Die Lohnfrage in schweren Zeiten

Herrschaftliche Klarstellungen zur Notwendigkeit inflationärer Verarmung

Der Westen führt einen Wirtschaftskrieg gegen Russland, die führenden westeuropäischen Demokratien setzen ihre bisherigen Wirtschaftsbeziehungen als Waffe gegen die Energiegroßmacht ein – und die angekündigten „schweren Zeiten“ an der Heimatfront stellen sich prompt ein. Wie umfassend dies geschieht, bekommt die Sorte Marktteilnehmer, die am Ende aller marktwirtschaftlichen Ketten die Preise nur zahlt, um das Erworbene zu konsumieren, in aller Härte zu spüren; zuerst an der Tankstelle, dann im ganzen Supermarkt und schließlich über die Abschlagsrechnungen der Energieversorger. Schwarz auf weiß bekommen sie den Grad ihrer Verarmung in den Statistiken über die Inflationsrate des nationalen Geldes vorgerechnet, mit der sich der Monatslohn entwertet, von dem sie leben müssen, es aber immer schlechter können.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Die Lohnfrage in schweren Zeiten
Herrschaftliche Klarstellungen zur Notwendigkeit inflationärer Verarmung

Der Westen führt einen Wirtschaftskrieg gegen Russland, die führenden westeuropäischen Demokratien setzen ihre bisherigen Wirtschaftsbeziehungen als Waffe gegen die Energiegroßmacht ein – und die angekündigten „schweren Zeiten“ an der Heimatfront stellen sich prompt ein. In unterschiedlicher Ausprägung, aber doch überall in Europa, kommt es zu einer in dieser Geschwindigkeit ungekannten Verarmung der Völkerschaften, wie sie der Marktwirtschaft würdig ist: In der Abteilung Energie überführen die Akteure des Marktes die politisch hergestellte oder auch bloß die erwartete Verknappung des Angebots an Energieträgern in höhere Preise, die die kommerzielle Kundschaft aus allen möglichen anderen Abteilungen auch zahlt, um ihrerseits auch fortan lohnende Geschäfte zu machen. Dazu „reicht“ sie ihre gestiegenen Einkaufspreise mindestens „weiter“, wenn nicht gleich mit Aufschlag. Wie umfassend und wie erfolgreich sie das tut, das bekommt die Sorte Marktteilnehmer, die am Ende aller marktwirtschaftlichen Ketten die Preise nur zahlt, um das Erworbene zu konsumieren, in aller Härte zu spüren; zuerst an der Tankstelle, dann im ganzen Supermarkt und schließlich über die Abschlagsrechnungen der Energieversorger. Schwarz auf weiß bekommen sie den Grad ihrer Verarmung in den Statistiken über die Inflationsrate des nationalen Geldes vorgerechnet, mit der sich der Monatslohn entwertet, von dem sie leben müssen, es aber immer schlechter können.

Natürlich werden die Leute damit in einer sozialen Marktwirtschaft, die etwas auf sich hält, nicht alleingelassen. In ihrer Eigenschaft als Sozialpolitiker legen die nationalen Machthaber „Entlastungspakete“ und „Kaufkraftgesetze“ auf, die jede Zumutung immer gleich mit einer passenden Maßnahme flankieren. Sie machen damit die Vorgabe, dass der Schaden, den sie nach ihrem Ermessen abmildern, die neue Realität ausmacht, an die die Völker sich anzupassen haben. Und natürlich ist es in der freien Marktwirtschaft der lohnabhängigen Mehrheit auch nicht verboten, gegen den allemal bleibenden Schaden anzugehen, sondern ihr ist dafür längst ein Weg gewiesen: Die Gewerkschaften sind für die immer wieder fällige Korrektur der vertraglich ausgemachten Entgelte für unselbstständige Arbeit zuständig und reagieren auf die neue Lage.

