Der Kampf um die öffentliche Meinung
Netz- versus ‚seriöse‘ Öffentlichkeit

Mitte letzten Jahres erlässt der Bundestag ein „Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Medien“, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das zum ersten Januar dieses Jahres in Kraft tritt und Betreiber wie Facebook, YouTube, Twitter und Co in die Pflicht nimmt, gegen ‚Hasskommentare‘ und ‚Fake News‘ vorzugehen. Der deutsche Staat kommt nicht umhin, kritisch zur Kenntnis zu nehmen, was für eine Saubande er undifferenziert mit dem Recht auf freie Meinung und deren Bekanntmachung in den sogenannten ‚sozialen Medien‘ ausgestattet hat. Welche Grenzen er da so massiv überschritten sieht, dass er meint eingreifen zu müssen, ist eine Sache; die andere Sache: Womit hat er es bei der Netzöffentlichkeit zu tun?

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

Der Kampf um die öffentliche Meinung
Netz- versus ‚seriöse‘ Öffentlichkeit

Mitte letzten Jahres erlässt der Bundestag ein Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Medien (BGBl. I S. 3352), das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das zum ersten Januar dieses Jahres in Kraft tritt und Betreiber wie Facebook, YouTube, Twitter und Co in die Pflicht nimmt, gegen ‚Hasskommentare‘ und ‚Fake News‘ vorzugehen. Der deutsche Staat kommt nicht umhin, kritisch zur Kenntnis zu nehmen, was für eine Saubande er undifferenziert mit dem Recht auf freie Meinung und deren Bekanntmachung in den sogenannten ‚sozialen Medien‘ ausgestattet hat. Welche Grenzen er da so massiv überschritten sieht, dass er meint eingreifen zu müssen, ist eine Sache; dazu später mehr. Die andere Sache: Womit hat er es bei der Netzöffentlichkeit zu tun?

I. Die Netzöffentlichkeit: ein Forum fürs bürgerliche Gemüt

Seine Bürger nutzen Plattformen im Internet, auf denen sie ihre private Meinung zu allem und jedem in Schrift, Bild und Ton nicht nur mitteilen, sondern elektronisch haltbar machen. Das Meinen ist damit schon nicht mehr bloß ihre Privatangelegenheit oder eine Sache zwischen ihnen und ihren Adressaten. Die Macher der diversen Plattformen sind stillschweigend als Mit-Adressaten in jede transportierte Meinungsäußerung und überhaupt in alles, was sonst noch so über das Netz läuft und an Interessen fassbar ist – vom Einkaufsverhalten über die Surfgewohnheiten bis zum Freundes- und Bekanntenkreis –, eingeklinkt, um damit ein (Werbe-)Geschäft zu machen. Dessen Ertrag fällt hinreichend groß aus, um die Reichweite der ‚sozialen Medien‘ intensiv bis in jedes Detail hinein und extensiv ins Unendliche auszudehnen – was für manchen lästig, für Kulturphilosophen bedenklich und dem Staat erst einmal egal ist. So stiftet dieses Geschäft immer bessere Bedingungen für die Fortführung und Ausdehnung des Geschäfts. Dergestalt ergeht ein Angebot an Meinungsäußernde, das denen, wenn sie sich auf die Bedingungen dieser Sorte Kommunikation einlassen, ein gewisses Maß an Anonymität und vor allem eine Multiplikation der Reichweite ihrer Stellungnahmen verspricht. Für die breite Masse der User ist das der unschlagbare Reiz dieses Mediums.

Denn für den postenden und bloggenden Internetnutzer sind geäußerte Meinungen nicht bloß Meinungsäußerungen. Mit denen ist vielmehr ein Anspruch verbunden, der kenntlich macht, was in den privaten Meinungen freier, dazu berechtigter Bürger wirklich drinsteckt: Das sind Stellungnahmen, die als Votum ernst genommen, wenigstens als respektabel anerkannt sein wollen. Das, womit Bürger im Netz auf Respekt dringen, hat bei aller Themenvielfalt einen gemeinsamen Nenner: Alles Mögliche, von Geschmacksfragen bis zur Politik, wird zum Gegenstand von Stellungnahmen, die billigen und missbilligen, feststellen, was sich gehört oder eben nicht – dient also gleichermaßen als Gelegenheit, allgemein verbindliche Maßstäbe anzuwenden.

Auch im Internet setzen Bürger ihre schlechte Gewohnheit fort, alles durch die Brille ihrer individuellen Wertmaßstäbe anzuschauen. Damit geben sie im Ergebnis zweierlei zu Protokoll: ein verkehrtes Urteil über die Gegenstände, die sie gerade interessieren, und eines über sich. Über die jeweils beurteilte Sache, die mit einem mehr oder weniger elaborierten ‚Daumen hoch‘ bzw. ‚runter‘ beurteilt wird, muss man nichts weiter wissen, als dass es sie gibt, weil an ihr immer nur zählt, was sie dem urteilenden Individuum bedeutet. Nach dem Muster werden Geschmacksfragen und belangloses Zeug gleichermaßen verhandelt wie all die Momente der sozialen Umwelt – der ‚Sachzwang‘ des Geldverdienens, die Notwendigkeit, sich ein Leben lang einteilen zu müssen, die Abhängigkeit vom Geschäftserfolg ‚der Wirtschaft‘, der staatlich verfügte Gehorsam gegenüber den rechtlichen Bedingungen der Freiheit usw. –, die das Leben der Insassen einer kapitalistisch wirtschaftenden, demokratisch beherrschten Gesellschaft tatsächlich bestimmen. Das erfüllt den Tatbestand der Abstraktion von den objektiven Gründen und Zwecken dieser Lebensverhältnisse – deren Besonderheit geht ganz im subjektiven Ge- oder Missfallen auf. Die jeweils beurteilte Sache wird identifiziert mit ihrem Verhältnis zu den persönlichen Vorstellungen von den allgemein verbindlichen Kriterien, die Urteilende an sie herantragen, und verwandelt in eine Frage des erfolgreichen und anständigen Umgangs mit ihr.[1] Damit reden tweetende und bloggende Bürger zugleich vor allem über sich selbst: Ihre veröffentlichten Urteile fungieren als Vehikel der Selbstdarstellung als sittlich kompetentes Subjekt. Die in ihren Meinungen zur Anwendung gebrachten verbindlichen Maßstäbe bezeugen die Respektabilität der Person, die sie nicht nur vertritt, vielmehr verkörpert. Und umgekehrt: Als leibhaftige Kronzeugen allgemein geteilter bzw. zu teilender Maximen beglaubigen sie unmittelbar die Gültigkeit von allem, was sie von sich geben. Die Darbietung von Argumenten, die überzeugen und irgendwas begründen sollen, ist deshalb nicht ausgestorben. Wenn sie es mal nicht dabei belassen, in der Form unmittelbarer Rechthaberei das Ergebnis ihrer Subsumtion der beurteilten Sache unter ihre Auffassung vom Gebotenen kundzutun, vielmehr Begründungen liefern, dann begründen sie eben diese Subsumtion und bekräftigen damit die Respektabilität von Meinung und Person.

