Russlands Wahl und die Folgen
Statt Festigung der Nation eine neue Runde des Kampfs unter Nationalisten um die Behebung des Notstands
Jelzins Putsch gegen das russische Parlament und dessen Auflösung hat die Machtfrage zu seinen Gunsten entschieden. Sein Wunsch, jetzt auch noch per Akklamation in einer Wahl die freiwillige Zustimmung des Volkes für seine Gewaltausübung zu bekommen verweist darauf, dass die Machtfrage keineswegs abgehakt ist. Und dass in der Wahl eine machtvolle Opposition ins Parlament gewählt wurde, deren Programm ein einziger Hinweis auf den bestehenden Staatsnotstand ist, zeigt, dass noch gar nicht entschieden ist, was für ein Staat Russland werden und für wessen Nutzen er tätig sein soll.
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Rußlands Wahl und die
Folgen
Statt Festigung der Nation eine neue
Runde des Kampfs unter Nationalisten um die Behebung des
Notstands
In den Hauptstädten der westlichen Welt gibt man sich bestürzt bis erschrocken über das russische Wahlergebnis. Man zeigt sich betroffen, als wären die Titel für die russische Staatsgründung auch schon die Wahrheit der Sache gewesen, nur weil sie als verbindliche Sprachregelung durch sämtliche Medien kursierten. Als wäre in Rußland ein zwar schwieriger, aber dennoch zielsicherer Prozeß im Gange, der zu einer funktionierenden Marktwirtschaft samt einer Demokratie von mehr oder weniger westlichem Zuschnitt führen müßte. Als könnte dieser Prozeß, gesteuert von Reformern, unterstützt von den Sympathisanten im Westen, gegründet auf dieses gegenseitige Einverständnis, auf gar nichts anderes als auf die Einbindung eines neuen, zivilisierten, kooperativen Rußland in die neue Weltordnung hinauslaufen.
Historiker mögen noch ihre Freude an der näheren Vergangenheit haben, daran „daß Gorbatschow einen fundamentalen Sachverhalt moderner Revolutionsprozesse offensichtlich nicht begriffen hatte: den Zusammenhang zwischen Demokratisierung und nationaler Emanzipation.“ (Dietrich Geyer, Osteuropa 11/93)
Da erhält der russische Nationalismus noch reichlich Komplimente als erfreuliches Mittel, das zum Untergang der Sowjetunion beigetragen hat. Währenddessen wird derselbe „Zusammenhang zwischen Demokratisierung und nationaler Emanzipation“, wie er derzeit tatsächlich in Rußland vonstatten geht, gar nicht mehr als Grund zur Zufriedenheit registriert. Vielmehr nehmen besorgte Stimmen im Westen diese „nationale Emanzipation“ Rußlands bereits zum Anlaß, sich an die eigenen Raketen zu erinnern.
In Rußland werden eben einige Lehrsätze in Sachen Staatstheorie praktisch durchexerziert, an denen sich die Einsortierung westlicher Beobachter unter dem Namen Reform hin zu … als interessierte Erwartung blamiert. An dem neulich noch gelobten und jetzt verdächtig gewordenen Wirken russischer Politiker zeigt sich, daß eine Staatsgründung auf demokratische Weise gar nicht durchzuführen ist; daß ein Staatsprojekt mit dem Rechtstitel „Nation“ sich nicht an Regeln des demokratischen Procedere relativiert; und daß sich Politik, die sich dieser schönen Aufgabe verschrieben hat, schon gleich nicht auf Wohlverhalten gegenüber den Ansprüchen ihrer staatlichen Umwelt festlegen läßt. In Rußland soll Staat gemacht werden, mit dem Programm Rußland. Das alte Programm, das viele Völker gleich und gerecht sozialistisch verwalten und beglücken wollte, ist ja, unter großem Beifall der westlichen Welt, als undurchführbar und verbrecherisch abserviert worden. Das neue Programm hat aber seine eigene Logik, die dafür sorgt, daß der Beifall zum Stocken kommt.
Die vorletzte Etappe der russischen Staatsgründung, Jelzins Putsch gegen das Parlament, wurde im großen und ganzen von den westlichen Beobachtern noch gebilligt – zwecks Überwindung des „lähmenden Machtkampfs“. Im Resultat ist jedoch eine ganz andere Lage eingetreten, keine Konsolidierung von Jelzins Regentschaft, wie man sie sich im Westen als Dienst an den eigenen Ansprüchen herbeigewünscht hatte.
I. Die Auflösung des Parlaments und der Sturm aufs Weiße Haus
Im September erklärt Jelzin per Ukas das Parlament für abgesetzt. Diejenigen, die sich dagegen zur Wehr setzen, läßt er solange belagern und beschießen, bis sie kapitulieren. Die Anführer des alten Parlaments schickt er ins Gefängnis, wo sie nun auf ihren Prozeß warten, für den die passenden Gesetze erst noch zu schneidern sind.
Damit war ein Kapitel Machtkampf abgeschlossen. Nämlich dasjenige, in dem Jelzin ungefähr alle verfügbaren demokratischen Taktiken ausprobiert und alle vorhandenen Machtinstanzen ins Spiel gebracht hatte, um das Parlament von der Kritik an seiner Amtsausübung abzubringen und auf Zustimmung zu verpflichten. Der Streit um Kompetenzverteilung und Entscheidungsbefugnisse, die Bemühung um Kompromisse, die dann immer wieder gekündigt wurden, die mehrmalige Anrufung des Verfassungsgerichts, neuerliche Verhandlungen mit dem Parlament mit der Erpressung durch die Präsentation neuer Bündnispartner in der verfassunggebenden Versammlung im Hintergrund – diese Versuche waren allesamt gescheitert. Unter unablässiger Berufung darauf, der „demokratisch gewählte Präsident“ zu sein, ließ Jelzin daraufhin das Weiße Haus stürmen, das nach der gültigen Verfassung ihm übergeordnete Verfassungsorgan beseitigen und seinen ebenso „demokratisch gewählten“ Vizepräsidenten einsperren. Gewaltlos eine ungeklärte Machtfrage zu entscheiden, ist nämlich ein Ding der Unmöglichkeit; also der Gebrauch von Gewalt das einzig taugliche Mittel, konkurrierende Machthaber von der Macht auszuschließen. Die einschlägigen Szenen mögen hiesige Beobachter mitunter unschön gefunden haben; aber das staatliche Gewaltmonopol, das dieselben Beobachter als eine der humansten und zivilisatorischsten Errungenschaften der Menschennatur feiern und Rußland wünschen, ist anders eben nicht herzustellen.
Soviel hatte Jelzins Putsch gebracht: Die Blockierung der Gewaltausübung durch das gegnerische Parlament war beendet, d.h. die politische Konkurrenz, wie sie in Moskau im Weißen Haus residierte, eliminiert. In diesem Kampf wurde soviel entschieden, daß das Gewaltmonopol Jelzin zusteht und nicht dem Parlament. Nicht entschieden worden ist mit dem Aufmarsch von ein paar Truppen und der glorreichen Beschießung des Weißen Hauses allerdings, ob es so etwas wie ein Rußland zusammenfassendes staatliches Gewaltmonopol überhaupt gibt. Vielmehr wurde die Frage, was Jelzin mit dem gewonnenen Machtkampf überhaupt in der Hand hat, erst regelrecht eröffnet. Der Sieg über die oberste Politkonkurrenz in Moskau will nämlich gesichert sein: Die Durchsetzung auf allen Ebenen der Macht stand damit an, die Einforderung von Loyalität, von Moskau abwärts bis in die Rayons. Und zwar Loyalität gegenüber einem Staatsprogramm, das sich ungefähr so definiert, daß es durch ein Präsidentenamt repräsentiert wird, besetzt durch Jelzin und den Titel „Reformen“. Ab sofort ging es darum, diese Loyalität wasserdicht zu machen, d.h. ein Säuberungsprogramm gegen Gegner auf allen Ebenen durchzusetzen und alles abzuräumen, was sich widerspenstig zeigt – eine Säuberung, die die objektive Notwendigkeit zur Herstellung einer einheitlichen Staatsgewalt am Maßstab der Parteinahme für oder gegen Jelzin vollstreckte.
