der EU zu haben. Die Europäische Gemeinschaft will sich um die Türkei erweitern; das duldet keine Unklarheiten bei der Frage der prinzipiellen Verteilung der Kompetenzen. Sie will sich mit der Eingemeindung der Türkei stärken, deshalb will sie sich schon bei der Eingemeindung bewähren – als das weltpolitische Subjekt, das andere Nationen auf die Gültigkeit seiner Ordnungsinteressen festlegt.

[1] Zu den Gründen, einen Beitritt der Türkei kategorisch auszuschließen, die die „Gemeinschaft“ noch bis vor kurzem geltend gemacht hat, vgl. GegenStandpunkt 1-98, S.155: ‚Warum die Türkei nicht in die EU passt. Über die Unvereinbarkeit europäischer und türkischer Berechnungen‘!

[2] Ihrem Status als Regionalmacht hat die Türkei durch ihre Dienste im Krieg gegen den Irak Anerkennung verschafft. Obwohl die Türkei noch 1989 Maßnahmen zur Beschränkung der amerikanischen Militärpräsenz beschlossen hatte, weil der US-Kongress plante, aus Anlass des Völkermordes des verflossenen osmanischen Reiches an den Armeniern einen nationalen Gedenktag einzurichten, nahm die Türkei die Gelegenheit wahr, sich als Ausgangspunkt für Luftangriffe wie durch Schließung der zum Mittelmeer führenden irakischen Öl-Pipeline der NATO als überaus treuer Verbündeter zu empfehlen. Das war die Grundlage dafür, den Anspruch auf eine „neue Rolle“, nämlich die einer „regionalen Macht“ (so der damalige Ministerpräsident Özal) zu proklamieren.

[3] Auch die Türkei versteht es, Insignien einer quasinatürlichen völkischen Zusammengehörigkeit ins Feld zu führen, um ihren Anspruch auf Zuständigkeit für die politische und ökonomische „Orientierung“ anderer Staaten zu begründen: Die Türkei hat eine besondere Beziehung zu den Staaten Zentralasiens und Aserbaidschan, die aus den Banden eines gemeinsamen historischen, kulturellen, verwandtschaftlichen und linguistischen Hintergrunds stammt. (Türkische Botschaft Berlin) Darüber hinaus ist sie ganz nach dem Muster ihrer großen westlichen Vorbilder mit einem Satellitenprogramm namens Eurasia tätig, um so „über viele Stunden in der Woche“ ihre Botschaft von der beanspruchten „Einheit aller Turkvölker“ nach Zentralasien auszustrahlen.

[4] Zwar hat in der Türkei dank NATO-Mitgliedschaft und EU-Assoziierung ein Stück Standortentwicklung stattgefunden, ein nationaler Kapitalstandort mit einem erfolgreichen Geschäftsleben, welches dem Kredit der Nation die Qualität von international gültigem Wert verschafft hätte, ist darüber nicht zustande gekommen. Vgl. dazu GegenStandpunkt 3-94, S.137: ‚Die Türkei – noch ein ehemaliger NATO-Frontstaat im Aufbruch‘!

[5] Die türkische Verfügung über diesen ‚Bodenschatz‘ ist ein Gegenstand dauernder Auseinandersetzungen mit den Nachbarn der Türkei und ist von ihr auch im Streit mit Syrien wegen dessen Unterstützung der PKK zusätzlich zur Kriegsdrohung erpresserisch in Anschlag gebracht worden: Der damalige türkische Außenminister: Die syrische Regierung fordert nur deshalb mehr Wasser aus dem Euphrat, um ihre in Blut getränkten Hände waschen zu können. (NZZ, 8.1.96) Syrien hat angesichts der türkischen Drohungen im Herbst 98 seine Unterstützung für die PKK offiziell eingestellt und deren Führer Öcalan des Landes verwiesen.

[6] Vgl. dazu den Artikel „Wem gehört das Kaspische Öl?“ in diesem Heft!

[7] So stieß der türkische Versuch, im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan militärisch Partei zu ergreifen und Truppen an der armenischen Grenze in Stellung zu bringen, auf Missbilligung seitens der NATO, mit der Folge, dass die Türkei den Rückzug antrat. Damit war klargestellt, dass die Türkei kein Mandat der führenden NATO-Staaten dafür hat, auf eigene Faust mit einem Krieg die Ordnung in der Kaukasus-Region zu definieren.