Dass moralische Urteile über andere wesentlich zum privaten Meinungsspektrum dazugehören, versteht sich von selbst. Dass der Reiz solcher Urteile und der Stachel zu ihrer Bekanntmachung vor allem im Schlechtmachen anderer liegt, ist unter Inhabern einer bürgerlichen Psyche ebenfalls normal. Die gefallen sich in der Rolle des ideellen Richters, sehen sich als herumlaufende Verkörperung dessen, was sich gehört, dazu berechtigt, alle anderen entlang der eigenen Auffassungen zu Anstand und Erfolg zu be- bzw. verurteilen. Das ist um so reizvoller, je ausgedehnter man sich dabei wechselseitig bestätigt und anheizt: Nichts wirkt so verbindend zwischen Urteilendem und Adressaten wie Gehässigkeiten über Dritte; im Kleinen gilt wie im Großen der Konkurrenzgesellschaft, dass Gemeinsamkeiten – ‚Freundschaften‘ im Zuckerberg’schen Sinn – so haltbar sind wie eine geteilte Feindschaft.

All das erstreckt sich auch auf die Sphäre der Politik und ihre Macher. Die sind immerfort Gegenstand der privat-moralischen, auf Zustimmung zielenden Meinungsäußerung, für die politisierende Bürger die Plattformen des Internets nutzen. Die Besonderheit dieser Sorte Öffentlichkeit liegt daher nicht bei inhaltlichen Schwerpunkten oder Abweichungen; da gibt es wenig, was den zahllosen Tweets und Facebook-Einträgen an Originalität nachzusagen wäre. Das Entscheidende ist auch nicht, dass die langweiligen Stereotype des sittlichen Meinens ihren Reiz erst dadurch entfalten, dass sie eine herabsetzende Kritik an öffentlichen Figuren hergeben; das ist allergewöhnlichstes Geschäft im offiziellen wie inoffiziellen demokratischen Kampf der politischen Interessen und Standpunkte. Die förmliche Eigenart dieser Netzöffentlichkeit besteht darin, dass hier eine private, die Subjektivität des Teilnehmers präsentierende und durch sie beglaubigte Political Correctness allgemeine Geltung beansprucht, Follower sucht, von Followern ‚gelikt‘ wird – so wie herkömmlich in expliziten Meinungsartikeln, Kommentaren und Leserbriefen, die über die Kanäle etablierter Medien veröffentlicht werden, aber hier, bedingt durch die Möglichkeiten, die Plattformen im Internet jedem Individuum bieten, gleich selber als Organ der Öffentlichkeit. Im Netz tut sich damit eine ungefilterte und unkontrollierte unendliche Vielfalt höchst unorigineller Echokammern auf, in denen Geltungsansprüche aus der Privatsphäre bürgerlicher Konkurrenzindividuen sich treffen, wechselseitig steigern und befördert durch den Reiz der Anonymität des Netzes radikalisieren – bis sie wieder abebben und erlöschen. Dass im bürgerlichen Meinungsstreit Moralisten sich austoben, wird in den und durch die ‚sozialen Medien‘ zum Einflussfaktor weit über den Privatbereich hinaus, in dem das sittliche Meinen und Einschätzen zu Hause ist, aber eben nicht verbleibt. Mit seiner Resonanz wird es nicht bloß vernehmbar, sondern – frech.

Eine Privatsache bleibt es gleichwohl – und damit objektiv ein Widerspruch zwischen dem Standpunkt privater Sittlichkeit, von dem aus Bürger ihren politischen Auffassungen Respekt verschaffen wollen, und dem darin liegenden Maßstab, dass ihre Vorstellung zur Political Correctness eigentlich als gültiger Konsens anzuerkennen ist. Die Größe ihrer Echokammern ist für sie das entscheidende Erfolgskriterium – und doch nie die Einlösung des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit. Viel Zuspruch ist eben nicht dasselbe wie ein allgemeinverbindlicher Common Sense. Dessen Pflege ist längst Sache der Organe jener etablierten Öffentlichkeit, die in der abendländischen Demokratie den Ehrentitel ‚vierte Gewalt‘ trägt und – so viel schon mal vorweg – sich bei der Pflege des nationalen Konsenses und seiner Maximen nicht ins Handwerk pfuschen lassen will.

Das Internet mit seinem Angebot an das empörte patriotische Gemüt, unmittelbar als Organ der Öffentlichkeit auftreten zu können, bringt Aktivisten einer Gegenöffentlichkeit hervor: Bürger, die sich nicht damit abfinden wollen und – dem Internet sei Dank – auch nicht länger damit abfinden müssen, dass ihre Meinung nichts gilt und bestenfalls von professionellen Journalisten und dann nach deren Absichten aufgegriffen und in den Pluralismus praktisch belangloser Statements einsortiert wird; sie insistieren im Bewusstsein unbestreitbaren Rechts auf ihrem Beitrag zum eigentlich gebotenen nationalen Konsens und legen sich bei Bedarf mit den etablierten Vertretern der gültigen Political Correctness an.

