Der Sturm aufs Kapitol
Die vorläufig letzte Schlacht im „Kampf um die Seele Amerikas“
Das war für die Nation vielleicht traumatisch. Zum ersten Mal seit 1814 wird das Kapitol in Washington verwüstet, diesmal aber nicht von fremden Soldaten, die auf Befehl eines feindlichen, undemokratischen Monarchen handeln. Im Gegenteil. Es sind glühende amerikanische Patrioten, vor Liebe zu „freedom and democracy“ strotzend, die in der Gewissheit zu Werke gehen, dass sie nur ihr gutes demokratisches Recht reklamieren: „four more years!“ unter der Regentschaft ihres Lieblingspräsidenten.
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Gliederung
- I. Eine ‚Nahtoderfahrung‘ für die amerikanische Demokratie
- II. Die Einheit der freiheitsliebenden Patrioten: das absolute Recht freier Konkurrenten auf selbstbestimmte Durchsetzung
- III. Trumps heiß begehrtes Angebot: ein rücksichtsloses Rechtsbewusstsein mit Ewigkeitsgarantie
- IV. Die wehrhafte Antwort demokratischer Institutionen: Das Volk sind wir!
Der Sturm aufs Kapitol
Die vorläufig letzte Schlacht im
„Kampf um die Seele Amerikas“
I. Eine ‚Nahtoderfahrung‘ für die amerikanische Demokratie
Das war für die Nation vielleicht traumatisch. Zum ersten
Mal seit 1814 wird das Kapitol in Washington verwüstet,
diesmal aber nicht von fremden Soldaten, die auf Befehl
eines feindlichen, undemokratischen Monarchen handeln. Im
Gegenteil. Es sind glühende amerikanische Patrioten, vor
Liebe zu freedom and democracy
strotzend, die in
der Gewissheit zu Werke gehen, dass sie nur ihr gutes
demokratisches Recht reklamieren: four more years!
unter der Regentschaft ihres Lieblingspräsidenten. Sie
tun das auf dessen ziemlich eindeutige Anregung hin; der
ist sich nämlich seinerseits sicher, der einzig richtige,
also einzig demokratische Wahlausgang könne nur sein
Verbleib im Weißen Haus sein. Zum Erschrecken eines
weltweiten Publikums haben Trump und seine Anhänger sich
nun in einer Weise aufgeführt, wie man es sonst nur von
Bananenrepubliken
(George W.
Bush) kennt – dort, wo man es längst gewohnt ist,
dass auch gewählte Regenten selten freiwillig von der
Macht lassen, gelegentlich auch mit der tatkräftigen
Unterstützung einwandfrei demokratisch ermächtigter
US-Regierungen, sofern ihnen das jeweilige Wahlvolk nicht
ganz reif für die Demokratie
vorkommt. Doch jetzt
ist dieses Markenzeichen niederer Mächte und
minderwertiger Gesellschaften mitten in die Hauptstadt
der weltmächtigen Musterdemokratie selbst hineingetragen
worden – dorthin, wo die überlegene Macht bisher mit
ihrer bombenfesten Stabilität und mit der fraglos
demokratischen Legitimität ihrer Anwender einhergegangen
ist, speziell wegen des stets ordnungsgemäßen und
friedlichen Machtwechsels an der Spitze. Für selbst- und
sendungsbewusste Amerikaner ist das Ganze also zum
Schämen.
Aber wenn es bloß das wäre. Denn die Randalierer und
deren Anstifter sollen nicht nur für einen eigentlich
undenkbaren, außerordentlich peinlichen Ausnahmefall
verantwortlich sein, sondern auch für einen gefährlichen
Präzedenzfall. Mit ihrem Einbruch ins Kapitol, heißt es,
haben sie die Büchse der Pandora
geöffnet. So
registrieren die aufgeschreckten Beobachter auf ihre Art
– als Sorge um den Bestand eines kostbaren,
zerbrechlichen Guts – eine vertrackte Wahrheit über ihr
geliebtes System: Die Demokratie mutet gewählten
Machthabern wie Wählern einen Widerspruch zu, und zwar
immer und überall. Auf der einen Seite organisiert sie
eine Identität zwischen oben und unten, indem sie den
Regierten die Wahl einer Führungsperson anträgt
und ambitionierten Kandidaten die Möglichkeit gibt,
selbst die Macht im Staat zu erlangen, indem sie um
Wahlstimmen buhlen. Im Vordergrund stehen dabei
sorgfältig inszenierte Charaktereigenschaften, die den
Kandidaten als ausgezeichnete Führungspersönlichkeit
erscheinen lassen sollen und die zum Hauptkriterium einer
Entscheidung erhoben werden, an der nicht weniger als das
Schicksal der gesamten Nation hängen soll. Die Demokratie
zelebriert diese Konkurrenz um die Macht über das Volk
und um die persönliche Verkörperung seines
Bedarfs nach staatlicher Gewalt als ihren Höhepunkt und
ihr Gütesiegel – als den Beweis, dass der Wille der
Regierten an erster Stelle kommt, sodass von Herrschaft
allenfalls in politologischem, aber gewiss nicht im
moralischen Sinne gesprochen werden kann. In der
gewählten Person und in ihrer Machtfülle können die
Wähler ihre eigene Macht im Staat erblicken; darin können
sie sich als den wahren Souverän gespiegelt sehen, von
dem die Staatsgewalt förmlich ausgeht, der sie in jedem
Fall zu gehorchen haben, ob ihr Kandidat nun gewonnen hat
oder nicht. Und dennoch: Auf der anderen Seite gilt vom
ersten Amtstag an das Wort des vom Volk Auserwählten bloß
bedingt, gemäß längst festgelegten Kompetenzen des Amts
und einem unentrinnbaren Gewirr aus ‚checks and
balances‘, in dem weitgehend festgeschrieben ist, was das
damit für sehr auswechselbar erklärte Personal zu
exekutieren hat. Die Sache der Nation, über die das
gewählte Personal die Macht ausübt, liegt diesem als
institutionalisierter Auftrag vor, dessen Notwendigkeiten
und Sachzwängen es Rechnung zu tragen hat. Die
zelebrierte, per Wahl hergestellte Identität zwischen
Regierung und Regierten wird außerdem als eine bloß
befristete behandelt, die periodisch – für den Geschmack
des Siegers und dessen Wähler: viel zu schnell – zur
Disposition gestellt wird. Kein Wunder also, dass es
nicht nur in den vielen bedauernswerten ‚ungefestigten
Demokratien‘, sondern auch hierzulande ein Arsenal an
Ausdrücken für die Tendenz gewählter Machthaber gibt,
sich etwas zu sehr mit dem Amt zu identifizieren, das sie
ausfüllen, und die zeitlichen Beschränkungen ihrer Macht
für unpassend zu halten: Manche ‚kleben am Stuhl‘, andere
‚klammern sich‘ an ihre Posten; und auch in den
funktionierenden Demokratien des Westens sind Beschwerden
über einen unfairen Wettbewerb, Manipulationen des
Verfahrens usf. an der Tagesordnung. Wenn nun auch noch
der Schulmeister sich daneben benimmt...
