Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Gedenken an Armenien, Verdun, Hiroshima, Russlandfeldzug – das Abschlachten ausschlachten

Staaten kommen seit jeher in ihren Auseinandersetzungen mit einer gewissen Regelmäßigkeit nicht umhin, ihre Völker gegeneinander in den Krieg zu schicken. Gelegentlich werden diese Großtaten staatlicher Gewalt zum Gegenstand des Erinnerns und Gedenkens. In diesem Frühsommer gibt es binnen weniger Wochen gleich vier solcher Jubiläen: Armenier-Massaker und -Vertreibungen, die Schlacht von Verdun, die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, der Russlandfeldzug der deutschen Wehrmacht. Die entsprechenden offiziellen Feierlichkeiten und publizistischen Würdigungen folgen bis zu einem gewissen Punkt einem stets gleichen Schema, das – bezogen auf die historischen Ereignisse – seltsam unsachlich anmutet.

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Systematischer Katalog
Gliederung

Gedenken an Armenien, Verdun, Hiroshima, Russlandfeldzug – das Abschlachten ausschlachten

Staaten kommen seit jeher in ihren Auseinandersetzungen mit einer gewissen Regelmäßigkeit nicht umhin, ihre Völker gegeneinander in den Krieg zu schicken. Gelegentlich werden diese Großtaten staatlicher Gewalt zum Gegenstand des Erinnerns und Gedenkens. In diesem Frühsommer gibt es binnen weniger Wochen gleich vier solcher Jubiläen: Armenier-Massaker und -Vertreibungen, die Schlacht von Verdun, die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, der Russlandfeldzug der deutschen Wehrmacht. Die entsprechenden offiziellen Feierlichkeiten und publizistischen Würdigungen folgen bis zu einem gewissen Punkt einem stets gleichen Schema, das – bezogen auf die historischen Ereignisse – seltsam unsachlich anmutet.

Die Subjekte der jeweiligen Gemetzel waren eindeutig und ausschließlich die politischen Hoheiten über die aufeinander gehetzten Völker bzw. Volksteile; im Mittelpunkt der historischen Gedenktage stehen freilich ganz die menschlichen Opfer. Schwarzweißfotografien von hungernden Armeniern, Feldpostbriefe von der Westfront und Bilder sterblicher Überreste dort gefallener Soldaten, persönliche Erinnerungen von Überlebenden des Atombombenabwurfs an den Überlebenskampf ab dem „day after“, eine Gedenkstunde des Bundestags für die Leichenberge, die der Nazi-Angriff auf die Sowjetunion produzierte – das sind die zielstrebig eingesetzten Mittel dafür, das Publikum auf sein (mit-)menschliches Gefühl anzusprechen und damit auf die Perspektive der menschlichen Betroffenheit zu verpflichten. So werden die politisch kalkulierten und gewollten Gewaltorgien staatlicher Souveräne zu ganz und gar menschlichen Schreckensereignissen. Dabei bleibt es aber nicht.

Denn mit der Verpflichtung auf die Perspektive der menschlichen Opfer werden diese nicht nur betrauert, sondern zum Gegenstand höchster Ehrung. Wo sie im Krieg, als wirkliche Menschen, nur die Betroffenen ihrer elenden Rolle als Befehlsempfänger des Kriegswillens der eigenen Obrigkeit und Zielscheibe des entgegengesetzten Willens der gegnerischen Führung waren, wird ihnen im Zuge des ‚ehrenden Angedenkens‘ das Privileg zuteil, dass man sich ‚vor ihnen verneigt‘ und ‚von ihnen mahnen‘ lässt. Die geschundenen Kreaturen von damals werden posthum in den moralischen Adelsstand ideeller Ratgeber für ‚uns Heutige‘ bzw. ‚unsere Zukunft‘ erhoben, deren ‚Lektionen zu folgen wir ihnen schulden‘, womit ihr übles Schicksal nachträglich einen höheren Sinn erhält.