Dass die politisierende Netzöffentlichkeit zum Objekt einer medialen Aufmerksamkeit wird, die sich um eine ‚Verrohung‘, zunehmenden ‚Hass‘ und ‚Falschmeldungen‘ sorgt und auf breiter Front zum Gegensteuern aufruft, hat mit dem Internet also nur das eine zu tun: Das bietet empörten Bürgern das Forum, um ihren privaten Vorstellungen, was sich für ‚uns‘ im Allgemeinen und die politischen Führer im Speziellen gehört bzw. eigentlich gehören sollte, für jeden wahrnehmbar Luft zu verschaffen, sich mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen und durch die wechselseitige Bestätigung ein System des politisch Gebotenen zu kreieren und öffentlich in Szene zu setzen. Das Netz dient so als Tummelplatz eines bürgerlichen Fundamentalismus, der für Aufregung sorgt, weil sich dort in einer wachsenden Größenordnung unzufriedene Patrioten mit ihren Meinungen Geltung zu verschaffen suchen, die inhaltlich mit dem brechen, was die Organe der etablierten Öffentlichkeit und Politik als Maßstäbe des nationalen Konsenses vertreten und pflegen. Da entzündet sich an unterschiedlichen Themen ein Streit über das Was und Wie der Politik; in Deutschland gerät – um ein prominentes Beispiel zu nennen – die Flüchtlingspolitik der Merkel-Regierung unter Beschuss. An der spalten sich regierende und regierte patriotische Gemüter – so sehr, dass der Umgang des Staates mit Flüchtlingen längst zum Stoff des allgemeineren Dissenses erhoben wird, wie es überhaupt um das Verhältnis von Volk und Führung und die Ausrichtung der Nation bestellt ist. Da sehen manche ein ‚volksvergessenes Establishment‘ am Werk, das seine Fürsorgepflichten gegenüber dem guten deutschen Volk vergeigt und sich endlich auf das Vorrecht der Deutschen besinnen sollte, während andere sich hinter die Politik der Kanzlerin stellen und vor ‚braunem Gedankengut‘ oder ‚Isolationismus‘ warnen. Weil sich in Deutschland diese beiden unvereinbaren Standpunkte mehr oder weniger auf die Netzöffentlichkeit einerseits und die etablierten Medien andererseits verteilen – jedenfalls lange klar verteilt haben –, entbrennt eine methodische Etage höher ein nicht weniger erbitterter Streit über die gebotene Art und Weise der öffentlichen Meinungsbildung: Da sich der nationalistische Furor, der die Ausländer im deutschen Volkskörper nicht mehr aushält, mit seinem Anspruch auf die allgemeine Geltung seiner Vorstellung vom nationalen Common Sense in der Öffentlichkeit nicht hinreichend respektiert sieht, gehen hetzende Netzaktivisten davon aus, dass im Vergleich zu den von ihnen vertretenen ‚Wahrheiten‘, die einem echten Patrioten unmittelbar einleuchten müssten, die Organe der etablierten Öffentlichkeit die ‚Sorgen‘ der wahren Deutschen ignorieren, absichtlich lauter ‚Lügen‘ verbreiten und überhaupt mit ihrem pluralistischen Geschwafel verwässern, was unrelativiert ausgesprochen gehört.

Durch die Radikalität, mit der Aktivisten dieser Gegenöffentlichkeit auf die verbindliche Durchsetzung ihres Verständnisses von ‚politisch korrekt‘ drängen, und die Masse der Follower, die sie vor allem über das Internet mobilisieren, sehen die etablierten Medien sich herausgefordert: Als berufene Organe einer verantwortungsvollen Pflege dessen, was sie als nationalen Konsens vertreten, bestreiten sie abweichenden Meinungen das angemeldete Recht auf Geltung und machen mobil für einen Kampf um die öffentliche Meinung.

II. Die etablierte Öffentlichkeit: verteidigt ihr Monopol

Bei der Abwehr von ‚Hetze‘ und ‚Unwahrheiten‘ weiß die etablierte Öffentlichkeit sich schließlich im Recht: Sie tritt mit dem Selbstbewusstsein in Erscheinung, im Gegensatz zur privaten Meinungsäußerung der alternativen Netzöffentlichkeit ein Garant für ‚Rationalität‘ zu sein. Als solcher wissen sich Journalisten den Kriterien der menschlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen … ‚Vernunft‘ ebenso verpflichtet wie einer sorgfältig abwägenden Meinungsbildung, bei der sie erstens verschiedene, auch konträre Positionen zur Sprache bringen und diese zweitens nach anerkannten Maßstäben reflektieren. Daher sehen sie sich auch berufen, überhaupt zu unterscheiden, was ‚unwichtig‘ und was ‚wichtig‘, und damit zu entscheiden, was Gegenstand öffentlicher Wahrnehmung wird.

Für ihre ‚Seriosität‘ hat die etablierte Öffentlichkeit einiges vorzuweisen: Im Unterschied zu ihren Verächtern im Netz, die amateurhaft private Ansichten und nicht selten ‚Fakes‘ in Umlauf bringen, recherchiert sie die Faktenlage sorgfältig und berichtet gewissenhaft. Die Professionalität des Berufsstandes, der eine Ausbildung und oft ein Studium voraussetzt, und die bezahlte Anstellung bei irgendeinem bekannten Medienorgan adeln die Betreffenden als fachkundige Journalisten – die Berufsausübung selbst begründet ihre Autorität, die für die Geltung dessen bürgt, was immer sie der Welt mitzuteilen haben.[2]

Nach eigener Auffassung liegt nicht zuletzt in der Art und Weise, in der Vertreter etablierter Medien Zeitungen, Fernseh- oder Radiosendungen füllen, begründet, dass sie ihrer Profession als ‚seriöse‘ Öffentlichkeit gerecht werden. Die fängt mit einer methodischen Trennung zwischen Information und Kommentar an. Die formelle Disziplin beglaubigt die Reflektiertheit der Branche, ihr der ‚Sachkenntnis‘ verpflichtetes Problembewusstsein, das wiederum verbürgt, dass beide Abteilungen allgemeingültigen Charakter haben. Auf der einen Seite gilt das Ideal der ‚Sachlichkeit‘, wird im nüchternen Ton über ‚die Lage der Dinge‘ berichtet, die man sich von den herrschenden Verhältnissen vorgeben lässt: Journalisten sortieren ihre Nachrichten nach Ressorts und definieren damit, was überhaupt und in welcher Hinsicht von öffentlichem Interesse ist; zur Kenntnis gebracht werden Informationen zu Wirtschaft, Politik, Kultur und Sport vom Standpunkt der jeweiligen Rubrik, also nach deren Erfolgsmaßstäben als die gültige ‚Realität‘. Auf der anderen Seite geben Journalisten ihr persönliches Statement zu verschiedenen Fakten ab. Auf die Ebene subjektiv-partikularer Anschauungen wollen sie sich mit ihren Kommentaren aber keineswegs begeben; von gewöhnlichen Bloggern, die mit ihrer privaten Befindlichkeit nicht an sich halten können, heben sie sich ganz entschieden ab, schließlich sind sie von anerkannten Medien bezahlte Berufsjournalisten, die ihre parteilichen Stellungnahmen durch ordentliche Informationen fundiert und im Geiste einer wohl abwägenden Verantwortung für lauter anerkannte Maßstäbe verfertigen.

