Früchte der österlichen Zeitungslektüre
Die ‚vierte Gewalt‘ erzieht ihr Volk

Die freie Presse macht sich schon seit einiger Zeit Sorgen um das Volk. Viel zu viel Verständnis in viel zu großem Maße zeigen die Deutschen für ausländische Autokraten, kein Verständnis zeigen sie wiederum für Ausländer in Deutschland, deswegen auch nicht für die Verantwortlichen der offiziellen Ausländer- und speziell Flüchtlingspolitik. Immer vernehmbarer äußern sie ihren Missmut über und ihr Misstrauen in die etablierten Organe der freien Öffentlichkeit. Genügend von ihnen haben eine Partei zur drittstärksten Kraft im Bundestag gemacht, die nicht nur rechts neben dem bisherigen Konsens der deutschen Parteienlandschaft liegt, sondern sich auch feindlich gegen das ganze ‚Establishment‘ richtet. Spätestens dann steht für die freie Presse ein Hauptschuldiger für all die Probleme fest, die sie mit dem Betragen des deutschen Volkes hat: die Netzöffentlichkeit, die mit einigem Erfolg die Domäne der freien Meinungsbildung gestört hat. Sie führt einen Kampf gegen den Mist, der in der Netzwelt gebaut wird und sagt gleich dazu, worum es ihr dabei geht: nicht bloß um die Zurückweisung missliebiger Meinungen, sondern vor allem um die Rückgewinnung von ‚Vertrauen‘. Das ist schon ein deutlicher Hinweis darauf, dass es ihr um ihre eigene Stellung in der demokratischen Öffentlichkeit geht – als eine anerkannte Autorität, die so frei wie maßgeblich das Wie und letztlich das Was des freien Meinens in Deutschland bestimmt. Sie schickt sich an, den offiziellen Status zurückzugewinnen, für den ihr einmal der Ehrentitel ‚vierte Gewalt‘ verliehen worden ist. Wie sie das macht, kann man jeden Tag in Zeitung, Funk und Fernsehen besichtigen. Auch am langen Osterwochenende. Dazu zwei Fallstudien.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

Früchte der österlichen Zeitungslektüre
Die ‚vierte Gewalt‘ erzieht ihr Volk

Die freie Presse macht sich schon seit einiger Zeit Sorgen um das Volk. Anlässe dazu kennt sie viele, vor allem im politischen Verhalten der Deutschen: Viel zu viel Verständnis in viel zu großem Maße zeigen sie für ausländische Autokraten, die die deutsche Politik nicht leiden kann, frei denkende Menschen also aus Prinzip ablehnen sollen. Kein Verständnis zeigen sie wiederum für Ausländer in Deutschland, deswegen auch nicht für die Verantwortlichen der offiziellen Ausländer- und speziell Flüchtlingspolitik, obwohl die nicht autoritär verkündet, sondern mit deutschem Nutzen und demokratischen Werten gerechtfertigt wird. Immer vernehmbarer und auf der Straße äußern sie ihren Missmut über und ihr Misstrauen in die etablierten Organe der freien Öffentlichkeit, und zwar nicht nur in die öffentlich-rechtlichen, die auch noch mit Steuergeldern betrieben werden – manche von ihnen sind sogar auf das böse Wort ‚Lügenpresse‘ gekommen. Genügend von ihnen belassen es nicht bei ihrer Unzufriedenheit mit Politik und Presse, sondern gehen zum Protest über: Sie haben eine Partei zur drittstärksten Kraft im Bundestag gemacht, die nicht nur rechts neben dem bisherigen Konsens der deutschen Parteienlandschaft liegt, sondern sich auch feindlich gegen das ganze ‚Establishment‘ richtet.

Zwar nicht erst, aber spätestens dann steht für die freie Presse ein Hauptschuldiger für all die Probleme fest, die sie mit dem Betragen des deutschen Volkes hat: die Netzöffentlichkeit, die mit einigem Erfolg die Domäne der freien Meinungsbildung gestört hat. Lobgesänge über die kommunikativen Möglichkeiten und Freiheiten des webbasierten Meinens sind Beschwörungen der Gefahr gewichen, die von so viel ungeregelter privater Verantwortungslosigkeit ausgeht – von einer Domäne, in der die etablierten Regeln, das Ethos und die Autorität der etablierten Medien nicht nur nicht gelten, sondern auch ausdrücklich zurückgewiesen werden. Das alles nimmt die freie Presse zwar nicht gerade sportlich, aber auf jeden Fall als Herausforderung an. Sie führt einen Kampf gegen den Mist, der in der Netzwelt gebaut wird; und sie sagt gleich dazu, worum es ihr dabei geht: nicht bloß um die Zurückweisung missliebiger Meinungen, sondern vor allem um die Rückgewinnung von ‚Vertrauen‘. Und das ist schon ein deutlicher Hinweis darauf, dass es ihr um ihre eigene überkommene, mono- oder jedenfalls oligopolistisch zu nennende Stellung in der demokratischen Öffentlichkeit geht – als eine anerkannte Autorität, die so frei wie maßgeblich das Wie und letztlich das Was des freien Meinens in Deutschland bestimmt. Sie schickt sich also an, den offiziellen Status zurückzugewinnen, für den ihr einmal der Ehrentitel ‚vierte Gewalt‘ verliehen worden ist.

Wie sie das macht, kann man jeden Tag in Zeitung, Funk und Fernsehen besichtigen. Auch am langen Osterwochenende. Dazu zwei Fallstudien.