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In Frankreich gibt es mit der Confédération générale du travail (CGT) einen maßgeblichen Gewerkschaftsverband, der die Parole „Die Krise darf nicht auf dem Rücken der Arbeiter ausgetragen werden!“ (CGT, 9.11.22) zur Richtschnur erhebt. Schon die Praxis der Unternehmen, sich in der Inflation durch beständige Preiserhöhungen auf Kosten der Arbeiter schadlos zu halten, will die CGT nicht gelten lassen:

„Die Regierung sollte die Preise einfrieren, damit die Unternehmen mit ihren Gewinnen für die Kosten der Inflation aufkommen. Angesichts ihrer Rekordgewinne ist das absolut möglich.“ (CGT, 13.9.22)

Auf der Einkommensseite fordert sie von der Regierung die Erhöhung des Mindestlohns auf 2000 Euro brutto sowie die sofortige Wiedereinführung der 1983 abgeschafften automatischen Kopplung (Indexierung) aller Löhne und Renten an die Inflation.

Dass die amtierende Regierung „auf die sozialen Notlagen und zunehmenden Ungleichheiten nur mit wirkungslosen Scheinmaßnahmen wie dem Kaufkraftgesetz“ reagiert und „bei den Leistungen für Arbeitslose und der Anhebung des Renteneintrittsalters ihre sozial rückschrittliche Politik“ sogar fortsetzt (CGT, 28.10.22), bestätigt die CGT nur darin, dass sie sich der weiteren Verschlechterung der Lebensverhältnisse der arbeitenden Klasse wirksam entgegenstellen muss:

„Die CGT legt in den Lohnkämpfen größten Wert darauf, dass es um die Reallöhne geht... In einem ersten Schritt muss sichergestellt werden, dass die Löhne mit den Preissteigerungen Schritt halten.“ (CGT, 8.6.22)

Die auch in Frankreich übliche Warnung vor einer Lohn-Preis-Spirale lässt sie dabei schlicht nicht gelten:

„Es gibt keinen Automatismus bei diesem Teufelskreis. Tatsächlich verpflichtet nichts die Unternehmen dazu, Lohnerhöhungen auf ihre Preise abzuwälzen.“ (CGT, 11.11.22)

Die CGT hält daran fest, dass ihre Forderungen nach Lohnerhöhungen absolut gerechtfertigt sind, und zettelt Lohnkämpfe an, wo sie kann. Der prominenteste davon legt zwischenzeitlich das halbe Land lahm: Für die Beschäftigten der Raffinerien, voran die des nationalen Energieriesen TotalEnergies, verlangt die CGT Lohnverhandlungen außerhalb des üblichen Turnus, einen Ausgleich der Inflation und drei Prozent obendrauf als Beteiligung der Belegschaft an den exorbitanten Gewinnen. Als die Arbeitgeberseite Verhandlungen rundheraus ablehnt, organisiert sie Streiks, die schließlich fünf der sechs französischen Raffinerien lahmlegen und damit wirkungsvoll die Benzinversorgung durcheinanderbringen.

Der Konzern besteht dagegen auf den gültigen Tarifen und damit auf dem Nutzen, den die im Unterschied zu allen anderen Kalkulationsgrößen stagnierenden, also real verringerten Arbeitskosten für die Unternehmensbilanz leisten, die dank der hohen Energiepreise gerade so erfreulich ausfällt. TotalEnergies hat nichts zu verteilen, sondern die Gewinne längst verplant. Die gehören schließlich den Anteilseignern, an die mittels Sonderdividende 2,62 Mrd. Dollar ausgeschüttet werden, und sind ansonsten für Investitionen in neue Quellen von wachsenden zukünftigen Erträgen da.

