EU-Beitritt Zyperns
Ein imperialistischer Zugewinn mit gewissen Schönheitsfehlern
Die hiesige Öffentlichkeit ist sich mit den maßgeblichen Politikern im Westen einig: die Volksabstimmung ist für Zypern eine „historische Chance“. Werde sie verpasst, sei vor allem Europa der Leidtragende, weil „der griechisch-türkische Zwist aus der Levante“ mit der Aufnahme Zyperns am 1. Mai in die EU importiert werde. Am Abend des 24. April steht für Presse und Politik fest: Das Wahlvolk hat versagt.
Aus der Zeitschrift
Teilen
Systematischer Katalog
EU-Beitritt Zyperns
Ein imperialistischer Zugewinn mit
gewissen Schönheitsfehlern
Im Vorfeld des Referendums über den Annan-Plan zur
Wiedervereinigung Zyperns am 24.4. ist die Presse voll
von einfühlsamen Stimmungsberichten aus den beiden
Landesteilen. Türkische Inselbewohner dürfen ihre Sorgen
und Hoffnungen ausbreiten: die 1974 vor den türkischen
Invasoren geflohenen Griechen könnten in den Norden
zurückkehren und ihre alten Besitztümer zurückfordern;
mit dem Ende der wirtschaftlichen Isolation der
Nord-Republik durch den Anschluss an die EU komme
vielleicht nun auch zu ihnen ein wenig Wohlstand.
Griechische Zyprioten bekunden ihren „sehnlichen Wunsch“
nach Wiedervereinigung und Rückkehr in die Heimat, die
sie vor 30 Jahren verlassen mussten, und beschweren sich
heftig darüber, dass die Türkei nach wie vor
Besatzungsmacht bleibe und ihre Soldaten im Norden
belassen werden. In scharfem Kontrast zum im Prinzip
„versöhnungsbereiten Volk“ zeichnen die Berichte die
nationalistisch verbohrten Führer auf beiden Seiten,
Greise, die die Volksgruppen gegeneinander aufhetzen und
ihre Landsleute zum Nein beim Referendum agitieren. Die
hiesige Öffentlichkeit ist sich jedenfalls mit den
maßgeblichen Politikern im Westen einig: die
Volksabstimmung ist für Zypern eine historische
Chance
(Annan, Bush, Solana,
Fischer unisono). Werde sie verpasst, so betont
der zuständige EU-Erweiterungskommissar Verheugen, sei
vor allem Europa der Leidtragende, weil „der
griechisch-türkische Zwist aus der Levante“ mit der
Aufnahme Zyperns am 1. Mai in die EU importiert werde.
Am Abend des 24. April steht für Presse und Politik fest:
Das Wahlvolk hat versagt – nämlich die 480.000
Inselgriechen, die zu 76 Prozent den Annan-Plan abgelehnt
haben. Dass die 143.000 türkischen Zyprer zu 65 Prozent
dafür gestimmt und damit ihren guten Willen bekundet
haben, sich der Vereinigungs-Lösung zu fügen, ehrt sie
zwar, ändert aber nichts am Fortbestand der Teilung. Am
stärksten empören sich die Zuständigen in Brüssel, Berlin
und Washington über die griechische Führung in Nicosia:
Die USA werfen Ministerpräsident Papadopoulos „übelste
Wählermanipulation“ und „terroristische
Einschüchterungskampagnen“ vor, Verheugen spricht von
„Wort- und Vertrauensbruch“, weil die damaligen
Repräsentanten der griechischen Seite, Klerides und
Simitis, 1999 in Helsinki der EU die Zustimmung zur
Aufhebung der Teilung als Gegenleistung für die Aufnahme
Zyperns in die EU zugesagt hätten. Die
Zeitungskommentatoren sind sich einig: Ein Desaster
für die europäische Diplomatie
, das sich die
EU-Politiker selbst zuzuschreiben haben: Man hätte „die
Aufnahme in die EU nicht von der Zustimmung zum
Referendum abkoppeln“ dürfen.
Mit ihren klugen Ratschlägen ex post liegen die Presseleute ein wenig daneben, weil sie die Wiedervereinigung Zyperns und die Aussöhnung der Volksgruppen zum Maßstab des politischen Erfolgs machen. Die Prioritäten der EU sehen aber offensichtlich anders aus. Der geht es zuallererst um den Anschluss Zyperns; für den hat sie eine staatliche Erneuerung der Insel ins Auge gefasst, für die sie den politischen Willen der Bevölkerung gewinnen wollte. Letzterer Versuch ist gescheitert, der Anschluss ist erfolgt und die staatliche Neuordnung ist in die Wege geleitet.
1.