[8] So kommt die strategische Fachzeitschrift „Europäische Sicherheit“, deren „Beirat“ Regierungs- und Bundeswehrvertreter angehören, bei ihrer speziellen Befassung mit der Türkei von dem Artikel „Die Türkei im Aufwind“ (ES 2/93) über „Die Türkei im Aufbruch“ (ES 7/97) konsequent zum Thema „Türkische Optionen für Europa“ (ES 5/2000), um aus den „veränderten geostrategischen Rahmenbedingungen“, die die Türkei aktiv für sich auszunutzen weiß, zu folgern, dass diesem Land „als Partner ein größeres Mitsprache- und Entscheidungsrecht für alle osteuropäischen wie mittelöstlichen und zentralasiatischen Fragen“ eingeräumt werden muss. Genau das ist von den zuständigen EU-Politikern aber nicht gemeint, wenn sie die Türkei als neuen Beitrittskandidaten an Europa „heranführen“ wollen.

[9] Der ehemalige Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Rühl, welcher der rot-grünen Bundesregierung den Vorwurf macht, die strategische Einbindung der Türkei nicht wirklich konsequent zu betreiben, beschwört deshalb ein Szenario der einseitigen Abhängigkeit Europas von der „strategischen Bedeutung“ der Türkei: Die strategische Allianz zwischen Israel und der Türkei bestimmt die Sicherheitsbedingungen in der Region. Die Türkei reguliert indirekt den Zufluss von Wasser über den Yarmuk aus Syrien in den Jordan und nach Mesopotamien. Es kann also weder eine europäische ‚Entwicklungspolitik‘ für Palästina und Jordanien noch eine europäische ‚Nahostpolitik‘ oder ‚Mittelmeerpolitik‘ mit arabischen Ländern, geschweige denn eine ‚Schwarzmeerpolitik‘ und insgesamt eine umfassende ‚Orientpolitik‘ der EU ohne, aber noch weniger gegen die Türkei geben. (NZZ, 13.6.00) Imperialistische Erfolge beeindrucken eben. Derselbe Rühl im Jahre 92: Die Mittel der Türkei reichen in keinem Fall aus, das ehemals sowjetische Zentralasien auch nur partiell zu organisieren… Zentralasien ist kein Raum für türkische Expansion und imperiale Spätbauten, wohl aber für eine konzertierte europäische Aktion mit einer türkischen Beteiligung. (Europa-Archiv, 11/92) So ändern sich die Zeiten.

[10] So der französische Außenminister Vedrine: „Wenn der Türkei nicht seit 1963 so viele Versprechen gemacht worden wären, hätte man eine strategische Partnerschaft in Betracht ziehen können – so wie mit allen unseren großen Nachbarn im Osten, Südosten und im Süden bis hin zum Maghreb. Aber auf dem Gipfel in Helsinki wurden nun einmal die Konsequenzen aus früheren Verpflichtungen gezogen.“ (Spiegel Nr. 29, 17.7.00) Die Darstellung einer EU, die letztendlich treu zu ihren Verpflichtungen steht, geht an der Sache vorbei, denn die Türkei hat einiges dazu beigetragen, dass sie in den Kreis der Beitrittskandidaten aufgenommen worden ist. Sie hat den ihr zugewiesenen Sonderstatus – auch ohne Kandidatenqualifikation durfte sie an der Europakonferenz aller Mitgliedstaaten und Kandidaten teilnehmen – schlicht boykottiert und damit zu verstehen gegeben, dass man ihr schon mehr bieten muss, wenn die EU sie als „strategischen Partner“ haben will.

[11] Die Lösung der „Zypern-Frage“ hat die EU zu einem entscheidenden Fall dafür gemacht, inwieweit die gewährte „Beitrittsperspektive“ als Mittel dafür taugt, die gewünschte Einflussnahme auf den türkischen Willen hinzukriegen. Ein hoher Diplomat der EU: Wenn wir den Zypern-Knoten lösen, lösen wir auch den der Türkei und den der gesamten Osterweiterung. Nicht nur, dass sich die Europäer in dieser Affäre an einem Junktim mit der „Aufnahme konkreter Beitrittsverhandlungen“ zu schaffen machen, sie sind auch ansonsten dabei, den türkischen Standpunkt in der „Zypern-Frage“ zunehmend unhaltbar zu machen: Ein Handelsembargo gegen die „Türkische Republik von Nordzypern“ bei gleichzeitig angestrebter EU-Aufnahme des griechischen Teils der Insel sollen für den nötigen Druck sorgen, besagten „Knoten“ im Sinne Europas aufzulösen.

