Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Ein gekonnt inszenierter Skandal:
Sex & Crime im VW-Betriebsrat
Rechtzeitig zur erwarteten Machtübernahme einer Regierung, die neben dem Flächentarif auch die deutsche Mitbestimmung demontieren will, und saupünktlich zum Antritt eines neuen Managers, der das Unternehmen aus der Ertrags-Krise zu führen verspricht, wird den dafür zuständigen Redaktionen die Eröffnung eines staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens im Umfeld des VW-Betriebsrats zugetragen. Die Vertreter der kritischen Öffentlichkeit spüren, dass die moralische Lage der Nation reif dafür ist und beschließen, bei dem deutschen, sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Vorzeigekonzern „Unregelmäßigkeiten“ zu entdecken.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Ein gekonnt inszenierter Skandal:
Sex
& Crime im VW-Betriebsrat
Das kommt ja wie gerufen: Rechtzeitig zur erwarteten
Machtübernahme einer Regierung, die neben dem
Flächentarif auch die deutsche Mitbestimmung demontieren
will, und saupünktlich zum Antritt eines neuen Managers,
der das Unternehmen aus der Ertrags-Krise zu führen
verspricht, wird den dafür zuständigen Redaktionen die
Eröffnung eines staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens
im Umfeld des VW-Betriebsrats zugetragen. Die Vertreter
der kritischen Öffentlichkeit riechen die Gelegenheit,
spüren, dass die moralische Lage der Nation reif dafür
ist und beschließen, bei dem deutschen,
sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen
Vorzeigekonzern Unregelmäßigkeiten
zu entdecken.
Das gelingt ohne weiteres: Die Weltfirma hat ihrem
Welt-Betriebsrat für seine Dienstreisen ein großzügiges
Spesenkonto eingerichtet; für die Abrechnung der Spesen
genügen in besonderen Fällen selbst ausgestellte
„Eigenbelege“; und über die sollen die weltweit
engagierten Belegschaftsvertreter auch Unkosten für
Amouröses abgerechnet haben. Des Weiteren will man
wissen, dass der VW-Betriebsratschef eine dubiose
Beziehung zu einer Brasilianerin unterhält und auch deren
Reisekosten irgendwie über die Firma subventioniert;
schließlich soll er, wie unter höheren Managern vieler
Konzerne offenbar üblich, verdeckt an einer Firma
beteiligt sein, die von VW Aufträge erhält und erledigt.
All das ist nichts Ungewöhnliches und hätte so oder so
ähnlich in jedem deutschen Großkonzern entdeckt werden
können: Auf derart verschlungenen Pfaden pflegen
Unternehmen eben die Bezahlung von Mitarbeitern zu
regeln, die als Vertreter der Belegschaft zwar auf der
Gehaltsliste unter der Rubrik Arbeiter oder Angestellte
firmieren, als mit Management-Funktionen betraute
betriebsrätliche Co-Manager
aber längst zu
mächtigen Figuren in der Firmenhierarchie aufgestiegen
sind. Betriebsratsfürsten
mit all ihrer Macht
werden den Stallgeruch des Arbeitervertreters nicht los –
und können das auch gar nicht. Darauf beruht ihre
Wählbarkeit. Wären sie Manager, dann wäre ihr Gehalt
mitsamt Flugreisen und Damenbetreuung nur mickrig zu
nennen, da sie das aber nur inoffiziell sind, ist auch
ihre Finanzausstattung immer ein wenig inoffiziell; zur
Blamage der Begünstigten ist dies leicht
skandalisierbar
.
Im Fall VW sollte skandalisiert werden. Allen voran
erklärt der neue niedersächsische CDU-Ministerpräsident
Wulff, er wolle keine Grundsatzdebatte über
Gewerkschaften und Mitbestimmung im Konzern führen
(SZ, 6.7.05) – und bringt sie
damit auf den Tisch. Der Mann weiß eben, wie man
Grundsatzdebatten lostritt: Jetzt darf es für
niemanden einen Persilschein geben. Auch nicht für Peter
Hartz
, den obersten Personalchef bei VW. Und die
Medien wissen, wie man so eine Debatte angemessen führt.
Grob und unmissverständlich fürs einfache Volk: Viagra
für die Bosse – besorgte Hartz die Huren?