I. Mit Fakten gegen Ausländerhass – oder doch nicht?

Inhaltlicher Dauerbrenner und prominentestes Ärgernis der professionellen Volkserzieher mit Presseausweis ist und bleibt die ungezügelte Ausländerhetze, die stets implizit oder explizit die Absage an sie und ihre Vermittlerrolle zwischen patriotisch verantwortlichem Volk und seinen politisch Verantwortlichen enthält. Pünktlich zu den Osterfeierlichkeiten des christlichen Abendlandes machen sich alle Printmedien – jede nach ihrer Fasson und redaktionell abgestimmt auf ihre jeweilige Leserschaft – daran, den freigesetzten Ausländerhass in den sozialen Medien zurechtzuweisen und sich so als das Korrektiv des politmoralischen Anstandes der Gesellschaft zu behaupten.

*

Da kommt der Bild der im Netz kursierende irre Streit um Osterhasen (Bild, 31.3.18) wie gerufen. Den Aufhänger bildet ein im Netz geposteter Kassenzettel, auf dem der Osterhase als Traditionshase bezeichnet wird:

„Vor allem von Rechtsaußen folgte in den sozialen Netzwerken prompt der Aufschrei: Darf in Zeiten von Flüchtlingskrise und muslimischer Zuwanderung der ‚Osterhase‘ nicht mehr auf dem Kassenzettel stehen – und an das christliche Osterfest erinnern? AfD Co-Chef Jörg Meuthen konstatierte auf Twitter sogar eine Unterwerfung Deutschlands unter den Islam.“

In ihrer volkstümlichen Art hat die Bild schon in ihrer Überschrift angekündigt, was sie davon hält: Au weia! Irre!

Und es ist ja tatsächlich irrsinnig: Spätestens seitdem die Anführer sächsischer Patrioten für ihren Haufen auf den Namen Pegida gekommen sind, ist es unter denen und allen ihren Gesinnungsgenossen Sitte, die eigene Ausländerfeindschaft und die damit verbundene Feindschaft gegen eine Politik, die ihnen die Anwesenheit von Fremden im eigenen Land zumutet, zur zutiefst berechtigten Sorge um eine höhere Wesenheit namens ‚Abendland‘ aufzublasen. Von dem wissen sie nur eines sicher, das aber umso mehr: Es geht unter, wenn sich die als Morgenlandbewohner identifizierten Flüchtlinge in ihm aufhalten, weswegen sie ebenfalls sicher sind, dass eine Verschwörung an höchster Stelle gegenüber jenem Abendland vorliegen muss, wenn massenweise morgenländische Migranten unsere abendländischen Gefilde bevölkern, uns also übervölkern. Diese Gewissheit entdecken sie dann, wohin sie auch blicken, und an jedem Einzelfall sehen sie wiederum bestätigt, wie richtig sie mit ihrer Generalsorge um das ganz große abendländische Ganze liegen: Es droht eine Islamisierung, was sich wiederum nur durch eine von der eigenen Politik betriebene Umvolkung erklären lässt. Also blicken sie auch überall hin, steigen jeder Kriminal- und Geburtenstatistik, jedem dunkelhäutigen Fahrradrowdy und falschgläubigen Fußballprofi hinterher, überprüfen folgerichtig auch beim Einkauf christlich-abendländischer Süßwaren ihre Kassenzettel mit dem gebotenen Ernst, werden – wen wundert’s – fündig und schlagen Alarm.

Wie gesagt – ein ziemlicher Irrsinn. Nur wie widmet sich dem die Bild? Sie knöpft sich den auch ihr wohlbekannten, von ihr nicht goutierten Standpunkt gar nicht erst vor. Sie steigt vielmehr gleich auf der Ebene des Ausgrenzungs- und Verfolgungswahns ein, der sich mit der höheren Weihe des christlichen Abendlands umgibt – und geht mit vollem Ernst der von ihr selbst als irre bezeichneten Frage nach, ob die Benennung von saisonal verkauften Milchschokoladenprodukten wirklich als Beleg für dessen Gefährdung gelten darf. In der Manier eines Faktenchecks stellt sie die fundamentale Frage, ob der Osterhase überhaupt in unseren christlichen Wertehimmel gehört oder nicht, und kommt diesbezüglich zu einem klaren, faktenbasierten „Nein“: Der vermehrungsfreudige Hase hat mit der Kreuzigung und Auferstehung Jesu, an die das Osterfest erinnert, nämlich nichts zu tun. Eher mit germanischen Frühlings- und Fruchtbarkeitskulten. Mit dem Nachweis der Nicht-Zugehörigkeit des Hasen zum christlichen Osterfest wird der Streit um den Kassenbon als Fehlalarm entlarvt, womit das Abendland vor den Alarmisten in Schutz genommen wäre, die die majestätische Sache zwar zu schützen vorgeben, diese aber nur banalisieren und missbrauchen.

Und weil es eben um eine solche geht, bleibt die Bild auch nicht beim Quidproquo von Fakten und deren auf Verbindlichkeit dringender sittlicher Einordnung. Sie lässt es sich nicht nehmen, einen Kronzeugen zu zitieren, der zwar einerseits bloß dasselbe sagt wie sie, der aber in seiner Person glaubwürdig belegen soll, dass der gemeinsame Standpunkt im Recht ist, als dessen Repräsentant er hier fungiert: Der CDU-Ministerpräsident von NRW – der Redaktion als NRW-Laschet bekannt – kommt zu Wort und darf für das Fehlalarm-Verdikt bürgen – und zwar mit der moralischen Autorität, die man ihm aufgrund seiner politischen Macht zuschreibt, als Christdemokrat erst recht. Als solcher hat sein Wort per se Gewicht, auf jeden Fall für die Bild, er hat – im doppelten Sinne des Wortes – ‚etwas zu sagen‘. Interessant ist, was: Wer Osterhasen zum Symbol des christlichen Abendlandes macht, weiß weder was christlich noch was Abendland ist. Mit diesem politmoralischen Expertenstatement führt Laschet – und durch ihn die Zeitung, die ihn zitiert – vor, was offensichtlich allen Beteiligten am Streit als Argument gilt: die Gleichung zwischen der Richtigkeit des eigenen Standpunkts und der moralischen Glaubwürdigkeit der Repräsentanten dieses Standpunkts. Diese Gleichung lässt sich anscheinend am besten so vorführen, dass man den Vertretern der Gegenseite eben diese autorisierte Glaubwürdigkeit abspricht – also auch die Kompetenz, sich überhaupt zur Sache äußern zu dürfen. Und damit kein Leser es verpasst, schreibt sie das noch einmal ausdrücklich so auf: AfD blamiert sich mit Anti-Islam-Alarm. Das ist schon die ganze Korrektur, die das Leitmedium für den kleinen Mann dem im Netz tobenden Ausländerhass an dieser Stelle entgegensetzt: Indem man ganz sachkundig nachweist, dass die AfD bei den Osterhasen völlig daneben gegriffen und sich damit also auf ihrem ureigenen Feld der christlich-abendländischen Heimatkunde als total inkompetent erwiesen hat, stellt man dieses selbsternannte politische Sprachrohr um ihre Heimat besorgter Bürger generell ins Abseits.