In der Abteilung hat der „demokratisch gewählte Präsident“ Tatkraft bewiesen, als erstes den denkwürdigen Ukas erlassen, daß ab sofort seinen Ukas unbedingt Folge zu leisten sei. Er hat alle Regionalsowjets aufgelöst, die sich zwischenzeitlich auf die Seite des Obersten Sowjet gestellt hatten. Er hat die Medien von wirklichen oder vermeintlichen widerspenstigen Geistern gesäubert, alle möglichen Institutionen seinem direkten Kommando unterstellt, Parteien und Bewegungen verboten, Gouverneure abberufen, die sich widersetzliche Standpunkte hatten zuschulden kommen lassen. Gleichzeitig wollte er aber die Etablierung seiner Herrschaft nicht allein auf eine landesweite Säuberung stützen, sondern hat den Beschluß in die Welt gesetzt, im Dezember Wahlen zu einem neuen Parlament abzuhalten und über seine Verfassung abstimmen zu lassen.
II. Wahlen zur Herstellung eines russischen Staatswillens
Ausgerechnet über Wahlen, ausgerechnet über die neuerliche Besetzung eines Parlaments sollte also der Aufbau der russischen Staatsmacht vorankommen. Dabei hätte der Präsident weiterhin per Ukas regieren können, wovon er auch reichlich Gebrauch machte. Er hatte auch die Macht, mißliebige Konkurrenten vom politischen Leben auszuschalten, Parteien und unpassende Standpunkte zu verbieten, und auch die setzte er ausgiebig ein. Aber den ihm allseits konzedierten Notstand russischen Regierens grundsätzlich als Auftakt zur Einrichtung eines Notstandsregimes zu nehmen, das wollte er nicht. Und zwar nicht aus Rücksicht auf demokratische Vorbehalte im Westen: Dort hat man gar nicht allzusehr auf Wahlen gedrängt, vielmehr an deren Nutzen gezweifelt und herumproblematisiert, sogar vor dem damit verbundenen Risiko eines falschen Wahlausgangs ernstlich gewarnt. Demgegenüber wollte aber der russische Präsident seine Durchsetzung im Moskauer Machtkampf unbedingt durch einen gesamtrussischen Wahlakt krönen lassen.
a) Derselbe, der mit Gewalt die Herrschaft übernommen hat, will in Wahlen die freiwillige Zustimmung zu seiner Herrschaft einholen. Derjenige, der das alte Parlament auseinandergejagt hat, will auf die Institution nicht verzichten und sich ein neues wählen lassen. Der russische Präsident hatte offensichtlich ein Problem mit seiner Durchsetzung gegen das Parlament: Er mochte sich mit dem Sieg im Machtkampf nicht zufrieden geben, weil er nicht bloß der Partei vorstehen wollte, die sich gewaltsam durchgesetzt hat, sondern die Staatsmacht über alle Parteien auszuüben gedachte. Als wollte er die verbreitete Volksmeinung, daß sich in Moskau nur Gangster um die Macht streiten, nachdrücklich dementieren, den Ruf des bloßen Gewalthabers loswerden, ging es ihm darum, sich als Repräsentanten des nationalen Willens durch Wahlen bestätigen zu lassen. Es genügte ihm nicht, die Macht zu besitzen, er wollte die Macht im Auftrag des Gemeinwesens ausüben, nicht bloß als Diktator, sondern als anerkannter, befugter Diktator fungieren. Wegen der fraglosen Anerkennung, die einer Staatsgewalt die Freiheit gibt, sich bei allen ihren Taten auf die Zustimmung der Bürger berufen zu können, legte er Wert darauf, seine Herrschaft durch Wahlen zu legitimieren. Der russische Präsident hat eine Ahnung vom Mangel des Regierens per Ukas: Macht läßt sich dann perfekt ausüben, wenn ihr zugestimmt wird, erst dann nämlich ist eine durch Gewalt erzwungene Unterwerfung auch berechenbar und zuverlässig. Von der Demokratie will er das abgeschaut haben, daß, nachdem gewählt worden ist, die staatlichen Kommandos befolgt werden. Dann läßt sich auch die politische Konkurrenz nicht bloß gewaltsam, sondern im Namen des Staates ausschalten. Dann kann man beim Volk auf die grundsätzliche Zustimmung zur Herrschaft rechnen und Ukase im Namen des Volkes erlassen.
Um eben diesen Schritt von Gewalt zu Recht, den Übergang von bloßer Partei in der Konkurrenz um die Macht zum Beauftragten im Namen des Volkes, war ihm zu tun. Nicht umsonst hat er vor, während und nach dem Putsch unentwegt darauf verwiesen, daß er der demokratisch gewählte Präsident sei. Die Sorge, daß dieser Berufungstitel, dieses Machtmittel durch die gewaltsame Auflösung des demokratisch ebenso vorgesehenen Parlaments Schaden genommen haben könnte, hat ihn dazu bewogen, das von ihm gewaltsam hergestellte und geplante neue politische Kräfteverhältnis vom Volkswillen beglaubigen zu lassen.
b) Kaum hatte Jelzin seinen Beschluß gefaßt, sich über das Verfahren der Wahl als anerkannte Machtinstanz zu etablieren, war ihm auch schon klar, daß eine freie Wahl seinem Ziel gar nicht genügt und daß es deswegen schwer aufs Wahlverfahren ankam: Mit Manipulation, Zensur, Verboten etc. im Vorfeld wollte er den Wählerwillen so formieren, so herstellen, daß er paßt. Kaum hatte er Wahlen angekündigt, hatte er auch schon die Bedeutungslosigkeit dieser Wahlen ausgerufen: Nicht nur, daß er schon vorab unerwünschte Stimmabgaben zu unterbinden versuchte, darüberhinaus erklärte er noch, daß er nicht gedächte, unpassende Ergebnisse zu akzeptieren. Offensichtlich hegte er nur zu gut begründete Zweifel daran, daß sich die Zustimmung zum Staat unter dem Titel ‚für Jelzin und seine Reformen‘, einfach abfordern ließe. Das Bedürfnis, die Loyalität der Bürger zum Staat abzurufen, gesteht gleichzeitig ein, daß die sich gar nicht einfach abrufen läßt, daß die Wahl vielmehr ein Test darauf ist, ob sie überhaupt vorhanden ist.
Ebenso scheinhaft wie diese Wahlen waren auch die demokratischen Gremien konstruiert, die Jelzin mit seinem Verfassungsentwurf bestätigen lassen wollte: Die politischen Kompetenzen des Parlaments haben seine Verfassungsschreiber soweit eingeschränkt, daß es garantiert dem Präsidentenamt nicht mehr in die Quere kommen können sollte, während seine Wahrnehmung des Präsidentenamts selbst bis auf weiteres nicht durch Wählen infragegestellt werden darf. Im Klartext: Es soll ein Parlament in Rußland geben und gleichzeitig eines, dem gar keine Funktion, außer der, den Präsidenten zu stützen, zugestanden wird. Ein ohnmächtiges Parlament verfassungsrechtlich zu dekretieren, das läßt sich natürlich machen; ob sich aber das dahin gewählte Personal auch darauf verpflichten läßt, auf die Überprüfung der Politik hinsichtlich ihrer staatsnützlichen und -schädlichen Wirkungen zugunsten blinder Loyalität gegenüber dem obersten Chef zu verzichten, ist eine andere Frage.