Der Umstand, dass der eskalierende Lohnkampf das nationale Verkehrs- und Transportwesen und damit die Mobilität als Grundbedingung des nationalen Lebens und Wirtschaftens in Mitleidenschaft zieht, ruft die französische Regierung auf den Plan. Die fordert die Streitparteien zur Einigung auf – und macht zielsicher die Gewerkschaft dafür verantwortlich, dass eine solche ausbleibt. Zur Lohnforderung selbst bezieht die Staatsmacht dabei explizit nicht Stellung. Als Ordnungsinstanz befindet sie das Angebot des Konzerns, Lohnverhandlungen um einen Monat vorzuziehen, wenn die CGT die Streiks sofort beendet – also ihre Machtmittel aus der Hand gibt –, für hinreichend kooperativ, den Streik der CGT hingegen für unzulässig, und zwar praktisch: Die Staatsgewalt bricht ihn, indem sie ganz legal Arbeiter dienstverpflichtet. So stellt der Staat klar, dass die Unverzichtbarkeit ihrer Arbeitsleistungen allein die Raffineriearbeiter verpflichtet, nämlich darauf, ihre Leistung pflichtschuldig zu erbringen. Keineswegs verpflichtet die Wichtigkeit dieser Jobs den Arbeitgeber oder den Staat selbst als Garanten der nationalen Benzinversorgung, auf die gewerkschaftlichen Lohnansprüche einzugehen.

Auf Grundlage der Entwaffnung der CGT fordert die Regierung Macron ultimativ eine Tarifeinigung, die sie wie bestellt am nächsten Tag von den Gewerkschaften CFE-CGC und CFDT auch bekommt: Am Streik nicht beteiligt, aber zusammen in einer Mehrheitsposition bei TotalEnergies, beerdigen die den Anspruch auf Reallohnsicherung in einer neuen Lohnvereinbarung über angeblich sieben, laut CGT faktisch nur fünf Prozent mehr Lohn plus einer Einmalzahlung zwischen 3000 und 6000 Euro. Praktisch ausgebootet kündigt die CGT eine Fortsetzung der Streiks bei TotalEnergies an, woraufhin ihr der Wirtschaftsminister ausdrücklich den Kampf ansagt:

„Die Treibstofflager müssen freigegeben werden, ebenso die Raffinerien, die blockiert sind. Dienstverpflichtung muss als Mittel genutzt werden, und es muss dafür gesorgt werden, dass wie in jeder Demokratie die Stimme der Mehrheit mehr gilt als die Stimme der Minderheit... Die Zeit für Verhandlungen ist vorbei. Es gab Verhandlungen und eine Vereinbarung... Versetzen Sie sich in die Lage der anderen, der Mehrheits-Gewerkschaften, die sich durchgesetzt haben und jetzt sagen: Moment, wir möchten wieder an die Arbeit gehen, wir haben erreicht, was wir wollten. Versetzen Sie sich in die Lage von Millionen unserer Landsleute, die von einer Handvoll Personen blockiert werden, die die Stimme der Mehrheit nicht respektieren. Der Stimme der Mehrheit muss Geltung verschafft werden, denn es geht um unsere soziale Demokratie.“ (Bruno Lemaire, 17.10.22)

Das ist in der Tat vorbildlich demokratisch. Das ist nämlich erstens die Heuchelei eines anspruchsvollen Regenten: Er bekämpft die sperrigen Ansprüche einer Gewerkschaft und besteht auf profitdienlichen Reallohneinsparungen, um das reibungslose Funktionieren des Standorts zu sichern, handelt dabei aber recht eigentlich bloß im Dienste einer verhinderten Mehrheit. Heuchelei ist aber zweitens sein gutes demokratisches Recht: Anders denn als stumme Berufungsinstanz für die freien Beschlüsse der Regierung kommt die „Stimme der Mehrheit“ ohnehin nicht „zur Geltung“.

