Von der „Europäisierung der Flüchtlingspolitik“ zur „Zusammenarbeit mit der Türkei“ und wieder zurück
Der humanistische deutsche Imperialismus kommt voran
Im Spätsommer 2015 verkündet die deutsche Kanzlerin, dass sich „mein Land“ nicht länger vor der immer weiter anwachsenden Flüchtlingswelle wegducken könne, die von Südsüdost auf Europa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen zurollt. Obwohl sie diese Initiative mit einer vollständig im Menschlich-Moralischen angesiedelten Interpretation versieht und der Rest der Nation darüber umgehend in einen Streit gerät, in dessen Mittelpunkt ebenfalls ganz der Mensch, der flüchtende, steht, ist von Beginn an eines unübersehbar: Mit ihrem Vorstoß verschafft Merkel der von ihr regierten europäischen Führungsmacht einen weltpolitischen Auftritt, der die deutsche Macht vermittelt über die Flüchtlinge ins Verhältnis zu ihresgleichen: anderen staatlichen Mächten setzt und setzen soll. Ganz in diesem Sinne besitzt der unmittelbar nach Merkels Initiative losgetretene, ebenso heftige wie praxisorientierte Streit darüber, welche Gattungen von Flüchtlingen deutsches Willkommen (un-)bedingt (nicht) verdienen, nicht nur enormen patriotischen Agitprop-, sondern ebenso einen deutlichen politischen Klärungs- und theoretischen Aufklärungswert.
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Korrigendum
In der Druckausgabe, S. 8 steht ein fehlerhafter Satz. Der Satz heißt richtig:
Aber die westlichen Alliierten der Türkei verkneifen sich nicht nur, auf deren Forderungen nach Eskalation gemäß türkischem Kalkül einzugehen, sie versuchen ihrerseits, die Türkei dazu zu drängen, den Krieg gemäß westlichen Interessen, also entlang westlicher Freund-Feind-Prioritäten zu führen.
Von der „Europäisierung der
Flüchtlingspolitik“ zur „Zusammenarbeit mit der Türkei“
und wieder zurück
Der humanistische deutsche
Imperialismus kommt voran
I. Die Flüchtlingsaffäre zwischen Deutsch-Europa und der Türkei
1. Deutscher Imperialismus mit syrischen Flüchtlingen
a)
Im Spätsommer 2015 verkündet die deutsche Kanzlerin, dass
sich mein Land
nicht länger vor der immer weiter
anwachsenden Flüchtlingswelle wegducken könne, die von
Südsüdost auf Europa im Allgemeinen und Deutschland im
Besonderen zurollt. Obwohl sie diese Initiative mit einer
vollständig im Menschlich-Moralischen angesiedelten
Interpretation versieht und der Rest der Nation darüber
umgehend in einen Streit gerät, in dessen Mittelpunkt
ebenfalls ganz der Mensch, der flüchtende, steht, ist von
Beginn an eines unübersehbar: Mit ihrem Vorstoß
verschafft Merkel der von ihr regierten europäischen
Führungsmacht einen weltpolitischen Auftritt,
der die deutsche Macht vermittelt über die
Flüchtlinge ins Verhältnis zu ihresgleichen:
anderen staatlichen Mächten setzt und setzen soll. Ganz
in diesem Sinne besitzt der unmittelbar nach Merkels
Initiative losgetretene, ebenso heftige wie
praxisorientierte Streit darüber, welche
Gattungen von Flüchtlingen deutsches Willkommen
(un-)bedingt (nicht) verdienen, nicht nur enormen
patriotischen Agitprop-, sondern ebenso einen deutlichen
politischen Klärungs- und theoretischen Aufklärungswert.
Sehr zügig nämlich stellt die deutsche Politik praktisch
klar, dass sich größere Teile der Flüchtlingsmassen
schlicht durch ihre Herkunft aus bestimmten
Staaten insbesondere des Westbalkans als Nutznießer
der neuen deutschen Willkommenskultur pauschal
disqualifizieren und sich umgekehrt ihre – auf diese
Weise überhaupt erst offiziell als solche definierten –
Herkunftsstaaten zu obligatorischen
Hilfsdiensten dabei qualifizieren, ihre Bürger aus
Deutschland zurückzuführen und zukünftig gar nicht erst
nach Deutschland gelangen zu lassen. Komplementär dazu
werden ebenfalls sehr zügig die Flüchtlinge aus Syrien
ganz ohne penible Einzelfallprüfung als diejenige
Migrantenabteilung herauspräpariert, denen Merkels
freundliches Gesicht
in erster Linie gilt.
Begründet wird das an den Flüchtenden mit der rechtlichen
Kategorie besonderer Schutzwürdigkeit für
Kriegsflüchtlinge
. Dies wiederum kann man, wenn man
will, als Aufklärung oder zumindest als Hinweis
dahingehend nehmen, was die Syrer für eine Macht wie
Deutschland so interessant werden lässt: Es ist neben
ihrer schieren Masse, die sich im dritten Quartal 2015
bereits von der Türkei über Griechenland bis nach
Budapest und Wien staut und die ein irgendwie
kontrolliertes Ventil verlangt, ihre politische
Qualität als Produkt und Moment
der Gewaltaffäre, welche die Weltöffentlichkeit in
gewohnt gezielter Unsachlichkeit als „syrischen
Bürgerkrieg“ zu bezeichnen pflegt.
b)
Tatsächlich handelt es sich dabei um den derzeit wichtigsten Fall gewaltsam ausgetragener Staatenkonkurrenz um internationale Ordnungsstiftung: Bezogen einerseits auf die Nahostregion, die die EU als ihr südliches bzw. südöstliches nahes Ausland ins Auge fasst; auswärtige und regional ansässige Mächte ringen mit- und gegeneinander darum, dieser Staatengegend eine ihnen jeweils genehme Gewaltordnung zu verpassen und dafür den Konkurrenten die Anerkennung als befugte Stifter und Wächter dieser Ordnung abzutrotzen. Zugleich aber auch bezogen auf die von den Großmächten USA, Russland, dann auch Großbritannien und Frankreich global ausgetragene Konkurrenz darum, wer sich mit seinen Gewalteinsätzen bei den anderen den generellen Respekt verschafft, der die entscheidende Voraussetzung dafür abgibt, was dann als ‚Weltordnung‘ firmiert. Deutschlands kundigen Außenpolitikern ist klar, dass ihre Nation dabei nicht abseits stehen darf. Von der Höhe dieses Anspruchs aus ist ihr liebenswertes Land aber viel zu wenig mitbestimmendes Subjekt bei diesem multikulturellen Gemetzel. Mit der politischen Adoption des syrischen Flüchtlingselends und unter Berufung auf die Betroffenheit als Zielland eines Großteils der Flüchtlingsströme versucht die Merkel-Regierung, sich neu in diesen Machtkampf einzubringen. Sie definiert den Krieg als Fluchtursache und macht sich daran, dieser Definition die Anerkennung seitens der maßgeblichen kriegführenden Mächte zu verschaffen und dieser auch eine praktische Dimension zu verleihen: Erstens entfacht Deutschland eine neue diplomatische Initiative für eine ‚friedliche Beilegung des Konfliktes‘ und lässt seine Außenpolitiker dafür in die regionalen und relevanten internationalen Hauptstädte ausschwärmen; zweitens mischt es sich in den praktischen, für den Kriegsverlauf nicht ganz unerheblichen Umgang mit den Flüchtlingen in den unmittelbaren Nachbarländern und auch in Syrien selbst ein – selbstverständlich neben allem sonstigen politischen und militärischen Engagement, das darüber nicht eine Sekunde eingestellt wird.