Aber wie konnte es ausgerechnet dort überhaupt so weit kommen? Die offiziell richtige Antwort ist klar: Ein machtbesessener und manipulativer Zyniker hat die finstere Gewaltbereitschaft rechtsradikaler Milizen und Verschwörungsideologen heraufbeschworen und sich zunutze gemacht. Die Antwort ist nicht ganz verkehrt, dennoch etwas rätselhaft. Dass ausgerechnet traditionell regierungsfeindliche Milizen, ansonsten bekannt für ihren Hass auf alles, was nach ‚Zentralregierung‘ und ‚Washington‘ riecht, sich nun so vehement für den Verbleib eines Präsidenten einsetzen, der aus seinem autokratischen Besitzanspruch auf die Macht geradezu ein Werbeargument macht – das versteht sich nicht gerade von selbst. Und die geschockte Öffentlichkeit selbst kommt um die Feststellung nicht herum, dass hinter der aufgerüsteten Speerspitze der Randalierer ein beeindruckend großer Haufen von Demonstranten gestanden hat, hinter denen nach allen Berichten noch einmal Abermillionen von Wählern zumindest ideell gestanden haben. Letztere geben den Stürmern vielleicht nicht in allen Einzelheiten ihres Angriffs, aber durchaus in ihrem Standpunkt recht. Wie es zu dieser unheiligen Allianz hat kommen können – darüber kann ein authentischer Zeuge vor Ort Auskunft geben:
„Ich bin kein geistesgestörter Trump-Anhänger. Ich bin ein Anhänger Amerikas, und ich finde, es gibt nur einen Kandidaten, der die gleichen Werte teilt wie ich.“ (zitiert nach Washington Post, 10.1.21)
Wen die Liebe zur Freiheit alles zusammenschweißen kann.
II. Die Einheit der freiheitsliebenden Patrioten: das absolute Recht freier Konkurrenten auf selbstbestimmte Durchsetzung
Freiheit ist nämlich der eine, alles überragende Wert, den die radikalen Milizionäre mit denen teilen, die ihnen am 6. Januar die Daumen drücken, und der sie wiederum alle mit ihrem Präsidenten verbindet. Was auch immer sie sich darunter jeweils vorstellen, dieser heilige Höchstwert hat erst einmal einen profanen Gehalt: die Bewährung in der Konkurrenz um Geld, mit den Mitteln, über die die Einzelnen als ihr jeweiliges Eigentum verfügen. Für die allermeisten von ihnen heißt das, dass ihre freie Existenz eine sehr abhängige ist – mit harter Arbeit für ihre Chefs oder als Selbstständige, die selbst und ständig arbeiten und deren Träume von Aufstieg und Unabhängigkeit in der Regel auch das bleiben. Frei sind sie natürlich nicht in dem Sinne, dass sie sich die Teilnahme an dieser Veranstaltung aussuchen könnten; sie werden von der freien Staatsgewalt darauf verpflichtet – längst bevor und ganz unabhängig davon, ob sie sich entscheiden, darin den Inbegriff menschlicher Freiheit zu sehen, das gerade Gegenteil eines herrschaftlich bestimmten Lebens.
Frei sind sie aber allemal darin, sich das Ihre dazu zu denken. Das tun sie auch in einer Weise, die den Einrichtern und Nutznießern dieser Veranstaltung sehr recht ist: Sie sehen in der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft eine Spielwiese für gesellschaftliche und charakterliche Tugenden: für ‚free enterprise‘, also das Recht, für sich selbst etwas zu ‚unternehmen‘, und für ‚self-reliance‘, also die Pflicht, für sich selbst zu sorgen und niemandem zur Last zu fallen – zumindest niemandem, der sich nicht frei dazu entschließt, ihnen eine helfende Hand zu reichen. Frei sind sie schließlich auch darin, die Prinzipien der marktwirtschaftlichen Konkurrenzgesellschaft so einleuchtend und so schön zu finden, dass sie gleich die Einbildung pflegen, sie wären eigentlich selbst die Herren über die Veranstaltung, wenn sie sich gemäß deren Regeln und Sachzwängen aufführen. Sie können – und sollen das von Staats wegen auch – sich mit dieser Produktionsweise und allen ihr eigenen Machtverhältnissen so komplett identifizieren, dass sie in der amerikanischen Verfassung hauptsächlich die Zusicherung lesen, der Auftrag dieser besonderen Staatsgewalt wäre es, die Bürger in Ruhe zu lassen bzw. dafür zu sorgen, dass sie in Ruhe gelassen werden. So schaffen sie es, ausgerechnet aus dem Dokument, in dem eine bürgerliche Herrschaft verbindlich vorschreibt, was ihre Bürger dürfen und nicht dürfen und wie sie selbst mit ihnen zu verfahren gedenkt, eine Absage an Herrschaft herauszulesen. Dieser Legende zufolge haben die verehrten Gründerväter den amerikanischen Staat vor allem dadurch gegründet, dass sie ihn zurückgedrängt haben.