Womit die Bild dann sich als das Sprachrohr der Sorgen ins Spiel bringt, die nicht verwaisen sollen, bloß weil sie so unsachlich vertreten werden. Das tut sie in einem direkt daneben gestellten Kommentar und vermittels einer Konzession, die keine ist: Es stimmt: An vielen Stellen könnten sich Staat und Gesellschaft klarer zu den christlichen Wurzeln Deutschlands bekennen. Auf diese verlogene, vereinnahmende Tour werden die Sorgen um das christliche Abendland, die die AfD auf ihre verlogene, vereinnahmende Tour beschwört, um sie zu vertreten, schlicht umdefiniert. Darüber werden die Sorgen zwar ausländerfreundlicher, aber kein bisschen besser: Die Leser sollen nichts besseres zu tun haben, als von den Politikern, die mit ihrer souveränen Macht verbindlich definieren, nach welchen Regeln sich das Leben im deutschen Gemeinwesen wirklich abspielt, worin also die Sorgen der existenzielleren Art wirklich bestehen, mit denen die Leute umzugehen haben, auch noch eine liebevollere Pflege der Lüge einzufordern, dieses Gemeinwesen hätte in der christlichen Religion und ihren Werten seine eigentliche Basis. Aber eben so, als guter Titel für einen inklusiven deutschen Nationalstolz, wird das christliche Abendland mitsamt seinen Symbolen vor dem Missbrauch gerettet, von ausländerfeindlichen Plumpskloparolen gesäubert und durch deren abstraktes Gegenteil namens Nächstenliebe ersetzt: Ostern ist das höchste Fest einer Religion, die Nächstenliebe predigt. Und da soll man Schoko-Hasen zuhauf verschenken. An Jung und Alt, Arm und Reich, Deutsch und Nicht-Deutsch. Ein genialer Schlenker zurück zum Ausgangspunkt, womit sogar dem Osterhasen, eben schon aus dem christlichen Fest ausgebürgert, wieder sein Platz gesichert wäre: ein Symbol des wertebasierten nationalen Zusammenhalts der Bürger über all die natürlichen, ökonomischen und staatlich hergestellten – wer mag da schon unterscheiden – Unterschiede hinweg, die sie im Alltag nach wie vor trennen, aber immerhin nur dort.

Natürlich geht am schönen Feiertag der Nächstenliebe auch gegenüber Ausländern, die laut Bild in der internationalisierten deutschen Klassengesellschaft auch ihren festen Platz haben, der harte Regierungsalltag weiter. Von dem wird in der unmittelbar unter dem Kommentar stehenden Kurzmitteilung berichtet: Wegen Asylmissbrauchs. Georgien soll sicheres Herkunftsland werden, und man lässt den etablierten C-ler Stephan Mayer die nähere Begründung liefern:  ‚Die Schutzquote bei georgischen Asylbewerbern ist verschwindend gering.‘ ... 2017 wurden lediglich zwei Prozent der georgischen Asylbewerber anerkannt. Eine feine, vor jeglichem Verdacht auf Ausländerfeindlichkeit gefeite Dreiergleichung, wonach eine verschwindend geringe Anerkennungsquote durch den Staat umstandslos Asylmissbrauch durch die Nicht-Anerkannten offenbart, was dann wiederum unmittelbar die Sicherheit ihres Herkunftslands beweist und somit die fälligen Abschiebungen als Beendigung dieses Missbrauchs ausweist. Auf jeden Fall ist damit der Alarmismus der AfD und ihrer Genossen im Netz abermals blamiert: Weder an der Schokohasenfront noch an der Abschiebefront gibt es Anlass zur Sorge über eine allzu zurückhaltende Ausländerpolitik. Da lässt die etablierte Politik nichts anbrennen – aber eben nicht aus einer irrsinnig aufgebauschten Horrorfantasie vom untergehenden Abendland, sondern im Sinne des anderen, handfesteren Nationalheiligtums namens ‚Recht und Ordnung‘, wonach allein die deutsche Staatsgewalt entscheidet, wer in den Genuss deutscher Nächstenliebe kommt.