Und darin liegt der praktische Sinn dieser Übung, die nur einerseits unsachlich, andererseits aber sehr zielführend ist – für die politischen Subjekte nämlich, die nicht nur dann und wann Kriege führen, sondern es sich eben auch angelegen sein lassen, den von ihren Amtsvorgängern produzierten Opfern zu beliebigen späteren Zeitpunkten immer genau das abzulauschen, was sie als den tieferen Sinn ihrer aktuell praktizierten Politik betrachtet haben wollen. Wie frei die politischen Herren über Krieg und Kriegsgedenken dabei sind – das beweisen die jüngsten Jubiläen ganz folgerichtig schon allein dadurch, wie unterschiedlich die ‚Lehren‘ sind, die alle jeweils aus dem Angedenken an die folgen sollen, die doch ziemlich gleichförmig immer nur das eine waren – eben Opfer der gewalttätigen Machenschaften ihrer und fremder Staaten.

1. Gedenken an die Massakrierung und Vertreibung der Armenier

Am 2. Juni – über 100 Jahre nach den Massakern und Massenvertreibungen, die im Zuge der Staatsgründung der modernen Türkei durch das damals noch osmanische Militär an den Armeniern verübt wurden – verneigt sich der Deutsche Bundestag vor den Opfern der Massaker (Resolution), was in diesem Fall heißt, diesen Exzess staatsgründerischer Gewalt endlich als das zu benennen, was es war: ein Völkermord (Gysi). Mit der Inkriminierung der Gewaltaktionen als Verbrechen – die höchste Kategorie von Schuldspruch, die das Völkerrecht kennt – wird der Blick von den Opfern zurück auf die Täter gelenkt, was für alle ganz selbstverständlich damit einhergeht, dass der Blick von den wirklichen Tätern – dem osmanischen Militär – weiterwandert auf die heutige Türkei, die moralisch in die Verantwortung für das Verbrechen gestellt wird.

Die Spezialität der deutschen Tour, der Türkei den Völkermord an den Armeniern zur Last zu legen, besteht darin, dies wie einen guten Rat unter befreundeten Tätervölkern zu präsentieren:

„Wir müssen immer wieder darauf hinweisen, dass es die Türkei nicht schwächt, sondern stärker macht, wenn sie sich zu diesem dunklen Kapitel der osmanischen Geschichte bekennt. Das eröffnet viele Chancen.“ (Özdemir)

So redet einer, der es wissen muss. Tatsächlich hat ja Deutschland eine einzigartige Meisterschaft darin erreicht, sich mit dem offensiven Bekenntnis zu seinen dunklen Kapiteln (Resolution) in die Rolle des Richters über die eigenen Schandtaten zu begeben. Fremde Richtsprüche braucht sich Deutschland damit schon einmal nicht bieten zu lassen; und zugleich beansprucht es mit der Richterrolle in eigener Sache die unbezweifelbare Kompetenz zur moralischen Begutachtung aller anderen Mitglieder der ziemlich gewaltbereiten und gewalttätigen Staatenfamilie. So legt Özdemir mit seiner Beteuerung, dass es nicht darum gehe, dass wir uns in fremde Angelegenheiten einmischen wollen, sondern ... eben auch um ein Stück deutscher Geschichte, Wert darauf, dass den Deutschen niemand die Rolle als zumindest Mit-Täter streitig macht, der Reue zeigt und darum zur Begutachtung der Haupttäter berechtigt und verpflichtet ist:

„Dass wir in der Vergangenheit Komplizen dieses furchtbaren Verbrechens geworden sind, darf nicht heißen, dass wir heute zu Komplizen der Leugner werden.“

Leugner – das ist das entscheidende Stichwort. Auf diesen Vorwurf zielt das ganze Gedenken; und der steht nicht für vergangene Schandtaten, sondern für – welche auch immer – politmoralische Defizite der heute in der Türkei Regierenden. Womit auch feststeht, dass die Pose des gutwilligen Ratgebers eine einzige Heuchelei ist. Wenn die deutschen Experten für historisch-moralische Selbstgerechtigkeit die Türkei dazu auffordern, sich zu ihren schlimmen Taten zu bekennen, dann nur deshalb, weil sie wissen, dass die Türkei genau dies nicht tun wird. Und diese verweigerte Bußfertigkeit lässt sich immer dann gegen die Türkei wenden, wenn es warum auch immer tagespolitisch in den Kram passt.