Was sie an dessen Stelle gesetzt haben, ist ein einzigartiges, zugleich weltweit vorbildliches Gemeinwesen selbstverantwortlicher Glücksjäger. Die schaffen sich auf dem nordamerikanischen Kontinent eine expansive Heimstätte für ein auserwähltes Volk, das – freie Eigentümer, die sie sind – nichts geschenkt bekommt, aber ein gottgegebenes Naturrecht auf alles hat, was es zum Mittel seines marktwirtschaftlichen Treibens machen kann. Ausgerechnet in diesem Treiben – in der Konkurrenz und allen dazugehörigen Gegensätzen – finden Amerikaner die Quelle ihrer Einheit. Ihr ökonomisches Gegeneinander setzt sie demnach gerade nicht in Gegensatz zueinander, sondern moralisch in eins: als freie Einzelne, die in ihrem gemeinsamen Willen zur Konkurrenz miteinander identisch sind, frei von allen in anderen Epochen bzw. anderen Völkern von oben angelegten Fesseln. Über alle Klassengrenzen und alle Stufen der sozialen Hierarchie hinweg, die es auch in der amerikanischen Fassung des kapitalistischen ‚way of life‘ gibt, erkennen Amerikaner einander in dieser Identität als ihresgleichen wieder: Ob reich oder arm, mächtig oder nicht, grüßen sie einander demonstrativ mit Vornamen und festem Handschlag – im gemeinsam geteilten Stolz, die einzig wirklich freien, also vollkommenen Menschen zu sein.
Eine interessante Verknüpfung, die sich die Helden der freien Konkurrenz da leisten. Sie bestehen zwar darauf, keine höhere Autorität als ihren Geldbeutel und ihren Gott zu kennen, dem sie schon auf ihren Geldscheinen ihre Treue bekunden. Doch ihre Vaterlandsliebe und ihre unbedingte Treue zum ‚land of the free & home of the brave‘ und zu seiner Fahne sind in Sachen Hingabe und Opferbereitschaft für das große Ganze nicht zu überbieten. Sie überstrahlen jedenfalls alles, was die verflossenen Systemfeinde und die aktuellen Systemrivalen jemals von oben inszenieren könnten. Ohne jede weitere hoheitliche Anweisung legen sie dabei auch einen Verdacht gegen ihre Mitbürger an den Tag, der jeden Blockwart und jede Gesinnungspolizei rot werden ließe. Gerne und gründlich fahnden sie nach Landsleuten, die nach ihrem Ermessen einen allzu lauwarmen Schönwetterpatriotismus pflegen, die kostbare Freiheit und ihre enormen Kosten nicht schätzen und gegenüber der amerikanischen Nation – ihrer glorreichen Geschichte, ihrer heiligen Mission in der Welt und dem, was sie zu dem Zweck alles unternimmt – glatt eine reflektierte, gar kritische Distanz hegen. Viele sind sogar in der Lage, die inkriminierte Distanz schon an der Hautfarbe oder an der Sprache zu erkennen.
Dabei pflegen die radikalen Liebhaber der amerikanischen Nation selbst eine entschieden kritische Distanz gegenüber dem real existierenden politischen Gemeinwesen, also dem Staat mit seinem Apparat und seinem Treiben. Ihre Ablehnung fällt sogar regelmäßig um einiges vernichtender aus als die der vaterlandslosen Gesellen; sie verdankt sich ihrem Rechtsstandpunkt, selbst die Herren über die kapitalistischen Verhältnisse zu sein, die sie unter dem Signum der Freiheit so lieben. Dieser Standpunkt ist von gewissen Widersprüchen nicht frei: ‚Law and order‘, und zwar flächendeckend und absolut, müssen sein; gegen Betrüger und ‚bad hombres‘ hilft nur unwidersprechliche Gewalt. Aber dass der Staat zu deren Durchsetzung ein Gewaltmonopol beansprucht, ist zumindest problematisch, birgt jedenfalls stets die Gefahr einer Relativierung der zu schützenden Freiheit der Bürger, nämlich ihres in der Verfassung kodifizierten Rechts, sich selbst gegen Übergriffe zu wehren – nicht zuletzt gegen die einer übermächtigen Staatsgewalt. Genauso problematisch ist die Anmaßung des Staates, die freie Konkurrenz – z.B. mit Gesetzen zum Umwelt-, Arbeits- und Verbraucherschutz – hoheitlich zu regulieren: ein staatlicher Übergriff auf das staatlich geschützte Recht des Privateigentums, der einen Griff zur Waffe im Schrank durchaus rechtfertigen könnte. Und dass ein Kollektiv frei konkurrierender Bürger noch ein paar andere ‚öffentliche Güter‘ neben der Rechtssicherheit braucht, für die man als Kollektiv auch aufkommen muss, wird in der Regel eingesehen; aber das heißt nicht, dass die öffentliche Gewalt berechtigt wäre, die Steuerhoheit für sich zu reklamieren und von oben zu verfügen, welche Güter das sind und wie viel die Bürger dafür abdrücken müssen. Der Verdacht, die Funktionäre des amerikanischen Staats hätten es auf die in der staatlichen Verfassung niedergelegte Freiheit der Bürger abgesehen, setzt also gar nicht erst dann ein, wenn sie schon wieder von einem neuen Vorstoß zur Verschärfung der Waffengesetze Wind bekommen haben. Belege für herrschaftliche Übergriffe werden überall dort gefunden, wo die Staatsgewalt sich als das aufführt, was sie auch in Amerika ist: die politische Gewalt der freien Konkurrenz, die dabei eben nicht nur für Recht und Ordnung sorgt, sondern auch die Konkurrenz mit all ihren widersprüchlichen Konsequenzen und wechselnden Konjunkturen so eingreifend betreut wie nötig, um das zu sichern und auszubauen, was diese Konkurrenz der Privaten überhaupt ist: die gesellschaftliche Machtbasis des Staates, der sie beherrscht.