Dass im Zuge dieser imperialistischen Offensive die
Türkei ins Zentrum der deutschen Bemühungen rückt, ist
kein Zufall und schon gar kein unvorhergesehener. Von dem
auch in Deutschland nicht unbekannten Standpunkt der
puren Abschottung aus mag sich die Türkei als regionales
Auffangbecken für Flüchtlinge ausnehmen, dessen
Überlaufmechanismus schlecht justiert ist und daher
Hunderttausende von denen nach Europa schwappen lässt –
die Wahrheit über den türkischen Umgang mit diesen
Gestalten ist das nicht. Und das wissen nicht zuletzt die
deutschen Politiker, die der Türkei ein ums andere Mal
eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung des syrischen
Flüchtlingsproblems
zusprechen, mit der sie freilich
viel mehr meinen als türkische Hilfe beim Fernhalten der
Flüchtlinge von Europas Grenzen: Sie zielt auf eine
türkische Politik, die mit den Flüchtlingen genauso viel
anzufangen weiß wie die deutsche.
2. Türkischer Regionalimperialismus mit syrischen Flüchtlingen
a)
Fast von Anfang der bewaffneten Auseinandersetzungen auf syrischem Boden an ist die Türkei eine der treibenden Kräfte dieses ‚Konflikts‘. Neben der Finanzierung und Bewaffnung der ihr genehmen Rebellengruppen, der logistischen Hilfe für deren Angriffs- und Rückzugsbewegungen etc. hat auch die Türkei die massenhaften Fluchtbewegungen von kriegsvertriebenen Syrern zu ihrer Sache gemacht.
Erstens versucht die türkische Macht, die innersyrische und grenzüberschreitende Migration praktisch für sich auszunutzen: Die Flüchtlingslager auf türkischer Seite sind zugleich Rückzugs-, Stationierungs- und Rekrutierungsbasen für die Aufständischen, die sie unterstützt; innerhalb Syriens spielt die Massenflucht aus bestimmten Gegenden bzw. ihre Verhinderung eine Rolle dabei, wo die verfeindeten ethnisch-religiösen Gruppen und Grüppchen über eine menschliche Basis verfügen oder wo ihnen diese abhanden kommt; wie allen Seiten in diesem Krieg ist auch der Türkei geläufig, dass auf internationaler Ebene ausgehandelte ‚humanitäre Korridore‘, die ‚Notversorgung der Zivilbevölkerung‘ in eingeschlossenen Gebieten etc. dafür taugen können, den Gegnern militärisch Schwierigkeiten zu bereiten und was dergleichen Kalkulationen mit der Zivilbevölkerung in einem Kriegsgebiet mehr sind…
Zweitens beruft sich die Türkei diplomatisch auf
die Millionen inzwischen auf türkischem Boden anwesenden
Syrer dafür, dass auch und gerade ihre westlichen
Verbündeten anerkennen müssen, dass die an Syrien, Irak
und Iran grenzende Mittelmacht unbedingt respektable
strategische Interessen und Ansprüche und eine denen
entsprechende Agenda in Bezug auf die gesamte Region hat.
Und auf dieser Agenda ganz oben steht nicht nur die
Bekämpfung Assads, sondern mindestens genauso dringlich
die Bekämpfung jeder Perspektive kurdischer
Eigenstaatlichkeit, weil die Türkei die für unvereinbar
nicht nur mit ihrer Rolle als Regionalmacht, sondern
überhaupt mit ihrer Definition von Souveränität hält. In
diesem Sinne meldet die Türkei unter Berufung auf die
Flüchtlinge entschieden – teilweise ganz direkt in
Form einer von ihr immer wieder geforderten ‚Pufferzone‘
im Norden Syriens, analog zu ihrer jahrelang im Irak
betriebenen Strategie – Mitspracherechte auf den
laufenden Krieg und auf die syrische Nachkriegsordnung
an. Von der wissen schließlich alle, dass sie auf keinen
Fall eine Angelegenheit des ‚syrischen Volkes‘ – was bzw.
wer auch immer damit gemeint ist – wird sein dürfen. Den
in diesem Zusammenhang beständig wiederholten türkischen
Verweis auf die islamische Religion, die das türkische
Volk mit unseren Brüdern und Schwestern
in Syrien
gemeinsam hat, verstehen diejenigen, die es angeht, so,
wie er gemeint ist: als Anspruch der Türkei
auf die teuren Verwandten, i.e. auf ein
prominentes Mitspracherecht in allen Kriegs- und
Nachkriegsangelegenheiten, von denen die
brüderlich-islamische Schutzmacht sie im Verein mit und
in Konkurrenz zu den anderen Kriegsparteien betroffen
macht bzw. noch zu machen gedenkt.
b)
Die Bilanz, die die Türkei nach über vier Jahren Syrienkrieg ziehen muss, fällt für ihre Führer nicht sonderlich positiv aus. Wie es sich gehört, machen sie dies nicht zuletzt an den Flüchtlingen geltend, die doch zu Großem taugen sollten und weiterhin sollen.