2. Gedenken an Verdun

Im Rahmen desselben Weltkrieges, zirka zeitgleich mit der antiarmenischen Gewaltorgie im westlichen Asien, fand im Westen Europas eine der fürchterlichsten Schlachten statt, die die Menschheit erlebt hat (Merkel) . Die 300 000 bei Verdun ums Leben Gekommenen sind jedoch der in diversen Veranstaltungen öffentlich zelebrierten Geschichtsauffassung heutiger europäischer Führer zufolge nicht einem Verbrechen, sondern einem gigantischen Missverständnis zum Opfer gefallen. Von Verbrechen kann nach dieser Auffassung schon darum keine Rede sein, weil nirgends ein Verbrecher auszumachen sein soll, waren doch alle gleichermaßen Opfer. Zur Untermauerung dieser Sichtweise besuchen französische und deutsche Politiker gemeinsam ein Beinhaus, in dem die Skelette von französischen und deutschen Soldaten liegen, die ja nun offensichtlich alle gleichermaßen tot sind.

Das ist der passende Hintergrund für die historischen Lehren, die Merkel dann auszubreiten hat. Die bestehen darin, die Toten des Jahres 1916 vom Stand und Standpunkt der europäischen Politik des Jahres 2016 aus zu betrachten, die die kriegerische Feindschaft der Nationalstaaten überwunden und durch die zivile Konkurrenz innerhalb der Europäischen Union abgelöst hat. Folgerichtig entdeckt die Kanzlerin nicht nur keine Täter, sondern vor allem keinen Sinn und Zweck des Tötens und Sterbens von Verdun. Den ein Jahrhundert zurückliegenden Krieg um die imperialistische Vorherrschaft in Europa präsentiert sie als negatives Abziehbild von heute: als Bruderkrieg zwischen Völkern, die damals von ihrer Verwandtschaft freilich noch nichts ahnten, die in Engstirnigkeit und Nationalismus, Verblendung und politischem Versagen sich als Erbfeinde gründlich missverstanden. Und umgekehrt: Verglichen mit der verheerenden Todfeindschaft der Nationen von 1916 ist das Europa des Jahres 2016 nichts als das positive Abziehbild von damals: die vollbrachte Erfüllung aller Ideale abendländischer Völkerfreundschaft bzw. vor allem des einen Ideals – es ist ja unzweifelhaft Frieden in Europa und nicht Krieg.

Für diese Verherrlichung des heutigen Europa mittels Verdun-Gedenken muss die deutsche Staatschefin den wirklichen Zustand der Europäischen Union noch nicht einmal verschweigen, im Gegenteil:

„Das gilt für die Bewältigung der europäischen Staatsschuldenkrise oder den Umgang mit den vielen Menschen, die bei uns Zuflucht suchen... Unser gemeinsames Bekenntnis zu den grundlegenden Werten Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit muss täglich unter Beweis gestellt werden.“

Sie zitiert die aktuellen Hauptkrisenlagen und Gegenstände erbitterter innereuropäischer Staatenkonkurrenz, um zu betonen, dass das alles letztlich eine hervorragende Sache mit glanzvoller Perspektive ist und bleibt, wenn man dabei nur immer schön an das Massentöten denkt, das die Rechtsvorgänger der heutigen europäischen Konkurrenten neulich einmal für passend hielten.

3. Gedenken an Hiroshima

Ganz ohne rundes Jubiläum wird in diesem Frühjahr auch der Opfer des Atombombenabwurfs auf Hiroshima gedacht, diesmal mit einer Premiere: Ein amtierender Präsident der Supermacht, die damals mittels Atombombe die Stadt dem Erdboden gleichmachte, Japan zur Kapitulation zwang und dadurch den Zweiten Weltkrieg siegreich beendete, wohnt den Feierlichkeiten am Ort des Geschehens bei. Im Vorfeld ist denn auch spekuliert worden, ob sich Obama stellvertretend für seine ganze Nation zu einer offiziellen Bitte um Entschuldigung durchringt.

Was er dann tatsächlich tut und sagt, ist etwas anderes und eines US-Präsidenten auf jeden Fall würdig. Er dreht den Spieß nämlich einfach um. Statt bei den nationalen Nachfahren der Opfer des amerikanischen Nuklearkriegsschlages zu eruieren, ob sie den nationalen Nachfahren der Täter vergeben und zur Versöhnung mit ihnen bereit sind, bietet umgekehrt er großherzig an, den Überlebenden, Hinterbliebenen und der japanischen Nation in Gänze nicht mehr böse zu sein, sondern sich versöhnen zu wollen. Zum Beweis dafür schreiben ihm seine Drehbuchautoren einen Show-Auftritt ins Programm: Er drückt einen leibhaftigen Überlebenden an seine Präsidentenbrust, was jener ihm mit Tränen der Rührung auch gebührend dankt.