Die Freiheit, die da beansprucht wird, ist meilenweit erhaben über die Frage, ob das selbstbestimmt verdiente und selbst geschützte Hab und Gut überhaupt bis zum Monatsende reicht. Gerade das hat freiheitliche Privatsache zu bleiben. Solche materiellen Fragen werden in den Anspruch aufgelöst, sich frei und selbstbewusst in der Konkurrenz zu bewähren – eine denkbar perfekte Qualifikation für das Ausfüllen der abhängigen Rollen, die die freie Konkurrenz für die meisten von ihnen bereithält. Zu den unverzeihlichen obrigkeitsstaatlichen Übergriffen gehört ja ganz prominent die Abteilung Soziales, in der diese Spezies freiheitlicher Patrioten eine eindeutige Verfälschung des Prinzips selbstverantwortlicher Freiheit entdeckt. Sie kennt keine soziale Unzufriedenheit, die einen Anspruch an den Staat begründen könnte, aus der amerikanischen Gesellschaft etwas mehr oder besser als die kapitalistische Konkurrenz – eine ach so sozialfriedliche ‚Soziale Marktwirtschaft‘ etwa – zu machen. Jede derartige Unzufriedenheit zeugt vielmehr davon, dass der Staat in der Hinsicht schon viel zu viel tut. Hier wird dem Staat nur eines abverlangt, das allerdings ganz entschieden: die gewaltsame Absicherung ihrer Freiheit vor allen Angriffen und Relativierungen – durch die Eroberung eines halben Kontinents; durch die Eröffnung einer ganzen Welt für freie amerikanische Geschäftemacher; durch die Garantie, dass Amerikaner die ersten und größten Nutznießer der amerikanischen Weltordnung sind; und neuerdings durch den Bau eines Schutzwalls gegen Nicht-Amerikaner, die allein durch ihre zahlreiche Präsenz eine Einschränkung amerikanischer Freiheit darstellen.
Was diese Funktion des Staates – als gewaltsames Hilfsmittel zur Entfaltung der natürlichen Freiheit der amerikanischen, also vollkommenen Menschen – betrifft, sind diese Patrioten insbesondere in Bezug auf den Verkehr mit fremden Völkern, Feinden und Verbündeten sehr gebieterisch. Der Anspruch, den sie hier an ihre Staatsgewalt stellen, hat mit hoheitlicher Zurückhaltung rein gar nichts zu tun. Sie fordern von ihr vielmehr den gleichen, so absoluten wie abstrakten Rechtsstandpunkt ein, den sie für sich selbst als ein Kollektiv privater Konkurrenten, als eine Gemeinschaft individueller Souveräne über das Ihre beanspruchen: Die Führung der Nation hat sich bei allem, was auch immer sie sich vornimmt, erfolgreich durchzusetzen. Sie hat stets dafür zu sorgen und dabei keine Kosten zu scheuen, dass die Nation bei allen notwendigen auswärtigen Verwicklungen frei, also ihr eigener Herr bleibt. Ihr Staat hat eine Macht zu sein, die keine gleichrangigen, schon gleich keine höheren Autoritäten anerkennt – weder Allianzen noch supranationale Organisationen noch Menschenrechtskommissionen, die das Recht der Nation auf Erfolg relativieren könnten – und das auch nicht nötig hat. Die Durchsetzung des Rechts der Nation auf alles, was sie als ihr Recht bestimmt, ist die heilige Pflicht, die die Führung dem patriotischen Rechtsstandpunkt ihrer Bürger schuldet.
Auch im Freiheitsparadies, das die amerikanische Weltmacht durch ihr Wirken daheim und in aller Welt tatsächlich herbeigeführt hat, kommt dieser Rechtsstandpunkt nie so richtig auf seine Kosten – wie auch, bei dem Anspruch. Und gerade in letzter Zeit sieht er sich mit wachsenden Gründen für Unzufriedenheit im Außen- und Innenleben der Nation konfrontiert: Seit Jahren werden Kriege geführt, deren unglücklicher Verlauf daran zweifeln lässt, ob sie überhaupt für den Erfolg der Amerikaner geführt werden oder eher für undankbare Völker und Verbündete, die des Einsatzes unserer Soldaten nicht würdig sind. [1] Der Staat betreibt schon länger eine Einwanderungspolitik, die an seinem Willen zweifeln lässt, die Heimstätte der wahren Konkurrenzmenschen und die dazugehörigen Arbeitsplätze für die amerikanischen Bürger zu reservieren, die sie über alles lieben, die ihnen also als Amerikanern zustehen. Schließlich hat in der nationalen Kultur ein Standpunkt Einzug gehalten, der immer mehr Insassen des Freiheitsstalls zu Opfern erklärt und ihnen – als Schwarzen, Frauen, Schwulen, illegalen Einwanderern etc. – einen Schutzstatus verleiht, der zu Ansprüchen an und Vorwürfen gegen die guten Bürger und ihre traditionelle Sittlichkeit führt. Statt einer Gemeinschaft selbstverantwortlicher, starker Patrioten auf der Suche nach Erfolgen in der Konkurrenz droht Amerika damit zu einer Schutz- und Solidargemeinschaft der Opfer und der Schwachen auf der Suche nach Kompensation zu geraten. [2]
Nicht in jedem Punkt, nicht in jedem Interesse und auch
nicht in jeder staatlichen Affäre, wohl aber in diesem
alles überwölbenden Rechtsbewusstsein treffen sich die
rechten Radikalinskis mit denen, die gewöhnlich der
‚konservativen Mitte‘ zugeschlagen werden. Und heute
kommen die diversen Schattierungen dieses konservativen
Spektrums offenbar darin zusammen, dass sie alle als
Trump-Anhänger in Aktion treten. In Trump sehen
sie, was sie in keinem anderen Politiker sehen: einen
absolut verlässlichen Vertreter der Werte, die sie als
Anhänger von Amerika
zu zwar keineswegs
geistesgestörten
, gleichwohl zu fanatischen und zu
einigen neuen Eskalationsstufen bereiten Trump-Fans
machen. Wenn sie ihr ‚Hausrecht‘ im Kapitol
destruktiv demonstrieren, kämpfen sie um sein
Recht auf die Macht im Weißen Haus, die an nichts
relativiert werden darf.