(Bild), nicht weniger
geschmackssicher für die gebildeten Stände:
Goldkettchen um den Hals, braun gebrannt und eine
teure Uhr am Handgelenk – mit solchen Details werden
üblicherweise Männer aus dem Milieu assoziiert
(Die Zeit). Die ins
Schussfeld geratenen Figuren werden im Interesse eines
politischen Lehrstücks über den Wolfsburger Sumpf
nach allen Regeln der Kunst moralisch vernichtet. Denn in
diesem Fall gilt die übliche Logik von Skandal und
Skandalbewältigung nicht: Charakterschwäche
und
Fehlverhalten Einzelner
, die natürlich
ausgewechselt werden müssen, adeln nicht, sondern
diskreditieren die Institution, in der sie sich
fehlverhalten haben. Mit den Galionsfiguren steht das
ganze System
in der Kritik.
Das „System VW“
soll in einer umfassenden Kooperation von Belegschaft,
Kommunen und VW-Konzern
(SZ) und einem wechselseitigen Geben
und Nehmen
bestehen – eine Charakterisierung, die
nichts von dem trostlosen Inhalt der
„Kooperation“ wissen will: Die Belegschaft und die
gesamte Region ziehen aus der alternativlosen
Abhängigkeit von ihrem größten und letztlich einzigen
Arbeitgeber den Schluss der bedingungslosen Unterordnung
und bekommen dafür von VW etwas geboten: Der
Konzern ist seinerseits bereit, eine Stammbelegschaft und
die örtlichen Standortbedingungen, die ganz exklusiv die
seinen sind, bei der Abwicklung der Geschäfte
pfleglich zu behandeln – vorausgesetzt, die
Berücksichtigung der Belange der Belegschaft und der
Region verträgt sich mit den Ansprüchen des Profits oder,
noch besser, lässt sich als extra Hebel dafür einsetzen.
Also gab und gibt es in Wolfsburg:
– Löhne, die dank eines firmeneignen Haustarifs ein wenig höher sind als in der Branche üblich – und dafür eine Belegschaft, die sich bei einem gewerkschaftlichen Organisationsgrad von 97% keinen einzigen Streiktag seit ’45 zuschulden kommen lässt.
– Arbeitsplätze, die der Konzern über Rationalisierungen und Absatzkrisen hinweg nach Möglichkeit erhält – und zwar dadurch, dass er eine firmeneigene Arbeitslosigkeit organisiert, innovative Formen der Kurzarbeit und der Lohnkürzung mit bleibender Verfügbarkeit der Mannschaft für wieder wachsende Verwendung kombiniert. Sogar für die dennoch fälligen
– Massenentlassungen entwickelt die Personalabteilung ungewohnte Lösungen: Die Firma expandiert am Standort Wolfsburg ins Freizeitwesen, richtet einen Autopark mit Museen, Hotels und Kulturveranstaltungen ein, in denen der Autokäufer die Begrüßung seines neuen Gefährts mit einer kleinen Reise verbinden und als festliches Erlebnis begehen darf – und entlassene Autobauer finden als Kellner und Museumswärter in gewissem Umfang Wiederverwendung.
– Eine Kommune, der VW nicht nur Arbeitsplätze, sondern dazu einen Fußballverein auf Bundesliga-Niveau und auch sonst einiges spendiert. Dafür organisiert die Stadt, die ihr Bürgermeister im Spaß schon mal „Golfsburg“ nennt, ihr gesamtes Leben als Dienstleistung an ihrem großen Arbeitgeber.
Institutionalisiert und personalisiert
ist das „System VW“ im zugestandenen Gewicht des
Betriebsrats, in Machtfülle und Ansehen seines
Vorsitzenden, ohne dessen Zustimmung im Konzern nichts
ging
. Zusammen mit den in Hannover regierenden
Sozialdemokraten stellt die Arbeitnehmerbank im
Aufsichtsrat jahrzehntelang die Mehrheit; ein
Sondergesetz sorgt dafür, dass das Land als Anteilseigner
von anderen Aktionären nicht überstimmt werden kann. Der
Betriebsrat, in Gewerkschaft wie Sozialdemokratie
gleichermaßen verwurzelt, ist das Scharnier für das
Zusammenspiel von VW, Landesregierung, Gewerkschaft und
Belegschaft.