Und ganz dieser netten Geste entsprechend sieht die moralische Lehre aus, die Obama verkündet. Er führt in seiner Rede aus, dass in rückwärtiger Betrachtung das Ereignis mit den Kategorien ‚Täter‘ und ‚Opfer‘ gar nicht zu fassen ist. Erstens:

„Vor 71 Jahren, eines schönen wolkenlosen Morgens, fiel der Tod vom Himmel und die Welt wurde verändert.“

Von einem politischen Subjekt, das den Tod per Flugzeug in den Himmel befördern ließ, um dann seinen punktgenauen Abwurf zu befehlen, will der amerikanische Oberbefehlshaber nichts wissen. Dafür weiß Obama zweitens, dass der plötzliche Massentod, von dem die Japaner Jahr für Jahr so viel Aufheben machen, Tradition hat, und zwar eine ganz lange. Schließlich zeugen Artefakte davon, dass gewaltsame Konflikte so alt sind wie die Menschheit. Und überhaupt:

„Was uns zur Spezies macht – unsere Gedanken, unsere Vorstellungskraft, unsere Sprache, der Werkzeugbau, unsere Fähigkeit, uns selbst von der Natur zu unterscheiden und sie unserem Willen zu unterwerfen –, genau das verleiht uns ebenso die Fähigkeit zu unvergleichlicher Zerstörung.“

In größerem, anthropologisch dimensioniertem Kontext erhellt sich also, dass die 140 000 Japaner zum Opfer der Natur ihrer eigenen Gattung wurden, die fortschreitend effizienteres Kriegsgerät baut, weil sie es kann – und dann selbstverständlich regen Gebrauch davon macht. Letztlich würde sich die Krone der Schöpfung so berechnungslos wie zielstrebig in eine evolutionäre Sackgasse manövrieren – wenn nicht justament der historische Höhepunkt technologisch perfektionierter Massentötung dem US-Präsidenten eine Lektion erteilt hätte, die dieser umgehend an seine Mitmenschen weiterreicht:

„Die Vorstellung des Atompilzes, der in diesen Himmel wuchs, erinnert uns an den Kernwiderspruch der Menschheit... Technologischer Fortschritt ohne äquivalenten Fortschritt menschlicher Institutionen bedeutet unseren Untergang.“

Aus dem Munde des Vorsitzenden der Institution, die es zum technisch fortschrittlichsten Mittel unvergleichlicher Zerstörung gebracht hat, ist es besonders glaubwürdig, wenn er daran erinnert, dass „die gewöhnlichen Menschen“ sich ihre massenhafte Vernichtung nicht bestellt haben. Weshalb ihre Führer sie dennoch für die Menschen ihrer Feinde auf die Tagesordnung setzen, lässt er großzügig offen – Hiroshima immerhin, meint er, sollte sie zögern lassen:

„Die gewöhnlichen Leute wollen keinen Krieg mehr. Sie hätten es lieber, wenn sich die Wunder der Wissenschaft auf eine Verbesserung ihres Lebens und nicht auf seine Zerstörung richteten. Wenn die Entscheidungen, die Nationen und ihre Führer treffen, diese einfache Weisheit reflektieren, dann ist die Lektion von Hiroshima gelernt worden... Heute können die Kinder dieser Stadt in Frieden durch den Tag gehen. Das ist ein wertvolles Gut.“

Offenbar meint er wirklich, dass die Menschheit zu Dankbarkeit verpflichtet ist, weil und solange diejenigen, die es könnten, auf Atom- und sonstige Kriege verzichten und sie wenigstens in Frieden lassen. Und weil seiner Auskunft zufolge die USA nicht erst, aber gerade unter seiner Führung die menschlich so wünschenswerte Zurückhaltung beim Kriegführen als Lehre aus Hiroshima und Nagasaki an den Tag legen, preist er die Nuklearmassaker von 1945 abschließend glatt als den Beginn unseres eigenen moralischen Erwachens.