III. Trumps heiß begehrtes Angebot: ein rücksichtsloses Rechtsbewusstsein mit Ewigkeitsgarantie
Warum Trump der Führer ist, auf den die wahren Amerikaner
gewartet haben – um das zu erklären, brauchen seine
Anhänger exakt zwei Wörter: America first!
Dieser
Wahlspruch steht zunächst für eine Reihe von konkreten
Vorhaben und Maßnahmen, die freie Herzen höher schlagen
lassen: eine drakonische Einwanderungspolitik; einen
radikalen Rollback von umwelt-, arbeits- und
steuerrechtlichen Belastungen für amerikanisches
Geschäft; eine Handels- und Außenpolitik, die keine
falschen Freunde kennt und keine Gefangenen macht; eine
Aufrüstung des Militärs wie aus den schönen Zeiten der
Systemfeindschaft, mit den schönsten Waffen, die die
Menschheit je gesehen hat; ein Bekenntnis zum Recht auf
privaten Waffenbesitz und zu aller nötigen Brutalität bei
der Aufrechterhaltung von ‚law and order‘ gegen
aufmüpfige Opfer etc. pp.
Entscheidend an alldem sind freilich weniger die
Maßnahmen selbst, schon gar nicht die Frage, was die
Ergebnisse für den einzelnen America
first!
-Anhänger eigentlich bedeuten. Gemäß diesem
Ausruf sind sämtliche Sorgen und Nöte Belegmaterial für
einen Verstoß höherer Art: gegen das heilige Recht der
Nation auf den Erfolg bei allem, was sie sich vornimmt.
Entscheidend dabei ist also der Rechtsstandpunkt, für den
Trump steht und der dem Anforderungsprofil seiner
Freiheitshänger perfekt entspricht: America first!
steht für die Entschlossenheit, den Erfolg der Nation aus
eigener Kraft zu erzielen, ihr Recht aus eigener Stärke
zu beziehen und zu bestimmen; es steht für den Verzicht
auf die Heuchelei, bei der Durchsetzung der Sache der
Nation einem höheren Maßstab des Guten und Gerechten
entsprechen zu wollen – und wenn Trump dann doch solche
hehren Werte in den Mund nimmt, dann so hemmungslos
übertreibend, dass daraus vor allem der Wille
hervorscheint, keine Schamgrenzen gelten zu lassen, wenn
es um den heiligen Egoismus der Nation geht. Als freier
Menschenschlag sind die Amerikaner selbst das
Wahre, Schöne und Gute.
Doch streng genommen ist auch dieser Rechtsstandpunkt
nicht alles, was Trump seinen freien Anhängern unter der
Losung America first!
bietet. Sein Angebot heißt
vielmehr schlicht: Trump selbst. Er offeriert
sich als Verkörperung des Rechtsstandpunkts, der
die wahren Amerikaner als Nation der Freien ausmacht –
als ‚Identifikationsfigur‘ im Wortsinne, nämlich als die
lebende Garantie der Identität zwischen dem privaten
Rechtsstandpunkt der Konkurrenten, ihrem Rechtsstandpunkt
als Nation und dem treibenden Motiv ihrer politischen
Führung. Das Angebot selbst ist definitiv nicht neu; hier
vertritt Trump vielmehr die besondere amerikanische
Variante des eingangs erwähnten demokratischen
Versprechens ans Volk, sich mit seiner Herrschaft per
Wahl ihrer Spitze in eins zu setzen. Schon immer lautet
der Anspruch amerikanischer Bürger an ihren Präsidenten,
er möge sich nicht bloß als Vorstand einer mit lauter
wunderbaren Profis bestückten Bürokratie aufführen,
sondern die freie Moral der Nation selbst verkörpern –
mit seiner persönlichen Stärke, seinem persönlichen
Erfolg und seiner machtvollen Würde. Er soll eine Art
moderner Monarch sein, aber eben mit gar nicht nur
repräsentativer, sondern echter Macht. Trumps Extremismus
in dieser Frage besteht darin, dass er es eben nicht
dabei belässt, als eine über den sonstigen
staatlichen Instanzen schwebende Figur den Volkswillen zu
repräsentieren, sondern als eine, die mit aller
Entschlossenheit und Rücksichtslosigkeit gegen
sie kämpft – und gegen alle, die sich dabei irgendwie
gegen ihn stellen.
