Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
Gasstreitigkeiten oder
„Lässt Putin uns im Winter frieren?“

Welche Frage stellt sich, wenn internationale Gaslieferanten ihr Gas von Europa weg nach Asien umleiten und zusammen mit Spekulanten am „Spotmarkt“ die Preise nach oben treiben? Kein Zweifel: „Lässt Putin uns im Winter frieren?“ Zwar lässt er Gazprom weiter die vereinbarten Mengen nach Europa pumpen, aber der Öffentlichkeit liefert die in der Frage steckende anti-russische Hetze alle wesentlichen Auskünfte über den europäischen Gasmarkt und über die politisch brisanten europäisch-russischen Gas- und sonstigen Beziehungen.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

Gasstreitigkeiten oder
„Lässt Putin uns im Winter frieren?“

Laut Auskunft der Fachleute sind es vielfältige Faktoren, die „den Markt“ dazu bewogen haben, den europäischen Gaspreis in die Höhe zu treiben.

„Die gestiegene Nachfrage in Asien und amerikanische Lieferschwierigkeiten bei Flüssiggas. Auch war der vergangene Winter in Europa besonders kalt, was die Gasspeicher leerte.“ (FAZ, 7.10.21) „Eine allgemein niedrige Erneuerbaren-Einspeisung“ (FAZ, 9.10.21), „auch treiben die CO2-Preise die Kosten“ (FAZ, 9.10.21). „Price fluctuations are almost entirely caused by speculative trading on the TTF markets. TTF [1] is the reason for [price] volatility in [the] Asia and Atlantic [markets]“ (EU Observer, 21.10.21) etc. etc.

Bild und Habeck und eine Vielzahl anderer Journalisten und Politiker wissen Genaueres: Sie plädieren in der Hauptsache auf 1 Grund, nämlich 1 Schuldigen.

„Lässt Putin uns im Winter frieren? Keine Erdgas-Lieferung mehr über Polen nach Deutschland ++ Unsere Speicher sind schon halb leer ++ Preise auf Jahressicht schon vervierfacht.“ (Bild, 6.8.21)
„Wenige Tage nach der Fertigstellung der russischen Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 wird klar: Russlands Präsident Wladimir Putin nutzt die Röhre genau dafür, wovor Experten seit Jahren gewarnt haben. Er erpresst Deutschland und Europa. Wer nicht nach den Regeln des Staatskonzerns Gazprom spielt, zahlt kräftig drauf oder muss im Winter sogar frieren... Dabei gebe es eigentlich genug Gas in Russland für alle europäischen Kunden. Doch Putin hat dessen Transport in die EU drastisch reduziert.“ (Bild, 17.9.21)
„Mehr als 40 Mitglieder des Europäischen Parlaments haben die EU-Exekutive aufgefordert, gegen Gazprom zu ermitteln, wie Brüsseler Beamte am Freitag bestätigten... ‚Wir fordern die Europäische Kommission auf, dringend eine Untersuchung möglicher vorsätzlicher Marktmanipulationen durch Gazprom und möglicher Verstöße gegen die EU-Wettbewerbsregeln einzuleiten.‘“ (DW, 17.9.21)
„Lässt Putin den EU-Gasmarkt gezielt austrocknen?“ (DW, 14.10.21)
„Wir sind abhängig von Russland, Russland drosselt die Gaszufuhr. Die Speicher sind nicht voll und die Nachfrage ist hoch... Russland scheint so eine Art Pokerspiel mit uns zu spielen.“ (Habeck, Die Welt, 18.10.21) „Habeck warnt vor den Risiken falscher Energiepolitik: ‚Zu was das führen kann, sehen wir gerade bei den Gaspreisen, weil jetzt Russland mit Nord Stream 2 versucht, uns zu erpressen.‘“ (Bild, 20.9.21)[2]

Die Vermutung, dass Putin die Friktionen auf dem europäischen Energiemarkt im Hinblick auf den Streit um Nord Stream 2 zupasskommen könnten, genügt völlig, und schon geht der Beschuldigungs-Tsunami los: Putin verknappt, hat den Transport drastisch reduziert...