Zypern ist schon längst Objekt der imperialistischen Begierde von Mächten, die sich im östlichen Mittelmeer festsetzen wollen bzw. festgesetzt haben, um von da aus den Nahen und Mittleren Osten unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Insel ist der ideale Stützpunkt zur Kontrolle des zivilen und militärischen Luft- und Schiffs-Verkehrs im östlichen Mittelmeer sowie zur Überwachung der vielen Öl- und Gas-Transportrouten in der unmittelbaren Umgebung; sie eignet sich und dient auch schon seit langem, vor allem den Briten, als Spionage-Horchposten in den arabischen Raum; sie lässt sich als Raketenbasis und großer Flugzeugträger für militärische Interventionen in die ausgedehnten „Krisengebiete“ weiter östlich nutzen und wird speziell von den USA auch so genutzt.
Das alles macht Zypern für die EU äußerst interessant. Nicht bloß wegen des Geschäfts mit dem arabischen Erdöl, das für ihren Gemeinsamen Markt unentbehrlich ist und dessen umfassende Sicherung sie nicht auf Dauer dem großen amerikanischen Verbündeten bzw. der von diesem beherrschten Nato überlassen will. Im Zuge ihrer Metamorphose vom Wirtschaftsbündnis zur strategisch kalkulierenden Weltordnungsmacht bezieht sich die EU auf die gesamte arabische Welt – Öl inklusive – als ihre „Gegenküste“: als „Raum“, den sie ökonomisch und politisch auf sich ausrichten und unter ihre Kontrolle bringen will. Wo die USA ihr „Greater Middle East“ projektieren und das Projekt mit einer kriegerischen Initialzündung starten, da wollen Europas Weltpolitiker auf keinen Fall zurückstehen, sondern erst recht ihre „Gestaltungsmacht“ entfalten und einen Umkreis entgegenkommender, fest in europäische Interessen eingebundener, Europas Dominanz anerkennender Herrschaften schaffen. Unter diesem anspruchsvollen Gesichtspunkt kommt Zypern in ihren Blick: nicht bloß als eines der Staatsgebilde, auf die ihr „Gestaltungswille“ sich richtet, sondern darüber hinaus als vorgeschobener Posten, mit dessen Vereinnahmung die EU noch ein Stück mehr zum direkten Nachbarn der nahöstlichen Staatenwelt würde; als Vorposten, von dem europäische Zugriffs- und Ordnungsmacht ausgehen könnte, wenn er regulärer Bestandteil der Union wäre. Zwar hat Griechenland aus ganz eigenen Gründen besonders heftig auf eine Aufnahme Zyperns gedrängt; in ihrem Bestreben, das Mittelmeer immer vollständiger zu ihrem „Mare nostrum“ zu machen, quasi zum europäischen Binnenmeer mit einer arabischen Südküste unter bestimmendem Brüsseler Einfluss, hat die EU sich aber nicht lange drängen lassen und ihre eigene Ausdehnung auf die Insel beschlossen.
Diese Art der Inbesitznahme Zyperns durch die EU per Aufnahme als Mitglied geht über imperialistische Stützpunktpolitik entscheidend hinaus. Als Mitgliedsland wird die Insel insgesamt vereinnahmt. Unumkehrbar wird sie auf die imperialistische „Räson“ der EU als ihre eigene Staatsräson festgelegt; als stimmberechtigtes Mitglied steht ein zyprische Staat selber für diese Gleichung ein. Seine Potenzen, angefangen bei seinem strategischen Stellenwert für andere, werden unter die ausgreifende Ordnungsmacht der Union subsumiert; seine Mitgliedschaft – formell „auf gleicher Augenhöhe“ mit seiner einstigen britischen Kolonialmacht – ist die Garantie, dass alles, was ihn imperialistisch interessant macht, grundsätzlich im Interesse des werdenden europäischen Gesamt-Imperialismus aufgeht. Das jedenfalls ist das Ziel und die „Logik“ des Anschlusses: Das angeschlossene Land wird Teil eines viel größeren Ganzen – auch wenn dieses Größere, der Club der EU-Staaten, noch gar nicht so ein „Ganzes“ ist, wie seine maßgeblichen Mitglieder es haben wollen. Anderen, nunmehr von Europa aus als extern eingeordneten imperialistischen Interessen wird die Insel damit auf alle Fälle in einem ganz grundsätzlichen Sinn entzogen: Als Vollmitglied der EU steht sie weltpolitisch prinzipiell auf deren Seite, hat damit ihren festen Standort und Standpunkt im permanenten weltweiten Erpressungsgeschäft der Nationen. Jenseits aller Freiheitsgrade, die einem zypriotischen Souverän natürlich formell unbenommen bleiben, gilt: Das Land ist in aller Form eines der 25 Subjekte Großeuropas und als solches auf seine Rolle als dessen Besitzstand festgenagelt.