Dieser Volkswille ist es, den Trump in seinem
berüchtigten, aggressiven politischen Stil
realisiert – weswegen das eben keine bloße Stilfrage ist:
Das kämpferische Selbstbewusstsein der wahren Amerikaner
realisiert er in der offenherzigen Feindseligkeit, die er
gegen wen auch immer pflegt und bei der er nicht einmal
in der Art der Ansprache unterscheiden mag zwischen dem
Führer einer verfeindeten Staatsmacht, einem sperrigen
Richter daheim oder einem Otto-Normal-Journalisten, der
ihn mit einer kritischen Nachfrage belästigt. Für Trump
sind das lauter Anwendungsfälle für die
persönliche Durchsetzung eures
Lieblingspräsidenten
. Indem er stets darauf achtet,
dass er sich durchsetzt, liefert er zugleich den
Beweis, wie gut das Recht der Nation bei ihm
aufgehoben ist; wie sehr die per Wahl betätigte Stimme
des Volkes in ihm ihre geeignete Echokammer und ihr
ausführendes Organ hat. [3] Genau dieser kompromisslos
selbstzentrierte Durchsetzungswille macht Trumps
‚Glaubwürdigkeit‘ als Politiker aus, die demokratische
Führungstugend schlechthin: Was auch immer er verspricht,
er tut es auch – mehr kann ein demokratischer Wähler von
seinen ermächtigten Führern nicht verlangen. Die
‚Spaltung‘ im Lande, die Trump dabei zur Last gelegt
wird, hat Methode. In jeder Beleidigung seiner Gegner, in
jeder tabubrechenden Respektlosigkeit gegenüber bislang
in der Nation anerkannten Standpunkten und – vor allem –
Opfern sehen Trumps Anhänger die Spiegelung ihres eigenen
Rechtsstandpunkts, wie richtig sie also mit ihrem
Konkurrenzgeist, ihrer konservativen Sittlichkeit und
damit liegen, dass sie das wahre Volk der USA sind. Und
in dem fanatischen Zuspruch, den sie gegenüber ihrem
Anführer im Weißen Haus zum Ausdruck bringen, sieht der
den Beweis, wie geeignet sein eigener Egoismus als
Leitstern für das Interesse der Nation ist. Eine
Echokammer vom Feinsten also, die sich überhaupt nicht in
einer dunklen Ecke des Internets abspielt, sondern vier
Jahre lang im Zentrum des öffentlich-demokratischen
Lebens Amerikas steht, sodass die Logik dieses
freiheitlichen Patriotismus eigentlich Tag für Tag und in
aller schrillen Deutlichkeit zur Schau gestellt wird.
Nun hat Trump sein Angebot, die perfekte Identität zwischen einem freien Volk und seiner freien Führung zu sein, dadurch demonstriert, dass er sich über das demokratische Verfahren schlechthin hinweggesetzt und auf seinem Anrecht auf die Herrschaft im Weißen Haus und die unbedingte, weder ‚gecheckte‘ noch ‚gebalancete‘ Autorität der Exekutive bestanden hat. Damit schafft er die Demokratie freilich nicht ab; er tut das alles nicht, um die Stimme des Volkes zu umgehen, sondern um nichts zwischen sich und sein Volk kommen zu lassen. Damit radikalisiert er vielmehr das eingangs erwähnte Angebot, das die Demokratie selbst ihren Bürgern macht: als wahrer Souverän tätig zu werden, indem sie eine regierende Person an die Spitze des Staates setzen. Er radikalisiert dieses Angebot dahingehend, dass er sich daranmacht, sich über die andere Seite des demokratischen Widerspruchs hinwegzusetzen: über die bloß befristete Verschmelzung zwischen oben und unten zu einer persönlich verbürgten und verkörperten demokratischen Einheit sowie über ihre Einbettung in lauter Mechanismen und Verfahren, die Trump und seine Anhänger als bloß lauter Gelegenheiten fürs Stören ihrer unvermittelten Einheit bekämpfen. Trumps letzter Aufruf an seine Anhänger, in seinem Namen zu randalieren, auf dass er ihr Präsident bleiben könne, ist insoweit seine Einladung an sie, für ihr eigenes demokratisches Recht auf eine Identität mit ihrem Staat aktiv zu werden – also einen großen Schritt über den demokratischen Akt des Wählens hinauszugehen, um den wahren Sinn ihres Wahlakts wahr zu machen.
IV. Die wehrhafte Antwort demokratischer Institutionen: Das Volk sind wir!
Was Trump und seine Anhänger in dem Sinne angestellt haben, ist für den Rest der Nation unverzeihlich.
Sie haben schließlich den glorreichen Hauptsitz
amerikanischer Macht besudelt, was schon alles über sie
sagt: Sie sind jedenfalls definitiv nicht das
Volk, das our house!
zurückerobert, sondern ein
Mob
. Sie erstarren nicht in Ehrfurcht vor der
Kathedrale der parlamentarischen Herrschaft, auch nicht
vor den dort anwesenden, also ehrwürdigen Machthabern,
die gerade dabei sind, einen zwar eher zeremoniellen,
dennoch entscheidenden Akt zu vollziehen: die
Inthronisierung des neuen Mannes an der Spitze. Daher
steht erst einmal eine Runde Mitfiebern mit dem Palast
und den Personagen amerikanischer Herrschaft an – und
auch die eine oder andere Gewaltfantasie: In der empörten
Frage, wie der Pöbel es überhaupt so weit hat bringen
können und was gewesen wäre, wenn Black lives
matter!
-Demonstranten sich auch nur in die Nähe des
hohen Hauses gewagt hätten, klingt an, was der
demokratische Geschmack für fällig erachtet hätte. Das
muss Konsequenzen haben, nämlich eine rücksichtslose
Verfolgung der Täter und ihrer Helfershelfer: Den
zuständigen Behörden springt die liberale Presse
vorauseilend zur Seite, setzt alle Mittel ein, die die
sozialen Medien verfügbar machen, um täglich dutzendfach
zeitgemäße ‚Wanted‘-Poster mit allem, was sich an
biographischen Hintergründen der Kapitolstürmer
zusammenklauben lässt, zu veröffentlichen. Ohne auf die
Hilfsbereitschaft der vierten Gewalt zu warten, tritt die
Justiz ihrerseits in Aktion; erste Ergebnisse werden
ausgewertet. Derweil knöpft sich die demokratische Partei
den großen Anstifter selbst vor, um ihn ein für allemal
aus den Korridoren der Macht zu verbannen; die
Republikaner lassen die Amtsenthebung auch diesmal nicht
zu, aber einer ihrer Vorsteher ist sich unmittelbar nach
dem von ihm unterstützten Freispruch eine eindeutige
Schuldzuweisung an den scheidenden Präsidenten
schuldig...