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In Großbritannien löst die Inflation von zehn Prozent, Tendenz steigend, nach einhelliger Meinung eine ganze „cost of living crisis“ aus. Die Gewerkschaften aus dem öffentlichen bzw. ehemals öffentlichen Sektor – es sind die letzten, die in Großbritannien, nachdem Thatcher in den 80er-Jahren die Macht der britischen Industriegewerkschaften gebrochen hat, noch über einen Organisationsgrad verfügen, der ihnen eine Stimme mit Gewicht verleiht – bilanzieren nach „two decades of lost living standards“ und damit dem „longest wage squeeze since Napoleonic times“ ultimativ: „working families have been pushed to breaking point“. [1] Sie verwahren sich dagegen, dass die arbeitende Bevölkerung „den Preis einer Krise bezahlen muss, die sie nicht verursacht hat“, und überführen das in die Forderung: „Britain needs a pay rise“. Sie verlangen daher einen Inflationsausgleich plus X, was entsprechend der stattgefundenen Verarmung zu stattlichen Forderungen wie 19 Prozent im Falle der Gewerkschaft UNISON für den National Health Service (NHS) führt. Weil sie mit ihren Forderungen bei den (halb-)staatlichen oder ehemals staatlichen Arbeitgebern auf Ablehnung stoßen, setzen sie – jede Gewerkschaft in ihrem Zuständigkeitsbereich, von Eisenbahn und Post über das Hochschulwesen bis zum Gesundheitssektor – vom Frühsommer an Arbeitskämpfe auf die Tagesordnung.

Die Nachfolgerin von Boris Johnson macht die Lohnkämpfe in ihrer anderthalbmonatigen Amtszeit zur Chefsache. Der drohenden Rezession sowie der schwindenden Konkurrenzfähigkeit des britischen Standorts setzt sie ihre „Trussonomics“ entgegen: ein mit massenhaft Schulden finanziertes staatliches Wirtschaftsförderungsprogramm, das Großbritannien endlich wieder das bringen soll, was es braucht: „Growth, growth and growth“. Dem stehen nicht bloß die Forderungen nach ein bisschen Lebensstandard entgegen: Die Gewerkschaften, die sie aufstellen und für so etwas Wachstumsschädliches sogar streiken, erweisen sich dadurch endgültig selbst als eine der „über Jahrzehnte aufgebauten Wachstumsbarrieren“. Angetreten, diese ein für allemal einzureißen, macht sich Truss unverzüglich daran, durch Änderungen am Streikrecht die Streikmacht der Gewerkschaften zu brechen. Sie lässt ein Gesetz verabschieden, „das es Arbeitgeber/innen erlaubt, während Streiks kurzfristig qualifizierte Kurzarbeiter einzustellen, damit die Auswirkungen der Streiks begrenzt bleiben“ (Zeit, 30.7.22), und für den Transportsektor bringt sie die „Transport Strikes (Minimum Service Levels) Bill“ auf den Weg, die den dortigen Gewerkschaften vorschreibt, ihren eigenen Streik durch die Organisation eines Minimalservice zu unterlaufen. Vorgetragen als Dienst am Anspruch der arbeitenden Mehrheit darauf, störungsfrei die Ansprüche von Staat und Kapital befriedigen zu können – „schließlich dürfen unsere ehrlichen und hart arbeitenden Bürger nicht unter den Streiks der Gewerkschaftsbosse leiden“ (Liz Truss, Zeit, 30.7.22).

Die oberste Chefin der Nation weiß einfach besser als die Gewerkschaften, worauf ihre fleißigen Untertanen ein Anrecht haben. Sie definiert es schließlich. Zwar ist es Truss nicht vergönnt, ihr Werk zu vollenden, aber ihr Nachfolger Sunak mit seiner „Austeritätspolitik 2.0“ sorgt in der Lohnfrage für vollständige Kontinuität, nicht nur in Sachen zynischer Empathie:

„Ich habe eingeräumt, dass es für alle schwierig ist, wenn die Inflation so hoch ist, wie sie ist. Ihnen und allen anderen im Land helfen wir am besten, wenn wir die Inflation so schnell wie möglich in den Griff bekommen und senken. Und wir müssen dafür sorgen, dass unsere Entscheidungen zu diesem Ergebnis führen. Wenn wir es falsch anpacken und in einem Jahr immer noch mit einer hohen Inflation zu kämpfen haben, ist niemandem damit geholfen. Das will ich nicht. Ich will, dass sich die Dinge wieder normalisieren, und deswegen ist ein unabhängiger Lohnfindungsprozess ein wichtiger Teil unserer Entscheidungen.“ (Rishi Sunak, The Guardian, 20.12.22)

Mit fürsorglicher Attitüde anerkennt der Premier die Sorgen seiner Schützlinge, um ihnen sogleich die verbindliche Antwort darauf vorzubuchstabieren. Wenn sie mit der hohen Inflation so große Schwierigkeiten haben, müssen sie doch wohl einsehen, dass die einzig erstrebenswerte Abhilfe darin besteht, dass die Regierung alles tut, um die Inflation wieder auf das Normalmaß zu drücken, mit dem sie bis dahin ja irgendwie zurechtgekommen sind. An der wichtigsten seiner dafür nötigen Entscheidungen lässt er die Betroffenen auch gleich teilhaben: Er muss auf der Verbindlichkeit des „independent pay process“ bestehen, also auf dem Verfahren des britischen Staats, sich als öffentlicher Arbeitgeber die passenden Lohnerhöhungen durch von ihm selbst bestellte Gremien (pay review bodys) empfehlen zu lassen, denen die Gewerkschaften ihrerseits Empfehlungen geben können – und die all die Reallohnsenkungen empfohlen haben, die der staatliche Arbeitgeber in der Vergangenheit verfügt hat. Aktuell empfehlen sie Lohnerhöhungen zwischen zwei und vier Prozent. Wenn Sunak also verspricht, ganz „correctly“ dem unabhängigen Verfahren zu folgen, kündigt er nichts anderes an, als im Namen der Inflationsgeschädigten die Inflation mit deren eigenem Kaufkraftverlust zu bekämpfen.

Nicht weniger eisern als seine Vorgängerin stellt der neue Premier klar, dass etwas anderes unter seinem Regime nicht zu haben ist: Mit der Gewerkschaft UNISON, die das Angebot von drei Prozent für den NHS kategorisch zurückweist, wird monatelang gar nicht erst verhandelt. Von Arbeitskämpfen gibt sich die Regierung Sunak demonstrativ unbeeindruckt, die Streikenden werden im Namen der betroffenen Pendler, Patienten etc. nach Kräften moralisch ins Abseits gestellt und durch den Einsatz von Soldaten wird die Wirksamkeit ihrer Aktionen im Grenzschutz und im Rettungsdienst minimiert, ohne die eigene Verhandlungsbereitschaft vom Effekt abhängig zu machen – wer Schuld an toten Schlaganfallpatienten und Unterrichtsausfall hat, steht ja ohnehin fest. Die Unverrückbarkeit des Standpunktes leerer Kassen soll den Streikenden die Aussichtslosigkeit der Kämpfe vor Augen führen, die ihnen nur immer weiter anwachsenden Lohnausfall einbringen. Und die Regierung belässt es nicht dabei, nur in ihrem Zuständigkeitsbereich als Arbeitgeber auf die nützliche Senkung des Lohnniveaus hinzuwirken. Zum Beispiel wird die Eisenbahngesellschaft Network Rail explizit zur Unnachgiebigkeit in den Verhandlungen mit der Verkehrsgewerkschaft RMT ertüchtigt, indem sie mit 300 Mio. Pfund für ihre aufgelaufenen Geschäftseinbußen entschädigt wird. Als sich diese beiden Parteien im Dezember trotzdem auf eine Lohnerhöhung von ca. zehn Prozent einigen, nutzt die Regierung ihre Letzthoheit über den Abschluss, um ihn direkt von Downing Street aus hinfällig zu machen. Zu diesem Zweck wird die für die Gewerkschaft unannehmbare Klausel hinzugefügt, dass Network Rail wie gewünscht fortan seine Züge ganz ohne Zugbegleiter betreiben darf. Mit der erfolgreichen Abwehr der schädlichen Lohnerhöhung ist allerdings die Streikmacht noch nicht erledigt, mit der sie erkämpft werden konnte. Deswegen kündigt der Premier an,