2.
Damit beginnt allerdings das Problem. Eben weil die EU-Mitgliedschaft für Zypern eine so grundsätzliche Vereinnahmung durch den aufstrebenden Euro-Imperialismus bedeutet und eine so eindeutige Positionierung im Verhältnis zu den Mächten, die sich sonst noch für das Eiland interessieren – Griechenland und die Türkei sowie die USA und Russland –, lassen eben diese Mächte eine reibungslose Eingliederung Zyperns in den Besitzstand der Brüsseler Union nicht zu. Sie haben dafür einen starken Hebel in der Hand: Sie fungieren – direkt oder indirekt, faktisch und zum Teil auch anerkanntermaßen – als Schutzmächte eines staatlichen Gebildes, das seinerseits alles andere als ein einheitlicher, souveräner, handlungs- und geschäftsfähiger Staat ist.
Die „Republik Zypern“, der griechisch dominierte Süden, ist zwar ein völkerrechtlich anerkannter Staat, der formell sogar die ganze Insel repräsentiert; 36 Prozent des Territoriums und 24 Prozent der Bevölkerung unterstehen ihm faktisch aber nicht. Nach der türkischen Invasion wurde der hauptsächlich türkisch besiedelte Norden nämlich ein eigener Herrschaftsbereich, die „Türkische Republik Nordzypern“ (TRNZ), die als selbständiger Staat jedoch nur von der Türkei anerkannt wird. Politisch und ökonomisch ist sie isoliert[1] und wird allein von der Türkei am Leben erhalten. Die beiden Staatsgebilde verfolgen gegensätzliche Ziele: Während der Süden ein hellenisch geprägtes Gesamt-Zypern anstrebt, in dem die Türken sich mit dem Status einer geduldeten Minderheit begnügen sollen, besteht der Norden auf strikter Zweistaatlichkeit. Seit ihrer Teilung steht die Insel unter der Aufsicht des UN-Sicherheitsrats, bewachen Blauhelme die Grenze zwischen den beiden Landesteilen und wirken die jeweiligen UN-Generalsekretäre vergeblich auf die feindlichen Volksgruppen ein,
sich wieder in einem gemeinsamen Staatswesen zusammenzuschließen. Mehr als die Feindschaft unter Kontrolle zu halten kommt dabei nicht heraus.
Der Staat, den die EU sich als Mitglied angliedern will, ist also keiner, sondern ein unhandliches Neben- und Gegeneinander zweier staatlich organisierter Volksgruppen unter Kuratel der UNO. Um sich die Insel als vollwertigen Besitzstand im angestrebten Sinn einzuverleiben, muss die EU sich eine das ganze Land ordentlich beherrschende, politisch zurechnungsfähige, ausschließlich auf sie zugerichtete Staatsgewalt erst schaffen, sie muss staatsgründend tätig werden. Dabei stößt sie nicht bloß auf die verfestigte Feindschaft der Volksgruppen und ihrer Anführer, sondern vor allem auf die genannten äußerst interessierten „dritten“ Mächte, die in die Teilung der Herrschaft über die Insel und das UN-Regime darüber involviert und nicht gewillt sind, sich ihre darauf basierende Zugriffsmacht und ihre Zugriffsrechte durch den Neustart einer gesamtzypriotischen Inselrepublik als Teil eines „Europa der 25“ ohne weiteres abkaufen zu lassen.
In diesem Sinne bekommt die EU es erstens – ironischerweise – mit einem eigenen Mitglied zu tun. Griechenland verfolgt – wie jeder anständige Staat der EU, aber in einer besonders wichtigen und besonders verzwickten Angelegenheit – neben dem auf Europa ausgerichteten Teil seiner Staatsräson eine rein nationale Rechnung mit Zypern. Es will sich die Insel als eine Art zweiten, der Athener Regierung hörigen Griechen-Staat erhalten. Die „Enosis“, die „Heimholung“ Zyperns ins griechische Vaterland, zuletzt vom Obristen-Regime in Athen versucht und durch den Einsatz türkischer Truppen im Norden der Insel sowie ein Veto der ‚Internationalen Gemeinschaft‘ verhindert, wird zwar nicht mehr verfolgt, dafür aber eine sehr spezielle Abhängigkeitsbeziehung zum griechischen Hauptteil des Landes gepflegt.[2] Griechenland fungiert als Schutzmacht der griechisch-zypriotischen Regierung und ihres Anspruchs auf Herrschaft über die ganze Insel. Um die griechische Position gegenüber der Türkei zu stärken, hat 1999 Ministerpräsident Simitis mit der Drohung, andernfalls die gesamte EU-Osterweiterung zu boykottieren, die Aufnahme der Republik Zypern in die EU durchgesetzt – unabhängig davon, ob zuvor der Volksgruppenstreit beigelegt ist oder nicht. Die Athener Regierung ist weder daran interessiert noch gewillt, ihre nationale Einflussnahme durch Macht und Recht der Union ablösen zu lassen.