Wenn Wahlen zwar abgehalten werden, deren Ergebnis im Zweifelsfall aber für irrelevant erklärt werden soll, wenn ein Parlament eingerichtet wird, versehen vor allem mit Bestimmungen, was es nicht darf, und mit Mechanismen zu seiner Auflösung, dann ist das auch ein Eingeständnis, daß in Rußland gar kein fest etablierter, auf eine Staatsraison gegründeter Gewaltapparat existiert, der in Wahlen nur personell besetzt wird, keine Arbeitsteilung von Machtorganen, die funktionell abläuft, weil sie auf einem anerkannten Staatsprogramm beruht. Dann ist aber auch das Wahlverfahren nicht dazu geeignet, das politische Bedürfnis zufriedenzustellen, das hinter dem Beschluß, wählen zu lassen, steht, weil es um die Etablierung der Macht selbst und nicht nur um die Entscheidung geht, wer die Macht innehaben soll. Die Herstellung eines Willens zum Staat, die Gründung von Machtorganen, so daß sie ein für allemal der Präsidentengewalt dienen, ist von Wahlen gar nicht zu leisten; in diesem Akt wird die Zustimmung zu einem Gewaltmonopol abgefragt, aber kein Gewaltmonopol samt ausführenden Vollzugsinstanzen gestiftet. Nicht umsonst haben die vorbildlichen westlichen Demokratien allgemeine Wahlen überhaupt erst zuallerletzt eingerichtet: Die Scheidung zwischen der Etablierung der Staatsmacht und dem Willen des Volkes muß erst einmal zwingend und unwidersprechlich etabliert sein, damit eben diesem Willen gar nichts anderes übrig bleibt, als vermittelt über Fragen des Personals und staatlicher Handlungsalternativen periodisch seine grundsätzliche Zustimmung abzuliefern. Ist das nicht der Fall, kann nämlich der Wille des Volkes glatt auf Forderungen oder Vorstellungen verfallen, die gar keine staatsdienlichen sind und nicht im Gehorsam gegenüber den von oben verfügten Maßnahmen einmünden.
c) Bei den von Jelzin angesetzten Wahlen war Zustimmung verlangt, dazu, daß überhaupt Staat sein soll – damit waren aber auch lauter Gegensätze herausgefordert in Bezug auf die Frage, was für ein Staat das sein und für wessen Nutzen er tätig sein sollte. Schließlich bestand die besondere Schönheit dieser Wahl darin, daß die Etablierung der Staatsgewalt in Rußland noch nicht einmal mit dem Versprechen daherkam, die Gewalt würde sich produktiv, für den Erhalt der Gesellschaft, betätigen. Ganz im Gegenteil, es war ein Bekenntnis zu Jelzin als Bekenntnis zur Fortsetzung seiner Reformen verlangt: Reformen, die bisher überhaupt nichts anderes erbracht haben als die Zerstörung der überkommenen Lebensgrundlagen. Unter welchen Gesichtspunkten ein russischer Wähler diesem Politikangebot überhaupt etwas abgewinnen können sollte, mögen die westlichen Wahlkommentatoren einmal erklären, die dem russischen Volk den Wahlausgang so verübelt haben. Der Glaube an den guten Sinn der Reformen muß enorm verrückt, bzw. die Bravheit des russischen Wählers von selbstmörderischer Qualität sein, um diesem Programm die Stimme zu geben.
Der Lage der russischen Nation entsprechend ist auch die Parteienlandschaft ausgefallen, die sich zur Wahl gestellt hat. Der westliche Sachverstand hat sich schwer getan, sie seiner Kundschaft mit den bekannten Kriterien zu erläutern und so etwas wie links, rechts und Mitte, Sozialdemokraten und Konservative zu unterscheiden. Unübersehbar hat es sich dabei nämlich nicht um Programme der gewohnten Art gehandelt, in denen eine konsolidierte Staatsführung mit unterschiedlichen Aufgaben und Akzenten versehen wird, sondern um eine Konkurrenz von Politikern, die mit ihren völlig abstrakten Gegensätzen auch nur die Notlage der russischen Staatsgründung widerspiegelt und bei der auch nicht die Andeutung von einem die Parteien übergreifenden Konsens zu entdecken ist.
Die Angebote aus dem Lager der „Reformer“, Gajdar, Sobtschak und Jawlinsky, haben sich über ihre diversen Rezepte als Fachmänner für Wirtschaft gegeneinander profiliert, mit der Demonstration von Sachverstand in Gestalt von beeindruckenden unverständlichen Statistiken. Aus denen haben die Protagonisten von „Rußlands Wahl“ lauter Erfolge herausgelesen, während es den Konkurrenten nicht schwer gefallen ist, ihre alternativen Rezepte mit dem Verweis auf den katastrophalen Mißerfolg anzupreisen. Vor allem aber ist es wieder einmal schwer auf die Differenz zwischen „schnell“ und „langsam“, „behutsam“ und „energisch“ angekommen. Und diese Differenz beruht auf unterschiedlichen Mischungen aus dem Bekenntnis, daß man sich nach wie vor für Rußland eine potente Marktwirtschaft wünscht, und der eher ratlosen Feststellung, daß die bisherigen Leistungen auf diesem Gebiet ein reines Zerstörungswerk sind und die sogenannten Reformen alle Grundlagen des staatlichen und Volkslebens aufs Spiel setzen. Mischung ist also auch nicht ganz die richtige Kennzeichnung, denn die Kombination von so etwas wie „Reform“ und „behutsam“ verdankt sich einer kompletten Begriffslosigkeit; sonst hätte sich zumindest irgendwann einmal die Frage aufgedrängt, warum denn die wohlgemeinten Reformen und die effektiven Wirkungen so gründlich auseinanderfallen. Das Wegwerfprogramm mit dem Ziel Einführung des Kapitalismus hat auch die Politikermannschaft entzweit, der nach wie vor kein anderes einfallen will: Angesichts der Bilanz der pur negativen Wirkungen auf die Nation versehen sie die Parole ‚Fortsetzung von Reformen‘ in unterschiedlichen Graden mit dem verlogenen Versprechen, mit der jeweiligen Galionsfigur in der Regierung könnten sich Härten vermeiden lassen.