„das Recht auf Arbeitsniederlegungen einschränken zu wollen. Er arbeite an ,neuen harten Gesetzen, um die Menschen vor diesen Störungen zu schützen‘, so Sunak im britischen Unterhaus. Falls sich die Gewerkschaften weiterhin ,unvernünftig‘ verhielten und Forderungen nach Inflationsausgleich durch Lohnerhöhungen nicht aufgäben, würden entsprechende Maßnahmen ergriffen.“ (junge Welt, 9.12.22)

Eine Streikwelle später ist es so weit und die Regierung Sunak verabschiedet in erster Lesung die von seiner Vorgängerin auf den Weg gebrachte „Minimum Service Levels Bill“, erweitert auf Bereiche wie Gesundheit, Bildung, Feuerwehr und Sicherheit: Systemrelevante Dienstleistungen werden systemgemäß finanziert, gehören erbracht und Punkt. Das zu garantierende Niveau des Minimalservice legen dabei die zuständigen Ministerien fest, um Streiks effizient unwirksam machen zu können. [2]

Die angefeindeten Gewerkschaften nehmen den Machtkampf mit der Regierung auf, so gut sie können. Mit ihrer ökonomischen Streikmacht, die jeweils auf einen bestimmten Arbeitgeber zielt, koordinieren sie sich und legen von Anfang Dezember an abwechselnd kontinuierlich irgendeinen Bereich, später tageweise auch den gesamten öffentlichen Sektor lahm, um auf diese Weise „so viel Druck auf die Regierung auszuüben wie nur möglich“. Die beabsichtigte Dezimierung ihrer Streikmacht lassen sie sich zwar nicht einfach gefallen. Dabei sind sie aber auf den trostlosen Weg verwiesen, juristisch überprüfen zu lassen, ob bei der Herstellung der neuen Rechtslage alles mit rechten Dingen zugeht. Für ihren politischen Einspruch gegen die Regierung reklamieren die Gewerkschaften daneben ein ideelles Recht, für das sie auf Demos, Kundgebungen und Aktionstagen mobilisieren und für das sie sich auf die Unterstützung von 60 Prozent der Bevölkerung wie auch von großen Teilen der liberalen Öffentlichkeit berufen können. Die „Stimme der Mehrheit“ gilt in diesem Fall aber nichts, ist eher bloß eine öffentliche Stimmung, der sich regierungsverantwortliche Demokraten bekanntlich nicht beugen dürfen. Die oppositionellen Führer im Wartestand bestätigen das auf ihre Weise:

„Wir wollen nicht, dass diese Streiks mit der daraus resultierenden Störung der Öffentlichkeit fortgesetzt werden... Wir müssen auch Führung zeigen, und zu diesem Zweck seien Sie bitte daran erinnert, dass Frontbencher einschließlich parlamentarischer Staatssekretäre nicht auf Streikposten stehen sollten.“ (Labour-Chef Keir Starmer in einer E-Mail an seine Kollegen)

Auch die Partei der Arbeit teilt den Ordnungsstandpunkt der Regierung: Es hat gearbeitet und nicht gestört zu werden! Und auch sie betont, dass es nicht infrage komme, dafür die Forderungen der Gewerkschaften zu erfüllen – nicht finanzierbar. Der Parteichef vermeidet allerdings, die Gewerkschaften für ihr Störungswerk selbst verantwortlich zu machen: Das hat die amtierende Regierung zu verantworten, für die die Streiks „eine Blamage“ sind. Woraus glasklar folgt, wie die Lösung des Problems auszusehen hat:

„Wir wollen in die Regierung; denn in der Regierung löst man solche Streitfragen.“ (Starmer, The Guardian, 6.10.22)

Zu der von Sunak et al. vertretenen Raison, dass für die Gesundung der Nation die Verarmung der Massen alternativlos ist, steuert Labour ihr Ideal vom Standpunkt demokratischer Opposition bei: Mit ihr an der Macht wäre jeder Streik und Ärger schlicht überflüssig, das gleiche Resultat für die Nation auch ohne Streikschäden und ohne die Unterbrechung des Arbeitsdienstes zu haben.