Den ‚Tatsachen‘ verpflichtet, lassen sie zuallererst diejenigen zu Wort kommen, die es wissen müssen, weil sie das Sagen haben, nämlich kraft ihrer ökonomischen Macht oder ihres staatlichen Amtes über die Faktenlage entscheiden, also die Realität herstellen, über die die Presse informiert. Wirtschaftskapitäne und Politiker werden zitiert oder interviewt, weswegen ein guter Draht zu den Mächtigen zum Handwerkszeug eines ‚seriösen‘ Journalisten gehört; der Presseausweis und erst recht die Mitgliedschaft in der Bundespressekonferenz adeln ihn wiederum als echten Profi, der sein Handwerk versteht. Das besteht darin, dem Volk zu vermitteln, was die wirklich Verantwortlichen beschließen und als guten Sinn ihrer Verfügungen verlauten lassen – in aller gebotenen kritischen Distanz, wie sie sich für eine freie Öffentlichkeit gehört. Konzernlenkern und der politischen Herrschaft treten die etablierten Medien vom Standpunkt einer eigenständigen Instanz gegenüber, die deren Schalten und Walten mit dem Anspruch einer Rechenschaftspflicht begegnet und sie entlang der von ihnen selbst propagierten oder ihnen unterstellten verantwortungsvollen, also im Prinzip von allen zu respektierenden Aufgaben und eigentlichen Pflichten gegenüber den berechtigten Ansprüchen der Bevölkerung misst, würdigt, aber auch verurteilt. Als deren öffentliches Organ stellt sich die ‚seriöse‘ Öffentlichkeit gegenüber den wirklichen Entscheidungsträgern auf und pflegt dafür ein offenes Ohr für die Bedürfnisse und Nöte aller Bürger. In der Hinsicht kommt es ihr vor allem auf die Authentizität ihrer Berichterstattung an: Es wird von der Gartenzaun-Front berichtet und durch Schlüssellöcher gelinst, Passanten werden auf der Straße befragt und Mitteilungen über irgendein Geschehnis mit der privaten Betroffenheit von Frau Müller eingeleitet. Der Privatmensch kommt dabei mit seiner Auffassung immer exemplarisch vor – als Angestellter, Steuerzahler, Flughafenanwohner, Wähler, Arbeitsloser, Pflegefall, Deutscher, Mensch … also als Vertreter einer anerkannten Gruppierung, für die Journalisten ihn gerade sprechen lassen wollen. Mit seinen Sorgen, Nöten und Meinungen fungiert er als Kronzeuge einer Pro- und Kontra-Abwägung, die Journalisten vom Standpunkt ihrer Parteilichkeit für das kapitalistische Allgemeinwohl, eine gerechte Staatsgewalt, die deutsche Heimat, die Menschheit oder sonst ein unumstößliches Ideal der herrschenden Verhältnisse wälzen und für mitteilenswert halten. Der besondere Reiz daran: Für ihre Botschaft spricht nichts so sehr wie die inszenierte Nähe zum Volk, die Leibhaftigkeit der Gestalten, denen sie ihr Mikro vor die Nase halten.

Insofern kommen die Organe der etablierten Öffentlichkeit mit konträren Meinungen sehr gut zurecht. Wenn jedoch eine nicht zu ignorierende Masse an Bürgern sich diese Repräsentation nicht länger gefallen lassen will, mit eigenen Vorstellungen zur gebotenen Political Correctness auf Verallgemeinerung drängt, mit den überkommenen und von der ‚seriösen‘ Presse gepflegten Maßstäben des nationalen Konsenses bricht, die etablierten Medien deswegen ausdrücklich für ihre ‚falschen‘ parteilichen Stellungnahmen kritisiert, darüber hinaus methodisch als ‚Lügenpresse‘ anfeindet und für all das (hauptsächlich, aber nicht ausschließlich) das Internet als Instrument unmittelbarer Öffentlichkeit benutzt – dann ist die demokratische Öffentlichkeit sich eine ‚kritische Auseinandersetzung‘ entlang der umstrittenen Themen schuldig und fährt dafür all ihre Instrumente einer verantwortungsvollen Volksbetörung auf: [3]