An ihren westlichen Verbündeten beißt sich die Türkei mit ihrem Beharren auf autonom definierten, von den anderen als unhintergehbar anzuerkennenden politischen und strategischen Ansprüchen die Zähne aus. Zwar haben die viel Verwendung für türkische Hilfsdienste bei der Bewirtschaftung des Kriegsgeschehens ‚from behind‘ oder von sonst woher; und auch die Beherbergung von Millionen Kriegsflüchtlingen in riesigen Lagern, Erleichterungen bei Arbeitserlaubnissen etc. kommen den Alliierten sehr zupass, so dass sich insbesondere deutsche Politiker über die vorbildliche türkische Willkommenskultur zwischenzeitlich geradezu überschwänglich äußern. Das wissen sie aber fein säuberlich davon zu trennen, dass sie ansonsten für türkische Vormachtsambitionen in der Region, für Interessen, auf denen die Türkei pur aus eigener Machtvollkommenheit heraus besteht, nichts übrighaben – dass sie sich für türkische Anliegen instrumentalisieren lassen, kommt für sie nicht in Frage. Also schmettern sie allerlei diesbezügliche Vorstöße aus Ankara ab: Einen von der Türkei zwischendurch favorisierten Bodenkrieg lehnen sie ebenso ab, wie die von ihr beantragte Flugverbotszone; Patriot-Batterien stellen die NATO-Partner zwar irgendwo im Süden des Landes offiziell zum „Schutz des türkischen Luftraums“ auf, aber die von der Türkei probehalber zum NATO-Fall ausgerufene Verletzung ihres Luftraums durch einen syrischen Hubschrauber heben sie nicht auf die Ebene einer militärisch zu beantwortenden Herausforderung für die transatlantische Bündnissolidarität. Auch mit dem massiven Auftreten Russlands auf dem syrischen Schlachtfeld ändert sich vom türkischen Standpunkt aus gesehen nichts an der mangelhaften Unterstützung seitens der westlichen Partner. Zwar verurteilen diese Putins Hilfe für seinen bedrängten Verbündeten Assad, aber in eine von der Türkei initiierte und bestimmte Konfrontation mit der russischen Macht mögen sie sich nicht zerren lassen. Entsprechend lauwarm fallen die Stellungnahmen aus, als es zu einem späteren Zeitpunkt zum Abschuss eines russischen Kampfjets durch türkisches Militär kommt; auch hier unterbleibt die von der Türkei angestrebte Aufwertung der Konfrontation vom türkisch-russischen Zwischen- zum NATO-Bündnisfall. Aber die westlichen Alliierten der Türkei verkneifen sich nicht nur, auf deren Forderungen nach Eskalation gemäß türkischem Kalkül einzugehen, sie versuchen ihrerseits, die Türkei dazu zu drängen, den Krieg gemäß westlichen Interessen, also entlang westlicher Freund-Feind-Prioritäten zu führen. Wo die Türkei ihnen mangelnde Solidarität im Kampf gegen die gemeinsamen Gegner vorwirft, da werfen sie der Türkei umgekehrt Bündelei mit oder jedenfalls mangelnde Distanz zu denjenigen vor, die sie als die gemeinsamen Gegner ganz oben auf ihren Listen haben. Die Türkei wird in die Anti-IS-Koalition genötigt, die türkische Zusammenarbeit mit dem großen Partner und Konkurrenten Saudi-Arabien wird auf die gleiche Weise kritisch verfolgt, türkisch-saudische Vorstöße für einen Bodenkrieg werden abgelehnt, dafür von diesen beiden Staaten mehr Einsatz beim gemeinsamen Luftkrieg und mäßigendes Einwirken auf die islami(sti)schen Rebellengruppen gefordert. Aber damit nicht genug: Endgültig unannehmbar ist für die ambitionierte türkische Macht, dass ihre NATO-Bündnispartner ihren Kampf gegen den kurdischen Separatismus, der im Zuge der fröhlich betriebenen Zerlegung des syrischen Staatswesens neu aufflammt, nicht nur nicht entschieden gutheißen und unterstützen, sondern mehr oder weniger offen hintertreiben. Während für die Türkei die Kurden die größte zu bekämpfende Gefahr in der ganzen Gegend sind, weil sie in deren Eigenstaatlichkeitsansprüchen – egal ob auf irakischem, syrischem oder sonstigem Territorium – letztlich einen Angriff auf sich, ‚Terrorismus!‘ eben, selbst entdeckt, erscheinen den westlichen Staaten die kurdischen Guerillatruppen dies- und jenseits der türkisch-syrischen Grenze als halbwegs brauchbare, halbwegs kontrollierbare Truppe sowohl gegen Assad als auch gegen die Islamisten von IS und al-Nusra. So dass sie schließlich auch nicht umhin können, der türkischen Regierung gewisse Defizite beim rechtsstaatlichen Umgang mit der kurdischen Opposition und überhaupt vorzurechnen…
c)
Mit der permanenten Zurückweisung der regionalpolitischen Ambitionen, die sie mit ihrer Beteiligung an einem halben Jahrzehnt auf syrischem Territorium ausgetragener Gewaltkonkurrenz verbindet, ändert sich für die Türkei auch der Blick auf ‚ihre‘ Flüchtlinge. In dem Maße, wie das imperialistische Nutzenkalkül nicht aufgeht, das sie auf diese Massen richtet, tritt zum Vorschein, was die ja nebenbei für den Staat Türkei auch noch sind: eine ziemlich kostspielige Last. Und so erfährt der subimperialistisch inspirierte türkische Umgang mit ihnen seine standes- und sachgemäße Fortsetzung: Im Sommer 2015 entscheidet Ankara, Flüchtlinge, die von der Türkei aus weiter nach Europa wollen, nicht mehr zurückzuhalten; gegen das schon vorher etablierte und nun sprunghaft anwachsende Schlepperwesen samt angrenzenden Geschäftsbereichen gehen die türkischen Behörden und Sicherheitskräfte nicht mehr aktiv vor. Dies geschieht nicht aus ‚Rache‘ – was deutschen Flüchtlingsfeinden gleichwohl sofort einfällt; dass man sie diesen Fremden aussetzt, können sie sich nur als abgrundtiefe Boshaftigkeit gegen das deutsche Heimatgefühl erklären –, sondern erstens um einen Teil der imperialistisch nicht im angestrebten Sinne brauchbaren Flüchtlingsmasse loszuwerden. Und zweitens sollen die aus türkischer Sicht für den mangelhaften politischen Ertrag aus dem Syrien-Krieg mitverantwortlichen Freunde in Europa dafür in Mithaftung genommen werden, um ihnen so perspektivisch doch die Zugeständnisse abzuringen, die sie bis dato so hartnäckig verweigern.
Darauf nimmt Merkel also tatsächlich Bezug, als sie die syrischen Flüchtlinge zur deutsch-europäischen Angelegenheit erklärt. Das humanistische Verhältnis zu denen ist eine imperialistische Konfrontation mit der türkischen Regionalmachtspolitik, die diese Flüchtlinge zum einen mit geschaffen und zum anderen für sich instrumentalisiert hat. Von da an ist das sowieso nur bedingt harmonische Verhältnis zwischen dem deutsch dominierten Europa und der Türkei um einen Streitgegenstand reicher. Kein Wunder, dass der Streit zunehmend grundsätzliche Züge annimmt.