*

Die berechnende Dummheit, dem Belegmaterial eines patriotischen Fahndungsstandpunkts mit einem Faktencheck zu begegnen, geht auch mit etwas größerem intellektuellem Ehrgeiz. Dazu laden die Kollegen von der Süddeutschen Zeitung extra einen Professor der Geschichte ein, der nicht bloß den beliebten Osterhasen, sondern das beschworene Schutzgut der modernen Ausländerfeinde selbst ins Visier nimmt:

„Geistiger Müll muss beseitigt werden, wenn vom ‚christlichen‘ oder gar ‚christlich-jüdischen Abendland‘ gesprochen wird. Beides ist mehr Fiktion als Fakt... Einerseits leiden wir unter stammtischlerisch grölenden Zeitgenossen à la Pegida. Sie reden sich und anderen ein, das Abendland vor dem (neuerlichen) Untergang zu retten. Andererseits behaupten manche, auch ‚Wissenschaftler‘: Abendland sei Kampfbegriff der Islamfeinde. Beides ist geistiger Müll.“ (SZ, 30.3.18)

Die einen, die sich für heldenhafte Verteidiger eines christlichen Abendlands halten, das es so nie gegeben hat, fertigt der Professor mit einem Parforceritt durch die Weltgeschichte ab, der zeigen soll, wie wenig diese für ihre zurechtkonstruierte Frontstellung – ‚Wir die guten Christen aus dem Abendland vs. die bösen Horden aus dem Morgenland‘ – hergibt. Das negative Beweisziel ist für den Fachmann die Lizenz, die begriffslose Aufzählung geschichtlicher Ereignisse mit völlig inkommensurablen Inhalten und von völlig disparater Bedeutung gegen eine Weltanschauung sprechen zu lassen, die ebenso begriffslos das unterschiedlichste Zeug auf den einen gemeinsamen Nenner einer vorab feststehenden Ausländerfeindschaft zu bringen pflegt. In diesem Sinne also: ‚Das Abendland‘ war keineswegs immer schon von reinrassigen Pegidisten bevölkert, sondern ursprünglich sogar von lauter Nafris und Afris: Unsere Vorfahren kamen vor 45 000 Jahren oder noch früher – sie stammen aus Afrika. Nix ‚weiße Herrenrasse‘, nix christlich. Die Muslime gehören schon ewig zum Abendland, sind sie doch im Takt der Abfolge von Abendland-Morgenland-Invasionen immer wieder hierzulande zuhause gewesen, so wie die Abendländer immer wieder ihr Zuhause im Morgenland auf unfeine Art eingerichtet haben: Ouvertüre waren die Perserkriege. Das Morgenland stieß ins Abendland... Vom 8. bis 15. Jahrhundert drang der Orient als Islam nach Südwesteuropa (Iberien). Die Osmanen beherrschten Südosteuropa seit dem 14. Jahrhundert. Das Christentum ist selbst ein Fremdkörper, der sich ohne Visum bei uns breitgemacht hat: Schock eins: Das Christentum stammt aus dem Morgenland. Schock zwei: Am Anfang, bis ins 4. Jahrhundert, war das Abendland nicht nur heidnisch, sondern – noch ‚schlimmer‘ – jüdisch. Als die Christen dann nach Dresden kamen, haben sie es bei Massengrabschereien gegen die Einheimischen nicht belassen: Die heidnischen Abendländer wurden nicht durchweg freiwillig zu Christen... Frankenkönig Karl ‚der Große‘ taufte um 800 die Sachsen auf seine Art: blutig. Alexander der Große, Reconquista und Kreuzzüge bieten für moderne Christen auch keinen Anlass zum Stolz. Und wenn das Abendland nun seit einigen Jahrzehnten immer mehr Morgenländer bei sich beheimatet, dann liegt das bloß an den Spätfolgen des unanständigen Umgangs der Abendländer mit dem Morgenland: Die jüngere Demografie des Abendlandes wird manche erneut schockieren. Sie ist eine Folge der Entkolonialisierung im Morgenland... Die zuvor Kolonisierten suchten Schutz oder (etwas mehr) Wohlstand bei den einstigen Kolonisten. Für Deutschland selbst gilt: Von 1961 an ... fehlten Arbeitskräfte aus der DDR. Bonn suchte und fand – Türken. Sie wurden als ‚Gastarbeiter‘ wie Waren importiert... Heute wird uns von ihren Kindern und Kindeskindern die Rechnung dafür präsentiert. Zweitens sind es gar nicht die Muslime, sondern die Christen selbst, die für die Entchristlichung des Abendlands gesorgt haben: Christen verlassen scharenweise die Kirche... Soll, kann man von einer selbstverschuldeten Entchristlichung des christlichen Abendlandes sprechen?

Und was soll der Leser aus der ganzen Geschichte lernen? Etwa, dass Abendland wie Morgenland, damals wie heute, von ganz anderen Subjekten mit ganz anderen Anliegen bestimmt werden als von den Kollektiven, die die heutigen Rechten imaginieren und die einfach nichts hergeben für die Vorstellung eines verteidigungswerten Wir? Dass das ‚christliche Abendland‘ nun wirklich nichts anderes ist als ein Titel, der ganz andere Subjekte und Ziele überhöht? Von wegen. Das wäre ja ein Musterbeispiel der anderen Sorte geistigen Mülls, mit dem der Fachmann fürs Grobe in der Geschichte aufräumen will: eine geschichtsvergessene, identitätsvergessene Reduzierung des christlichen Abendlands auf einen bloßen Kampfbegriff . Er hat einen anderen Vorschlag:

„Bevor über die ‚Islamisierung‘ gejammert wird, sollten sich erstens die Kirchen im jesuanischen Sinne verchristlichen. Zweitens sollen Christen ihr Christentum nicht unbedingt praktizieren, doch zumindest kennen. Wer nicht einmal weiß, weswegen Christen Weihnachten, Ostern oder Pfingsten feiern, ist unfähig, mit Angehörigen anderer Religionen den überlebenswichtigen Dialog zu führen.“