  • Gerne werden die Vertreter der Standpunkte, die aus dem Rahmen dessen fallen, was die ‚seriösen‘ Medien als ‚politisch korrekt‘ vertreten, persönlich geächtet und aus dem Kreis anständiger Gesinnungsgenossen ausgegrenzt. ‚Realitätsverweigerer‘ sperren sich gegen die höhere Vernunft der ‚Realität‘, als die die parteiliche Sorge der etablierten Medien für die herrschenden Verhältnisse daherkommt; ‚Putinversteher‘ können dem personifizierten Bösen, als das die Presse den russischen Staatschef moralisch einsortiert hat, tatsächlich etwas abgewinnen … – so werden die politischen Gegensätze zwischen den ‚seriösen‘ Medien und empörten Patrioten gleich als deren unvernünftiger, unwürdiger, unpatriotischer … Charakter präsentiert, der üble Nachrede verdient hat. Das erspart einem ernsthaften Journalisten, sich für eine umfassende Kritik überhaupt auf die ‚absurden‘ Ansichten einlassen zu müssen, die damit auf einen Schlag ins moralische Abseits befördert werden; was nicht heißt, dass sich das nicht auch an diesen Ansichten ausdrücken ließe.
  • Abweichende Meinungen werden z.B. zitiert und unter dem Titel ‚einfache Antworten‘ zusammengefasst. Die Lebensweisheit: ‚warum es sich schwer machen, wenn es auch einfach geht‘, gilt hier mal nicht; ihnen begegnet die seriöse Presse stattdessen mit dem methodischen Hinweis, dass die ‚Realität‘ doch etwas ‚komplizierter‘ sei. Weil die politischen Urteile, die ‚einfache Antworten‘ heißen und Journalisten überhaupt zur Kritik bewegen, die Relativierung an den von ihnen gewissenhaft verkörperten Maximen des herrschenden ‚Realismus‘ vermissen lassen, werden sie als zu dämlich, inkompetent, also als unbefugt beschimpft.
  • Daneben findet natürlich auch eine weitergehende Befassung mit der umstrittenen Political Correctness der Gegenöffentlichkeit statt. Angesagt ist die Methode des ‚Fakten-Checks‘, mit der ‚Fake News‘ entlarvt werden sollen. Sie verdankt ihr Material dem Umstand, dass einige Vertreter der Netzöffentlichkeit sich auf das Erfinden von Fakten verstehen: Sie verbreiten Gerüchte und Mutmaßungen wie Tatsachenbehauptungen, weil die berichtete Sache für sie sowieso nur als Beispiel und Beleg für deren Interpretation im Lichte einer fix und fertigen politischen Gesinnung dient. Der versichert man sich durch Lügen ebenso gut wie mit Hinweisen auf tatsächliche Ereignisse. Dem gegenüber bestreiten die ‚seriösen‘ Medien – denen diese Logik der Beweisführung, gerade in Zeiten von Skripal, Syrien, Trump und Flüchtlingsproblematik, alles andere als wesensfremd ist – ausgerechnet die Stichhaltigkeit der ‚Beweisführung‘, auf die es eh nicht ankommt. Das macht jedoch nichts, weil es einzig darum geht, den Betreffenden als unwissenden Dummkopf bzw. Lügner zu diffamieren. Schlussendlich kontern die ‚seriösen‘ Medien in ihren ‚Fakten-Checks‘ unliebsame Fakten der Gegenöffentlichkeit selbst mit anderen, ihnen genehmen Tatsachen, womit sie beweisen, dass auch sie deren Tour beherrschen, diese für ihre feststehenden Deutungen sprechen zu lassen. Das macht überhaupt den Reiz aus, von sich aus immerzu auf ‚Fakten‘ zu pochen: Deren Eigenschaft, dass es sie unbestreitbar gibt, soll die Unwidersprechlichkeit von etwas ganz anderem beglaubigen, dass nämlich bestimmte Tatsachen bestimmte Standpunkte erfordern, die man zu ihnen einzunehmen hat – und die sich aus den reinen Tatsachen überhaupt nicht bzw. nur durch deren parteiliche Auslegung ergeben.
  • Dass die Gegenöffentlichkeit sich durch die ‚seriöse‘ einfach nicht zur ‚Vernunft‘ bringen lässt, veranlasst diese zu einer methodischen Selbstkritik. Die etablierten Medien gehen so selbstverständlich davon aus, dass das freie Meinen der Bürger Werk ihrer Betreuung und Belehrung ist, dass, wenn sich rechte, populistische, hetzende Nationalisten bis hin zur wählbaren ‚Alternative für Deutschland‘ etablieren können, ihnen etwas aus dem Ruder gelaufen ist und sie etwas falsch gemacht haben müssen. Dementsprechend fällt ihre Manöverkritik wenig bescheiden aus: Nach dem Motto: wenn man die Adressaten ihrer Öffentlichkeitsarbeit nur gut genug über die Notwendigkeiten der Herrschaft aufklärte, erübrigte sich allzu grundsätzliche Kritik, wälzen sie die Überlegung, es angesichts von so viel Gegenwind wohl versäumt zu haben, die Sinnhaftigkeit politischer Entscheidungen, die eigentlich noch jeden vernünftigen Patrioten letztlich überzeugen muss, ‚richtig‘ zu vermitteln. Des Weiteren wird nachträglich mit der verpassten Option geliebäugelt, ob man die Anfeindungen des politischen Common Sense nicht besser hätte totschweigen und so in den Rang gesellschaftlich unwichtiger Randerscheinungen befördern sollen, statt sie durch ihre mediale Bekämpfung erst richtig bekannt und wichtig zu machen. Der etablierten Presse ist die Macht ihres Monopols, das durch ihre Berichterstattung das Berichtete zum Teil des politischen Lebens macht, so sehr zu Kopf gestiegen, dass sie den Erfolg ihrer Widersacher gleich vom Standpunkt ihres Manipulationsideals zur Kenntnis nimmt, dass nämlich ihr ‚seriöses‘ Berichten im Prinzip mit der Überzeugung der Massen zusammenfällt. Umgekehrt fragen Journalisten sich, ob sie die berechtigten ‚Sorgen‘ des Volkes in der Vergangenheit nicht zu wenig ernst genommen haben, wenn es ihnen nun nicht mehr folgt. Die vernachlässigte Einwirkung auf den Meinungshaushalt empörter Wutbürger holen sie mit einer opportunistischen Mischung aus Anerkennung und Zurückweisung nach: Aufgeregte Blogbeiträge, die als gesellschaftliches Maß der Dinge verstanden sein wollen, werden von den ‚seriösen‘ Medien gewürdigt – als ein Beitrag zum Meinungspluralismus, den sie vom Standpunkt ihrer Verantwortung für die Normen der Gesellschaft veranstalten.
  • Um der verkehrten Netzöffentlichkeit im Internet das Wasser abzugraben, gehören Netzangebote mit Kommentarfunktion und twitternde Redakteure heute zur Grundausstattung aller Presseorgane. Zum anderen bringen sie selber all das zur Anwendung, was sie der Gegenöffentlichkeit als manipulative Technik vorwerfen: kehren ihr eigenes Mitgefühl heraus, urteilen aus dem Bauch heraus oder erzählen menschlich ergreifende Geschichten, um die Emotionen ihrer Leser anzusprechen; bieten selber möglichst überschaubare Antworten in Sendungen wie „#kurzerklärt“; erfinden neue Sendeformate, in denen etwa Jugendliche mit einer speziell unernsten Perspektive auf das Weltgeschehen über dieses berichten, um jugendliche Handynutzer für die Nachrichten eines Senders zu gewinnen, usw.

So bekennt die ‚seriöse‘ Öffentlichkeit sich durch die praktische Anwendung ihrer Methoden, durch ihre Selbstgespräche und manchmal auch explizit [4] zu dem anspruchsvollen Selbstverständnis, dass es ihr gutes Recht ist, sich als das einzig wahre Organ der Pflege der gültigen Political Correctness in der Konkurrenz um die Indoktrination ihres Publikums erfolgreich zu behaupten.