Das hat in guten wie schlechten Zeiten prima funktioniert: In den Wachstumsjahren hat der Konzern sich eine disziplinierte Belegschaft geschaffen, die es per Vergleich mit den sonst üblichen Arbeitsbedingungen für ein Privileg gehalten hat, bei VW arbeiten zu dürfen. In schlechten Zeiten hat sich die privilegierte Belegschaft bereitwillig alle Zumutungen bieten lassen, mit denen der Konzern die Lohnkosten gesenkt und in Sachen Flexibilisierung des deutschen Proletariats Neuland beschritten, also auch in dieser Hinsicht als Vorbild gewirkt hat. Peter Hartz erntete noch vor kurzem höchste Bewunderung für die innovative Form der Entlohnung und Arbeitszeitgestaltung, mit der er im Fall des Minivan ‚Touran‘ bewies, dass der Automobilbau im Hochlohnland Deutschland gehalten und mit jedem Billiglohnnachbarn konkurrieren kann.[1]
Jahrzehntelang galt das „System VW“ als Inbegriff des
guten, sozialen und erfolgreichen „Rheinischen
Kapitalismus“, als Beweis dafür, dass Profit und
‚shareholder value‘ kein Widerspruch zu einer sozial
verträglichen Personalpolitik und einem guten
Betriebsklima sein müssen; als Bild jener besseren Welt,
in der noch alle an einem Strang ziehen
und die
Beteiligten den Gegensatz von Kapital und Arbeit in ein
harmonisches Miteinander verwandeln.
Verwirrung in der Volkswagenburg
Über diese Harmonie kann man in deutschen
Redaktionsstuben nur noch lachen. Vertrauensvolle
Zusammenarbeit von Kapital und Arbeit
– im Lichte von
Lustreisen
und Eigenbelegen
weiß man, was
man davon zu halten hat. Den VW-Betriebsrat entlarven die
Konstrukteure des Skandals als einen Verein
hemmungsloser, ja krimineller Egoisten, der für eine ganz
andere Art der Beteiligung der Arbeitnehmerseite am
Erfolg der Firma steht, als seine Reden auf
Betriebsversammlungen vorgeben. Und die einst bewunderte
Kooperation
denunzieren sie jetzt als
Kumpanei
von Lumpen. Sie zeichnen ein Bild des
Skandals, als ob sie in der Agit-Prop-Schule der
verblichenen marxistisch-leninistischen Parteien in die
Lehre gegangen wären: Spendable Kapitalisten kaufen sich
bestechliche Arbeiterführer und sorgen damit für Ruhe an
der Betriebsfront, während sie ihre Arbeiter über den
Löffel balbieren…- und wenn es denn schon so wäre: Wenn
bestochen worden ist – was VW jetzt tatsächlich
gerichtlich prüfen lässt –, dann hat die Firma offenbar
bekommen, was sie wollte. Billiger als für ein paar
Flugreisen mit Schäferstündchen ist eine für den
Weltkonzern über das übliche Maß hinausreichende
Kooperationsbereitschaft des Betriebsrats ja überhaupt
nicht zu bekommen. Wenn es diesem Sittengemälde
entsprechend eine geschädigte Partei gibt, dann ist das
die Belegschaft, zu deren Lasten die Kapitalseite und
käufliche Arbeitervertreter einig geworden sind.
Genau umgekehrt wollen die Enthüllungsjournalisten ihren
Fall aber verstanden sehen: Geschädigt worden ist die
Firma! Nicht durch die Bestechung – wenn sie nötig ist,
geht sie auch in Ordnung, und die Bestechungssumme zahlt
die Firma ohnehin aus der Portokasse. Aber dass so etwas
nötig ist, beweist denen, die die Zeichen der Zeit zu
lesen verstehen, was verkehrt läuft im deutschesten aller
Großkonzerne: Er muss glatt Betriebsräte kaufen,
damit sie im Interesse der Firma und nicht in dem der
Belegschaft entscheiden! Die kleinen Vergünstigungen für
den Betriebsratsfürsten und seine Paladine belegen nicht,
wie billig und reibungslos VW die Interessen der
Belegschaft dem Profit unterordnet, sondern wie viel
profitfremde Interessen und Ansprüche dieser Konzern noch
anerkennt, so dass er sich von denen erst
loskaufen muss. Lustvoll hängen die
Meinungsmacher dem Weltkonzern Spottnamen an, und wissen
schon von daher ganz genau, wie sich dessen Ertragskrise
erklärt: Von einer Wolfsburger Wärmestube
(Die Zeit, 7.7.) oder
Deutschlands letztem VEB
haben sie nichts anderes
erwartet. In diesem Licht erschließen sich ihnen der
gesamte fürstliche Haustarif
, die besonderen
Arbeitsbedingungen und die Umstände von Entlassungen bei
VW als lauter Fälle von Bestechung, unrechtmäßig
erworbene Begünstigungen der Belegschaft zu Lasten des
Kapitals.