Eine Forderung nach mehr moralisch-religiöser Konsequenz, zumindest mehr Bescheidwissen und historischem Problembewusstsein bei der Pflege genau der Einbildung, mit der Nationalisten ihr ebenso eingebildetes Privileg auf eine ihnen vertraute Heimat – mit oder ohne Stammtisch und Grölen – einklagen. Die Vorstellung einer höheren Gemeinschaft jenseits der wirklichen, in der das Machtwort des Staats die Bürger miteinander verbindet, die für letztere dennoch unentrinnbar verbindlich sein, nämlich ihre Sicht auf die Welt und auf sich bestimmen soll: Diese Irrationalität will der Faktenkundige gerade nicht entsorgen, bloß weil es in der Weltgeschichte keine Anhaltspunkte für sie außer in Gestalt von Rechtfertigungstiteln für kriegerische Gemeinheiten gibt, sondern rational und anständig gepflegt wissen. Nachdem Herr Wolffsohn also die nationalistische Selbstbeweihräucherung der sich christliche Abendländer schimpfenden Rechten an einigen historischen Tatsachen als haltlosen Mythos blamiert haben will, rückt er seinen eigenen Mythos an deren Stelle – von einer Welt, die wirklich von kulturellen Gemeinden bestimmt würde. So, mit etwas mehr Anstand und Informiertheit, gelingt dann womöglich der Dialog, von dem noch nirgends in der Weltgeschichte, nicht einmal in dieser stilisierten, irgendetwas, geschweige denn das Überleben der Religionen, abgehangen hat, von dem aber nach dem Verdikt unseres Historikers eines immerhin feststeht: Für den sind die Beteiligten noch absolut unqualifiziert. So geht der Faktencheck für Intellektuelle.

*

Im Gegensatz zu seinen Kollegen in den anderen seriösen Redaktionsstuben der Republik hält der Spiegel inzwischen recht wenig von der Macht des Faktenchecks. Gewiss, in dem radikalen Ansatz ... die weitverbreitete Skepsis zu bekämpfen, durch Aufklärung, aber auch durch aggressives Zurückweisen liegt zwar oft eine Schönheit... Man ist klar, man vertritt mit Haut und Haaren seine eigenen Werte und die einer liberalen, humanitären Demokratie. Klingt immer gut. (Spiegel, 31.3.18) Aber letztlich wirft man damit bloß Perlen vor die Säue – und die befinden sich längst nicht bloß am rechten Rand: Das Unbehagen gegenüber dem Islam reicht tief in die Gesellschaft hinein. Horst Seehofers Satz, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, fand breite Zustimmung. Für viel zu viele Deutsche gilt, dass

„im Diskurs zu diesem Thema nicht nur Fakten zählen. Man kann noch so oft auf die kleinen Zahlen hinweisen. Man kann noch so oft sagen, dass eine Vergewaltigung nichts mit dem Islam zu tun hat, dass Islam und Islamismus verschiedene Dinge sind, irgendwie wird dann doch alles vermengt und vergrößert, und heraus kommt für manche Bürger die Bedrohung Islam.“

Und was folgt daraus? Eines jedenfalls nicht: eine Befassung mit diesem Standpunkt selbst, der so faktenresistent die Sicherheit pflegt, man hätte es bei Fremden mit Feinden, mit einer Gefahr für das große gute deutsche Wir zu tun. Das ist genauso wenig Sache des Spiegel wie die der anderen Organe der seriösen Öffentlichkeit. Entscheidend ist vielmehr die Frage, wie man mit diesem Standpunkt umgeht. So viel steht dabei schon fest: Gerade weil die Deutschen so zahlreich sind, die sich durch keine ihren parteilichen Bebilderungen widersprechende Realität in ihrem nationalen Wahn erschüttern lassen, ist die Lage viel zu dramatisch für einen aufklärerischen Schönheitswettbewerb: Wenn sich eine große Zahl der Bürger von der liberalen Demokratie abwendet, ist sie verloren. Das Thema Islam hat leider langfristig dieses Potenzial. Daher ist auch im Innern die oft nicht schöne Kunst der Realpolitik gefragt, die sich nicht nur um die Fakten, sondern auch um das [kümmert], was aus den Fakten gemacht wird. Das ist eine zweite Realität, die manchmal stärker wirkt als die erste. Sie kann Ängste auslösen, und die muss man ernst nehmen. Man darf sie auf keinen Fall der AfD überlassen.

Was aus den Fakten gemacht wird, Belegmaterial für Ausländerhass nämlich, mag man zwar unschön finden. Die Gesinnung, die sich so ihre Beweise zurechtlügt, muss der verantwortungsbewusste Demokrat aber ernst nehmen; und darunter versteht der Spiegel offenbar den Verzicht, irgendwie mit Urteilen dagegen vorgehen zu wollen – worunter er sich wiederum nichts als die Aufzählung von Fakten, wahlweise das schlichte Beteuern der eigenen Gesinnung vorstellen kann. Die Realität gebietet ganz einfach, die Gesinnung der anderen erstens von ihrem Inhalt zu trennen und vulgärpsychologisch als Ängste zu interpretieren, die vor allem Verständnis verdienen. Damit geht es zweitens an die Sache, die den presserechtlich Verantwortlichen in Hamburg im Sinne einer demokratischen Verantwortlichkeit am Herzen liegt: um die Funktion psychischer Dispositionen und Affekte für das reibungslose Funktionieren des innerstaatlichen Gemeinschaftslebens. Dafür kommt es, unter aufrechten Demokraten, vor allem darauf an, wer dieses Gemeinschaftsleben betreut und dadurch lenkt: Als demokratische Manövriermasse braucht das Volk die richtigen Manipulateure, und die hat der Spiegel im deutschen Parteienspektrum schon verortet:

„Es ist richtig, dass sich die CSU dieses Themas annimmt. Auch von den klassischen Parteien muss ein Angebot für die Skeptiker kommen, damit sie sich nicht der AfD zuwenden. Auch wenn Seehofer aus liberal-humanitärer Sicht oft danebenliegt, ist er ein überzeugter Demokrat. Und natürlich kann man ihm widersprechen, ihn politisch bekämpfen. Für die realpolitische Sicht ist wichtig, dass er da ist.“