*

Indem der Journalistenstand seinem Ethos, die Ausübung ökonomischer und politischer Macht mit den Sorgen und Meinungen der Bürger zu vermitteln, durch seine Arbeit praktisch gerecht wird, leistet er in der Sache einiges: In seiner Selbstverpflichtung auf das, was allgemein wichtig ist und allgemein gilt, unterscheidet er zwischen ‚unrechtmäßigen‘ Standpunkten, ‚überzogenen‘ Forderungen und wohlverstandenen Interessen. Ausgehend vom Standpunkt der Verantwortung für die Maximen des Gemeinwesens und seiner Herrschaft werden private Meinungen zitiert – als partikulare Auffassungen in einem pluralistischen Diskurs anerkannter Forderungen, die sich eine Relativierung an der wirtschaftlichen und politischen ‚Vernunft‘ und, darin eingeschlossen, den Interessen der ökonomisch herrschenden Klasse kapitalistischer Eigentümer und der staatlichen Gewalt gefallen lassen müssen. Eine freie demokratische Presse entfaltet ihre Macht als ‚vierte Gewalt‘ durch die Subsumtion aller Nörgeleien von unten unter die Maßstäbe ihrer parteilichen Affirmation der Verhältnisse, welche die Staatsgewalt herstellt und garantiert. Ständig gepflegt wird so die geistige Beheimatung aller privaten Urteile in einem breiten Spektrum aus anerkannten Sorgen und berechtigter Kritik, in denen die diversen Unzufriedenheiten des informierten Publikums mit einer konstruktiven Verantwortung für den kapitalistischen Staat kurzgeschlossen werden.

III. Der Staat: herausgefordert, die Leistung von Meinungs- und Pressefreiheit zu sichern

Wegen der Leistung, die die ‚seriöse‘ Öffentlichkeit für die politische Meinungsbildung erbringt, wird sie von Politikern nicht nur gerne in Anspruch genommen; zu der hat der Gesetzgeber sie mit der Lizenz zur Presse- und Meinungsfreiheit ermächtigt. Das Zugeständnis macht er nicht nur Medienanstalten, sondern all seinen Bürgern. Daran, wozu die ihre Freiheit nutzen und vermittels des Internets in neuer Weise nutzen können, bemerkt der Staat, was für einen Sauhaufen er regiert. Durch den sieht er sich auf ganz unterschiedliche Weise herausgefordert: Die Kultur der wechselseitigen Beleidigung und Hetze mit ihren fließenden Übergängen zur Evozierung von Straftaten und zum tätlichen Übergriff auf seine Schutzgüter Eigentum und Person gehört geregelt – im Internet, wo all das zwar nicht erst entsteht, aber durch einen universellen und halbwegs anonymen Zugang massenhaft aufblüht und obendrein gespeichert und der Allgemeinheit zugänglich gemacht wird, soll nicht erlaubt sein, was in allen anderen Sphären des bürgerlichen Lebens längst nach Recht und Gesetz verboten ist. Wenn sich darüber hinaus empörte Bürger, die dem von Staatsrepräsentanten vertretenen politischen Konsens oder gar der Staatsräson die Anerkennung verweigern, über das Internet Gehör verschaffen, auf die Allgemeingültigkeit ihrer politischen Auffassungen pochen und auch vor Aufrufen zu Tätlichkeiten nicht zurückschrecken, gilt es das Recht des Volks auf öffentlichen Frieden sicherzustellen. Dafür ist zum einen der Verfassungsschutz zuständig, der immer schon, bevor es überhaupt zu einer Straftat kommt, politische Standpunkte auf ihre Abweichung vom Konsens prüft, den die Staatsgewalt sich und der Gesellschaft mit ihrer Verfassung verordnet; das bevorzugte Medium Internet erfordert neben rechtlichen Befugnissen die technische Aufrüstung der Behörde, macht deren Schnüffelarbeit insgesamt aber eher einfacher. Zum anderen verfügt der Rechtsstaat längst über die nötigen Paragraphen, die die ‚Gefahren‘ kriminalisieren, die von einem wütenden rechten Mob, islamistischem Terror oder anderen ‚Gefährdern‘ ausgehen.

Weder in Bezug auf Beleidigung, Mobbing und andere Rohheiten im privaten Meinungsaustausch noch auf politischen Aufruhr und Einmischungsversuche fehlt es an Gesetzgebung, die das Erlaubte vom Verbotenen scheidet und den Bürgern den fälligen Gehorsam abverlangt.[5] Nachholbedarf entdeckt der Staat bezüglich der Durchsetzung geltenden Rechts in der Sphäre, in der sich Massen seiner Bürger seit geraumer Zeit dank der technischen und ökonomischen Besonderheiten des Mediums ohne Rücksicht auf irgendwelche Paragraphen, also sehr unkontrolliert austoben. Soziale Netzwerke und Blogging-Plattformen sind für jede Privatperson und im Prinzip weltweit zugänglich; wer will, bleibt dabei erst einmal anonym; was dort gepostet wird, lässt sich leicht vervielfältigen und wird vor allem gespeichert – von privat kalkulierenden Plattformbetreibern, die mit der Bereitstellung von Tweet- und Blogging-Möglichkeiten ihr Geschäft machen, sich für die verbreiteten Inhalte unzuständig erklären, aber ansonsten auf ihrem Recht als Eigentümer bestehen, also identitätsbezogene Daten nicht einfach rausrücken. Einen rechtsfreien Raum im Cyberspace räumt der Staat dem Meinungskampf seiner Bürger aber selbstverständlich nicht ein. Und da Appelle an die Social-Media-Konzerne, sich selbst zur Überprüfung der geäußerten Inhalte bereitzufinden, um sie gegebenenfalls zu entfernen oder zu melden, wenig gefruchtet haben, verpflichtet sie nun ein Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Medien (NetzDG) zu genau der Kontrollleistung, die sie nicht freiwillig erbringen: Es bezieht sich auf soziale Netzwerke mit mehr als zwei Millionen Nutzern im Inland (§ 1), definiert Bedingungen einer Berichtspflicht, wonach Beschwerden über rechtswidrige Inhalte regelmäßig offenzulegen sind (§ 2), regelt Beschwerdewege, den Umgang mit offensichtlich und weniger offensichtlich rechtswidrigen Inhalten, Lösch- und Speicherfristen (§ 3), legt Bußgelder fest, die bei Zuwiderhandlung fällig werden (§ 4), und verpflichtet zur Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten im Land, der dem Gesetzgeber als Anlaufstelle dient (§ 5).[6] Dass es dem Gesetzgeber um die Durchsetzung eines Katalogs seiner Rechte in sozialen Medien geht, ist das Eine. An der im NetzDG geregelten Form der Verbesserung der Rechtsdurchsetzung wird allerdings ersichtlich, dass zugleich mehr beabsichtigt ist. Dessen Sinn und Zweck besteht – im Gegensatz zur juristischen Verfolgung von Delikten, nachdem diese ruchbar oder zur Anklage gebracht worden sind – darin, rechtswidrige Meinungsäußerungen präventiv, also noch bevor sie überhaupt zum Gegenstand der Justiz werden, auszusortieren und so deren Verallgemeinerung vorauseilend zu verhindern. Die Meinungsäußerung der Bürger im Netz soll zivilisiert, die sittliche Empörung nachhaltig eingehegt werden. Dafür wird den diversen Konzernen eine andere Stellung zum Stoff ihres Geschäfts aufgenötigt und damit ein Moment staatlicher Gewaltanwendung privatisiert: Als Monopolisten über die technischen Grundlagen einer massenhaften alternativen Öffentlichkeit sind Facebook, YouTube, Twitter und Co dazu angehalten, die Perspektive der ‚seriösen‘ Öffentlichkeit in ihre Betriebskalkulation mit aufzunehmen, die private Meinungsäußerung ihrer User vom Standpunkt der Verantwortung für die Maximen des nationalen Konsenses zu moderieren, zuzulassen oder bedarfsweise zu unterdrücken. Sie sollen beim Gewinnemachen mit ihren Portalen Hilfsdienste bei der Erfüllung des öffentlichen Auftrags leisten, die kriminalisierten Übergänge von der berechtigten, praktisch belanglosen Meinung zu rechtswidrigen Übergriffen zu identifizieren und durch deren Löschung öffentlich wirkungslos zu machen.

