Hunger und Krieg
Der Kampf um die „europäische Kornkammer“

Die Russische Föderation führt ihren Zwei-Fronten-Krieg gegen die Ukraine und ihre westlichen Paten. Die ukrainische „Kornkammer Europas“ gerät da nicht nur zwischen die Fronten, sie ist eine Front. Das ukrainische Militär vermint seine Schwarzmeerküste, um russische Landeoperationen zu verhindern, Russland seinerseits blockiert mit seiner Schwarzmeerflotte die Häfen von Odessa bis Mariupol, um dem Westen einen entscheidenden Nachschubweg für sein militärisches Gerät zu versperren; zudem schneidet Russland damit seinen direkten Kriegsgegner, den ukrainischen Staat, von seiner wichtigsten Devisenquelle, dem Export von Getreide und Ölsaaten, ab, schwächt seine schwache Finanzmacht und vergrößert für den Westen die Alimentierungskosten für die Ukraine. Deshalb verlässt kein Getreidefrachter seit Februar Odessa...

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Hunger und Krieg
Der Kampf um die „europäische Kornkammer“

Die Russische Föderation führt ihren Zwei-Fronten-Krieg gegen die Ukraine und ihre westlichen Paten. Die ukrainische „Kornkammer Europas“ gerät da nicht nur zwischen die Fronten, sie ist eine Front. Das ukrainische Militär vermint seine Schwarzmeerküste, um russische Landeoperationen zu verhindern, Russland seinerseits blockiert mit seiner Schwarzmeerflotte die Häfen von Odessa bis Mariupol, um dem Westen einen entscheidenden Nachschubweg für sein militärisches Gerät zu versperren; zudem schneidet Russland damit seinen direkten Kriegsgegner, den ukrainischen Staat, von seiner wichtigsten Devisenquelle, dem Export von Getreide und Ölsaaten, ab, schwächt seine schwache Finanzmacht und vergrößert für den Westen die Alimentierungskosten für die Ukraine. Deshalb verlässt kein Getreidefrachter seit Februar Odessa. Darüber hinaus bringt Russland seine eigenen agrarindustriellen Fähigkeiten in Anschlag, um die Wirkungen des Sanktionsregimes einzudämmen: Russland, selber einer der größten Getreideexporteure der Welt, verhängt auf Kosten seiner Weltmarktkunden unmittelbar nach Inkrafttreten der ersten westlichen Sanktionen eine zeitlich befristete Beschränkung seiner Agrarexporte. Es schafft mit dieser Gegenmaßnahme auf dem heimischen Getreidemarkt Versorgungssicherheit und ein Überangebot, bekämpft damit die Inflationierung des Rubels; zumindest auf dem Sektor der mit russischem Getreide produzierten Lebensmittel sollen die Preise einigermaßen stabil bleiben. Die EU kündigt ihrerseits mit dem fünften Sanktionspaket an, dass sie ab Juli den Import von Düngemitteln aus Belarus und Russland, immerhin zwei der bedeutendsten Düngerproduzenten der Welt, verbietet. Die Preise steigen längst, allein schon wegen der gestiegenen Preise für den zentralen Düngemittelrohstoff Erdgas. Russland seinerseits erhöht seine Düngemittel-Exportkontingente im Vorgriff der Sanktionen, um seinen heimischen Produzenten neue Kunden zu erschließen, die natürlich im befreundeten Ausland sein müssen...