3. Deutsch-europäisch-türkischer Machtkampf in und anhand der Flüchtlingsfrage
a)
Im März 2016 einigt sich die EU unter deutscher Federführung mit der Türkei auf eine Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage.[1] Vertraglich kommen beide Seiten überein, dass die Türkei die irreguläre Migration von ihrem Territorium nach Europa unterbindet, die von ihrem Territorium bereits nach Griechenland Geflüchteten und dort Festsitzenden zurücknimmt und dafür die EU ihr im gleichen Umfang syrische Flüchtlinge abnimmt, wie syrische Flüchtlinge zurück in die Türkei abgeschoben werden. Flankiert wird dies mit finanziellen Hilfszusagen der EU in Milliardenhöhe, der offiziellen Wiederaufnahme des ‚Beitrittsprozesses‘ sowie einem Abkommen über die visafreie Einreise von Türken in die EU, die ‚lediglich‘ unter dem Vorbehalt der Erfüllung von 72 Bedingungen stehen. Freilich ist dieser von der Merkel-Regierung als Durchbruch für eine nachhaltige europäische Lösung des Flüchtlingsproblems gefeierte Deal alles andere als ein Dokument dafür, dass nun nach einer Zeit des Zerwürfnisses eine neue Harmonie ins europäisch-türkische Zusammenleben einzieht. Die Vereinbarung selbst macht vielmehr deutlich, dass die vertragschließenden Parteien damit ihren Streit nicht beendet, sondern in Vertragsform gegossen haben.
Deutschland bezweckt mit dieser Vereinbarung den Einbau
der Türkei in sein imperialistisches
Flüchtlingsmachtkonzept. Dazu gehört erstens, dass
seine Sortierung in politisch nützliche und
unnütze Flüchtlinge vertragsoffiziell anerkannt ist:
Während die Türkei sich verpflichtet hat, alle neuen
irregulären Migranten
, die es nach Griechenland
schaffen, zurückzunehmen, bezieht sich der Austausch
lediglich auf die syrischen Flüchtlinge. Darin
sieht Deutschland seinen Zuständigkeitsanspruch auf
diese Migrantengattung bekräftigt. Dazu gehört
zweitens, dass die von der EU zugesagten Hilfen für die
Betreuung von syrischen Flüchtlingen auf türkischem Boden
an bestimmte Auflagen, betreffend die Zwecksetzung, deren
Kontrolle etc. gebunden sind. Drittens sieht sich die
deutsch-europäische Seite mit dem Passus über die
türkischen Maßnahmen …, um zu verhindern, dass neue
See- oder Landrouten für die illegale Migration von der
Türkei in die EU entstehen
, darin bestätigt, dass die
Türkei als verlängerter Arm der europäischen
Grenzschutz-Agentur zu wirken hat. Viertens überlässt die
EU laut dem Abkommen auch das Einwirken auf den
unmittelbaren Kriegsschauplatz mittels auf syrischem
Boden einzurichtender Lager und Schutzzonen nicht mehr
dem Gutdünken der Türkei, sondern wird mit der Türkei
bei allen gemeinsamen Anstrengungen zur Verbesserung der
humanitären Bedingungen in Syrien, hier insbesondere in
bestimmten Zonen nahe der türkischen Grenze,
zusammenarbeiten
. Von Deutschland und Europa aus wird
der Versuch deutlich, die Türkei bei ihrem Interesse an
den Flüchtlingen zu packen und ihr zugleich alle
politischen Zwecke, für die sie sich überhaupt
ihre Willkommenspolitik zu- und zurechtgelegt
hat, abzuknöpfen, sie eben zu einem funktionalen Element
des europäischen Flüchtlingsimperialismus
herzurichten.
Umgekehrt versucht die Türkei, ihre gerade von deutschen
Politikern immer wieder betonte Wichtigkeit für Merkels
europäische Lösung
dafür zu nutzen, der EU nicht
nur eine spürbare Lastenteilung abzutrotzen. Vielmehr
sinnt sie darauf, nicht einfach bei der Erfüllung
proeuropäischer Hilfsdienste, sondern bei der Umsetzung
ihrer regionalen Vorhaben mit den Flüchtlingen
unterstützt zu werden – der Passus über die
zweckgebundenen Finanzhilfen liest sich von türkischer
Seite aus entsprechend spiegelverkehrt. Der beschlossenen
Zusammenarbeit bei der innersyrischen Bewirtschaftung des
Flüchtlingselends entnimmt sie die Anerkennung ihrer
Zuständigkeit für die entsprechenden Teile Syriens.
Gesetzt, diese ‚Einigung‘ überlebt überhaupt die ersten
Wochen und Monate, steht mit Vertragsunterzeichnung fest,
dass spätestens ‚im Rahmen der praktischen Umsetzung‘
alle Gegensätze in der Flüchtlingsfrage, ihren
politischen Gehalt betreffend, wieder auf den Tisch
kommen.
Zu einem Glanzstück internationaler Diplomatie gerät der Vertrag jedoch erst dadurch so richtig, dass er selbst noch ausdrücklich festhält, dass die Flüchtlingsfrage zugleich den Stoff für einen Konflikt der grundsätzlicheren Art darstellt.
b)
Mit der größten Selbstverständlichkeit verknüpft der Vertrag die ‚gemeinsam‘ zu bewältigende Flüchtlingskrise mit dem generellen Verhältnis zwischen der EU und der Türkei. Ihre Bedeutung für eine gesamteuropäische Flüchtlingspolitik nimmt die Türkei nämlich zum Anlass, auszuloten und neu auszufechten, wie sehr sie von den europäischen Konkurrenten überhaupt als machtvoller Partner für voll genommen wird. Die EU-weite Visafreiheit ist nicht einfach eine Erleichterung für reiselustige Anatolier. An dem mit der Visapflicht existierenden Vorbehalt gegenüber ihren Bürgern erkennt eine feinfühlige Staatsgewalt nämlich zugleich einen ebenso unbestimmten wie generellen Vorbehalt gegen sich. In der Visafrage kämpft die Türkei also exemplarisch darum, dass ihr seitens Europas endlich die Anerkennung als wichtiger, brauchbarer, darum aber eben auch respektabler und respektierter Partner zuteil wird, die sie nicht zu Unrecht nach wie vor vermisst. Darum ist es von der Türkei aus auch kein willkürliches Junktim, sondern nur folgerichtig, auch die Wiederaufnahme des Beitrittsprozesses in die Vereinbarung aufzunehmen. Die Flüchtlingskrise nutzt sie als Hebel dafür, den offiziellen diplomatischen Prozess voranzubringen, der für sie gleichbedeutend ist damit, von Europa unwiderruflich als Macht auf Augenhöhe anerkannt zu werden. Mit der europäischen Politik, sie an sich zu binden und sie auf Abstand zu halten, ist die Türkei seit längerem unzufrieden, Erdoğan hat sich dazu vorgearbeitet, dass dieser Zustand so oder so beendet werden muss – dazu soll der Deal vom März ein Beitrag sein.