Die Türkei, Urheber und Garant der TRNZ, nimmt eine analoge Stellung zu ihrem Schützling ein. Sie hat die „Enosis“ nicht nur verhindert, sondern das von den türkischen Zyprern beanspruchte Gebiet erweitert, Zehntausende Festlandstürken angesiedelt, 35.000 Soldaten auf der Insel stationiert und die türkische Republik Nordzypern als Pendant zur hellenischen Republik installiert. Als Reaktion auf den Beginn der Beitrittsverhandlungen zwischen EU und Nicosia schließt Ankara 1997 mit der TRNZ ein Assoziierungsabkommen, das die schrittweise wirtschaftliche und finanzielle Integration vorsieht sowie verstärkte Zusammenarbeit in Fragen der Sicherheit, Außenpolitik und Verteidigung. Diese enge Verbindung zwischen der Nord-Republik und dem „Mutterland“ will die türkische Regierung ebenso wenig preisgeben wie ihren Status als mitzuständige Schutzmacht für die gesamte Insel. Die Drohung, die Aufnahme Zyperns in die EU mit dem Anschluss der TRNZ an die Türkei zu beantworten, zieht die Regierung Erdogan zwar rechtzeitig vor dem 1. Mai zurück, verknüpft nun aber jede Zypern betreffende Status-Änderung mit dem Beitrittsbegehren der Türkei.
Schon der Institution eines eigenen Zypernbeauftragten der US-Regierung lässt sich entnehmen, dass die Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten dieses Land, die Regelung seiner internen Streitfragen und der Zugriffsrechte von außen als eine sie selbst betreffende strategisch bedeutsame Angelegenheit betrachten. Natürlich wollen sie die Insel auch weiterhin benutzen,[3] den Streit zwischen den Nato-Partnern an der Südost-Flanke selber regeln und sich das amerikanische Mitspracherecht in europäischen Angelegenheiten – etwa der Aufnahme der Türkei – vorbehalten. Darum haben die USA weder die Absicht, der EU die exklusive Zuständigkeit für die Insel zuzugestehen, noch bei den damit verbundenen Weichenstellungen für die künftige weltpolitische Rolle Europas einfach zuzuschauen. In den Positionen der türkischen Zyprer und der Türkei finden sie hinreichend Ansatzpunkte, sich in die Ordnungsbemühungen der Europäer einzuschalten. Als rechtliche Basis für seine Einmischung in den Zypernkonflikt dient Amerika die unbestrittene Zuständigkeit des UN-Sicherheitsrats, in dem es Vetomacht ist.
In dieser Position befindet sich auch Russland, dessen Einfluss auf die Insel noch aus Sowjetzeiten stammt.[4] Die Sonderbeziehungen zur Republik Zypern sind bis heute geblieben und schlagen sich unter anderem in einer Reihe lukrativer russischer Waffengeschäfte – insbesondere dem Verkauf von Abwehrraketen verschiedener Reichweite und moderner T 80-Panzer – nieder. Nach der Auflösung der SU ist Zypern zudem Anziehungspunkt für Schwarzgeld aus Russland geworden. Neben der Verteidigung ihrer ökonomischen Interessen geht es der russischen Regierung auch im Falle Zyperns vor allem darum, den Status ihres Landes als Weltordnungsmacht und traditionelle Einflusssphären zu verteidigen. Der Rechtsnachfolger der SU wahrt aufgrund seiner Zuständigkeit für die UNO-Affäre, die Zypern nun einmal darstellt, seine Einspruchsrechte, die er sich in Bezug auf die ehemaligen Satellitenstaaten zur Vermeidung direkter Konfrontationen versagt hat.
Bei ihrem Zugriff auf Zypern steht der EU schließlich die UN im Wege, die die Insel seit Jahrzehnten betreut. Sie überwacht und reguliert die Feindschaft der Volksgruppen – und macht sie dadurch dauerhaft. Im Rahmen ihrer Vermittlungsbemühungen zur Überwindung der Teilung hat sie Entscheidungen über die Berechtigung von Ansprüchen gefällt und Vereinbarungen mit beiden Seiten getroffen, auf die sich die streitenden Parteien seither als Präzedenzfälle und Rechtstitel gegeneinander berufen. Zudem verschafft sie den interessierten Drittmächten ihre Rechtspositionen.
3.