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Und in Deutschland? Da weiß der Kanzler, was er an einem DGB hat, der sich umstandslos den Standpunkt zu eigen macht, die Nation sei von einer durch Putin herbeigeführten Notlage betroffen und müsse zusammenstehen, um die unausweichlichen Folgen des alternativlosen Wirtschaftskriegs zu bewältigen. In einer Konzertierten Aktion schwört er die Gewerkschaften auf das ein, was im Rahmen dieser nationalen Schicksalsgemeinschaft für sie und ihre Klientel vorgesehen ist: Die Arbeitnehmer haben die Inflation im Wesentlichen auf ihre Kappe zu nehmen, weil alles andere dem Standort schaden, dem Land nämlich noch mehr Inflation und der Wirtschaft eine Rezession bescheren würde. Dieser zum Bild einer ewig drohenden Lohn-Preis-Spirale geronnenen Botschaft begegnen die Gewerkschafter mit dem stolzen Verweis auf ihre verantwortliche Lohnpolitik. Sie trifft ganz sicher keine Schuld an der grassierenden Inflation und dabei soll es bleiben. Der Kanzler steuert noch die Idee bei, inflationsgemäß-unternehmensfreundliche Lohnvereinbarungen in Zukunft vornehmlich durch Einmalzahlungen zu realisieren, und lässt schon einmal ganz unverbindlich 3000 Euro steuer- und abgabenfrei stellen. Turnusgemäß ist die IGBCE als Erste an der Reihe, den Geist der Konzertierten Aktion mit tarifpolitischem Leben zu füllen, und vermeldet nach dreitägigen Verhandlungen „Mission erfüllt“:

„In dieser historischen Ausnahmesituation mit ungekannten Inflationsraten und drohender Rezession haben die Tarifparteien Verantwortung für die Beschäftigten, den Industriestandort und die Binnennachfrage zugleich übernommen... Die Menschen profitieren vom attraktiven ,Brutto-für-Netto‘-Angebot der Bundesregierung genauso wie von der höchsten Tariferhöhung in der Chemie seit mehr als 30 Jahren. Zusammen mit den staatlichen Entlastungspaketen und der unter IGBCE-Vorsitz entwickelten Gaspreisbremse lässt sich so der finanzielle Druck auf die Chemie-Beschäftigten in der Krise spürbar eingrenzen.“ (Pressemitteilung der IGBCE, 18.10.22)
Kurz darauf gelingt es auch der IG Metall, „in einer äußerst herausfordernden Zeit ... die Beschäftigten spürbar zu entlasten, Einkommen nachhaltig zu stabilisieren und die Kaufkraft zu stärken. Das heute erzielte Tarifergebnis stützt somit auch die Konjunktur in Deutschland.“ (IG-Metall-Chef Hofmann)