Nachdem Politiker und Vertreter der Energiefirmen dementieren und berichten, dass Russland das vertraglich Vereinbarte liefert, werden der Glaubwürdigkeit halber etwas subtilere Fassungen von Putin-Beschimpfungen nachgeliefert.

Die FAZ:

„Russlands merkwürdiger Verzicht auf Geld / Moskau könnte die Gasliefermenge ausweiten, tut das aber nicht... Der staatlich kontrollierte Gazprom-Konzern erfüllt seine langfristigen Gaslieferverträge, nimmt aber nicht die Chance wahr, viel Geld zu verdienen, indem er seine bisher spärlichen Geschäfte auf dem Spotmarkt ausweitet.“ (FAZ, 7.10.21)

Ebenso die SZ:

„Bisher gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass Russland seiner Vertragspflicht nicht nachkommt. Aber mehr als vereinbart fließt auch nicht – und die Frage bleibt unbeantwortet, warum der gestiegene Bedarf nicht nach marktwirtschaftlichen Regeln befriedigt wird.“ (SZ, 13.10.21)
„‚Gazprom macht zur Zeit bei den Lieferungen so eine Art Dienst nach Vorschrift‘, sagte der FDP-Politiker Graf Lambsdorff... Das russische Unternehmen erfülle gerade noch die vertraglichen Verpflichtungen, reagiere aber nicht auf die gestiegene Nachfrage.“ (DLF, 21.10.21)

Wenn laut Auskunft von Experten die Beschuldigung von Russland, dass es vertragswidrig zu wenig liefert, nicht zu halten ist, greifen wir eben zu einer anderen: Russland benimmt sich nicht „marktwirtschaftlich“ – wobei der Sinn von „marktwirtschaftlich“ hier der ist, dass es uns zuliebe den Spotmarkt zum Zwecke der Preissenkung zu füttern hätte –, ergo verfolgt es ungehörige, wenn nicht bösartige Absichten. Bloß – wo ist da die Erpressung?

Angesichts des verkümmerten Langzeitgedächtnisses der Öffentlichkeit sollte man sich anlässlich des aktuellen Geschreis an die Energiepolitik der EU, das Dritte Energiepaket und seine Intentionen erinnern. Echt freie Marktpreise, auch beim Gas, das haben die EU-Politiker doch gewollt; sie wollten doch weg von der fürchterlichen Abhängigkeit in Gestalt der langfristigen Verträge bei der leitungsgebundenen Energie. Sie wollten doch die Versorgungssicherheit vielmehr dem Spiel der freien Marktkräfte anvertrauen, um vermittels von mehr Konkurrenz Druck auf Russland ausüben zu können. Und jetzt betätigt sich der freie Markt ganz nach seinem Belieben: LNG-Gas wandert wegen höherer Gewinne nach Ostasien, die Spekulation betätigt sich am Spotmarkt...

Also:

Wer erpresst hier wen und wozu?

Die USA, Ted Cruz, die EU-Kommission, Polen u.v.a.m. haben einerseits alle Hebel in Gang gesetzt, um Russland an der Fertigstellung von Nord Stream 2 zu hindern. Andererseits aber soll Russland auf eine Steigerung der Lieferungen verpflichtet werden, um Europa Knappheiten und Preissteigerungen beim Gas zu ersparen. Diese vordergründig leicht widersprüchlichen Forderungen passen insoweit gut zusammen, als es dabei um etwas Drittes, nämlich darum geht, Russland auf eine andere Transitroute zu verpflichten, es dazu zu zwingen, die bankrotte Ukraine via Transitgebühren zu alimentieren. Auch die Entscheidung des US-Präsidenten, in Sachen Nord Stream 2 vorläufig auf die weitere Sanktionierung bundesrepublikanischer Instanzen zu verzichten, war ja an die Zusage der deutschen Politik geknüpft, die Finanzierung der Ukraine durch die Gasgeschäfte weiterhin als deutsche Priorität zu behandeln.