Andererseits haben sich Parteien wie die Bürgerunion der Betriebsdirektoren, die Agrarpartei und auch die der Frauen zur Wahl gestellt, die im Westen mehr oder weniger pauschal zu „Altkommunisten“ erklärt werden, allein deshalb, weil sie gegenüber den Parolen aus dem Reformlager, daß am Ziel „Marktwirtschaft“ nicht gerüttelt werden darf, auf den Gegensatz pochen, daß die Nation vor die Hunde geht. Diese Parteien formulieren gar keine politischen Alternativen im Hinblick auf eine etablierte Staatsmacht. Sie unterschreiben einerseits genauso den Wunschzettel der Reform, Demokratie und Marktwirtschaft, machen daneben aber, ohne das als Einwand gegen diese Ziele zu nehmen, völlig abstrakt, den Gegensatz geltend, daß es doch auch nicht im Staatsinteresse liegen könne, daß die staatlichen Betriebe und die Kolchosen zugrunde gehen – und das ist nach wie vor die Sphäre, in der mehr schlecht als recht das produziert wird, wovon man in Rußland lebt. Diese Parteien sehen ihre Aufgabe nicht in der Organisation der geschädigten Interessen oder gar der Gegenwehr gegen die destruktive Reformpolitik von oben. Vielmehr berufen sie sich auf die Ergebnisse, wie sie das zu Tode-Reformieren der Gesellschaft geschaffen hat, für ihre Anklage, daß gegen Staatsinteressen verstoßen wird. Leiter der Betriebe registrieren von der versprochenen wunderbaren Marktwirtschaft nur soviel, daß sie der Aufforderung zu rentablen Geschäften einerseits gar nicht nachkommen können, daß ihnen andererseits die Reformen alle Mittel des Produzierens bestreiten. Sie melden Protest an, überhaupt nicht im Namen ihrer „Pfründe“, wie die westliche Lesart wissen will. Aufgrund der ökonomischen und sozialen Aufträge, die die alte Sowjetunion ihren Betrieben übertragen hatte, kennen sie ihre gesellschaftliche Verantwortung noch viel zu gut. Schließlich hängt die alltägliche Reproduktion nach wie vor von den „unrentablen“ Staatsunternehmen ab, deren Konkurs und ersatzlosen Untergang Reformer und Westler tagtäglich fordern. Russischen Betriebsdirektoren ist notwendigerweise die Einsicht geläufig, daß nicht nur sie, sondern ihre Belegschaften, Kindergärten und Krankenhäuser, oft ganze Städte, davon leben, daß im Betrieb noch gearbeitet wird. Die Wolski-Partei erklärt sich einerseits für das prinzipielle Ziel ‚Marktwirtschaft‘, plädiert andererseits – ohne Befassung damit, wie das vereinbar sein soll – für staatliche Rücksichtnahme, um die Betriebe überhaupt nur aufrechtzuerhalten, weil sonst in Rußland jegliches Produzieren ersatzlos entfällt. Die Kolchosen haben vom Gang der Reformen soviel bemerkt, daß nur noch der Zusammenhalt der Kolchosmannschaft zur Sicherung der paar Lebensmittel taugt, von denen sie sich ernährt und die sich gegen andere Lebensmittel tauschen lassen. Demgemäß können sie der Perspektive wenig abgewinnen, Mannschaft und Betriebsmittel einem Privatisierungsprogramm aufzuopfern, das alle ihrer Mittel beraubt, ohne daß eine Existenz als Privatbauer überhaupt machbar wäre. Die Agrarpartei erklärt sich auch für alles Gute, Wahre und Schöne der Jelzin-Linie, setzt sich daneben aber für eine „gemischte Wirtschaft“ ein, in der auch die Kolchosen weiterbestehen können müßten. Vor allem aber entdeckt sie an den verheerenden Wirkungen der Reform auf die Kolchosen mangelnde Ehrfurcht vor der Erde und vor dem Stand, der doch das Volk ernährt – also volksfeindliche Politik, die die Nation ins Unglück stürzt. Die Partei der Frauen besteht unter weiblichem Vorzeichen noch einmal grundsätzlich darauf, daß im heutigen Rußland das notdürftige Zurechtkommen nicht mehr garantiert ist. Und die Kommunisten, die zur Wahl zugelassen waren, können sich zwar gut alle möglichen Sorten Eigentum vorstellen, friedlich nebeneinander, als Bestandteile einer russischen Ökonomie vereint (unter Eigentum versteht man im heutigen Rußland offensichtlich ein Sammelsurium aus Tante-Emma-Läden, Fabriken, Schrebergärten und allem möglichen, jedenfalls nicht die grundsätzliche Trennung jeden Bedürfnisses von den Mitteln, die es zu seiner Erfüllung braucht). Sie machen sich keineswegs stark für eine Rückkehr zum alten Staat; gerade deshalb aber nehmen sie sich das Recht, darauf zu pochen, daß die Nation unter der alten Herrschaft weitaus besser aufgegehoben war als unter der neuen, daß russische Rechte – von der Volksernährung bis zur Moldawienfrage – mit Füßen getreten, nationale Potenzen verschleudert werden. Außer ihrer Tradition, an die ordensgeschmückte Veteranen und Rentnerinnen in ihren Reihen nostalgisch erinnern dürfen, trennt sie also kaum etwas vom letzten und – wie der Wahlausgang erwiesen hat – für russische Wähler zugkräftigsten Angebot: Schirinowski.
Diese Parteien berufen sich mit ihren Einwänden im Namen der Nation auf den verzweifelten Überlebenskampf, den das Reform genannte Abbruchprogramm der Masse der Bevölkerung aufgezwungen hat, während die „fortschrittlichen Kräfte“ weiterhin auf die wohlklingenden Titel pochen und mehr oder weniger deutlich das Eingeständnis des Scheiterns anhängen. Zur Wahl standen damit also nur Standpunkte, die in unterschiedlicher Gewichtung die zerstörerischen Wirkungen der Reformpolitik auf die Gesellschaft bilanzieren. Angesichts einer solchen Lage der Nation von Wahlen die erwünschte demokratische Beglaubigung des Jelzin-Regimes und davon wiederum die Konsolidierung der Staatsmacht zu erwarten, ist ein eher schlechter Witz. Bei der Gründung eines Staates überhaupt dem Volk die Freiheit zu eröffnen, die zu gründende Macht mit Nutzenkalkulationen bzw. anderen Staatsvorstellungen zu vergleichen, ist ein abenteuerliches Unternehmen, das sich ein gesitteter demokratischer Staat nie geleistet hat, noch sich leisten würde. Es mag sogar sein, daß alle Russen sich einen guten starken Staat wünschen. Dennoch bzw. gerade deshalb haben diese Wahlen dem russischen Volk etwas Ungeheuerliches abverlangt: freies Wählen für eine Staatsmacht, die die Gesellschaft gar nicht wirklich organisiert, sondern ihr, soweit sie ihr Reformprogramm durchsetzt, grundsätzlich destruktiv gegenübertritt. Daß diese Wahlen nicht die selbstverständliche, qua sachlich etablierter Gewalt erzwungene Zustimmung zum staatlichen Gewaltmonopol abfragen, sondern als Mittel zur Herstellung eines russischen Gewaltmonopols fungieren sollten, enthält schließlich nicht nur den elementaren Widerspruch, daß ein Volk erst rundum der Staatsgewalt unterworfen sein muß, ehe es zuverlässig zum Abstimmen zu benützen ist. Bei dem heutigen Staatsgründungsprojekt in Rußland geht es nicht nur um die Frage, daß die Verkündigung eines Gesetzes und dessen Gültigkeit nicht dasselbe sind; auch nicht bloß darum, daß mit der Wahl eines Parlaments noch nicht der Gehorsam gegenüber dessen Beschlüssen gegeben ist. Vielmehr ist mit dem von Jelzin erwünschten Gehorsam gegenüber seiner Verfassung und seiner Regierung Zustimmung verlangt zu einer Kampfansage an die russische Gesellschaft, die diese gar nicht aushält, weil sie nur dann und nur soweit überlebt, wie sie sich nicht an die Anweisungen aus Moskau hält. Die letztliche Machtfrage, die Jelzins Regieren aufwirft, besteht nämlich gar nicht darin, daß seine Amtsautorität durch Konkurrenten und feindliche Provinzfürsten geschmälert und sabotiert wird. Die russische Gesellschaft selbst, von deren Wahl Jelzin seine lückenlose Ermächtigung und die Rettung einer zerfallenden Staatsmacht erwartet und einfordert, ist so beschaffen, daß sie diesen allerersten Dienst am Staat nicht leisten kann, weil sie an Jelzins Regierungskunst, an den sogenannten Reformen zugrundegeht.[1]
Die Sichtweise der regierenden Reformer, daß der Erfolg ihrer Revolution von oben mit der Entscheidung der Machtfrage zusammenfällt, ist eben doch nur die halbe Wahrheit. Sie verwechseln nämlich Gehorsam und Tauglichkeit, setzen mit ihrem Wahlzirkus darauf, daß, der Gehorsam einmal hergestellt, die nützliche Betätigung des Volkes gar nicht ausbleiben kann. Der Gehorsam kann aber gar nicht zustandekommen, wenn die regierungsamtlichen Aufträge ans Volk bezüglich Umgestaltung der ökonomischen Basis ihn gar nicht zulassen, wenn es die ökonomischen Sachzwänge gar nicht gibt, die der Gesellschaft ihre Überlebenstechniken als Umgang mit Geld und Privateigentum diktieren. Auch der neuerliche Versuch Jelzins, per Wahlen eine russische Staatsmacht zu etablieren, kommt an dem Zirkel der russischen Staatsgründung nicht vorbei, daß es einerseits die Gewalt braucht, um die Gesellschaft auf die Funktion des Geldes zu verpflichten, wenn sie ihm dienen soll, daß sich aber andererseits diese Gewalt, gerade wenn sie sich noch nicht als die Produktivkraft allseitiger Geldverhältnisse bewährt, gegen die Gesellschaft durchsetzen, sich überhaupt erst als Gewaltmonopol etablieren muß.