Trumps Amtszeit endet also mit einem Blitzkrieg zur Wiederherstellung der Autorität des Rechtsstaats gegen ihn. Der Rachedurst in Politik und Öffentlichkeit samt der entsprechenden Forderung nach Bestrafung der Schuldigen – oben wie unten – durch die Staatsgewalt bezieht seine Vehemenz aus der Gewissheit, gerade durch die Wiederherstellung der Achtung vor dem demokratischen Herrschaftssitz, -personal und -verfahren die Souveränität des Volkes zu sichern. Auch die demokratischen Verteidiger der Autorität der Staatsgewalt stehen nämlich auf dem Standpunkt, dass ein freies Volk über dem Staat steht, den es als sein Hilfsmittel benutzt. Daraus schöpfen sie aber eben keine Skepsis gegen die Staatsmacht mit ihren demokratisch-rechtsstaatlichen Institutionen und Insignien, sondern eine ausgeprägte Liebe zu ihnen. Dass das amerikanische Volk über der Herrschaft des Staates steht – genau das ist für diese Variante des amerikanischen Patriotismus die Sache, die in den Institutionen und Verfahren realisiert wird. Das ist es, was diesen Herrschaftspalast und dessen Insassen so heilig macht, ihnen ihre ‚Würde‘ gibt: Das Kapitol glänzt deswegen so schön, weil die Macht, die es in seinen großen, marmornen Dimensionen repräsentiert, die Macht eines freien Volkes ist. Schließlich sind die dort tätigen Machthaber auf garantiert demokratische Weise hineingekommen, gehen als Mandatsträger freier Bürger ihrem herrschaftlichen Geschäft nach, sodass das Volk in ihrem Treiben und in ihrem prunkvollen Herrschaftsdomizil seine eigene Souveränität zurückgespiegelt bekommt. Und der so wichtige Herrschaftsakt, den der Mob kurzzeitig unterbrochen hat, ist immerhin der zeremonielle Nachvollzug der Ermächtigung, die das Volk selbst in der Wahl vollzieht. Der Kongress, der als Kollektiv der Abgeordneten die Freiheit und die Macht des Volkes gegenüber dem Präsidenten repräsentiert, beglaubigt durch diesen Akt, durch die strikte Befolgung des einschlägigen Procedere, dass es wirklich die Freiheit und die Macht des Volkes sind, die in dem Präsidenten verkörpert sind. [4]
Die andere, vom angegriffenen Establishment vertretene
Lesart vom demokratischen Recht des Bürgers auf Identität
mit seiner Herrschaft knüpft also an genau die Seite des
demokratischen Widerspruchs an, über die Trump sich
hinweggesetzt hat: die Bindung des Herrschaftspersonals
an lauter demokratisch-rechtsstaatliche Institutionen und
Verfahren, in denen die Sache der Nation festgelegt ist.
Nach dieser Lesart beruht die Legitimität demokratischer
Herrschaft gerade nicht auf der Einheit der Macht mit
einer vom Volk bestellten Person, sondern
darauf, dass über der Person stets das Verfahren
steht, durch das sie ermächtigt wird; durch den Respekt
der Machthaber und der Machtaspiranten vor seiner Geltung
wird dem Anspruch der Demokratie Genüge getan,
Volksherrschaft zu sein. Was gegen Trump und
sein Volk mit aller gerechten Empörung
hochgehalten wird, wenn seinem demokratischen
Personenkult das demokratische Verfahren entgegengestellt
wird, ist gerade die Weise, wie die Demokratie die
Freiheit der Herrschaft – zum Regieren – und die Freiheit
des Bürgers – zur Bestellung der herrschenden Figuren –
zusammenschweißt. Die Wähler sind nicht dazu verdammt,
ewig ‚Follower‘ einer einmal ermächtigten Herrscherfigur
zu sein, sondern freie Bürger, weil sie stets von Neuem
entscheiden können, wer die Herrschaft über die Sache der
Nation, also auch über sie führt. So haben und betätigen
die Bürger ihre Freiheit, nicht etwa
geistesgestörte
Anhänger von einem Herrn Trump
oder Biden sein zu müssen, sondern Anhänger von
Amerika
zu sein, die die Nation voranbringen, indem
sie immer wieder neu einen dafür richtigen Führer
bestellen. Dass die Gewählten dieses Recht vor allem
dadurch bestätigen würden, indem sie abtreten,
wenn Volkes Wille es so verfügt, ist zwar eine sehr
einseitige Sichtweise; sie realisieren dieses Recht vor
allem dann, wenn sie zum berechtigten, freien Herrschen
antreten. Aber so dokumentieren sie, dass sie –
so viel Dialektik beherrscht jeder Demokrat – nie über
dem Recht stehen, das sie über dem Volk stehen lässt,
sondern dabei ‚bloß‘ dessen legitime Exekutoren sind.
Das ist also der entscheidende Punkt, an dem das angegriffene Establishment Trump eine prinzipielle Absage erteilt: Das Recht der Nation steht höher als jede Person, die sie als Präsident voranbringen soll und will. Worin dieses Recht besteht, das über Regierenden und Regierten steht – das ist auch für seine Gegner nichts als der Erfolg der Nation. Kein Wunder also, dass die Feinde Trumps ihm als Hauptanklage entgegenschleudern, dass er die Nation schwächt, wenn er die Macht im Staat mit sich identifiziert. Gerade die Nation mit ihrem absoluten Recht auf Erfolg duldet nicht die Identifizierung der Macht mit einem Führer, der damit macht, was er will. Das verrät übrigens auch die anlässlich des ‚Sturms‘ öffentlich ventilierte Sorge, die antidemokratischen Machenschaften eines Trump könnten die Vorbildfunktion der USA gegenüber anderen Staaten in Sachen demokratischer Herrschaft schwächen; sie könnten nämlich die Glaubwürdigkeit ihrer bewährten Methode untergraben, die Staaten der Welt mit der eigenen demokratischen Vorbildlichkeit zu traktieren, wenn sie ihnen vorschreiben, wie sie ihr politisches und ökonomisches Innenleben zu organisieren haben, damit es den Interessen und Ansprüchen Amerikas entspricht, die auch noch moralisch unwiderstehlich sind. Wenn die USA sich schon herausnehmen, anderen Mächten bis in ihre inneren Verhältnisse hinein aufzusagen, wie sie sich aufzuführen haben, dann dürfen sie sich so etwas wirklich nicht leisten.