Wie ehrgeizig dies von Seiten der Türkei und wie konfliktträchtig von beiden Seiten aus ist, wird spätestens an den Kautelen schlagend klar, unter denen die besagte Visa-Vereinbarung steht. Der Form nach handelt es sich dabei lediglich um Zusatzbedingungen zu einer Zusatzvereinbarung im Rahmen eines Vertrages, der sich hauptseitig um etwas völlig anderes dreht: die Flüchtlingsfrage. Dem Inhalt nach sind diese Bedingungen allerdings ein wenig mehr: Sie betreffen alle möglichen behördlichen, justiziellen, überhaupt rechtsstaatlichen Regelungen in der Türkei, die sie pflichtgemäß anzupassen hat. Der Absicht nach geht es um nicht weniger als die elementare Statusfrage zwischen Europa und der Türkei. Zum Hauptstreitgegenstand ist nicht zufällig die türkische Gesetzeslage in Sachen Terrorismusbekämpfung geworden. Die europäischen Vertragsautoren werden schon wissen – und das EU-Parlament spricht es auch offen aus –, warum sie dieses Moment der Ausübung innertürkischer Staatsgewalt zu einer der ‚Bedingungen für‘ die in Aussicht gestellte Visafreiheit machen. Berührt ist damit nämlich der Kern staatlicher Souveränität: die hoheitliche Definition von Feinden der Staatsraison, gegen die der Staat jedes Recht auf Gewaltanwendung zwecks Ausrottung hat. Das ist im Allgemeinen für keinen Staat eine theoretische Angelegenheit, für die Türkei im Besonderen betrifft es ihren aktuellen Krieg gegen die kurdischen Sezessionisten. Für die Türkei verknüpft sich an dieser Stelle der Kampf um den Status als gleichberechtigte Macht neben Europa mit der elementaren Behauptung ihrer Souveränität, die sie einerseits durch die Kurdenbewegung und andererseits durch die EU angegriffen sieht, die ihr die hoheitliche Freiheit zur Bekämpfung ihrer Feinde beschneiden will.
So also – über den Umweg eingebauter Zusatzklauseln – kommen beide Seiten darauf zu sprechen, dass sie Gegensätze zueinander haben und betreiben, die über ein paar Millionen Flüchtlinge weit hinausgehen. Entsprechend umstritten ist das Abkommen vor und nach seinem Abschluss nicht nur zwischen der Türkei und der EU, sondern auch innerhalb der EU selbst.
c)
Dass Europa als Ertrag des Abkommens von der Türkei die Zusage besitzt, die unkontrollierte Flüchtlingswelle von den heiligen Außengrenzen des Kontinents fernzuhalten, ist der Punkt des Abkommens, der innerhalb dieser humanistischen Wertegemeinschaft auf unumstrittene Zustimmung stößt. Allerdings der einzige. Abgesehen davon trifft das Abkommen in Europa auf unverhohlene Skepsis von verschiedenen Seiten, die verschiedene Quellen und einen gemeinsamen Nenner hat.
Auf der anderen Seite der Bilanz dieses Abkommens steht
für viele Staaten nämlich ein viel zu großes Zugeständnis
an die Ambitionen der Türkei, nicht nur bezogen auf den
Nahen Osten, sondern auch und gerade bezogen auf die EU
selbst. Vor allem die kleineren Nationen halten schon die
bloße Aussicht darauf, dass der Türkei irgendeine
annähernd gleichberechtigte Partnerschaft mit der EU
eingeräumt werden könnte, für fatal. Den Kampf um Zu- und
Unterordnung der Türkei können sie gar nicht führen –
weil sie selber bloß untergeordnete Mitglieder dieses
Clubs sind. Mit ihren Beschwerden über die zweifelhafte
staatliche Verfasstheit der Türkei, über den
undemokratischen Regierungsstil des türkischen
Staatschefs, über alles Mögliche und schließlich über den
ganzen un-abendländischen Charakter dieser Nation geben
sie zu Protokoll, dass sie diese Macht unbedingt aus der
EU heraushalten wollen und von einer Annäherung
nichts halten. Was sie befürchten, ist – wie unbestimmt
auch immer – ein genereller Schaden für ihre Rolle in der
EU: Mit der Türkei würde sich eine Macht Eintritt nach
Europa und Einfluss in diesem Verein verschaffen, die die
politischen Gewichte innerhalb Europas sowie
perspektivisch die gesamte strategische Ausrichtung des
Staatenbündnisses verschieben und die kleineren, späten
Beitrittsländer noch weiter an den Rand drängen könnte,
die sich sowieso schon permanent daran abarbeiten, dass
sie sich an Europa anpassen müssen, ohne dass ihnen
darüber die Kompetenz zu entscheidender Mitgestaltung
zuwüchse. Von einem solchen ‚Annäherungsprozess‘ können
sich in ihren Augen höchstens die ganz Starken im
europäischen Verein – und eben besonders der eine – einen
Nutzen versprechen. An den Kompromissen gegenüber
türkischen Ansprüchen, zu denen Deutschland auch gegen
die ausdrücklichen Bedenken der kleinen Partner bereit
ist, lesen sie ab, dass umgekehrt ihre Ansprüche auf
Berücksichtigung als zwar minder mächtige, aber
eben gleichberechtigte Mitglieder des Clubs nur
bedingt gelten.
Die zweite europäische Führungsmacht, Frankreich, hat vom entgegengesetzten Standpunkt aus nicht viel für den Deal übrig, den es gleichwohl unterzeichnet: Für diese Macht findet der Kampf um den Status der Türkei – als nahöstliche Regionalmacht wie als europäischer Anrainer – nicht auf dem Feld von Flüchtlingsdeals statt; Frankreich beansprucht als Militärmacht einen Rangunterschied zur Türkei, den es auch und erst recht für das Verhältnis Europas zu diesem mediterranen Parvenü festgeklopft sehen will. Die Bedingungen für die Visafreiheit türkischer Staatsbürger verleihen dem Abkommen für französische Politiker – weil letztlich unerfüllbar – von Anfang an die zum Teil ausdrücklich so formulierte Perspektive, dass es früher oder später platzt oder gar nicht erst zustande kommt.
*
Zugleich ist für alle europäischen Kritiker dieses Abkommens, das sie nicht leiden können und doch unterschrieben haben, klar, wer es ihnen eingebrockt hat. Sie sehen es so, dass die deutsche Führungsmacht mit ihrer auf ganz Europa gemünzten Flüchtlingspolitik sie zuerst zu Opfern unkontrollierter Einwanderung vor allem über die Türkei gemacht hat und ihnen dann zwecks Ausdünnung des Flüchtlingsstroms den zweifelhaften Deal mit dem zwielichtigen Autokraten vom Bosporus aufnötigt. So verweist der innereuropäische Streit um das Abkommen mit Ankara schließlich alle Beteiligten auf die Gegensätze zurück, die sie ganz getrennt von ihrem konfliktträchtigen Verhältnis zur Türkei untereinander bis zu einem ebenfalls ziemlich grundsätzlichen Punkt vorangetrieben haben.