Frech verlangen die Skandalmacher, dass ihre, der eigenen
Story widersprechende Lehre nicht nur von der
Öffentlichkeit verstanden, sondern auch von der
VW-Belegschaft nicht missverstanden wird – etwa als
Aufruf, ihre korrupten Vertreter zum Teufel zu jagen und
künftig besser auf die Wahrung ihrer Interessen zu
achten. Das überlassen die Reporter freilich nicht dem
Zufall oder der Überzeugungskraft ihrer schlüpfrigen
Details. Sie geben geistige Hilfestellung – und treffen
damit auf die Richtigen: Am Werkstor passen sie Arbeiter
und Angestellte ab und fragen, ob die vom Vorsitzenden
Klaus Volkerts nun menschlich enttäuscht seien. Sie
wollen nicht wissen, ob die Beschäftigten sich die
Vertretung ihrer Interessen anders vorgestellt und
bessere Ergebnisse erwartet hätten, sondern ob sie den
Betriebsratsfürsten, der wie sie ein Reihenhäuschen in
der VW-Siedlung bewohnt, noch für einen der Ihren halten.
Und die Reporter bekommen die gewünschte Antwort: Das
hätten wir von unserem Klaus nicht gedacht
; eine
Liebesaffäre im Ausland, das viele Geld – das gehört sich
nicht für Leute wie „Uns“. Die befragten Angestellten
messen den Betriebsratschef an keiner erbrachten oder
nicht erbrachten Leistung für sie. Als ob sie wüssten und
auch noch bewusst billigten, dass die Institution
Betriebsrat sowieso nicht für die Beförderung ihrer
Interessen da ist, treten sie gar nicht erst als
Arbeiter an, die nach ihrem Nutzen der
Leistungen des betriebsrätlichen Co-Managements fragen
wollten, die dem Konzern 360.000 € Jahresgehalt wert
sind. Als Wähler ihres Klaus fühlen sie sich
angesprochen und durch das verarscht, was diese
Neureichen sich ’rausnehmen, die ihren Aufstieg dem
Vertrauen braver Arbeitsleute verdanken. Dann fordern
auch sie „Konsequenzen“: Ausmisten des
Selbstbedienungsladens da oben – und machen sich
zum Kronzeugen eines ganz anderen Ausmistens, in dem sie
selbst als zu Unrecht Begünstigte vorkommen, deren
Privilegien geschleift gehören.
Ein Saustall wird ausgemistet.
Denn das ist ja die Lektion, auf die der Skandal zielt: Alles, was an VW einmal als vorbildlich galt, ist nicht verfälscht worden, sondern selbst der Fehler. Wo Belegschaftsinteressen Gewicht im Betrieb zuerkannt bekommen, läuft das über die persönliche Macht von Betriebsräten, die damit selbstverständlich auch eigene Interessen verfolgen: Kooperation von Kapital und Arbeit ist ein Sumpf von Korruption, in dem nicht nur die Konkurrenzfähigkeit, sondern auch die Moral untergeht. Kapitalismus pur verspricht nicht nur mehr Erfolg, sondern ist auch moralisch die sauberste Lösung. Nur ein Betrieb, der gar keine Rücksichten und andere Ansprüche mehr gelten lässt als die Maximierung seines Gewinns, kann sich seiner sozialen Aufgabe ungehindert widmen: Der Maximierung des Gewinns, dem Erfolg in der Konkurrenz und dem Erhalt oder der Schaffung von genau den Arbeitsplätzen, die es dafür braucht.
Der neue VW-Chef Bernhard (Treppen kehrt man von
oben
) will pro Golf 2000 Euro, insgesamt 7
Milliarden, einsparen. Der Skandal um den
Betriebsratschef macht da einen guten Anfang: Er
diskreditiert mit dem Mann das Ansehen der Institution
und mit der die verbrieften Belegschaftsrechte, die sie
aushandelt und überwacht. Die Beschäftigten haben
verstanden. Egal, ob sie nun mehr über die Eskapaden oder
über den Sturz ihres Betriebsrats erschüttert und
entsetzt
sind – und über den nachfolgenden Sturz des
sozialpolitischen Übervaters Peter Hartz erst recht –,
ohne eine von der Kapitalseite anerkannte, durchgesetzte,
reputierliche Schutzmacht der Belegschaft bei VW
sehen sie sich vollkommen außer Stande, die alten Rechte
zu verteidigen. Mit dem moralischen Ruf der betrieblichen
Arbeitervertretung ist auch die „gute alte Zeit“ dahin,
die diese organisiert hatte. Auf die Wertschätzung durch
Wirtschaft und Politik – und nicht auf den Willen oder
gar die Tat der Belegschaft – war ihr Einfluss gegründet.