[12] So hat die Türkei damit gedroht, die Aufnahme-Feierlichkeiten in Helsinki platzen zu lassen, wenn der Text besagter „Schlussfolgerungen“ nicht mit ihr abgesprochen wird. Was immer daran noch geändert worden ist – der Umstand jedenfalls, dass die EU noch schnell ihren Mr. GASP sowie den Erweiterungskommissar Verheugen zwecks „Einlenken“ der Türken nach Ankara schicken musste, verweist den Spruch eines EU-Diplomaten, die Verhandlungen in Ankara seien wie ein „Elfmeterschießen ohne Torwart gewesen“, in das Reich der Angeberei. Schließlich hat die Türkei geltend gemacht, dass sie gleichberechtigt mitreden will bei dem, was als „Reform“ von ihr verlangt ist.

[13] Gleich, was da alles vorgebracht wird, ob „Foltern in Gefängnissen“, „Unterdrückung ethnischer Minderheiten“ oder etwa die „Missachtung der Meinungsfreiheit“ – alle diese im Namen des Menschenrechts erhobenen Vorwürfe an die dortige Herrschaft fassen sich in dem einen Vorbehalt zusammen: Es wird in der Türkei nicht so regiert, wie es sich für ein Land gehört, das bei Europa mitmachen will. Dabei liegt es in der Logik eines solchen Vorbehalts, dass er nur schwer zu entkräften ist. Sind die Europäer nun zufrieden, wenn z.B. die Türken ihren Öcalan nicht hinrichten, das Foltern zu einem „gerichtsverwertbaren Tatbestand“ erklären oder sich mit der griechischen Regierung zu „freundschaftlichen Gesprächen“ bereit finden? Das kommt ganz darauf an, als was das von außen genommen wird: als bloß berechnender Umgang der Zuständigen mit den an sie gestellten Anforderungen; oder als echtes Zeichen des guten Willens, wie es von Europa aus verlangt ist.

[14] Bei diesem institutionalisierten amerikanisch-türkischen Treffen, das die langbewährten Beziehungen der beiden NATO-Partner dokumentiert, führte US-Verteidigungsminister Cohen eine ganze Palette von Fällen auf, in denen sich die Türkei für das strategische Interesse der USA verdient gemacht hat. Die reichen vom Beitrag im Golfkrieg über die türkisch-israelische „Sicherheitspartnerschaft“ bis hin zur NATO-Mission im Kosovo, wofür sich die Türkei einmal mehr als militärische Basis von Luftangriffen zur Verfügung gestellt hat.

[15] So bieten die USA nicht nur in Sachen Ausstattung mit Panzern der europäischen Konkurrenz Paroli – der Türkei werden 350 gebrauchte Panzer als Geschenk angeboten, falls der Ankauf von tausend dieser Gerätschaften bei der US-Firma General Dynamics zustande kommt –, auch gegenüber dem „Eurofighter“ haben die USA der Türkei eine Alternative zu bieten und diese auf den Weg gebracht: „Verteidigungsminister Cohen sagte am Freitag in Washington, die Türkei habe zugestimmt, bei der Entwicklung und Herstellung des Joint Strike Fighter (JSF) mitzuarbeiten… Vorgesehen ist der Bau von 3000 Kampfflugzeugen.“ Das ist eine ganze Menge und wird – zur Zufriedenheit der Türkei – ohne jeden menschenrechtlichen Vorbehalt abgewickelt: Die Beteiligung der Türkei, die schon ihre Kampfflugzeuge vom Typ F-16 selbst fertigt, könnte dem Programm neuen Auftrieb geben. (NZZ, 3.4.00)

[16] In einer Hinsicht ist die Türkei ja auch schon als europäische Macht in der Innenpolitik der EU-Länder präsent, nämlich als Patronatsmacht einer millionenstarken türkischen Minderheit, die sie in ihrem Interesse einzusetzen weiß. In diesem Sinne hat die Türkei vor einiger Zeit, um die Auslieferung des in Rom inhaftierten Kurdenführers Öcalan zu erzwingen, nicht nur einen „diplomatischen Krieg“ (Ecevit) mit Italien angezettelt, sondern dazu alle ihre in Europa als Gastarbeiter tätigen Landsleute aufgerufen, sich als fünfte Kolonne ihrer Nation bemerkbar zu machen: Macht deutlich, dass es auch Türken gibt, die ihrem Land verbunden sind.

[17] Deswegen gibt es auch genügend europäische Stimmen, die an der „Wende“ in der europäischen Türkei-Politik kritisieren, dass sie Erwartungen bei dem neuen Kandidaten freisetzt, die die EU gar nicht erfüllen kann: Das ist ein historischer Fehler. Denn wer heute Kandidat sagt, muss eines Tages auch Mitglied sagen. Das aber will ernsthaft niemand, weil ein Mitglied Türkei die Union im Kern verändern würde. (Welt, 11.12.99)