Hier, bei der Zuständigkeit der Uno für die politisch
geteilte Insel, setzt die EU mit ihrem Bedarf an einer
staatlichen Neugründung Zyperns an: Im Annan-Plan zur
Wiedervereinigung der Insel sieht die EU eine gute Chance
ihrem Ziel näher zu kommen, zumal er das Plazet der
maßgeblichen Ordnungsmächte hat. Sie würdigt die
international beschlossene Rechtslage und deren Garanten,
um die Situation mit Unterstützung der UNO in ihrem Sinne
zu verändern. Die Uno soll per „Wiedervereinigung“
zumindest den Auftakt zur EU-konformen Staatsgründung
inszenieren – eine ziemlich komplexe Doppelaufgabe:
Erstens ist das Management eines Konflikts zwischen
Volksgruppen verlangt. Deren Streit ist deswegen so
schwer auflösbar, weil in jeder modernen demokratischen
„Lösung“ dem Volkstum höchste politische Relevanz
zuerkannt wird – niemand kritisiert die Verrücktheit
ethnischer Identität
! Bei allem Respekt vor der
Besonderheit einer Volksgruppe und ihrer Interessen muss
andererseits zum Zwecke einer funktionsfähigen
Staatlichkeit davon wieder weitgehend abgesehen werden.
Das in der Volkszugehörigkeit enthaltene Moment von
Exklusivität, von Ausschluss der „Fremden“, darf
jedenfalls nicht zum Zuge kommen. Diesen
Widerspruch werden Demokraten im Bemühen,
zerstrittene Nationalitäten zu befrieden, nicht los – in
der Regel heizen sie die Gegensätze damit eher an, als
dass sie sie abbauen. Zweitens inszenieren sie eine
Lösung, die, je mehr sie einer wirklichen „Lösung“,
nämlich den Neubau eines souveränen Staatswesens im Sinne
der EU, näher kommt, umso mehr den Ausschluss der
Einflussnahme „Dritter“ bedeutet, deren irgendwie
geartetes Einverständnis aber zugleich nötig und gewollt
ist.
Entsprechend sieht der Annan-Plan ein Arrangement der jeweiligen Beteiligten für die beiden genannten, auf ganz unterschiedlichen Ebenen angesiedelten Interessenkollisionen vor.
Für ein gesamtstaatliches Zusammenleben auf der Insel schreibt er den beiden zerstrittenen Volksgruppen einen Modus vivendi vor. Mit einem detaillierten Aufteilungssystem staatlicher Kompetenzen, dem Proporz in allen Institutionen, der Rotation in der Regierungsführung und einer Sperrminorität in allen Entscheidungsfragen, sucht er die Übermacht einer Nationalität über die andere zu verhindern.[5] Um die erwarteten Rivalitäten zwischen den Volksgruppen auf ein Minimum zu beschränken, werden Griechen und Türken auseinandergehalten; Restriktionen in der Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit sollen für ein zahlenmäßiges und ökonomisches Gleichgewicht sorgen.[6] Weil die UN-Beamten davon ausgehen, dass es den einheimischen Politikern an einem gemeinsamen Ordnungswillen mangelt, haben sie deren Arbeit gleich selbst erledigt und ihnen ein komplettes Regelungswerk – mit 9000 Seiten, 131 Gesetzen und 1134 Verträgen – vorgegeben. Die gesamte Konstruktion des Plans zeugt von dem Widerspruch, einerseits weiterhin Volksgruppen strikt zu unterscheiden und voneinander abzugrenzen, insoweit deren politischen Partikularismus zu bestätigen, um sie andererseits zu politischer Kooperation zu verdonnern. Ein Beitrag zu dem, was die EU auf der Insel haben will, ist das nur – oder immerhin – insofern, als die innere Grenze in ihrer bisherigen Form wegfällt und ein Einheitsstaat formell herbeidefiniert wird. Der Rest ist Vertrauen der EU auf die Schlagkraft ihrer ökonomischen Macht, ihrer rechtlichen Sitten und ihrer politischen Erpressungskunst.
Zwischen der Offensive der EU in Sachen exklusiver Vereinnahmung Zyperns und den Rechtsstandpunkten der anderen Interessenten sucht das Regelwerk aus dem UN-Hauptquartier einen Abgleich und Kompromiss. Der Gesamtstaat Zypern wird Mitglied der EU und übernimmt damit den „Acquis communautaire“ mit Ausnahme der im Annan-Plan festgelegten Übergangs- und Sonderregeln. Zugleich behalten die bisherigen Schutzmächte für die Insel ihre Zuständigkeit, Griechenland und die Türkei können im Lande weiterhin Truppenkontingente stationieren, deren Umfang genau festgelegt wird.[7] Die Oberaufsicht behält nach wie vor der UN-Sicherheitsrat, bis er das Gegenteil beschließt.[8] Um ihr Gemeinschaftsrecht zu etablieren, nimmt die EU schwerwiegende Abstriche daran hin – im Vertrauen auf die Kraft der Fakten, die sie setzen wird.