Man könnte fast meinen, dass die westlichen Patrone der Ukraine einen Sinn für Humor haben bzw. für Zynismus, wenn sie Russland dazu erpressen wollen, einen elementaren Beitrag zum Überleben der Ukraine zu leisten, einer Ukraine, die ungefähr 12-mal pro Tag Kriegserklärungen aller Art an den zum Hauptfeind und Hort alles Bösen erklärten Nachbarstaat abliefert; die im Sinne dieser Feindschaftserklärung der Hälfte ihres Volks das muttersprachliche Russisch verbietet; die sich systematisch in einen Stützpunkt des US-Militärs verwandelt und und und... Ebendieser Ukraine soll Russland ein paar Überlebensmittel spendieren und den westlichen Patronen Kosten beim Durchfretten ihres Schützlings ersparen.

Seit Jahren zirkuliert der Vorwurf an die russische Adresse, die Pipelines als „geopolitische Waffe“ zu missbrauchen – das war ja überhaupt die entscheidende Legitimation für die Politik der EU des letzten Jahrzehnts, die sich mit der Fortschreibung und Ausdehnung ihres Energierechts bis nach Sibirien dem Ziel gewidmet hat, die Kontrolle über das russische Energiegeschäft zu erobern. Bloß, was ist umgekehrt der Versuch, Russland dazu zu zwingen, relevante Zuschüsse zum Staatshaushalt der Ukraine, dieses NATO-Vorpostens, zu leisten, anderes als „Geopolitik“?!

Das wäre den deutsch-europäischen Energiepolitikern wohl am liebsten: einerseits Russland vorschreiben zu können, wie viel Öl und Gas es an wen, zu welchen Preisen und Konditionen abzuliefern hat, und gleichzeitig zusammen mit den USA den Rohstofflieferanten mit der gediegenen Feindschaft zu traktieren, die die russische Behauptung der Reste sowjetischer Weltmacht als unerträgliche Aggression definiert.

Die deutsche EU-Führungsnation weigert sich hartnäckig, auch nur in irgendeinem Unterpunkt ihres Programms Abstriche zu machen: Weder verzichtet sie auf die Konfrontation mit Russland beim Thema Ukraine, besteht unnachgiebig darauf, dass ausgerechnet Russland dieses Unwesen weiter zu finanzieren hätte – auch wenn ihre Machtmittel in der Hinsicht dann doch einfach nicht weit genug reichen. Beispielsweise hat sich Ungarn nicht an einem Gaskontrakt mit Russland hindern lassen, der den Transport von Gas über TurkStream und den Balkan vorsieht, also die Ukraine umgeht.

Ebenso wenig gedenkt Deutschland, auf seinen Anspruch zu verzichten, dass von dem als „Brückenenergie“ benötigten russischen Gas in der Phase der Einleitung der Energiewende immer genau so prompt und so viel wie benötigt geliefert wird. Und während die Merkel-Regierung mit dem Projekt immer noch eine deutsche Sonderstellung auf dem Energiemarkt gegen den Standpunkt der EU-Kommission durchdrücken will, dringt ein Teil der deutschen Politiker ganz im Sinn der Kommission und der Ablehnungsfront in der EU umgekehrt darauf, Russland bei der Inbetriebnahme von Nord Stream 2 der europäischen Energiemarkt-Gesetzgebung zu unterwerfen und dadurch zu beschränken. [3] Die endlich in die Regierungswürde eintretenden Grünen wollen schließlich Nord Stream 2 grundsätzlich verhindern; zur Demonstration der politischen Reife der ehemaligen Friedenspartei gegenüber der Gefahr eines aggressiven Russlands und seiner Gasexporte hat sich Habeck bei seinem Auftritt an der Front in der Ostukraine ja schon mal mit Stahlhelm präsentiert.

Umso giftiger fallen daher die politischen Schuldzuweisungen angesichts der aktuellen Lage aus, wo man im Übergang zur Energiewende noch auf Russland angewiesen ist, [4] das mit Hilfe von einigen Wetter- und Weltmarkt-Faktoren dann wirklich einmal Deutschland auf dem falschen Fuß erwischt. Da müssen dann Diplomaten und die Kanzlerin persönlich die Scharfmacher auch wieder zur Vorsicht ermahnen. Der EU-Botschafter in Moskau teilt mit, es könne jetzt in der aktuellen Situation nicht um Schuldzuweisungen gehen. Schließlich hätte Russland durchaus die Möglichkeit, die EU wenigstens eine Weile ‚schmoren‘ zu lassen, wenn deren Vertreter sich in der Wortwahl nicht mäßigen. (junge Welt, 19.10.21) Und Merkel nimmt demonstrativ Gazprom in Schutz und warnt davor, falsche Maßnahmen zu ergreifen und die Verantwortung vorschnell bei Russland zu suchen. Solange man seinen Energielieferanten noch braucht – was ja angesichts der „Herausforderungen“ der Klimawende durchaus noch dauern kann –, sollte man nicht allzu sehr auf ihm herumtrampeln, jedenfalls nicht vorschnell. [5]