II. Das Junktim zwischen Europas Außen- und Innengrenzen – die nächste Etappe deutscher Hegemonie
1. Frontex hilft – beim „Lösen der Flüchtlingskrise“ und beim Abbau von Souveränität
Kanzlerin Merkel besteht darauf, dass die Lösung der
Flüchtlingskrise
nur in der Europäisierung der
Flüchtlingspolitik
liegen könne und dass dieser
europapolitische Fortschritt im Gegensatz zu
nationalen Lösungen
steht, wie sie die Staaten
betreiben, die die Schließung der Balkan-Route ins Werk
gesetzt haben. Was damit gemeint ist, stellt der Ausbau
der europäischen Grenzsicherungsagentur Frontex, die vor
allem in Griechenland zum Einsatz kommt, in praktischer
Weise ziemlich drastisch klar.
Das EU-Grenzregime, das unter dem Kürzel „Dublin“ läuft, hatte den Randstaaten der EU, denen mit den langen Küstenlinien, die Hauptlast beim Umgang mit den Flüchtlingsströmen, die sich in Richtung Europa auf den Weg machen, aufgebürdet. Im Zuge der Finanzkrise und ihrer EU-spezifischen Bewältigung sind diese Staaten, namentlich Griechenland, von ihren EU-Führungsmächten im Inneren zu einem Abbruchunternehmen genötigt worden, das es ihnen nicht nur unmöglich macht, ihre Rentner über Wasser zu halten, sondern auch, ihren Verpflichtungen in Sachen Abhalten, Registrieren und Kontrollieren von Flüchtlingsströmen nachzukommen. Die griechische Reaktion auf diese Notlage bestand im Durchwinken der Flüchtlingsmassen, worüber dann die Balkan-Route das Mittelmeer als deren Hauptdurchgangsstation beerbte. Seit der Schließung der Balkan-Route stauen sich jetzt in Griechenland Zehntausende gestrandeter Elendsgestalten.
Hier schlägt die Stunde von Frontex:
„Ferner berieten die Minister über eine Reform der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Die Behörde mit Sitz in Warschau soll aufgerüstet werden. Und so wird aus Frontex die neue Europäische Agentur für Grenz- und Küstenschutz, zudem sollen die Mitgliedsstaaten einen Pool an Grenzern zusagen, auf die die EU-Behörde im Krisenfall zurückgreifen kann.
Kernpunkt aber: Ist ein Land überfordert mit den Kontrollen der Außengrenze, kann die Europäische Union dort künftig selbst das Grenzkommando übernehmen – auch gegen den Willen eines Mitgliedsstaats. Sieht die EU-Kommission einen Notfall gegeben, müssen die Länder mit qualifizierter Mehrheit einem Grenzeinsatz zustimmen. Weigert sich das Land, droht der Rauswurf aus dem Kreis der Schengen-Staaten. So rabiat geht es künftig zu innerhalb Europas.
Die Reform sei ‚fast da‘, sagte de Maizière. Bis Juli soll Europas neue Grenztruppe besiegelt werden. Von ‚Rekordtempo‘ sprachen EU-Diplomaten, denn der zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos hatte die Reformpläne erst im vergangenen Dezember vorgelegt.“ (FR, 22.4.16)
In der objektiven Notlage, in der sich Griechenland befindet, nehmen es die griechischen Behörden wirklich als ein Angebot, wenn europäische Instanzen und andere europäische Staaten nunmehr in Griechenland in weitem Umfang Funktionen der Flüchtlingsabstoßung wie der Flüchtlingsbetreuung übernehmen. Griechenland sieht sich außerstande, seine Grenzen zu kontrollieren, und ist auf auswärtige Beihilfe angewiesen. Die EU-Grenz- und Flüchtlingspolitiker für ihren Teil knüpfen ihren Beistand an die Bedingung, dass Griechenland sich einem europäischen Grenzregime unterordnet, dass also die griechische Grenze zum Nicht-EU-Raum im Zuge ihrer Wiederherstellung als Grenze zu einer Außengrenze der EU hergerichtet wird. Für Europapolitiker aus Brüssel und Berlin ist es eine folgerichtige Konsequenz aus dem Versagen Griechenlands als EU-Grenzposten, wenn Frontex für die Wahrnehmung der Kontrolle über eine EU-Außengrenze nicht nur materiell aufgerüstet wird, sondern auch auf Seiten ihrer Befugnisse: Die Frontex-Reform sieht eine EU-Intervention explizit auch dann vor, wenn sie gegen den Willen des betroffenen Staates stattfindet. Mit so etwas rechnen die Frontex-Reformer, und zwar nicht grundlos: Für die auf Hilfsmaßnahmen angewiesenen Länder fällt laut europäischem Beschluss die Hilfe mit der Bedingung zusammen, dass ihnen Kompetenzen abgenommen werden. Und zwar keine Petitessen, sondern die souveräne Kontrolle ihrer Grenzen und damit auch über das erlaubte oder verbotene Hinein und Hinaus ausländischer Menschen, einschließlich des Einsatzes der Asylpolitik als Mittel der Außenpolitik. Im Zuge des EU-Türkei-Abkommens vom 18.3.16 ist beschlossen, dass mehrere hundert auswärtige Verwaltungsexperten und Asylentscheider – soweit der derzeitige Stand mit der Option auf Ausweitung – den betreffenden griechischen Fachleuten de facto die Entscheidungskompetenz bei der Prüfung der Gesuche von Asylbewerbern aus der Hand nehmen. Formell leistet am Ende immer ein Grieche die diesbezügliche Unterschrift; so viel Respekt vor Griechenlands Souveränität muss schon sein. Damit ist übrigens durch die Asylrechtsexperten von auswärts laut EU-Türkei-Abkommen zugleich gesichert, dass beim doch ziemlich kollektiv abgewickelten Abschieben das Recht auf propere ‚Einzelfallprüfung‘ nicht leiden muss. Außerdem wird das europäische Flüchtlingsbetreuerkontingent, von dem Deutschland anteilsmäßig den größten Teil stellt, auch noch von etlichen Hundertschaften von Polizisten begleitet.[2] Die EU-Hilfe bei der Flüchtlingskrise, mit der Griechenlands Grenze wieder funktionstüchtig gemacht werden soll, bezahlt Griechenland damit, dass es die autonome Wahrnehmung seiner Souveränitätsrechte bei der Grenzkontrolle, bei der Entscheidung von Asylfragen und bei deren Durchsetzung durch eigenes zur Ausübung hoheitlicher Gewalt befugtes Personal an Frontex-Personal abtritt.