Weil Brüssel an einer möglichst schnellen Etablierung eines selbständigen Souveräns auf Zypern gelegen ist, stimmt es auch dem Vorschlag Annans zu, nachdem sich die gewählten Führer der beiden Seiten weigern, dem Plan zuzustimmen, deren fehlende Unterschrift durch ein Referendum der Volksgruppen zu ersetzen. Mit dem Generalsekretär ist sich die EU einig, dass die friedensstiftende Mission der UNO nach Kapitel VII der UN-Charta auslaufen und irgendeine völkerrechtlich einwandfreie Grundlage für die Neugründung eines zypriotischen Gesamtstaates geschaffen werden sollte.
4.
Das Referendum scheitert, die Aufnahme der Insel in die EU findet am 1. Mai statt. Das Brüsseler Bedauern über den Erpressungshebel, den man mit der Entkoppelung von Aufnahme und Volksentscheid aus der Hand gegeben hätte, ist groß. Andererseits ist Zypern auch ohne neue Verfassung und unter fortdauernder Uno-Patronage jetzt in der EU drin; darauf müssen alle Beteiligten sich jetzt beziehen.
Vor allem die EU selber „wirtschaftet“ jetzt auf neuer Grundlage. Das neue Mitglied ist zwar nicht der funktionstüchtige, von fremden Schutzmächten emanzipierte Staat, den sie braucht und haben will; aber den hätte ein akzeptierter Annan-Plan ihr auch nicht gebracht, allenfalls ein paar Weichen in die richtige – und dafür andere in eine „falsche“! – Richtung gestellt. Jetzt geht sie ohne diese zwieschlächtige Vorgabe an die Aufgabe heran, der sie sich auch im Falle eines Abstimmungserfolgs hätte stellen müssen: die Bereiche klarstellen und ausweiten, in denen nunmehr Brüssel das Sagen hat; mit Finanzmitteln erpresserisch und fördernd auf die verschiedenen Teile der Insel einwirken; die europäische Geschäftswelt regelkonform zuschlagen lassen.
Der französische Außenminister Barnier erklärt den Zypern-Konflikt zu einem „europäischen Problem“, an dem die Gemeinschaft beweisen müsse, dass sie nicht nur „wirtschaftliche, sondern auch politische Union“ sei. Kommissar Verheugen steckt die Linie ab: Die TRNZ müsse für ihren guten Willen belohnt werden, die Isolierung werde teilweise aufgehoben, im Norden ein Büro der Kommission eröffnet, das neue Regeln für den Umgang mit diesen Gebieten aushandelt. Die EU zahlt der türkisch-zyprischen Vertretung unverzüglich die 259 Mio. Euro Wirtschaftshilfe, die ursprünglich nach der Vereinigung für die Förderung des Aufholprozesses gegenüber dem griechischen Teil vorgesehen war. Mit der Formel „Kooperation, aber unterhalb der Anerkennung“ wird der türkischen Seite andererseits klargemacht, dass ihrem eigentlichen Bestreben nach einem eigenen souveränen Staates keinesfalls nachgegeben wird; an dem Status ihrer formell bereits erreichten Zuständigkeit für den Norden lässt die EU nicht rütteln. Auf der anderen Seite wird die Regierung Papadopoulos für ihr und ihrer Wähler Fehlverhalten abgestraft. Bei erster Gelegenheit – in der Frage, ob die griechische Seite noch Strafen für die direkte Einreise in den Norden verhängen darf – wird ihr klargemacht, dass Zypern als EU-Mitglied so etwas nicht mehr alleine zu entscheiden hat, sondern sich einer EU-Regelung beugen muss. Die Forderung der Blockierer des Annan-Plans, nachzuverhandeln und danach erneut abzustimmen, weist die Kommission kategorisch zurück. Der belgische Außenminister kündigt an: „Die EU habe einige Trumpfkarten in der Hand, mit denen sie die griechisch-zyprische Seite schon in die Knie zwingen könne.“ Derweil taxiert die europäische Unternehmerschaft die neu entstandenen Geschäftsmöglichkeiten. Während es im Norden in erster Linie darum geht, von der Vergabe der Fördermittel zu profitieren, tun sich im Süden manche lukrativen Handels- und Investitionspotentiale auf. Die Republik Zypern ist von den neuen Beitrittsländern das ökonomisch gefestigste, das möglichst schon 2005 dem Euro beitreten will, weil die ökonomischen Daten des Landes den Kriterien der Gemeinschaft entsprechen. Neben einer entwickelten Landwirtschaft und gut gehendem Transportgeschäft – z.B. einer stattlichen (Billigflaggen-)Handelsmarine – hat es vor allem einen florierenden Tourismus zu bieten – mit Expansionsmöglichkeiten hauptsächlich in den Norden. Die „Europäisierung“ der Insel hat also schon begonnen, und die Bevölkerung muss sich ab sofort an neue Lebensbedingungen gewöhnen.