Der Erfolg für ihre Klientel besteht zwar nur darin, die anstehenden Schäden irgendwie in Grenzen gehalten zu haben. Aber noch nicht mal auf diese bescheidene Leistung wollen die auf ihr gesamtnationales Verantwortungsbewusstsein stolzen Industriegewerkschafter verweisen, ohne sogleich einen Nutzen für die Nation ins Spiel zu bringen. Die gewerkschaftliche Errungenschaft im Speziellen: In Deutschlands Premiumbranchen bleibt es nicht bei Einmalzahlungen als Pflaster für auf Dauer gestellte Lohneinbußen, es springen zusätzlich echte Lohnprozente raus. Die nehmen freilich an der „Kriegsinflation“ gar nicht erst Maß. Und ganz gemäß der Logik, wonach alles über die vom Kanzler empfohlenen 3000 Euro hinaus ein Zugeständnis der Arbeitgeber ist, erkaufen die Gewerkschaften sich dieses Extra durch weitreichende Zugeständnisse ihrerseits: durch extralange Laufzeiten vor allem, aber auch durch eine „Gesprächsverpflichtung bei Energienotlage“ und die „dauerhafte automatische Differenzierung“, auf die die Metallarbeitgeber seit langem scharf sind, weil die bewährte tarifvertragliche Einrichtung von Lohnkürzungen für Betriebe „in wirtschaftlichen Schwierigkeiten“ immer noch den Schönheitsfehler eines gewerkschaftlichen Mitspracherechts hatte. Dafür dürfen die Gewerkschaften die Zahlen unwidersprochen noch gnadenloser schönrechnen als ohnehin üblich: In der Metallbranche, in der es schon seit Jahren keine Änderungen an den Lohntabellen mehr gegeben hat, bekommen die Beschäftigten ab Juni 2023 – nach dann anderthalb Jahren Hochinflation und 8 Monate nach Laufzeitbeginn – 5,2 Prozent mehr Lohn, dann ab Mai 2024, fünf Monate vor Ende der zweijährigen Laufzeit, noch einmal 3,3 Prozent. Macht in Summe 8,5 Prozent!

So geht’s offenbar auch. Man muss den Verhandlungspartnern die Zeiten nicht immer so schwer machen, wenn auf dem Kontinent schwere Zeiten herrschen.

[1] Zur Bebilderung ein kleiner Ausschnitt aus einem Sittengemälde der Verhältnisse im Gesundheitswesen, wo sich die realen Lohneinbußen seit 2010 auf 20 Prozent addieren: „Die Lebenshaltungskostenkrise, die Inflation bei 11 Prozent, die explodierenden Energiepreise, das führt zu einer fast unglaublichen Entwicklung. Jeder vierte NHS-Trust, die lokalen Untereinheiten des Systems, bietet mittlerweile eine Tafel an – für die eigenen Mitarbeiter. Die nicht genug verdienen, um sich und ihre Familie zu ernähren. Ein weiteres Viertel der Trusts könnte bald folgen mit dem Angebot einer Essensausgabe... Nach der Schicht zur hausinternen Tafel. In der Frauen- und Kinderklinik Birmingham heißt das: Frühstück können sich alle bedürftigen Mitarbeiter umsonst in der Kantine holen... Im Krankenhaus gibt es einen Raum, in dem Mitarbeiter für andere Essen deponieren. Für Mitarbeiter auch mit Vollzeitjobs, erklärt Claire Atkinson aus der Personalvertretung. ‚Niemand sollte nach einer 12 Stunden-Schicht hungern müssen. Und wir reden hier nicht nur über Reinigungskräfte oder das Sicherheitspersonal. Sondern über junge Radiologen, Pfleger, Hebammen, die sich hier Sachen mitnehmen.‘“ (zdf.de, 28.11.22)

[2] Im Fall des britischen Rettungswesens denunziert die Gewerkschaft mühelos die Heuchelei, es ginge bei dem neuen Gesetz um den Schutz der Kranken: Im Normalfall ist „der Druck auf den Dienst so groß, dass jeden Tag in der Woche schwerkranke Menschen stundenlang auf den Rettungsdienst warten, und in vielen Fällen kommt der Krankenwagen zu spät... Wenn [Gesundheitsminister] Steve Barclay die Absicht hat, während eines Streiks eine Mindestbesetzung einzuführen, muss er aufs Ganze gehen und sicherstellen, dass dies das ganze Jahr über der Fall ist.“ (UNISON, 21.12.22)