Auch bei den demokratischen Machthabern gilt es, den realistischen Grundsatz anzuwenden, dass man sie nicht abschließend danach be- und verurteilen soll, was sie von sich geben und politisch betreiben, sondern danach, wie sie zur gültigen politischen Ordnung stehen. Ein Rattenfänger auf der richtigen Seite – genau das ist es, was gerade der Mensch braucht, der Seehofer wegen seiner ausländerfeindlichen Töne und Vorhaben ablehnt. Um die Feinde der Demokratie zu bekämpfen, muss man ihnen in ihrem rechten Denken recht geben, damit sie in der Wahlkabine den richtigen Politikern den Zuschlag geben. Schließlich gilt für die Freiheit, deren Bewahrerin die liberale Demokratie ist, nun einmal: Dafür braucht man Wähler. Und wenn diese auf die rechtsradikalen Töne eines überzeugten Demokraten hören, dann spricht das weder gegen sie noch gegen den Demokraten, der ihnen gefällt, sondern für seine Töne.

Hier schreibt also ein Volkserzieher an seine Leser, die er damit auf den gleichen hohen Sockel hebt, auf dem er selbst steht, um von dort aus das Volk, aus dem er sie heraushebt, als zwar sperrige, aber leider nicht zu ignorierende, eben deswegen verständnisvoll zu betreuende Idioten ins Visier zu nehmen. Und von dort aus erfolgt dann die Klarstellung: Beim tückischen Geschäft der politischen Willensbildung ist der gebildete Wille nicht Mittel des Bürgers, der ihn dann hat, sondern der Ordnung, die ihn braucht. Zu Recht macht sich das demokratische Superblatt keine Sorgen, dadurch ein volksherrschaftliches Ideal zu verraten; schließlich bringt er damit die Demokratie mit ihrem Urprinzip der Zustimmung der Regierten nur auf den Punkt. Direkter kann man kaum sagen, dass es beim Votum der wählenden Subjekte für den Kandidaten ihrer Wahl vor allem auf ihr Ja zur bestehenden politischen Ordnung ankommt, deren Objekte sie sind und bleiben sollen, als deren Objekte sie dann auch gleich gedacht werden. Und während die einen verantwortlich mitdenkenden Leser sich mit dem Spiegel auf die Ebene einer volkserzieherischen Instanz heben, bekommen die anderen ab sofort ein unschlagbares Angebot:

„Als wir unsere Leser kürzlich gefragt haben, was sie vom Spiegel denken, war das eine der größeren Sorgen: Journalisten könnten blind sein für negative Folgen der Flüchtlingspolitik. Unsere Leser wollen das ganze Bild haben, und sie werden es bekommen.“

Und jetzt wissen sie auch noch, warum sie das verdienen – und wofür sie das brauchen: nicht um Ausländer zu hassen, sondern um dem Ausländerhass sein demokratisches Recht als betreuungsbedürftiges Volksanliegen zuzuerkennen.

So landet das Verständnis für die zweite Realität sachgerecht bei Forderungen bezüglich der ersten – die harten Fakten der Rechten sind für den Spiegel auch welche: Zudem muss die Politik den Islamismus energisch eindämmen, muss den Einfluss staatlich-türkischer Organisationen zurückdrängen. Denn am besten wird der verunsicherte Bürger immer noch dadurch für das nationale Gemeinschaftsprojekt wiedergewonnen, dass dem rechten Wort die rechte Tat folgt, welche die AfD seit jeher einfordert: die erfolgreiche Bekämpfung aller Bedrohungen oder auch nur des Anscheins einer Relativierung der Souveränität der deutschen Staatsgewalt und der Gültigkeit ihrer Ordnung. Daraus ergibt sich die beste Chance, skeptische Bürger mit dem Islam zu versöhnen und die liberale Demokratie zu erhalten. Demokratische Härte gegen die Hassobjekte der Rechtsradikalen ist für harte Demokraten noch allemal das beste Mittel, den rechtsradikalen Hass in die Gemeinschaft der Demokraten heimzuholen: Das ist der Inhalt der Selbstkorrektur, die die durch den Spiegel repräsentierte seriöse Öffentlichkeit sich angesichts der AfD-Erfolge und rechtsradikaler Ausländer-Hysterie im Netz schuldig ist.

II. Die Menschheit am dataistischen Abgrund – oder doch nicht?

Die Süddeutsche Zeitung setzt sich zu Ostern in ihrem Leitartikel noch ganz anders mit der Netzöffentlichkeit auseinander. Sie nimmt einmal nicht klein-klein missliebige Meinungsäußerungen ins Visier, die in ihr kursieren und Zustimmung erfahren. Sie greift keinen bestimmten Standpunkt auf, der sich in sozialen Netzwerken zu einer Gefahr für den Höchstwert der liberalen Demokratie aufschwingt, sondern nimmt die Sphäre der Netzwelt als solche kritisch in den Blick:

„Sollte man noch auf Facebook sein, nach dem Skandal um die Wahlbeeinflussung in den USA? Darf man noch ein Uber-Taxi nehmen, nachdem ein selbstfahrendes Auto eine Frau umgefahren hat? Sollte man seine Bankdaten weiter dem Handy anvertrauen und dadurch möglicherweise Hackern ausliefern?“ (Alle Zitate aus: „Diktatur der Daten“, SZ, 30.3.18)

Drei Suggestivfragen, welche die verschiedensten Vorfälle, die direkt oder indirekt mit Konzernen der Netzwelt zu tun haben, unter einen Gesichtspunkt subsumieren: Was auch immer bedroht wird – die eigene Sicherheit, die von freien Wahlen oder von Passanten –, der Autor bezieht die Fälle stellvertretend für jeden Nutzer als eine Herausforderung auf sich. Er wirft an ihnen die Gretchenfrage auf, ob man solche Dienste überhaupt weiterhin nutzen darf. Denn bei ihnen geht es aus der Sicht des Herrn Schoepp immer um dasselbe:

„Für viele Menschen gäbe es derzeit allerhand Gründe, sich dem Allmachtsanspruch der Digitalindustrie zu entziehen.“

Die allgegenwärtigen Angebote der Datenkonzerne, deren Geschäft mit massenhaft gespeicherten Kundendaten und die massenhafte Inanspruchnahme ihrer vielfältigen Dienste übersetzt er mit einem Schlagwort en passant in ein Herrschaftsverhältnis. Hier schreibt nicht etwa ein Blogger sein nächstes Kapitel über das neueste Projekt der illuminatischen Weltverschwörung; das bietet ein seriöser SZ-Journalist seiner Leserschaft als verantwortlich-kritische Meinungsbildung über die Netzwelt an: eine Verschwörungstheorie reinsten Wassers. Hinter allen Affären, die es zwischen Nutzern, Anbietern von Datendiensten und Dritten gibt, sieht er einen Gegensatz walten, auf den es bei alledem eigentlich ankommt, getreu der (Un-)Logik: Wenn die Konzerne allseits geschäftstätig sind, wollen sie offenbar alle Welt beherrschen; und wenn sie jeder nutzt, soll jeder beherrscht werden. Von diesem Verdikt ausgehend erscheinen all ihre Maßnahmen als Belege für das eigentlich Offenkundige. Überfahrene Menschen, Skandale um das Herzstück der Demokratie und leergeräumte Bankkonten sind diesem Musterexemplar weltanschaulichen Denkens willkommene, weil drastische Sinnbilder für einen viel größeren und eigentlichen Skandal: Die Macher der Netzwelt wollen sich die Menschheit mit ihrem freien Willen unterwerfen – Allmacht eben.

Und was erfährt man über die Unterworfenen?

„Umfragen in den USA und in Deutschland zeigen, dass eine Mehrheit der Bürger ihre Daten bei Facebook für ungenügend geschützt hält, ja sogar Schäden für die Demokratie befürchtet. Ihr Verhalten ändern die meisten der weltweit zwei Milliarden Nutzer deshalb noch lange nicht. Auf Facebook verzichten, das können sich viele vorstellen – aber höchstens, um nach Alternativen Ausschau zu halten.“

Der Schreiber beglaubigt mit der Skepsis der User gegenüber Facebook nicht nur den umfassenden Zugriffswillen der Datenindustrie. Sie wird ins Spiel gebracht, um zu unterstreichen, wie irrelevant sie für das Verhalten derjenigen ist, die sie hegen. Mit diesem Kunstgriff wird gerade ihre Skepsis zum ersten Dokument dafür, wie sehr sie der Datenindustrie bereits verfallen sind.

Gleich im nächsten Satz kommen die skeptischen User als ihr Gegenstück vor, nämlich als welche, die von Technik-Fetischisten nicht zu unterscheiden sind:

„Das ‚Internet der Dinge‘, also das bis hin zum Toaster vernetzte Smart-Home und die Smart-City, stößt auf breiteste Akzeptanz, nicht nur bei Technik-Nerds.“

Auch das Gegenteil steht also für das Gleiche; ein zweiter Beleg für berechnungslosen Konsum bzw. die Allmacht der Datenindustrie.

„Dass Menschen in großer Zahl die Datengesellschaft boykottieren, ist heute so realistisch wie die Erwartung, dass sie das Essen einstellen, um gegen die Lebensmittelindustrie zu protestieren. Sich von Facebook abmelden zu können sei letztlich ein Privileg, hieß es diese Woche in einer vielkopierten Nachricht auf Twitter. Im Zeitalter der Mobilität sind immer mehr Menschen auf die digitalen Kanäle angewiesen, um ihre oft weit entfernten sozialen Beziehungen aufrechtzuerhalten.“

Wenn die Leute privat und beruflich weitgehend über das Internet kommunizieren und es selbstverständlich dafür brauchen, liefert das dem Autor den dritten Beleg dafür, dass sie der Datenindustrie in die Falle getappt sind.

„Und außerdem: Man hat ja nichts zu verbergen. Doch was man besser verborgen hätte, stellt sich oft erst im Nachhinein heraus. Per App mit dem Rauchen aufhören? Sicher eine gute Idee. Außer man hat sich dazu mit dem Google-Konto angemeldet, und die Suchmaschine weiß jetzt, dass und wie viel man mal geraucht hat. Gesundheitsdaten von der Handy-App auswerten lassen? Kann problematisch werden, wenn nicht nur Jogging-Werte, sondern auch Infos über Krankheiten von Supersuchmaschinen im Netz abgegriffen werden. Erst am Donnerstag wurde bekannt, dass die Daten von 150 Millionen Kunden, die eine App des US-Sportausrüsters Under Armour genutzt haben, bei anonymen Hackern gelandet sind. Solche Skandale häufen sich. Aber wer zieht daraus Konsequenzen?“

Wenn die Leute in die Sammlung und Weiterverwendung ihrer Daten einwilligen, weil sie darin keine Bedrohung für sich sehen, ist das der endgültige Beweis dafür, dass sie nicht mehr abwägen, sondern ihren freien Willen beim Login aufgeben. Dass sie im Diebstahl ihrer Daten keinen schwerwiegenden Angriff erkennen, macht nur deutlich, wie sehr der vorliegt. Abermals bedient Schoepp sich für die Skandalisierung der Netzwelt eines Kunstgriffs der Verschwörungstheorien, die in ihr zu Hause sind: Keiner merkt, wie unfrei er ist – und genau daran kann man es sehen!