Auf Grundlage der Aufnahme Zyperns in die Gemeinschaft macht sich die EU daran, die einmischungsfreudigen Drittstaaten in ihre Schranken zu weisen und auf die Unterstützung der eigenen Ordnungsbemühungen in Zypern festzulegen. Griechenland soll seinen Kurs, sich als Patron des Südens aufzuführen, aufgeben und sein kontraproduktives Verhalten gegenüber der EU einstellen: Vor dem Referendum hat sich Karamanlis jeder Aufforderung, mit Ja zu stimmen, enthalten und sich auf die „Freiheit von Wahlen“ berufen, danach fordert er Respekt vor der Willensentscheidung des Volkes und plädiert für „zusätzliche Sicherheitsgarantien für die griechische Seite oder sonstige Nachbesserungen“ am Annan-Plan. Die Türkei hat die fortschreitende Integration auch ihrer TRNZ in die EU hinzunehmen und Ministerpräsident Talat davon abzubringen, wieder die Forderung nach einem souveränen Nordzypern zu stellen. Als positive Geste empfiehlt Verheugen Ankara die „längst fällige Anerkennung der Republik Zypern“, ist aber umgekehrt keineswegs bereit, deswegen der Türkei Zugeständnisse in der eigenen Aufnahmefrage zu machen. Nachdem Russland am 21.4. mit seinem Veto im Sicherheitsrat einen Beitrag dazu geleistet hat, den positiven Ausgang des Referendums zu verhindern, erweist es sich schon wieder als Problemfall, wenn es angesichts der von den USA und einigen Europäern erhobenen Forderung, den Boykott der TRNZ durch eine neue Resolution aufzuheben, Bedenken anmeldet und ankündigt, mehr als eine Lockerung komme nicht in Frage. Die Entscheidung solcher Fragen steht Moskau nach Ansicht der Kommission nicht mehr zu. Die härteste Nuss stellen für die EU-Politiker allerdings die USA dar. Zwar bekunden sie in ersten Reaktionen nach dem Referendum, sie würden sich der Linie Brüssels anschließen, kurz darauf erklärt aber ihr Zypern-Beauftragter Weston, Amerika gingen die Maßnahmen Europas, die Isolierung der TRNZ aufzuheben, nicht weit genug. Washington stellt dem Norden 400 Mio. Dollar Wirtschaftshilfe in Aussicht, die direkt an die dortige „Regierung“ gezahlt werden sollen und kündigt an, Direktflüge zu den von der griechischen Seite für „illegal“ erklärten Airports zu ermöglichen. Washington betreibt zudem eine gezielte diplomatische Aufwertung der TRNZ.[9] Dass die amerikanische Regierung mit diesem Vorgehen den Zugriff der EU eindämmen und die eigene Einflussnahme auf den Norden nach dem Scheitern des Annan-Plans betreiben will, belegen auch türkische Zeitungsmeldungen, nach denen Washington bereits Ministerpräsident Talat um Stützpunkte für die US-Luftwaffe ersucht haben soll. – Europa kommt offensichtlich nicht umhin, noch eine neue Nebenfront im Ringen mit den USA um die Emanzipation des EU-Imperialismus von der verbündeten Supermacht zu eröffnen.
Da hat es jedenfalls zu tun.
[1] Dass die Regierung der Republik Zypern nach internationalem Recht die einzig legitime staatliche Repräsentanz für die ganze Insel ist, nutzt sie weidlich aus, um den „Pseudo-Staat“ im Norden zu boykottieren und zu schädigen. Sie unterbindet sämtliche Beziehungen zu internationalen Gremien, sei es IWF und Weltbank oder auch nur die FIFA; erklärt die Flugplätze und Häfen im Norden für geschlossen und verhängt damit ein Lande- und Anlegeverbot; verhindert damit auch die direkte Ausfuhr nordzyprischer Produkte, deren Transport in den Süden sie ebenfalls untersagt; schädigt durch diskriminierende Einreiseregelungen die Tourismus-Branche, die vor der türkischen Invasion 1974 gerade im Norden boomte. Das Resultat: Im Norden liegt das durchschnittliche Pro-Kopfeinkommen gerade mal bei einem Viertel des Südens.