III. Das Wahlergebnis
Einerseits wurde Jelzins Verfassung knapp gebilligt, andererseits hat er nun im neuen Parlament eine machtvolle nationale Opposition vor sich. Neben den Fraktionen der russischen KP und der Agrarpartei sieht sich Jelzin einem neuen Gegner gegenüber, den Liberaldemokraten, deren Führer Schirinowski die Verfassung Jelzins begrüßt – als Mittel seiner erhofften präsidentiellen Macht. Offiziell ist diese Opposition nunmehr legitimiert nach allen Regeln, die Jelzin selbst aufgestellt hat, und gestärkt durch Jelzins Parteienverbote, die die Unzufriedenheit patriotischer Wähler auf die 3 Angebote konzentriert hat. Das alte Parlament, das ihm je länger, umso entschiedener die negative Bilanz seiner Regierungsleistungen präsentiert hat, hat er entmachten können, nicht aber diese negative Bilanz entkräften. Die wird ihm jetzt von einer neuen Mannschaft, vor allem aber von Schirinowski präsentiert, der die abgedroschene Einteilung in Reformer und Bremser, die Befragung auf Linientreue gegenüber den Anstandstiteln für erwünschte russische Politik mit einem einzigen Argument erledigt: Rußland.
„Wir sind gegen die Sowjetunion, gegen die GUS; für eine gemischte Wirtschaft, aber ohne Zerstörung des Staatssektors in Stadt und Land, gegen die Auflösung der Kolchosen. Wir sind für den Schutz aller Russen, für sichere Grenzen. Die ganze aus den Südregionen stammende Mafia muß ausgerottet werden; alle Städte Rußlands sind von ihr zu säubern. Es muß ein fürchterlicher Schlag gegen die Kriminalität geführt werden. Nichts anderes haben wir in unserem Programm gefordert, und das bleibt in Kraft.“ (Schirinowski, Spiegel 20.12.93)
Der gesamte Dogmenüberbau, mit dem die russische Wende vollzogen worden ist, der systemideologische Gegensatz zwischen Privat- und Staatswirtschaft wird damit für uninteressant erklärt, abgetan wie ein luxuriöser, akademischer Methodenstreit. Die Errungenschaften der marktwirtschaftlichen Reform erledigen sich für Schirinowski mit solchen Leistungen wie dem Ruin der Rüstungsindustrie –
„Die soll endlich wieder U-Boote bauen, die uns im Export 200 Millionen Dollar pro Stück einbringen, und nicht billige Flachmänner aus dem kostbaren Metall machen“ –
und einer Werbung für unnützes, ausländisches Zeug, die nur das Volk, das ganz andere Lebensnotwendigkeiten hat, verhöhnt:
„… diese amerikanischen Trugbilder, die meinem Volk täglich in der Fernsehreklame vorgegaukelt werden. Mitten in unserem russischen Winter bei minus 20 Grad zeigt uns das Fernsehen unentwegt irgendwelche Strände, wo die Badenden nach Pepsi-Cola schreien. Das Gesöff wollen wir doch gar nicht, auch keinen Kaugummi. Unser Volk soll nicht per Bildschirm tagtäglich gereizt werden.“
Ob für Rentabilität oder Plankennziffern produziert werden soll, ob Gewinn und profitabler Preis oder staatliche Rechnungsvorschriften über die Produktion entscheiden sollen, solche Fragen nimmt Schirinowski gar nicht erst zur Kenntnis. Privatwirtschaft, in ihrer Eigenschaft als Mafia, Preise, in ihrer Wirkung als Volksarmut, und Arbeitslose gelten ihm als einunddasselbe: als Verbrechen am Zusammenhang von Staat und Volk. Folglich muß Rußland vor den Politikern gerettet werden, die ihr Amt dazu mißbrauchen, diesen großen Staat zu ruinieren, damit eine nationale Wirtschaft, von der Volk und Staat leben können, wiederhergestellt werden kann. Für die sofortige Förderung des Wohlstands kennt er einen Hebel: den Einsatz der Staatsgewalt, um die Ausplünderung des Volks durch innere und äußere Räuberbanden zu beenden.
„… jede Hilfe an die Nachbarländer sofort einzustellen. Das bringt uns umgehend eine Verbesserung des Lebensstandards um 30%. Dann kommt ein schwerer Schlag gegen die Kriminalität, geführt von den Offizieren aus den Ministerien für Verteidigung, Sicherheit und Inneres. Auch das zahlt sich in einem beträchtlichen Anstieg des Lebensstandards aus.“
Das ist sein „Wirtschaftsprogramm“, und das ist die national-logisch notwendige Antwort auf die Regierungspolitik: Wenn das politische Kommando zur Einführung der Marktwirtschaft Rußland neuen Reichtum, Macht und Größe sichern sollte, dann fällt die Bilanz im Namen Rußlands rundum vernichtend aus. Rußland war reich und mächtig, also bedeutet die heutige Not, daß das bisherige Reformwerk nur Reichtum verschleudert und die Staatsgewalt selbst untergraben hat. Folglich begeht diese Politik Vaterlandsverrat, und die Korrektur ist überfällig: Statt den nationalen Reichtum weiter vor die Hunde gehen zu lassen, muß die Staatsgewalt eine staatsnützliche Produktion gebieten, Ausverkauf und Diebstahl unterbinden. In diesem Programm ist Ordnung dasselbe wie Wohlstand, schließlich muß die Staatsgewalt ihre Mittel nur zusammenhalten, statt sie in- und ausländischen Räubern preiszugeben.