Und noch eine unpassende Frage:

Wieso hat die Ukraine eigentlich so viel internationale Fürsorge nötig?

Wieso ist sie von einer – marktwirtschaftlich betrachtet – äußerst vernünftigen Verlagerung der russischen Gaslieferungen an Europa auf die direkte und kürzere Anbindung per Nord Stream 2 so existenziell geschädigt? Vor lauter Krokodilstränen über das unschuldige Opfer russischer Aggression sollte nicht übersehen werden, dass dieses Staatswesen mit seiner per Putsch durchgesetzten Angliederung an die EU einen großen Schritt in einem wirtschaftlichen Desaster vorangekommen ist. Seine Umfunktionierung in einen feindseligen Vorposten des Westens gegen Russland, die Steigerung der vorher schon erreichten wirtschaftlichen Verwüstungen durch den Abbruch der wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland stellen den Staat bzw. seine Gesellschaft vor eine Überlebensfrage. Offenkundig bekommen dem Land die Segnungen von Marktwirtschaft & Demokratie, sein Überwechseln ins Lager der Guten gar nicht gut. [6] Das soll jetzt nach dem Beschluss der westlichen Politik ausgerechnet Russland – zwar nicht reparieren, aber – immer noch irgendwie gangbar halten.

Putin redet Klartext

Selbstverständlich macht Russland Politik mit seinem Gas und Öl. In dem machtpolitischen Gezerre mit der EU denkt es selbstverständlich nicht daran, seine bedeutendste Devisenquelle, die Energieexporte, selbstlos in den Dienst an europäischen Interessen zu stellen, mal ganz viel zu liefern und dann, entsprechend der von Europa geplanten Emanzipation, immer weniger, nebenbei aber wiederum alle Staaten bestens zu versorgen, die von EU und NATO angegliedert werden, um sie als neue Frontstaaten gegen Russland aufzubauen.

Selbstverständlich kämpfen Gazprom und die russische Regierung darum, dass sich ihr Projekt Nord Stream 2 nicht in eine milliardenschwere Investitionsruine verwandelt; da streiten sie vor allen erdenklichen Gerichten, beharken in diesem Sinne die europäische Öffentlichkeit und haben möglicherweise, neben den sonstigen Ursachen für leere Speicher, damit der EU das Risiko einer unzureichenden Füllung vor Augen stellen wollen. Aber, wo Putin mit seinen Ausführungen Recht hat, hat er Recht:

„In den vergangenen Jahren war die Philosophie der Europäischen Kommission ganz darauf ausgerichtet, den Markt für Energieträger, einschließlich Gas, über eine Warenbörse, den sogenannten Spotmarkt, zu regulieren. Man wollte uns dazu bringen, langfristige Verträge aufzugeben, bei denen die Preise an die Börse gebunden sind, d.h. an die Marktnotierungen für Rohöl und Erdölprodukte. Dies ist übrigens eine Marktpreisbildung...
Was geschah dann auf dem europäischen Markt? Erstens, ein Rückgang der Produktion in den Gasförderländern. Die Produktion in Europa ist in den ersten sechs Monaten um 22,5 Milliarden Kubikmeter zurückgegangen. Das ist der erste Punkt. Zweitens: Die Gasspeicher waren um 18,5 Milliarden Kubikmeter unterbefüllt und sind nur zu 71 Prozent gefüllt...
Vor allem amerikanische, aber auch nahöstliche Unternehmen haben 9 Milliarden Kubikmeter vom europäischen Markt abgezogen und das Gas nach Lateinamerika und Asien umgeleitet... Das Defizit auf dem europäischen Markt könnte sich auf etwa 70 Milliarden Kubikmeter belaufen, was eine Menge ist. Was hat Russland damit zu tun? Das ist das Ergebnis der Wirtschaftspolitik der Europäischen Kommission. Russland hat nichts damit zu tun...
Im Rahmen der sogenannten langfristigen Verträge – ich bitte Sie, mir aufmerksam zuzuhören – liegt der Gaspreis heute bei 1200 oder 1150 Dollar für tausend Kubikmeter. Europäische Unternehmen, die langfristige Verträge mit Gazprom haben, erhalten es – wohlgemerkt – viermal billiger als den aktuellen Preis! Gazprom macht keine Windfall-Profite... Wir sind an langfristigen Verträgen und langfristigen gegenseitigen Verpflichtungen interessiert. In diesem Fall sichern wir uns die Möglichkeit, in die Produktion zu investieren und die benötigten Mengen für unsere Verbraucher kontinuierlich und zuverlässig zu produzieren.“ (Ebenso wie das folgende Zitat: Putin beim Treffen des Valdai Discussion Club, 21.10.21)

Und er hält auch nicht mit seinem Standpunkt hinterm Berg, dass die Gasknappheit auf dem europäischen Markt die deutschen bzw. europäischen Behörden doch dazu animieren sollte, nach dem unendlichen Hindernisrennen die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zu erlauben:

„Sie fragen mich, ob es möglich ist, das Angebot zu erhöhen. Ja, das ist möglich. Was Nord Stream 2 betrifft, so ist der erste Strang mit Gas gefüllt, und wenn die deutsche Regulierungsbehörde morgen die Genehmigung für den Transport erteilt, können übermorgen 17,5 Milliarden Kubikmeter Gas geliefert werden... Sobald die zweite Leitung gefüllt ist und die deutsche Regulierungsbehörde ihre Genehmigung erteilt hat, können wir am nächsten Tag mit den Lieferungen beginnen. Ist das möglich oder nicht, haben Sie gefragt. Ja, es ist möglich, aber man muss verantwortungsvoll mit seinen Verpflichtungen umgehen und daran arbeiten... Wäre es vielleicht sinnvoller, über langfristige Investitionen nachzudenken und zumindest teilweise auf langfristige Verträge zurückzugreifen? Das ist es, worüber wir nachdenken müssen. So können wir verhindern, dass plötzlich Krisen ausbrechen.“

Zumindest die Fraktion der russlandpolitischen Scharfmacher lässt sich von solchen Vorschlägen nicht beeindrucken, sieht umgekehrt darin nichts anderes als die Bestätigung des Feindbilds: Jetzt hat er sich doch selber dazu bekannt, zu der „Erpressung“, die „wir“ einfach nicht hinnehmen dürfen. Auch eine Art, dem Russen vorzuführen, dass seine wiederholten Appelle, dass sich das Energiegeschäft doch viel harmonischer gestalten ließe, aus einer vergangenen Epoche stammen bzw. aus dem Reich der Ideale, dem einer reibungslosen Vereinbarkeit von stabiler Versorgung und Geschäft und dem von Geschäften zum beiderseitigen Nutzen. Die Periode der Gas-Röhren-Geschäfte ist nun einmal vorbei. Die sind zwar auch im kältesten Kalten Krieg nie an Russland gescheitert; den Auftakt zu Adenauers Zeiten hat ja erst einmal ein von den USA durchgesetztes Embargo ausgebremst. Und heute ist es die Bundesrepublik, die mit ihrer Energiewende auf eine elementare Emanzipation von bisherigen „Abhängigkeiten“ in Sachen Energieversorgung zusteuert; daher das lebhafte Bedürfnis, Russland zum unzuverlässigen und erpresserischen Lieferanten zu stilisieren, während man es praktisch als zeitweiligen Lückenbüßer funktionalisiert.

[1] „Title Transfer Facility“, laut Wikipedia ein virtueller Handelspunkt im niederländischen Gasnetz, über den der Erdgas-Handel für die Niederlande abgewickelt wird.