Dafür, dass die griechische Politik ihre eigene alte
Gesetzeslage dieser europäischen Fortentwicklung
schleunigst anpasst,[3] sorgen die Nöte der
griechischen Grenz- und Flüchtlingspolitik. Die
Unterordnung Griechenlands unter das Euro-Geld-Regime
bewährt sich hier als passender Vorlauf dafür, dass
Regierung und Parlament in Athen ihre Souveränität im
Eilverfahren
als Übertragung auswärtiger Vorschriften
in gültiges griechisches Recht wahrnehmen. Wo
patriotische Skrupel dagegen laut werden – es gibt
Meldungen, wonach es griechischen Chefpolitikern arg
schwergefallen ist, im Zuge des Rücknahmeabkommens mit
der Türkei die Anwesenheit türkischer Hoheitsträger auf
griechischen Ägäis-Inseln hinzunehmen –, wird aus
Brüssel und Berlin diplomatischer Druck aufgebaut. Dass
gerade diese Gegend und der mit ihr verknüpfte Streit
über Grenzverläufe und Festlandssockel-Rechte für etliche
Jahrzehnte herzlicher griechisch-türkischer
Regionalfeindschaft gut war, hat in den Augen derer nicht
zu zählen, die ein Flüchtlingsabkommen mit der Türkei für
ein dringendes Erfordernis für eine europäische Lösung
der Flüchtlingskrise
halten.
2. Die Dialektik von Europas Außen- und Binnengrenzen
Das Abkommen zwischen den Mitgliedern des europäischen
Rates und der Türkei vom 18.3. beinhaltet zum einen die
Rückführung illegaler Migranten
in die
Türkei.[4] Frau
Merkel legt großen Wert darauf, dieses Abkommen als einen
Befreiungsschlag in puncto Flüchtlingsflut
darzustellen, adressiert an die zahlreichen Opponenten,
die ihr den Kontrollverlust über die einheimischen
Grenzen und Überforderung
des patriotischen Gemüts
der einheimischen Volksgenossen vorwerfen. Auf Europäisch
geht laut Merkel das Abschotten und Abschrecken
illegaler Migranten
voll in Ordnung – eine
Klarstellung von ganz oben, wie die
Willkommenskultur
ganz sicher nicht
gemeint ist, die die deutsche Regierung im letzten Herbst
ausgerufen hat.
Deren Flüchtlingspolitik ist aber auch keineswegs so gemeint, dass es ab dem 20. März kein Flüchtling mehr über die Außengrenzen der EU schaffen soll. Zum anderen nämlich enthält das Abkommen mit der Türkei auch eine Passage, die explizit eine Form der legalen Zuwanderung in die EU eröffnet:
„Für jeden von den griechischen Inseln in die Türkei rückgeführten Syrer wird ein anderer Syrer aus der Türkei in der EU neu angesiedelt, wobei die UN-Kriterien der Schutzbedürftigkeit berücksichtigt werden. Mit Unterstützung der Kommission, von Agenturen der EU und anderen Mitgliedsstaaten sowie des UNHCR wird ein Mechanismus eingeführt werden, durch den die Anwendung dieses Grundsatzes von demselben Tag an, an dem die Rückführungen beginnen, sichergestellt wird.“ (Erklärung EU-Türkei, 18. März 2016)
Dieser Vorzugsbehandlung von syrischen Flüchtlingen ist
nicht nur zu entnehmen, dass die beteiligten Politiker
beider Seiten weiterhin die außenpolitische Nutzanwendung
ihrer Asyl- und Flüchtlingspolitik betreiben wollen, die
sich derzeit eben vorzugsweise auf den weltpolitisch
höchst interessanten Kriegsschauplatzes Syrien bezieht.
Der Passus steht auch dafür, dass die rigide
Flüchtlingsabweisungspolitik, jedenfalls vom
Standpunkt der Merkel-Regierung aus, einen Bestandteil
der Flüchtlingspolitik darstellt, die sie seit
dem Sommer letzten Jahres betreibt. Ein legaler Weg des
Zuzugs in die EU – im Abkommen schön humanitär begründet
mit dem Zweck, das Geschäftsmodell der Schleuser zu
zerschlagen und den Migranten eine Alternative zu bieten,
damit sie nicht ihr Leben aufs Spiel setzen
– wirft
notwendig die Folgefrage auf, wo innerhalb der
28 EU-Einzelstaaten die Zuzügler aufgenommen werden und
zu welchen rechtlichen und faktischen
Bedingungen dies geschieht. Die
europäisch-supranational beschlossene Grenzöffnung für
das Kontingent von Syrern, das die Türkei der EU
überstellen darf, mutet den Nationalstaaten innerhalb der
EU nicht bloß das Abtreten ihrer
Grenzsouveränität in diesem Punkt zu, sondern in
dem Maße auch den Kontrollverlust über die
Zusammensetzung ihres Staatsvolkes – beides
Elemente, die zivilisierte Staaten nun einmal zum
Kernbestand ihrer Souveränität zählen.
Selbstverständlich ist der deutschen Kanzlerin bewusst,
welche Zumutung dies darstellt. Sie bemüht selber zur
Begründung ihrer Anspruchshaltung in Sachen
kontingentierter Aufnahme von Flüchtlingen die Parallele
zur Rettung des Euro
, also zum innereuropäischen
Durchregieren
, mit dem die deutsche Führungsmacht
des europäischen Staatenbündnisses auf dem Sektor der
politischen Ökonomie ihre Durchsetzungsmacht gegen andere
EU-Nationen bewiesen und ausgebaut hat:
„Genauso wie wir für die nachhaltige Erhaltung des Euros die letzten Schritte gehen müssen, müssen wir auch hier die nächsten Schritte gehen, weil sich erwiesen hat, dass das derzeitige System allein nicht ausreicht. Deshalb ist eine solidarische Verteilung von Flüchtlingen je nach Wirtschaftskraft und Gegebenheiten, wobei die Bereitschaft zu einem permanenten Verteilungsmechanismus gegeben sein muss, nicht irgendeine Petitesse, sondern berührt die Frage, ob der Schengenraum auf Dauer aufrechterhalten werden kann.“ (Merkel, Regierungserklärung vom 15.11.15)
Mit der Erinnerung an das eindeutige innereuropäische
Kräfteverhältnis sowie unter Bemühung des moralischen
Titels der Solidarität, die Deutschland als
Hauptbetroffenem und Hauptbewältiger der
Flüchtlingsströme zustehe, beansprucht Berlin das Recht,
von allen EU-Staaten zu verlangen, ihre Flüchtlings- und
Einwanderungspolitik aus der nationalen Verfügung in die
supranationale Kompetenz Brüssels zu überstellen. Die
Merkel-Regierung drängt auf ein EU-weit verbindliches
Verfahren für eine europäisierte Flüchtlings- und
Asylpolitik, und siehe da: Die nächsten Schritte
,
die wir
laut deutscher Regierungserklärung auch
hier gehen müssen
, sind in Brüssel längst in Angriff
genommen. Dazu vermeldet eine Zeitungsüberschrift
folgende zutreffende Zusammenfassung:
„Nur noch eine Asylbehörde für Europa? Die Kommission in Brüssel will nicht nur die Anerkennungsverfahren an sich ziehen, sondern auch die Flüchtlinge selbst verteilen. Der Bundesinnenminister findet es gut.“ (Augsburger Allgemeine, 6.4.16) [5]
Das Zusammenwirken der deutschen Regierung mit den
EU-Behörden stellt klar, was Programm und Perspektive
einer europäisierten Flüchtlingspolitik
ist: Die
Merkelsche Entschlossenheit, mit den weltweiten
Flüchtlingsbewegungen weltweit Politik zu machen und
andere Staaten auf daraus abgeleitete Funktions- und
Statuszuweisungen festzulegen, bedeutet
innereuropäisch die stückweise Enteignung der
europäischen Nationen vom Souveränitätsrecht über Grenze
und Volkszusammensetzung.