Schirinowskis Antwort auf die Scholastik von Markt und Plan mag man Kriegswirtschaft nennen. Ihm sind solche Etiketten ebenso wie die neue Moral der Marktwirtschaft und die Kritik an der alten Kommandowirtschaft reichlich gleichgültig, weil er eine Lage vor sich hat, in der die Nation weder von der alten Produktionsweise leben kann, die unter dem Reformwerk zusammenbricht, noch vom Wunschbild der Marktwirtschaft. Aus einer Krisenlage der Nation, in der das elementare Material jeden Regierens, nämlich Wirtschaft und Volk auf dem Spiel stehen, zieht er den Schluß, den staatsmännische Verantwortung gebietet: Die Staatsgewalt hat dafür zu sorgen, daß die notwendigen Mittel wieder hergestellt werden.
Alle Mängel, die Schirinowski kennt und die nach dem Einsatz von Staatsgewalt schreien, definiert der Mann völkisch: Das westliche Ausland beraubt die russische Nation ihrer Rohstoffe und Intelligenz, die GUS-Republiken schmarotzen dank der verfehlten russischen Gutmütigkeit am russischen Reichtum, Kaukasier plündern als Verbrecherbanden das russische Volk aus. Alles, was einen ordentlichen Staat ausmacht, steht in Frage – bis auf die Gewißheit, daß es ein russisches Volk mit einem abgrundtiefen Recht auf einen russischen Staat gibt. Es geht ja tatsächlich nicht um das eine oder andere politische Ziel, sondern um den Bestand des Staates selbst. Ein Mann, der den Staat retten will, sieht sich auf dessen elementares Material, das Volk zurückgeworfen und vor die Aufgabe gestellt, dem Volk seinen Staat zu verschaffen. Im Unterschied zur Aufgabenstellung einer etablierten Staatsmacht, der Verwaltung und Benützung eines Volks nach verschiedenen Gesichtspunkten, nach denen es sich dann auch in verschiedene Stände und ökonomische Funktionen gliedert, ist für Schirinowski die Bekämpfung von Volksfeinden einziger Proprammpunkt.
Diese Logik des nationalen Notstands bringt Schirinowski zum Ausdruck, wenn er es aufgrund seiner soliden realsozialistischen Bildung für angebracht hält, seinen „Klassenstandpunkt“ zu definieren: Er beruft sich auf „den Kleinbürger“, wo er den Volksgenossen meint. Russische Politik heute hat sich weder um die Klasseninteressen von Kapital und Arbeit zu kümmern, noch um marktwirtschaftlichen Luxus oder die immer weitere Entfaltung der Produktivkräfte, sondern um den „Normalmenschen“, d.h. um das schiere, abstrakte Leben-Können. Das ist das einzige und elementare Recht, das ein Volk in seiner Eigenschaft als Material seiner Staatsmacht besitzt. Explizit wird kein Wohlstand versprochen, sondern nur ein Auskommen; der russische Bürger soll aber wieder bemerken können, daß er überhaupt Mitglied einer Nation ist, die ihn nicht einfach verkommen läßt. Folglich hat Schirinowski überhaupt keine Berührungsängste, wenn er für die Beibehaltung sozialistischer Errungenschaften plädiert, denn das Überleben des Volks als Volk hat der reale Sozialismus zweifelsfrei zustandegebracht. Schirinowskis Programm verpflichtet sich auf die Erhaltung von Produktion und Volk, um überhaupt den Zusammenhang zwischen dem Staat und dem in chaotisches Elend entlassenen Volk wiederherzustellen. Und daran, daß so etwas „machbar“ ist, hat er im Unterschied zu den Fachleuten der Marktwirtschaft nicht die geringsten Zweifel: Immerhin hat er die ansehnlichen Potenzen vor Auge, über die der Staat in Rußland neulich noch verfügen konnte.
Schließlich hat das Volk ein Recht auf einen Staat, der es gegen Volksfeinde und -schädlinge verteidigt. Schirinowski ist „gegen die Sowjetunion“ – die hat schließlich mit ihrem „Internationalismus“ das russische Volk mißachtet. Die alte Definition des Vielvölkerstaates wird offensiv umgekehrt: Rettung des Volkskörpers vor antinationalen Elementen ist angesagt, im Inneren wird eine Verbrechensbekämpfung als nationalistische Säuberung versprochen, die in der GUS verstreuten Russen will er heim ins Reich holen.
Des weiteren ist er „gegen die GUS“, d.h. bilanziert ebenso negativ, was aus Jelzins Ideal einer Gemeinschaft unabhängiger Staaten, in der Rußland mit Zustimmung der anderen eine unbestrittene Hegemonie ausübt, geworden ist. Den unfruchtbaren und unlösbaren Dauerstreit mit den anderen GUS-Republiken hat Rußland in seinen Augen einfach nicht nötig, er nimmt sich aus wie ein Nachgeben zugunsten anderer Völker. Auch wenn es kaum der Sachlage entspricht, daß es sich die anderen GUS-Republiken mit Hilfe russischer Reichtümer gut gehen lassen – ein russischer Nationalismus kann sich die rapide Verarmung seiner Nation, die doch noch vor einigen Jahren mit allem Notwendigen versorgt war und darüberhinaus beachtliche Produktivkräfte kommandierte, gar nicht anders zurechtlegen, als daß seine Nation beraubt wird von Feinden, von denen sie umringt ist. Die unentschlossenen Krisenmissionen in der GUS, die nicht endenwollenden Handelsstreitigkeiten, bei denen Rußland auf seinem Recht auf Weltmarktpreise und auf Zahlung in einem weltmarktfähigem Geld besteht, über das die anderen GUS-Republiken genausowenig verfügen, so daß dann doch wieder Waren verrechnet werden – das alles kritisiert Schirinowski rein politisch als unangebrachte „Hilfe“. Wenn die anderen auf Kosten Rußlands schmarotzen, sich gegen dessen natürliche Aufsichtsrolle auflehnen, kennt er ein Rezept: Soll doch Rußland seine Macht einsetzen, die Abhängigkeit der anderen benützen, um sie zur Unterwerfung zu zwingen, jede Hilfe einstellen und die anderen sich solange verschleißen lassen, bis sie freiwillig unter die Aufsicht Rußlands, der eindeutigen Führungsmacht, zurückkehren – ihr Volkscharakter läßt ihnen ja sowieso keine andere Chance.
„Wir ziehen uns überall zurück, wir werden diesen Sturm im Wasserglas mit der Ukraine beenden, wir verlassen Mittelasien und den Kaukasus, wir überlassen diese Völker ihren Kriegsherren und Mullahs. Nach einiger Zeit kommen sie von selbst wieder zu uns, korrekter – sie kriechen, geschlagen, hungrig, krank, auf Krücken und Bahren. Sie werden uns anbetteln, ihnen wenigstens heißes Wasser zu geben, damit sie sich waschen können.“ (Spiegel 10.1.94)
An eine Benützung der anderen GUS-Staaten ist überhaupt nicht gedacht, das Programm pocht rein auf eine durch das Kräfteverhältnis gegebene Rangfolge von Nationen, in der Rußland die Unterordnung der GUS-Staaten unter seine Macht fordern kann und muß. Und diese Rangfolge bestätigt das völkische Selbstbewußtsein, mit dem Schirinowski zur Rettung des russischen Staates aufruft.
Den nötigen Respekt gegenüber einer mächtigen Nation verlangt er ebenso vom Westen. Begründen muß er das genausowenig wie andere Nationalisten; das Selbstbewußtsein der guten Deutschen, die einfach wissen, daß die deutsche Verantwortung in der Welt gestiegen ist, unterscheidet sich in nichts von seinem Raketengefuchtel. Neben Erklärungen, daß er selbstverständlich auf gute Beziehungen Wert legt, hat er keine Scheu vor Drohungen: Gute Beziehungen lassen sich dann unterhalten, wenn die Rußland zustehenden Ansprüche gewährleistet sind, dann aber nicht, wenn der Westen auf dem Ausverkauf Rußlands und territorialer Zerstückelung besteht.