[2] Ein bekräftigendes Signal erfolgt auch aus den USA:

Die Biden-Administration ist zunehmend besorgt über Russlands Beschränkungen der Erdgasexporte, da sie befürchtet, dass einige europäische Länder in diesem Winter nicht genügend Vorräte haben könnten, um ihre Häuser zu heizen, wenn die Temperaturen kälter als normal sind, so der US-Beauftragte für Energiesicherheit. Die russischen Lieferungen sind ‚unerklärlich niedrig‘ ... sagte Amos Hochstein, der leitende Berater des Außenministeriums für Energiesicherheit. (Bloomberg, 20.9.21)

[3] Verlangt ist da erstens die Trennung von Lieferant und Netzwerkbetreiber, während Gazprom immer noch als beides fungiert. (In den ähnlich gelagerten Fällen von Algerien und Norwegen hat die EU-Kommission Ausnahmegenehmigungen erteilt, was sie im Fall Russland kategorisch ausschließt.) Zweitens die Öffnung der Pipeline für andere Gasproduzenten – die es angesichts des Verlaufs der Trasse nicht gibt. (Ob die Kommission das mögliche Einsteigen von Rosneft, einem anderen russischen Konzern, als Erfüllung dieser Bedingung genehmigt, steht in den Sternen, weil auch der ja erstens ein russischer und zweitens äußerst „staatsnaher“ Konzern ist.) Solange aber kein zweiter Gasproduzent in die Röhren einspeist, darf Russland wiederum die Verbindungslinien zu Land nur zu 50 % nutzen; so hat der Europäische Gerichtshof auf Antrag Polens geurteilt, was auf jeden Fall schon mal die Rentabilität des gesamten Projekts nachhaltig schädigt. (Vgl.: Rückschlag für Gasprom – mit Folgen für Nord Stream 2 / Der EuGH-Generalanwalt stellt sich im Streit um die Anschlusspipeline Opal gegen Deutschland, FAZ, 19.3.21)

[4] „Energiepolitische Sensation: Künftige Regierung erteilt radikaler Energiewende eine Absage, setzt auf Erdgas. Es gibt zwei Sätze im Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP, die niemand überlesen sollte: ‚Das verlangt den von uns angestrebten massiven Ausbau der Erneuerbaren Energien und die Errichtung moderner Gaskraftwerke, um den im Laufe der nächsten Jahre steigenden Strom- und Energiebedarf zu wettbewerbsfähigen Preisen zu decken... Die bis zur Versorgungssicherheit durch Erneuerbare Energien notwendigen Gaskraftwerke müssen so gebaut werden, dass sie auf klimaneutrale Gase (H2-ready) umgestellt werden können.“ (DWN, 20.10.21)

[5] ‚Die Frage ist ja: Gibt es Bestellungen, die getätigt wurden, die von Russland nicht beliefert werden?‘ Ihren jüngsten Informationen zufolge sei dies nicht der Fall, sagte Merkel. ‚Das heißt, es gibt keine Bestellungen, bei denen Russland gesagt hat: Das liefern wir euch nicht, und wir liefern es auch schon gar nicht durch die ukrainische Pipeline.‘ Russland könne nur das Gas auf Grundlage von Verträgen liefern. Deshalb sei die Frage: ‚Wird genug bestellt oder ist der hohe Preis im Augenblick vielleicht auch ein Grund, nicht so viel zu bestellen?‘ All das solle bis zum EU-Gipfel am 21. und 22. Oktober in Brüssel analysiert werden. Dann werde man auf das Thema zurückkommen. Zugleich betonte Merkel, man habe sich zuletzt auch an ‚sehr geringe Gaspreise‘ gewöhnt. (junge Welt, 6.10.21)

[6] Das ist im Übrigen auch ein Grund, weshalb die Vertreter der deutschen Energiewirtschaft, weniger lautstark als die Bildzeitung, aber auch nicht ohne Einfluss, Nord Stream 2 favorisieren; es ist schließlich bekannt, dass die Ukraine in ihrer Notlage einerseits von dem für Europa bestimmten Gas Kontingente abzweigt, andererseits schon länger nicht mehr dazu in der Lage ist, die Instandhaltung der Röhrennetze zu garantieren.