[2] Dazu gehört auch engste militärische Zusammenarbeit. Gegen die Türkei hat Griechenland Zypern zu seiner Bastion ausgebaut. 1993 schließen Athen und Nicosia ein Militärbündnis und erweitern den „hellenischen Verteidigungsraum“ um die Republik Zypern. Griechenland unterhält seither nicht nur eine Militärbasis für griechische Kampfflugzeuge bei Paphos, sondern kooperiert auch mit Nicosia bei der Stationierung von Raketen und Überwachungsanlagen.
[3] Bisher wird den USA die militärische Nutzung der Insel von ihrem engsten Verbündeten Großbritannien gestattet. England hat von seiner ehemaligen Kronkolonie drei Prozent als „überseeisches britisches Territorium“ behalten, auf dem er die beiden großen Stützpunkte Akrotiri und Dheklia betreibt, die auch den Vereinigten Staaten bei gemeinsam geführten Kriegen zur Verfügung stehen.
[4] Nach der türkischen Invasion versucht Moskau, den Westen ein bisschen aufzuspalten, indem es die griechische Seite unterstützt. Griechenland tritt wegen der ausbleibenden Kritik an der Türkei durch die USA und die NATO aus der militärischen Organisation des Bündnisses aus.
[5] Im Einzelnen sieht der Plan vor: Die „Vereinigte Republik Zypern“ besteht aus zwei gleichberechtigten Teilstaaten mit weitreichenden Befugnissen (eigene wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen mit dem Ausland); neben der einheitlichen Staatsbürgerschaft ist auch eine interne vorgesehen; jeder Teilstaat soll über eine eigene Verfassung, ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung verfügen. Die Macht wird ausgesprochen gerecht verteilt: zwei Kammern; der Senat hälftig besetzt; das Parlament nach Bevölkerungsanteil zusammengesetzt; Präsident und Vizepräsident müssen verschiedenen Volksgruppen angehören und rotieren alle 10 Monate; in den Gremien hat bei jedem Mehrheitsbeschluss mindestens ein Volksgruppenmitglied von jeder Seite zuzustimmen, andernfalls ist er ungültig.
[6] Der türkische Norden muss 6% seines Territoriums an die griechische Seite zurückgeben. In diese Gebiete dürfen 90.000 ehemals vertriebene griechische Zyprer zurückkehren, die dort lebenden Türken müssen umgesiedelt werden. – Da die Folgen der Invasion damit nicht vollständig rückgängig gemacht werden, spricht die griechische Seite von einer Parteilichkeit Annans für die Türken. Die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit ist penibelst geregelt: Keine Volksgruppe darf im anderen Sektor für die Dauer von 19 Jahren mehr als 18% der Bevölkerung ausmachen; Landkäufe im anderen Sektor sind beschränkt; 15 Jahre lang oder bis das Pro-Kopf-Einkommen der Nordzyprer 85% der Südzyprer beträgt, darf nicht mehr als 18% des Grundbesitzes der anderen Volksgruppe gehören.
[7] Die Türkei muss ihre 35.000 Mann schrittweise reduzieren, Griechenland kann seine 2000 Mann starken Kräfte aufstocken; 2011 darf jede Seite 6000 Soldaten, stationiert haben, die bis 2018 auf 3000 reduziert werden sollen; nach einem möglichen Beitritt der Türkei stellen die Griechen 950, die Türken 650 Mann.
[8] Interessierte Kräfte im Sicherheitsrat haben es damit nicht eilig, wie die Vorgeschichte des Referendums zeigt. Auf die Forderung einer griechisch-zyprischen Koalitionspartei nach über den Annan-Plan hinausgehenden Sicherheitsgarantien gegenüber der Einmischung der Türkei legen am 21.4. die USA und Großbritannien im Sicherheitsrat einen Resolutionsentwurf vor, der eine erhebliche Verstärkung der UN-Aufsicht vorsieht: Die Verdopplung der Blauhelmtruppe auf 2500 Mann, zusätzlich 510 UN-Polizisten und weitere zivile UN-Beamte. Die UNSIMIC hat das Recht, alle einheimischen Behörden zu kontrollieren und zu zwingen, die Regelungen des UNO-Plans einzuhalten. Der zyprische Staat selbst soll demilitarisiert und abgerüstet sowie mit einem Waffenembargo belegt werden.
[9] Der Regierungschef aus dem Norden, Talat, wird bei seinem Besuch in Washington nicht nur von hoher Stelle empfangen, das State Department verletzt demonstrativ die übliche diplomatische Sprachregelung, indem es ihn als „Herr Ministerpräsident“ tituliert und von der „griechischen Republik Zypern“ redet. Auf die scharfen Proteste der zyprischen Republik hin stellt Powell klar, man habe nur die faktische Stellung Talats beschreiben wollen, eine Anerkennung der TRNZ sei nicht gemeint.