So ergeht an dieser Front die praktische Klarstellung: Die Freisetzung der Meinung, die Lizenz sogar zur Kritik an der Politik und ihren Machern, ist ein Feld permanenter hoheitlicher Kontrolle und rechtlicher Einhegung – nötig, um ständig unzufriedenen Bürgern den Widerspruch abzuringen, sich eine freie Meinung im Einklang mit dem staatlich verordneten und von der etablierten Öffentlichkeit immerzu gepflegten nationalen Konsens zu bilden.

IV. Social Media: nationaler Besitzstand und Instrument imperialistischer Einflussnahme

Die Organe der öffentlichen Meinungspflege sind als Machtfaktor nicht nur im eigenen Land geschätzt. Solange es Medien gibt, über die sich Botschaften ans Volk vermitteln lassen, dienen sie Staaten, vor allem solchen vom Kaliber übergriffiger Ordnungsmächte, als Instrument, am eigenen Interesse ausgerichtete Nachrichten in fremdes Hoheitsgebiet hinein zu verbreiten. Im Zeitalter des Internets, das ganze Völker bis in die Privatsphäre hinein vernetzt, also unmittelbar zugänglich macht, bedienen sie sich neben anderen Kommunikationskanälen vermehrt auch der sozialen Netzwerke zur Einflussnahme auf die politische Willensbildung fremder Staatsangehöriger. Sie bestehen auf dem Recht, andere Völker mit ihren guten Werten zu beglücken; sie nutzen die Social Media als Hebel gerechter Subversion, um die Bevölkerungen fremder Staaten als Gegenöffentlichkeit zu mobilisieren und gegen unliebsame Regierungen aufzuhetzen.[7] Den privaten Usern mag sich das www als Ort für mitteilungsfreudige Zeitgenossen darstellen, wo sie ihrer freien Entfaltung nachgehen, in der Sache ist es ein Kampfplatz imperialistischer Staaten. Die nutzen neben der freien Zugänglichkeit und Anonymität, die das Internet bietet, vor allem das Mittel, aus dem die Netzöffentlichkeit ihre Überzeugungskraft schöpft: die pure Masse an Stellungnahmen und geteilter Zustimmung. Dafür etablieren sie ein professionelles Trollwesen und lassen IT-Spezialisten passende Bots programmieren, welche die Vervielfältigung von Meinungen automatisch betreiben und mit dem so erzeugten Schein der Vielheit einer politischen Auffassung deren grenzenlose Gültigkeit beglaubigen sollen.

Was nach außen übergriffige Staaten jeweils als ihr gutes Recht reklamieren, bestreiten sie ihren Konkurrenten unter dem Titel ‚unrechtmäßige Einflussnahme‘. Kaum werden Versuche aus dem Ausland registriert, sich in die Meinungsäußerungen sozialer und anderer Medien einzuklinken, wird das als Angriff auf die Nation verbucht. In dem Sinn wird aktuell vor allem Russland beschuldigt, über soziale Netzwerke und eigene Blogs mit ‚russischer Propaganda‘ und ‚Falschmeldungen‘, unter anderem vor Präsidenten-, Bundestags- oder Brexit-Wahlen, Einfluss auf die politische Willensbildung in westlichen Demokratien zu nehmen. Deren Geheimdienste und Politiker zeigen sich ziemlich unbeeindruckt davon, ob solch eine Einflussnahme wirklich stattfindet oder praktisch überhaupt zu bemerken ist; sie halten eisern an dem Verdacht gegenüber Russland fest, ordnen dem irgendwelche Indizien als ‚Beweismaterial‘ zu und erheben so – wie im Falle der amerikanischen National Security Strategy – eine Verschwörungstheorie ganz offiziell in den Rang einer Regierungserklärung. In dem Geiste wird Putin in einer Weise angefeindet, die unterstreicht, dass Russland sich an der Souveränität anderer Staaten vergreift. Dass Parteien ihr Wahlvolk mit Werbung belämmern, um deren Unzufriedenheiten und Forderungen auf die eigenen Mühlen zu lenken und den Kampf um die Herrschaftsausübung für sich zu entscheiden, dafür Userdaten kaufen, damit sie wissen, bei wem sich Türklinkenwahlkampf, Flyer und Onlinewerbung besonders lohnen, geht völlig in Ordnung. Wenn allerdings fremde Staaten sich eigenmächtig in irgendeiner Form in die private Meinungsäußerung einklinken, ist nicht vom Ge-, sondern ‚Missbrauch‘ von Medien die Rede, sehen um ihre Nation besorgte Politiker rote Linien überschritten, die vor allem eines klarstellen: Der herrschaftsfreie Dialog im Internet, ein wesentlicher Bestandteil der Privatsphäre eines großen Teils seiner Bürger, ist ebenso wie andere Formen der Meinungspflege ein nationaler Besitzstand, über den die politische Herrschaft nach eigenem Ermessen verfügt. Daher sehen alle Staaten in einer Meinungsmache im eigenen Land, die ohne ausdrückliche Lizenz von anderen Mächten ausgeht, sich angegriffen – in ihrer Eigenschaft als höchste Gewalten, die souverän und im Interesse der Loyalität ihrer Völker über die Modalitäten der politischen Meinungspflege in ihrem Laden verfügen. Praktisch bekennen sich Staaten so erstens zu der äußerst schlechten Meinung von ihrem Volk, das sie jeder Einflüsterung hinterherlaufen sehen, sowie zweitens zu ihrem Anspruch, dass die öffentliche Meinungsbildung und -äußerung, egal wo sie stattfindet, das Reich ihrer Manipulation zu sein hat.