Skepsis, Wurschtigkeit, Abhängigkeit und Gutgläubigkeit – lauter disparate Momente von Abwägungen, die Nutzer bei der Inanspruchnahme von Datendiensten treffen – werden für ihr glattes Gegenteil vorstellig gemacht: Die Leute an den Geräten sind nicht mehr Subjekte ihres Entschlusses, sondern willfährige Massen.

*

Wer bis jetzt vom SZ-Schreiber gelernt hat, dass die Internet-Industrie die Weltherrschaft an sich reißt, muss sich sagen lassen, dass er die ganze Dimension des Skandals damit noch nicht erfasst hat:

„Das blinde Vertrauen in Datenkonzerne sagt einiges darüber aus, wie sehr sich die Gesellschaft durch den Dataismus des Silicon Valley verändert hat.“

Hinter den allmächtigen IT-Konzernen auf der einen und der willenlosen Menschheit auf der anderen Seite wirkt nämlich ein subjektloser Weltgeist aus fremden Gefilden, der alle zu seinen Erfüllungsgehilfen macht. Ein Verhängnis, das sich gerade dort zeigt, wo an die segensreichen Wirkungen der allseitigen Vernetzung geglaubt wird:

„Er [der Dataismus] beruht auf dem Glauben, dass der freie Strom der Daten eine Art Grundrecht ist, ja mehr noch: ein Baustein für eine transparentere und gerechtere Gesellschaft.“

Der Schreiber wartet mit dieser schönen Phantasie der Internet-Pioniere auf, um gleich darauf durch das Zitieren eines promovierten Experten zu belegen, dass das vermeintlich Gute längst in sein böses Gegenteil umschlägt:

„Der Dataismus definiere den Menschen, seine Gefühle, Regungen und Träume, als Summe der Datenströme, die ihn durchziehen, schreibt der Historiker und Philosoph Yuval Noah Harari. Wir seien auf dem besten Weg vom homozentrischen zum datazentrischen Weltbild.“

Und damit jedem vor Augen steht, dass sich hier nicht bloß Bilder von der Welt ändern, sondern ein epochaler Wandel der conditio humana stattfindet, malt Schoepp die ebenso düsteren wie disparaten Wirkungen aus, die die aufkeimende Herrschaft des Dataismus zeitigt:

„Erstes Opfer ist die Arbeit. Im Zuge der Automatisierung wird man sich bald von dem liberalistischen Dogma des 19. Jahrhunderts verabschieden müssen, wonach der Mensch erst durch Arbeit zum Menschen wird.“

Mit der Automatisierung beraubt der Geist des Dataismus die Leute ihrer Arbeit? Ihrer selbst? Eines menschenfreundlichen Dogmas? Oder aller drei Dinge? Egal: auf jeden Fall etwas äußerst Wesentlichen! Zumal noch weitere Folgen schon jetzt zu konstatieren sind:

„Schon heute können Algorithmen nicht nur Wahlverhalten vorherbestimmen; sie finden auch heraus, mit wem man sich am besten paaren sollte.“

Computer wissen, was einem entspricht und was man will, bis in die Intimsphäre hinein – noch bevor man es äußert oder selbst herausfindet! Indem der Schreiber vorhersehbare Willensinhalte mit vorgegebenen Willensinhalten gleichsetzt, wird klar: Die Freiheit des Willens ist bald endgültig Geschichte.

Herr Schoepp hat auch ein Buch gelesen – einen Science-Fiction-Roman, der den Orwellschen Hit vom ‚Großen Bruder‘ zum x-ten Mal auflegt:

„Politischer Kern des Dataismus ist die Forderung nach Informationsfreiheit. Jeder soll alles wissen können. Wozu das führen kann, hat Dave Eggers in seinem Buch ‚The Circle‘ prognostiziert, in dem er beschreibt, wie ein Super-Internetkonzern, eine Mischung aus Facebook, Google und Apple, die Welt beherrscht. Die Vision von Transparenz mündet dort im gläsernen Bürger, der nichts mehr geheim halten darf. In dieser Welt ist Informationsfreiheit das Gegenteil von Meinungsfreiheit.“

Also auch schon in dieser...

*

Es sieht also wahrlich düster aus. Eine neue Weltepoche bricht an, in der die Menschheit auf dem Spiel steht. Aber es gibt einen Silberstreif am Horizont:

„Doch der Facebook-Skandal scheint Sensibilität dafür geweckt zu haben, dass das Heil vielleicht nicht in der totalen Digitalisierung liegt. Sollte sich der kritische Konsument beim Datenkonsum nicht ebenso wählerisch verhalten wie beim Lebensmittelkauf  ? Sollte man nicht genau abwägen, wann man das Digitale nutzt und wo man lieber analog bleibt?“

Klar! Wenn der Kunde im Appstore genauso kritisch auf die Angebote schaut wie auf die Eier im Supermarkt, hier und da mal auf ein digitales Produkt verzichtet zugunsten eines analogen, lässt sich das Schicksal der Menschheit vielleicht doch noch abwenden. Die Printausgabe der SZ bietet sich hier beispielsweise an – verschafft sie einem doch in Sorge um Meinungsfreiheit und Transparenz Sensibilität für die großen Probleme auf der Welt.

Zur Befreiung aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit kann der Zeitungsleser nicht nur durch seinen kritischen Konsum, sondern mit der Kenntnis des Instanzenweges beitragen:

„Eine Forderung an die Politik könnte daher lauten, sie solle dem Individuum den Freiraum erhalten, in dem er nicht von Google, Facebook oder ihren Nachfolgern zu einem bestimmten Wahl- oder Kaufverhalten oder Lebensstil genötigt werden kann. Gemäß der Erkenntnis, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner Daten.“

Auch so kann man Widerstand gegen die Weltherrschaft des Dataismus leisten: Man delegiert ihn an die Bundesnetzagentur. Die kümmert sich schon darum, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner Daten.