Keine Kriegspartei steckt bislang zurück, der Krieg eskaliert an beiden Fronten. Völlig klar, dass mit diesen kriegsbedingten Eingriffen in den Weltagrarmarkt die Versorgung eines gar nicht so kleinen Teils der Menschheit – man spricht von ca. 800 Mio. Menschen vor allem in Afrika und Nahost – mit Getreide und Düngemitteln, die jeder Produzent braucht, prekär wird. Und zwar längst bevor die Getreidemengen unzureichend werden: die armen Länder dieser Welt bzw. die großen Hilfsorganisationen wie World Food Program usw. scheitern dank der marktwirtschaftlichen Vernunft des „Welternährungssystems“ vorher am Preis, den Agrargroßhändler und Finanzkapitalisten auf Basis ihrer aktuellen „fundamentals“ und in der Sicherheit nach oben spekulieren, dass die zukünftige Knappheit der Waren ‚Getreide + Dünger‘ grandiose Geschäftsmöglichkeiten jetzt eröffnet: Wir haben keine Probleme mit der Menge, das wirkliche Problem sind der Preis und die offensichtlichen Phänomene der Spekulation, [1] sagt jemand, der es schließlich wissen muss. [2]

Mitte Mai entdecken die westlichen Führer diese gigantische Nahrungsmittelkrise auf ihrem G7-Fachminister-Treffen als weiteres Kapitel in der langen Liste von Kriegsverbrechen; bei wem ist keine Frage: Putin nimmt die weltweite Lebensmittelversorgung als Geisel (US-Außenminister Blinken), er führt damit gegen die Schwächsten der Welt einen Hungerkrieg (Außenministerin Baerbock), und für Landwirtschaftsminister Cem Özdemir ist der Einsatz der Waffe Hunger die widerlichste Art der Kriegführung, die er sich überhaupt nur vorstellen kann: Putin will – man höre und staune – einen Konkurrenten ausschalten und unverschämterweise auch noch einen Wirtschaftskrieg führen – wo der doch ganz in „unsere“ weltpolitische Kompetenz fällt! (Pressekonferenzen an den G7-Fachministertreffen 13./14.5.22)

Vierzehn Tage später, Ende Mai – die Getreidefrage spitzt sich langsam zu, weil die von der letztjährigen Rekordernte vollen Getreidesilos geräumt werden müssen, um die neue Ernte überhaupt einlagern zu können; das Getreide auf den blockierten Frachtern droht zu verderben – kommt von russischer Seite in Sachen Getreidekrise tatsächlich ein Angebot: Man garantiert für die Öffnung eines Korridors für Getreide-Schiffe, wenn der Westen – wir sind schließlich keine Idioten!, sagt ein russischer Politiker – im Gegenzug seine Export- und Finanzsanktionen gegen Russland aufhebt. Ein Angebot, das auf Leistung und Gegenleistung beruht, die Agrarkrise würde entschärft... [3]

Die westlichen Führer brauchen keine Sekunde, um dieses russische Angebot als nicht befassungswürdige Erpressung zurückzuweisen. Putin und Russland sitzen in Sachen Welthunger auf der Anklagebank der westlichen Staatenallianz, und Angeklagte des Welthungergerichts haben keinerlei Bedingungen zu stellen. Mit dem stereotypen Hinweis Macrons oder Scholz’, dass die westliche Staatengemeinschaft den Export russischer Agrarprodukte (noch) gar nicht sanktioniert, weisen diese jegliche Mitzuständigkeit für die Verschärfung der Lebensmittelkrise von sich und bestehen auf der einseitigen Bringschuld des russischen Staates, die kriegsstrategischen Häfen der Ukraine ohne Vorbedingungen zu öffnen, damit der Weizen usw. von der Ukraine verkauft werden kann. Und natürlich ist das gesamte westliche Sanktionsregime einschließlich seiner durchschlagenden Wirkungen auf die Produktionspreise der Agrarproduktion weltweit sakrosankt und wird noch nicht einmal erwähnt: weder als Verhandlungsgegenstand noch als irgendwie an den katastrophalen Wirkungen auf die Weltnahrungspreise beteiligte Ursache. Wegen des Hungers lässt sich die westliche Staatengemeinschaft ihre Russlandfeindschaft doch nicht abkaufen! Da muss noch der dringendste Getreidebedarf hinter dem eskalierenden Wirtschaftskrieg zurückstehen, damit der so richtig seine ruinierende Wirkung auf Russland entfaltet. Und schon der Verdacht, dass mit ukrainischem Getreide hungrige Mäuler in Ägypten und anderswo auf russische Rechnung gestopft werden, ist Getreidediebstahl allergrößten Kalibers, der konsequent zu unterbinden ist:

„Das ukrainische Außenministerium hat die Zielländer russischer und ukrainischer Weizenexporte gewarnt, dass es sich bei Lieferungen aus Russland um gestohlenes Getreide handeln könnte. Aufgrund einer solchen Warnung wurde der russische Frachter ‚Matros Posinitsch‘ mit nach ukrainischen Angaben etwa 27 000 Tonnen Getreide an Bord vom ägyptischen Hafen Alexandria abgewiesen. Nachdem der Frachter auch im Libanon nicht anlegen durfte, ist er nach Recherchen des amerikanischen Fernsehsenders CNN weiter zum syrischen Hafen Latakia gefahren.“ (FAZ, 14.5.22)

Schließlich steht hier das internationale Eigentumsrecht der Ukraine zur Disposition, das die NATO-Staaten geschlossen mit verteidigen.

Trotz aller Rückendeckung für die ukrainische Kriegspartei: Wer weiß schon, wie geschlossen die Front steht, wenn dem westlichen Sanktionsregime das heuchlerisch vorgetragene Sorgeobjekt „Welthunger“ gegenübersteht. Jedenfalls sieht sich der ukrainische Außenminister dazu bemüßigt, den westlichen Kriegspartnern ins Gewissen zu reden, auf dass die über das Hungerproblem nicht das eigentliche Thema, nämlich die russischen Kriegsverbrechen an der Ukraine, vergessen und gar die antirussischen Maßnahmen relativieren:

„Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba bezeichnete zudem Russlands Forderungen nach Aufhebung der Sanktionen als ‚Erpressung‘. ‚Ja, wir fühlen mit allen in der Welt, die von den massiven Folgen der russischen Blockade betroffen sind‘, sagte er in Davos auf dem Weltwirtschaftsforum. Zugleich rief er jeden Politiker dazu auf, sich nicht auf eine Aufhebung der Sanktionen einzulassen. Ehe sie über ein Ende der Sanktionen sprechen, um Kinder vor dem Hunger zu retten, sollten sie lieber in die Ukraine fahren, um die toten Kinder zu sehen und mit den Eltern zu reden, deren Kinder von russischen Soldaten misshandelt wurden. Dann würden die Politiker schweigen, sagte Kuleba.“ (Bild, 25.5.22)

Um ganz zwanglos nachzuschieben, wie am Ende auch noch dem Hungerproblem am besten beizukommen wäre:

„Wie die Exporte am schnellsten ausgefahren werden könnten? Die ukrainische Antwort darauf lautet: Die Armee könnte den Weg für die Schiffe frei schießen – wenn der Westen dafür schwere Waffen liefert.“ (Ebd.)

[1] Italiens Agrarminister Patuanelli, corriere.it, 28.5.22

[2] Die Hungerhilfe-Organisationen kauften große Teile ihres Getreides wegen der niedrigen Preise in der Ukraine. Die von der EU ins Auge gefassten alternativen Exportrouten über Schiene, Straße und Binnenschifffahrt mögen im Vergleich zur Seefahrt beschränkt sein, als Hauptproblem identifizieren die zuständigen Funktionäre aber stets die hohen Kosten dieser Alternativen, die ihnen und den Dritte-Welt-Ländern am Ende zu schaffen machen.

[3] Russlands Vize-Außenminister Andrej Rudenko forderte am Mittwoch der Agentur Interfax zufolge eine Aufhebung der Strafmaßnahmen gegen Russlands Exportbranche sowie gegen den Finanzsektor. Zudem müsse die Ukraine alle Häfen entminen. Russland sei dann bereit, eine ‚humanitäre Durchfahrt‘ zu sichern. (Bild, 25.5.22) Ferner bedingt sich Russland aus, die Geleitzüge zu kontrollieren und vorab über die Zielhäfen informiert zu werden.