So gesehen, wäre es tatsächlich abwegig, sich dafür auch noch zu entschuldigen.

4. Gedenken an den Beginn des deutschen Russlandfeldzugs

Zum 75. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion wird im Rahmen einer Sitzung des Bundestages betont unfeierlich in demonstrativer parlamentarischer Routine das Gedenken als Tagesordnungspunkt 4 aufgerufen:

„In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941, heute vor 75 Jahren, brach die Hölle los... Über 25 Millionen Menschen in der Sowjetunion, Weißrussen, Ukrainer, Russen und andere, sollten in diesem Angriffskrieg ihr Leben verlieren. Das Ausmaß des Leidens ist nicht in Worte zu fassen.“ (Steinmeier) „Ein beispielloser Vernichtungsfeldzug ..., der in der menschenverachtenden nationalsozialistischen Rassenideologie wurzelte...“ (Bundestagspräsident Norbert Lammert) „Es war der ungeheuerlichste Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg.“ (Bundestagsabgeordneter Alois Karl, CDU/CSU, alle Zitate aus: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 18/178, 22.6.16)

Mit dem pflichtschuldigen Bekenntnis zu ganz außerordentlichen Täterleistungen stellt der Bundestag zunächst einmal klar, wem hier die führende Rolle in der Erinnerungskultur zukommt – und das, im Jahr 2 der Ukrainekrise, mit einem klaren „Um-zu“:

„Wir sind hier, um zu erinnern, und wir sind hier, um uns im Erinnern der Verantwortung zu vergewissern, die wir Deutsche für den Frieden auf diesem Kontinent tragen. Von einem Zeitalter des Friedens sind wir heute weit entfernt, weiter, leider, als wir jemals seit dem Ende des Kalten Krieges waren... Mit der Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine hat sich erstmals seit dem Ende des Kalten Krieges ein Unterzeichnerstaat der Schlussakte von Helsinki offen gegen eines der leitenden Prinzipien der europäischen Friedensordnung gestellt, die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Souveränität eines anderen Staates. Gerade weil wir unsere historische Verantwortung für die europäische Friedensordnung ernst nehmen, war es diese deutsche Bundesregierung, die auf diesen Prinzipienbruch klar und unmissverständlich reagiert hat und die unsere Partner in diese Reaktion eingebunden hat.“ (Steinmeier)

Das Bekenntnis zur Täterrolle in einem Vernichtungsfeldzug ist offenkundig und ohne Verfallsdatum immer wieder produktiv für die Gegenwart. Man erobert sich damit eine raumgreifende Verantwortung – für Frieden gleich auf dem ganzen Kontinent, womit Russland als heutiger Täter vor ein ideelles Tribunal gestellt und sein moralisches Recht, auf den alten Opfern herumzureiten, grundsätzlich infrage gestellt wäre.

In diesem Sinne legt sich auch die Grüne Marieluise Beck ins Zeug, die darauf deutet, dass auch russische Verantwortung für das große Gemetzel in Rechnung zu stellen ist:

„Der Angriff vom Sommer 1941 traf Stalin weitgehend unvorbereitet und kostete damit vielen sowjetischen Soldaten das Leben.“

Das ist einmal ein guter Einfall, ausgerechnet der mangelnden Kriegsbereitschaft Stalins ein Stück Täterschaft anzuhängen. Und außerdem: Darf Putin überhaupt die alle als seine Opfer reklamieren?!

„Der Überfall auf die Sowjetunion war kein Überfall allein auf Russland, sondern eben auf den Vielvölkerstaat Sowjetunion. Die Sowjetunion existiert nicht mehr. Die historische Schuld, die das Deutsche Reich auf sich geladen hat, und die Verantwortung, die uns bis heute daraus erwächst, gelten also allen Menschen der Nachfolgestaaten, denen in Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Estland, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Lettland, Litauen, Moldawien, Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, in der Ukraine und Usbekistan.“ (Marieluise Beck)

Das kann man Putin nicht durchgehen lassen, mit Opfern auf Rechte zu pochen, die ihm gar nicht gehören. Zumal dank der unermesslichen Schuld der Deutschen die Sorge für die genannten Opfervölker heute in deutsche Verantwortung fällt.