Jetzt halten es sich die VW-Beschäftigten wieder einmal
als Realismus zugute, sich auf neue Verhältnisse
einzustellen.
*
Der Fall ist zu schön, als dass die Hetzer aus Presse und
Politik die Gelegenheit verstreichen ließen, die
Wolfsburger Wärmestube
gleich zum Sinnbild für die
ganze verlotterte Republik
(Ministerpräsident Wulff) zu stilisieren.
Wieder ist VW Inbegriff – jetzt für das rundum verkehrte,
ineffektive, wirtschaftsfeindliche deutsche System der
Betriebsverfassung:
„Die VW-Affäre legt einen Mangel der Mitbestimmung in Deutschland bloß. Der Grund ist nicht Korruption oder der schwache Charakter Einzelner, er liegt im System. In Deutschland wird niemand es wagen, einen Unternehmenschef gegen den Willen der Arbeitnehmerbank zu installieren. Ein Vorstandsvorsitzender tritt daher mit einer Erblast an, die ihn zur Kooperation mit dem Betriebsrat zwingt. So entsteht gegenseitige Abhängigkeit… Die Mitbestimmung hat viel zum sozialen Frieden beigetragen. Aber das deutsche Mitbestimmungsmodell hat den fatalen Eindruck erweckt, harte Entscheidungen seien ohne soziale Konflikte möglich.“ (SZ-Kommentar: „Test für ein Modell“, 11.7.).
Ausgerechnet die wesentliche Leistung der
betrieblichen Mitbestimmung, die Arbeiter
einzubinden und dafür zu sorgen, dass auch harte
Entscheidungen
ohne soziale Konflikte
über die
Bühne gehen, wird ihr als ein Mangel vorgehalten. So
gesehen hat die Mitbestimmung keinen Fehler,
sondern ist einer; eine Fessel des Kapitals
nämlich, das für diese Leistung einen, irgendeinen Preis
zahlt. Der besteht darin, dass außer den Vertretern der
Aktionäre auch die Minderheit auf der Arbeitnehmerbank
den Chef mitwählen darf, der dann gar nicht mehr fragen
muss, wenn er über die Geschicke der gewerkschaftlich
Vertretenen entscheidet. Das ist eher ein Fall von
Ermächtigung als einer von Abhängigkeit. Aber man ist
eben entschlossen, die Kooperation mit dem
Betriebsrat
als eine erzwungene Freiheitsberaubung
des Unternehmers zu verurteilen, weil man meint, dass
auch nur kosmetische Rücksichten auf die Belegschaft
nicht mehr nötig sind. Nach dem Dafürhalten reformgeiler
Journalisten soll sich der Kapitalist gefälligst dazu
bekennen, dass sein Interesse nur durch Konfrontation mit
dem der Beschäftigten auf seine Kosten kommt, und
soziale Konflikte
nicht scheuen, sondern sich in
ihnen mit seinem Interesse durchsetzen.
Über diese Lehre aus dem Wolfsburger Filz
ist man
sich so einig, dass man schon wieder streitet: FDP-Vize
Brüderle sieht in den Vorgängen den lang ersehnten
Sargnagel für das deutsche Mitbestimmungsmodell
.
Andere räumen der Gewerkschaft die Chance ein, die
Kommission zur Reform der Mitbestimmung doch noch für die
Fortsetzung des deutschen Experiments zu gewinnen. Dafür
ist allerdings Reformbereitschaft verlangt: Die
Gewerkschaften werden einsehen müssen, dass noch so enge
Zusammenarbeit mit den Bossen nicht einen Arbeitsplatz
rettet… Die Mitbestimmung hat einen Preis, der höher ist,
als ihre Vorkämpfer in der Nachkriegszeit glaubten
(SZ, 11.7.).