Das demokratische Kampfprogramm gegen Trump und seine Anhänger ist deshalb zugleich ein einziges Plädoyer für die Überwindung der nationalen ‚Spaltung‘, die Wiederherstellung einer angeblich einmal existenten moralischen Einheit der Nation. Die braucht es unbedingt, wenn es mit Amerika wieder aufwärtsgehen soll; und diese Einheit ist auch das wesentliche Versprechen Bidens an sein Volk. Genau dafür braucht es eine in jeder Hinsicht souveräne, weil von allen Amerikanern anerkannte Staatsmacht, wie Biden sie in seiner Person vorstellig macht; dafür steht ihm dann auch die Zustimmung des ganzen Volkes zu. Demokratie ist dann, wenn das amerikanische Volk das Ergebnis der Wahl anerkennt und sich vertrauensvoll um die neue Führungspersönlichkeit schart, die ihm seine Einheit zu fördern verspricht, statt seine Spaltung anzuheizen. Was Biden ihm sonst noch verspricht, wird abzuwarten sein – fünf Tage Staatstrauer wegen der vielen Corona-Toten sind schon mal ein guter Anfang.
Und Trump selbst?
„Unsere historische, patriotische, schöne Bewegung, um Amerika wieder großartig zu machen, hat gerade erst begonnen.“
[1] Die privaten Bürgermilizen wie die ‚Oath Keepers‘ und die ‚Three Percenters‘, die den Sturm aufs Kapitol mitorganisiert und angeführt haben, rekrutieren sich zum erheblichen Teil aus aktiven und ehemaligen Soldaten, die sich von ihrer nationalen Führung ausgenutzt und verraten fühlen – wegen ihrer hautnahen Erfahrung mit Kriegen, die nach ihrem Ermessen Amerikanern nichts nutzen, den Feinden und den Verbündeten umso mehr. Auch zahlreiche aktive und ehemalige Polizisten schließen sich diesen Milizen an, weil ihre Erfahrungen mit den Konsequenzen des amerikanischen Elends und einer liberalen nationalen Kultur ihnen zeigen, dass ‚law and order‘ – das, was wahre Amerikaner für ihre Konkurrenz brauchen – bei offenbar nicht ganz wahren Amerikanern keinen Anklang findet.
[2] An der Stelle steigen die inzwischen berüchtigten ‚Proud Boys‘ in das Kollektiv entsetzter Patrioten ein. Sie stammen nicht aus dem traditionellen Kreis der ‚anti-government‘-Milizen, sondern sind genuine Produkte des amerikanischen ‚Kulturkriegs‘. Sie stellen sich als Rettungskräfte der westlichen Zivilisation auf, die das angestammte Recht echt amerikanischer Bürger schützen, Herr im Haus zu sein. Sie tun das, indem sie sich als Feindbild ihrer Feinde, als Tabubrecher gegen eine totalitäre politische Korrektheit aufführen: als ‚fight club‘ für wütende Machos, die – zwar augenzwinkernd karikaturhaft, wie es sich für die moderne Internetkultur gehört, zugleich aber bitterernst – einen im Wortsinn reaktionären, gewalttätigen Chauvinismus kultivieren.
[3] An der Stelle schließen sich die ‚Q-Anon‘-Anhänger der freiheitlichen Karawane an – mit einer Verschwörungstheorie, wie man sie einfacher nicht stricken könnte. Sie besteht aus nichts als einer interaktiven, stets fortgeschriebenen Geschichte über die abgrundtiefe Bösartigkeit des Feinds der Freien und über die glorreiche Gutartigkeit ihres Anführers. Trump wird hier zu einem Anonymus und zugleich zu einem messianischen Ritter gekürt, der demnächst – am Inaugurationstag – den totalen Krieg gegen die Feinde ausrufen wird. Die Parusie ist freilich ausgeblieben, woraufhin ziemlich viele Q-Anhänger vom Glauben abgefallen sind; auch in der verschwörerischen Fantasiewelt patriotischer Amerikaner gilt nämlich das Prinzip: Misserfolg gibt Unrecht. Für die anderen ist die enttäuschende Episode bloß der Auftakt dazu, eine weitere Masche am Feindbild der Trump-Verhinderer zu stricken und die Erlösung vom Bösen auf demnächst zu vertagen...
[4] Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Donald Trump diese ehrwürdige Funktion des Kongresses, den Wahlsieger zeremoniell zu bestätigen und so das Volk der unzweifelhaften nationalen Gültigkeit seines Votums zu versichern, entgegen dem Sinn und hohen Symbolwert der Sache als Gelegenheit hat nutzen wollen, das – bereits sehr zeremoniell festgestellte – offizielle Ergebnis der Präsidentenwahl zu korrigieren. Für diese politische Funktionalisierung des Kongresses hätte freilich seine ‚Rückeroberung durchs Volk‘ in Gestalt der Kampftruppe des Noch-Präsidenten gelingen müssen. Das hätte seine Würde als Repräsentanz der Nation, die dem Ergebnis des rohen Konkurrenzkampfs um die Präsidentschaft hoheitsvoll ihr definitives Plazet erteilt, natürlich kaputtgemacht.