[1] Diese Art des Urteilens reiht sich ein in ein Spektrum der immergleichen Fehler, die Bürger beim Kritisieren pflegen. Dass sie nicht nur in theoretischer Hinsicht verkehrt ist, sondern freie Individuen zu perfekten Mitmachern bei genau den Verhältnissen qualifiziert, über die sie sich (meist negativ) auslassen – das ist Gegenstand in dem Artikel: Kritik – wie geht das?, erschienen in GegenStandpunkt 4-13.

[2] Dass sich an der Professionalität eines Journalisten entscheidet, ob seine Veröffentlichungen ‚Qualitätsjournalismus‘ sind und darum Gültigkeit beanspruchen dürfen, bezeugen unter anderem auch die paar Kandidaten, die den Übergang vom bloß privaten Meinen zum anerkannten Organ der Öffentlichkeit hinlegen: Blogger, deren politische Kommentare von so vielen Followern geteilt werden, dass sie von Werbe- und anderen Einnahmen leben und ihr Informations- und Beschwerdewesen beruflich betreiben können. Soweit sie als bloggende Journalisten anerkannt werden, spricht nicht mehr bloß die Masse ihrer Anhänger, vielmehr ihr neuer Status für die Gültigkeit ihrer Meinung.

[3] Zwei Exempel dafür, wie und womit die freie Presse das Volk betört, sind nachzulesen in GegenStandpunkt 2-18: Früchte der österlichen Zeitungslektüre. Die ‚vierte Gewalt‘ erzieht ihr Volk.

[4] Der frühere Chef der Bildzeitung Kai Diekmann zitiert Hanns Joachim Friedrichs –

Das hab’ ich in meinen fünf Jahren bei der BBC in London gelernt: Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein. Nur so schaffst du es, daß die Zuschauer dir vertrauen, dich zu einem Familienmitglied machen, dich jeden Abend einschalten und dir zuhören. (Interview mit dem Spiegel, Nr. 13/1995 vom 27.3.1995)

– um sich für das Gegenteil stark zu machen:

,Diesen Satz habe ich schon immer für falsch gehalten‘. Diekmann hatte weit ausgeholt, er wollte die ,Bild‘-Kampagne ,Refugees welcome‘ genauso rechtfertigen wie die Kampf-Artikel der ,Bild‘ gegen die AfD. Für oder gegen eine Partei in den Kampf zu ziehen, wäre Hanns Joachim Friedrichs wohl nie in den Sinn gekommen. Insofern outet sich Diekmann zu Recht als Anti-Friedrichs und bekennt sich zum Kampagnen-Journalismus. (Interview für die ARD-Dokumentation Nervöse Republik, rnd-news.de)

 In schweren Zeiten ist offenkundig neben den Tugenden des pluralistischen Relativierens auch unverhohlene Propaganda und Hetze unverzichtbar.

[5] Straftatbestände, die das Netzwerkdurchsetzungsgesetz erfasst, sofern keine Rechtfertigungsgründe vorliegen (nach StGB): Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen (§ 86), Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a), Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§ 89a), Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§ 91), landesverräterische Fälschung (§ 100a), öffentliche Aufforderung zu Straftaten (§ 111), Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten (§ 126), Bildung krimineller Vereinigungen (§ 129), Bildung terroristischer Vereinigungen (§ 129a), kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland (§ 129b), Volksverhetzung (§ 130), Gewaltdarstellung (§ 131), Belohnung und Billigung von Straftaten (§ 140), Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen (§ 166), Zugänglichmachen kinderpornographischer Inhalte mittels Rundfunk oder Telemedien; Abruf kinderpornographischer Inhalte mittels Telemedien (§ 184b in Verbindung mit § 184d), Beleidigung (§ 185), üble Nachrede (§ 186), Verleumdung (§ 187), Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen (§ 201a), Bedrohung (§ 241), Fälschung beweiserheblicher Daten (§ 269).

[6] gesetze-im-internet.de

[7] Siehe z.B. die Rolle der westlichen Medien, Radio Free Europe / Radio Liberty und die Deutsche Welle, die eigens für den Zweck erfunden und eingerichtet worden sind, in die osteuropäischen Länder hineinzufunken, dort Meinung zu bilden, damit die dortigen Völker ihrer Herrschaft den Gehorsam aufkündigen, gefolgt von den lebhaften Bemühungen darum, dort die passenden Parteien zu gründen, damit der Wähler nichts ‚falsch‘ machen kann; da bewähren sich vor Ort v.a. die deutschen Parteistiftungen, Friedrich-Ebert- und Konrad-Adenauer-Stiftung, die mit viel Geld und guten Worten unermüdlich tätig sind. Siehe z.B. den von deutschen Reportern und Politikern heftig betreuten Euromaidan in der Ukraine sowie die amerikanische Patronage, bei der Frau Nuland gleich auch noch die personelle Besetzung der Putsch-Regierung in die Hand genommen hat, oder die Fälle von Regime-Change, die oftmals gleich ganz ohne Wahlkampf betrieben worden sind. Siehe z.B. der Umgang mit dem IS als Anlass für Aufrufe zu einem beherzteren westlichen Propagandakrieg mittels Counter-Narratives – nach dem Motto: was ‚die‘ können, können ‚wir‘ schon lange und besser.