„Der Westen nimmt alles von uns – die natürlichen Ressourcen und die Intelligenz unserer Menschen. Das reicht nun.“ (SZ 22.12.93)
In diesem Sinn entwirft er lebhafte außenpolitische Perspektiven. Mal ist ein antiamerikanisches Bündnis mit deutschen Rechtsextremen denkbar, auch die Rückgabe von Königsberg, dann droht er der BRD mit Raketen und den noch in der ehemaligen DDR stationierten russischen Truppen, mal verspricht er den Deutschen ihre ehemaligen Ostgebiete in Polen, dann wiederum warnt er die Polen vor der NATO, fragt sie, warum sie fremden Truppen die Stiefel küssen und Negersoldaten bei sich herumlaufen lassen wollen. Italien malt er die Auflösung der Nation aus, damit man dort einmal versteht, was der russischen Nation zugemutet worden ist, was sie deshalb mit Recht verlangen kann… Das allein soll ihn schon disqualifizieren, dabei redet er nur undiplomatisch, nämlich nationalen Klartext, demonstriert auch schon einmal, wie er sich in die Rechte anderer Nationen hineindenken kann, um auf die Rechte seiner Nation aufmerksam zu machen. Wenn er will, kann er auch ganz anders, sehr diplomatisch daherreden, aber zur Zeit will er eben nicht, weil er sich in Rußland als die Alternative aufbaut, die dazu berufen ist, die Nation zu retten.
Im Westen wird Schirinowski als „Scharlatan“ gehandelt, weil er ein „einfaches Programm“ verkündet – das ist allerdings deswegen notwendigerweise so einfach und überzeugend, weil es Jelzin nichts anderes entgegenhält als den Ruin der Nation, den der herbeiregiert hat, sowie das Bekenntnis, daß die Staatsgewalt dazu da ist, den Ruin abzustellen. In seinen Augen ist die ganze Reformpolitik schlicht Ausverkauf und Verrat des Vaterlandes, und wie soll man als russischer Patriot das auch anders sehen können, wenn man die Hoffnung auf irgendwann doch unausweichlich eintretende, in keiner Weise absehbare produktive Wirkungen des Zaubermittels Marktwirtschaft aufgegeben hat?! Wenn die Reformpolitik in einen nationalen Notstand geführt hat, wenn sich die ganze Aufgabe folglich darauf zusammenkürzt, daß ein staatlicher Gewaltapparat sowie eine ökonomische Basis für das Leben der Nation überhaupt wieder hergestellt werden müssen – und eine solche Lage haben die Reformen geschaffen –, ist auch nur Staatsrettung angesagt. Schirinowski vertritt den nationalen Einspruch gegen eine Politik, die im Namen der Nation die Nation kaputtregiert hat. Folglich erhebt er auch weitergehende Ansprüche als die, nur als oppositionelle Partei im Parlament auf sich aufmerksam zu machen und Stimmen für die nächste Wahl einzusammeln: Er meldet sein Recht auf Mitregieren, seinen Anspruch aufs Präsidentenamt jetzt schon an; und um zu unterstreichen, daß er sich nicht durch demokratische Protokollregeln bremsen läßt, schlägert er auch schon einmal im Parlament herum.
Das Programm Schirinowskis ist einfach: Wiederherstellung der Staatsgewalt nach innen und außen, Ordnung und noch einmal Ordnung. Er formuliert Staatsnotwendigkeiten der elementarsten Art, daß es eine starke Herrschaft im Namen der russischen Nation geben muß, getrennt von jeder weiteren und konkreteren Zweckbestimmung – eben so prinzipiell, wie die Notlage des russischen Staatsprojekts beschaffen ist. Er hat keine Mittelstandspolitik, keine Geldpolitik zu bieten, denn in Rußland gibt es weder einen Mittelstand noch ein Geld; er hat keine Handelsverträge und diplomatischen Initiativen nach außen anzubieten, nur die Forderung nach Respekt vor der russischen Nation – denn genau die steht in Frage.
In seiner Einlinigkeit und Schlichtheit ist das Schirinowski-Programm ein einziger Beweis dafür, was die Reformpolitik in Rußland angerichtet hat: Es geht um nichts anderes als um das Überleben von Staat und Nation. Zugleich ist der Erfolg dieser Position ein Beleg dafür, wie gründlich die Reform in anderer Hinsicht gelungen ist: Eine andere Alternative zum ganzen Reformwesen als diejenige, die im Namen der Nation seinen Mißerfolg beklagt, eine Alternative im Namen der Arbeiter und Bauern, egal wie richtig oder falsch, wird gar nicht erst geltend gemacht. In dieser Hinsicht sind die mit der Perestrojka begonnenen Reformen durchaus erfolgreich gewesen: Die alternative sozialistische Staatsraison, die Staatserfolg und Massenwohlstand als wechselseitiges Bedingungsverhältnis organisieren wollte, ist so gründlich und flächendeckend außer Kurs gesetzt worden, daß Nationalismus als einziger politischer Standpunkt verblieben ist. Die erste Hälfte hat man im Westen begeistert unter dem Namen „Reform“ begrüßt; dann sollte man sich dort aber auch nicht darüber entsetzt geben, daß ab sofort in Rußland im Namen der Nation Politik gemacht wird.
Schirinowski ist voll und ganz das Produkt der Reformlinie. Jetzt hat man nämlich den ersten russischen Politiker vor sich, der nicht mehr in Systemfragen befangen ist, der die Politik nurmehr an dem Zweck mißt, dessentwegen die alte KP ihr System auf den Misthaufen der Geschichts befördert hat: daß dem Staat eine neue Machtgrundlage verschafft werden sollte. Schirinowski ist der erste russische Politiker, der den Zweck des Systemwechsels, gegen alles Reformgetue, das dem Systemgegensatz noch im Bemühen um seine Überwindung gewidmet war, unverhohlen als solchen vertritt: Auf die Macht des Staates kommt es an, auf sonst nichts, und eine nationale Politik hat sich nicht an irgendwelchen Methoden- oder Anstandsfragen zu relativieren. Schirinowski kritisiert glatt auch die guten westlichen Rezepte als ein unpassendes System, dem sich seine Nation genausowenig unterwerfen soll wie dem vergangenen realsozialistischen „Internationalismus“.
Die denunziationsgeile Journalistencrew kann ihm immer wieder die Frage vorlegen, an der sie ihn entlarven möchte: Der Mann hat einfach nichts gegen Markt, er hat auch nichts gegen Demokratie, er unterschreibt den erwünschten Verstoß gegen den westlichen Sittlichkeitskodex einfach nicht. Er ist für beides – solange wie und unter der Bedingung, daß es Rußland nützt. Und daß diese Einrichtungen, bzw. die Versuche, sie zu importieren, Rußland nicht nützen, sondern schaden, können nicht einmal Spiegel-Reporter einfach bestreiten. Er ist also genauso sehr Marktwirtschaftler und Demokrat wie jeder gute marktwirtschaftliche und demokratische Politiker jedes anderen bürgerlichen Staates: Er mißt sie am Erfolg seines Staates. Daher brauchen die bürgerlichen Journalisten ja auch unbedingt das Etikett „Faschist“, um den angeblichen grundsätzlichen Unterschied nicht beweisen, sondern aufsagen zu können.