Schon der Schein, die Mitbestimmung könnte irgendeine
Härte des geschäftlichen Umgangs mit den Arbeitskräften
verhindern oder auch nur abmildern, verhindert eine
realistische Erwartungshaltung der Belegschaften und
beschädigt die Beweglichkeit wie die Schlagkraft der
Firmen. Das Mitmachen-Dürfen im Aufsichtsrat ist ein
Zugeständnis an die Gewerkschaft, dessen sie
sich würdig zu erweisen hat; und zwar dadurch, dass sie
den Preis zahlt, den sich ihre Vorväter und Erfinder der
guten Sache nicht haben träumen lassen: Kapitalfunktionen
übernehmen, verlangt von Arbeitervertretern, dass auch
sie vor keiner sozialen Härte zurückschrecken und keinem
Konflikt aus dem Wege gehen – mit ihrer Basis, versteht
sich! Die Gewerkschaften sehen das Denkmal ihrer
politischen Anerkennung angegriffen. Schließlich war, in
diesem Punkt unklar zu bleiben, der ganze Reiz der Rolle
einer Gewerkschaft als Mitverwalter des nationalen
Kapitalismus. Sie wissen schon, worauf ihre machtvolle
Bewegung gründet, wenn sie nun fürchten, der Fall
könnte die gesamte Arbeiterbewegung in die Luft
sprengen
(SZ, 5.7.) Zur
Verhinderung der Explosion verteidigen sie die
schwindende Anerkennung ihrer überaus konstruktiven
Funktion, indem sie sich bemühen, ihr Saubermann-Image zu
retten oder wiederherzustellen. Sie fordern selbst
rückhaltlose Aufklärung
, setzen sich an die Spitze
der Ausmister und unterschreiben alle Gesichtspunkte der
antigewerkschaftlichen Hetze in der Hoffnung, sie so von
sich fern zu halten. Sie zahlt den von den
Reformfanatikern der SZ geforderten Preis schon mal im
Voraus.
*
Natürlich ist der ganze Skandal auch ein Beitrag zum Wahlkampf, vielleicht sogar hauptsächlich. Der Angriff auf VW, seinen Betriebsrat und Wolfsburg zielt auf eine lokale Bastion der SPD; der Angriff auf die Mitbestimmung nimmt gleich das ganze sozialdemokratische Flair der Republik aufs Korn: die Tour, wie die Arbeiterklasse in diesen Kapitalismus integriert, repräsentiert und betreut ist. Und schließlich stehen Niedersachsen, Wolfsburg, VW, Klaus Volkerts und Peter Hartz für Heimatbasis und Bekanntenkreis von Gerd Schröder. Im Kontext der VW-Affäre bekommt das Wort vom „Autokanzler“ einen neuen Klang; er soll auch mit drinstecken – und wenn nichts dran ist, macht das auch nichts: Irgendetwas bleibt immer hängen.
Besonders der Sturz von Hartz ist ein harter Treffer. Da
hatte Schröder zum Chef seiner Reformkommission für die
Verbilligung der Arbeitslosen einen Macher aus der
Wirtschaft bestellt, der sich den Ruf erworben hatte,
unbedingte kapitalistische Effizienz und soziale
Rücksichtnahme unter einen Hut zu bringen. Der Name
sollte der antisozialen Sache das rechte Etikett
verpassen: Das für Deutschland Notwendige geschieht ohne
Wenn und Aber, die Verantwortung für die Opfer bleibt
dabei gewahrt. Und jetzt gerät die Lichtgestalt, die für
den Kanzler werben sollte, in den Strudel von Unmoral und
Korruption. Ohne den Umbau des Arbeitsmarkts
thematisieren, ohne von der eigenen Zustimmung zu den
Hartz-Reformen abrücken zu müssen, freut sich die CDU
über die beschädigte Vorzeigbarkeit von Schröders
politischem Meisterstück: Denn nun ergießt sich über
die gesamte Hartz-Reform die Unmoral bei VW
(SZ, 12.7.)
*
Jetzt muss in Wolfsburg der Mist der sozialen Errungenschaften weggeräumt und frischer Wind hereingelassen werden, auf der nationalen Ebene muss endlich die Mitbestimmung zurechtgestutzt werden, und in Berlin die Regierung weg – alles wegen ein paar kostenloser Flugreisen.
[1] Immer wieder war VW Vorreiter und innovatives Vorbild für die ganze deutsche Industrie in Sachen Ausbeutung und Entlohnung der Arbeitskraft. Siehe: „Das neue Arbeitszeitmodell von VW“, GegenStandpunkt 4-93, S.91; Altersteilzeit, GegenStandpunkt 3-97, S.38; Längere Arbeitszeiten, GegenStandpunkt 4-98, S.62; Neue Lohnform 5000 x 5000, GegenStandpunkt 1-2000, S.5, Globale Belegschaft – Streik bei VW Mexiko, GegenStandpunkt 4-01, S.11.