IV. Die Jelzin-Regierung vollzieht die nationale Wende
Schirinowskis Wahlerfolg hat die regierenden Reformer gespalten. Im Streit um die Zusammensetzung der Regierung ist jetzt schon ein Schwenk vollzogen worden: Die Figuren, die für die sogenannte „Anti-Inflationspolitik“ standen, sind aus der Regierung verabschiedet worden; bei der „Fortsetzung der Reformpolitik“ soll es nun vor allem darauf ankommen, die Betriebe und Kolchosen zu erhalten; von einer kritiklosen Anwendung westlicher Rezepte will man nichts mehr wissen – so geht die neue Regierung auf Distanz zur bisherigen Reformlinie. Sie kritisiert Vorschriften des IWF, daß sie den besonderen Erfordernissen der russischen Nation nicht gerecht würden, und bekennt sich zu Wegen, die der Lage der Nation angemessen sind.
Gleichzeitig haben es Vertreter der russischen Regierung für nötig befunden zu betonen, daß Rußland äußere Interessen hat. Weder ist man damit einverstanden, daß die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten von neuem in einem antirussischen cordon sanitaire zusammengeschlossen werden, noch will man auf strategische Gesichtspunkte gegenüber dem „nahen Ausland“ und eine Einflußnahme gegen die anti-russische Volkstumspolitik z.B. der Balten einfach verzichten. Und wenn der Westen angesichts einer solchen Definition russischer Interessen schon abweisend reagiert, fühlt sich der Außenminister bemüßigt darauf hinzuweisen, daß russische Außenpolitik in Moskau und nicht in Washington gemacht wird. Eine Feindschaftsansage ist damit nicht gemeint; man pocht vielmehr auf etwas, was man in Moskau eigentlich für selbstverständlich gehalten hat, daß nämlich die neue Freundschaft mit den führenden imperialistischen Nationen die Anerkennung elementarer russischer Interessen doch wohl einschließt. Kosyrew mag zur Zeit beides noch für vereinbar halten, die guten Beziehungen mit der westlichen Welt und eine Außenpolitik, die russische Anliegen vertritt. Von der Feststellung, daß man sich mit dieser neuen Freundschaft keinen Gefallen getan hat, ist er aber auch nicht mehr weit entfernt.
Daß sich ein wankelmütiger Jelzin mit solchen nationalen Akzentsetzungen nur an Schirinowskis Parolen „anpaßt“, wie man im Westen wissen will, ist nur die halbe Wahrheit. Ein Stück Taktik zur Machterhaltung ist diese Linienkorrektur schon, aber sie hat eben auch einen Inhalt, den der interessierte Westen wohlweislich ignoriert: In der Konkurrenz um die Macht muß sich derjenige, der sie innehat, immerhin am Maßstab des Staatserfolgs messen lassen. Und den kann sich auch ein Jelzin angesichts der Zustände, in die er seine Nation hineinregiert hat, kaum noch in die Tasche lügen. Politiker, die ihren Lebenszweck Staat zugrundegehen sehen, sind aber schon deswegen und nicht nur wegen der Kritik ihrer Konkurrenten zu einer Linienkorrektur herausgefordert.
Daneben möchte Jelzin seine Konkurrenz zu Schirinowski am liebsten wieder auf die schlichte Weise entscheiden, indem er ihn vor ein Gericht bringt – in diesem Fall wegen „Kriegshetze“ – und als politische Figur aus dem Verkehr zieht. Als ob sich der Standpunkt, der sich mit Schirinowski in der russischen Politik gemeldet hat und dem beachtliche Teile des Volks in den Wahlen ihre Stimme gegeben haben, einfach verbieten ließe. Es ist wenig wahrscheinlich, daß die Teile der russischen Nation, denen Schirinowskis Diagnose bezüglich der Notlage der Nation einleuchtet, sich wie die Moskauer Bürger im Oktober vor dem Weißen Haus aufs Zusehen beschränken, wenn der Präsident die Machtfrage wieder einmal in seinem Sinne entscheiden will.
[1] Das russische Experiment in Sachen „Systemtransformation“ hat auch nur das alte System außer Funktion und damit die Gesellschaft unter den Zwang gesetzt, um die eigene Subsistenz zu kämpfen. Was in Rußland noch an Produktion und Tausch stattfindet, ist kein „wilder Kapitalismus“ und kein „Frühkapitalismus“, denn das kapitalistische Lebensmittel, das Geld, versagt seine Dienste. Mit der enthusiastischen Aufforderung, sich am Rubel zu bereichern, ist er noch gar nicht zum allgemeingültigen Zweck des Produzierens gemacht – und ebensowenig eignet er sich als Wertaufbewahrungs-, Kauf- und Zahlungsmittel. Produziert wird für ausländisches Geld, weil sich damit wirklich kaufen läßt, worüber immer mehr Reichtum dem inneren Bedarf und der überkommenen Arbeitsteilung entzogen wird, oder für einen Umsatz gegen andere Produkte, um die sachliche Reproduktion mehr schlecht als recht zu organisieren. Diese Subsistenztechniken leben von der Substanz und zehren sie auf. Mangels Material und Strom müssen immer mehr Betriebe ihre Produktion ganz einstellen und die Belegschaft nach Hause schicken, und etliche russische Städte stehen schon vor der Frage, wie sie ohne Energielieferungen den russischen Winter überstehen können. Wenn die Staatsgewalt auf ihrem Ertrag besteht und Steuern einfordert oder mit ihrer abwegigen, von westlichen Vorbildern abgekupferten Geldpolitik den Rubel „knapp“ machen will und Betrieben und Regionen auf diese Weise zusetzt, unterbindet sie nur deren Überlebenstechniken, so daß noch mehr an sachlicher Reproduktion unterbleibt. Betriebsdirektoren und Vertreter der Gebiete verteidigen folgerichtig die verbliebene Produktion gegen die Weisungen der Zentrale, entziehen sich deren Direktiven, wo immer sie können, und organisieren ihr Überleben auf eigene Faust – gegen den Bedarf der ehemaligen allsowjetischen produktiven Arbeitsteilung ebenso wie gegen die Versuche der Regierung, sie zum Dienst am Rubel zu bewegen. Das Programm einer Revolution von oben, der Einführung des Kapitalismus per Staatsdekret, hat einen regelrechten Krieg gegen die Gesellschaft in ihrer realsozialistischen Verfaßtheit eröffnet, aber einen völlig unproduktiven Krieg, der nur die überkommene Weise der Reproduktion ruiniert. Damit zerstört die russische Staatsgewalt ihre eigenen Machtmittel und verunmöglicht jeden staatsdienlichen Gehorsam – das ist der ganze Ertrag der sogenannten Reform. Und dieser Zustand soll dann ausgerechnet durch Wahlen repariert werden können; der politische Wille dieser Gesellschaft soll nach Jelzins Berechnung die Regierung zu Fortsetzung ihres Reformwerks ermächtigen, darin besteht letztlich der ganze Widersinn dieser Operation. Die Kritik an den ökonomischen Einsichten, die in Rußland zur Anwendung gekommen sind, sowie die Darstellung der unausbleiblichen Wirkungen dieser Politik sind nachzulesen in GegenStandpunkt 2-92, S.119: „Einführung der Marktwirtschaft in der ehemaligen Sowjetunion. Weder Markt noch Wirtschaft“, GegenStandpunkt 2-93, S.141: „Die erstaunliche Leistung der russischen Staatsgründung. Ein Notstand neuen Typs“ und GegenStandpunkt 3-93, S.172: „Die jüngsten Etappen der verunglückten Staatsgründung im Osten“.