3. Schengen muss endlich wieder funktionieren!
–
die aktuelle Definition von Den Grenzen das Trennende
nehmen!
Die Frage
aus Merkels Regierungserklärung, ob
der Schengenraum auf Dauer aufrechterhalten werden
kann
, ist keine Frage, sondern eine Drohung.
Die nationalen Lösungen
der Flüchtlingsfrage, die
sich in der Abschottung der Balkanroute von Mazedonien
bis Österreich zeigen und von Tschechien über Polen bis
ins Baltikum gutgeheißen werden, haben nach dem
Dafürhalten der Verfechter einer europäisierten
Flüchtlingspolitik
mit der im EU-Türkei-Abkommen
angepeilten Abschottung der EU-Außengrenzen keine
Daseinsberechtigung mehr. Vielmehr stehen damit Europas
innere Grenzen neu zur Disposition: Ist der
Schengenraum
vermittels europäisch geleiteten
Flüchtlings- und Außengrenzen-Managements vor der
Flüchtlingskrise
bewahrt, hat in der EU
die innere Abschirmung, also die Wahrnehmung der Hoheit
über die eigenen nationalen Grenzen ihr Recht verloren.
Dass damit die Souveränität der EU-Mitglieder angegriffen
wird, bezeugen die Reaktionen der Betroffenen deutlich,
so etwa die Tendenzen zur Renationalisierung
in
einer beträchtlichen Anzahl von EU-Staaten beim Umgang
mit den Flüchtlingen und den einschlägigen Reaktionen in
Sachen Grenzkontrolle auch in traditionell
zuwanderungsfreundlichen
skandinavischen Staaten.
Vor allem aber bezeugt dies sehr klar die
fundamentalistische Reaktion der ostmitteleuropäischen
Nationen. Sie sehen durch die Pläne aus Brüssel und
Berlin den Verlust ihrer Hoheit über ihr Grenzregime
heraufziehen und damit ein Heiligtum ihrer Souveränität
gegenüber anderen Staaten bedroht;
innenpolitisch übersetzen sie diese Bedrohung in eine
Gefährdung der Identität ihres Volkes durch
auswärtigen Zuzug.
Damit rührt die Europäisierung der
Flüchtlingspolitik
an das widersprüchliche
Konstruktionsprinzip der EU, dass um der Nation
willen nationale Souveränität abgegeben wird; und
sie rührt sehr direkt an den Kern der Sache –
dafür steht die politische Bedeutung, die der
Vertrag von Schengen in diesem Zusammenhang gewinnt. Beim
Abschluss dieses Vertrags und bis neulich noch galt für
die Beteiligten der Verzicht auf Grenzkontrollen im
Verkehr untereinander als Gewinn: als wichtiges Element
in der Ausgestaltung des Binnenmarkts „für Waren, Kapital
und Menschen“ zur Zugewinngemeinschaft für alle und als
bedeutender Beitrag zum „Zusammenwachsen“ des Kontinents
und zu einem gesamteuropäischen Quasi-Patriotismus.
Tatsächlich war die ‚Zugewinngemeinschaft‘ nie etwas
anderes als das Regelwerk für freie, also verschärfte
Konkurrenz der Unternehmen und für Abhängigkeiten
zwischen je für sich national abrechnenden Staaten; mit
der Euro-Krise erweist sich die Union als Zwangsverein
von Gewinnern und Verlierern, der alles andere als
nationale Erfolge für alle programmiert. Im Zuge der
maßgeblich von Deutschland gemanagten Krisenbewältigung,
zu Lasten der Verlierer unter der Drohung noch größeren
Schadens bei Verweigerung, machen die schwächeren
Mitglieder die Erfahrung eines substanziellen
Souveränitätsverlusts, nämlich hinsichtlich ihrer Hoheit
über den Haushalt, mit dem sie ihr Land regieren, und
eines Regimes der Führungsmacht, die ihnen nationale
Auswege verbaut. Die offenen Grenzen im Schengen-Raum
sind damit schon nicht mehr eine gemeinsame
Errungenschaft, sondern eine wesentliche
Geschäftsbedingung deutscher Wirtschaftsmacht, auf der
Berlin aus wohlbegründetem Eigennutz besteht und deren
möglichen Wegfall die anderen sich als Schaden für ihren
Kampf um Selbstbehauptung vorrechnen lassen müssen. Mit
der Flüchtlingskrise und deren gesamteuropäischer
Bewältigung im Berliner Sinn bekommt die
Schengen-Regelung aber gleich ein ganz anderes Gewicht.
Da ist es allein die deutsche Seite, die eine
Flüchtlingspolitik mit imperialistischem Anspruch und
Inhalt verfolgt und dafür ihre Partner funktionalisieren
will; und für diese deutsche Politik sind die
vertragsmäßig offenen Grenzen der entscheidende Hebel,
die Nachbarn in ein gemeinsames Flüchtlings-Regime
hineinzunötigen. Die finden sich ihrerseits mit einem
imperialistischen Anspruch konfrontiert, den sie –
zumindest so – nicht teilen, den sie mit Sinn und Zweck
ihrer Europa-Politik kaum bis überhaupt nicht in Einklang
bringen können, der ihnen dafür eine Last zumutet, der
sie sich, damals noch in voller Übereinstimmung mit
Berlin, durch die Dublin-Regelung zur Verarbeitung des
Flüchtlingszustroms schlau entzogen haben. Und mit
Deutschlands Berufung auf die Schengen-Regelung werden
sie mit der Nase darauf gestoßen, dass der Vertrag über
offene Grenzen ihnen nicht einfach freie Fahrt für freie
Bürger beschert: Die Kontrolle über ihre nationale
Grenze, damit über das ihre Grenzen überschreitende
Migrantenwesen und so über ein wesentliches Stück ihrer
Hoheit über Land und Leute, immerhin Inbegriff des
staatlichen Gewaltmonopols, ist ihnen damit aus der Hand
genommen. Was aus dem gemeinsamen Beschluss heraus,
den Grenzen das Trennende zu nehmen
, an
innereuropäischer Rechtslage geschaffen wurde, wird jetzt
von Deutschland politisch zur Unterwerfung unter eine
gesamteuropäische Grenz- und Migrationspolitik
umfunktioniert, deren Vorgaben Berlin setzt und die
Brüssel umsetzt.
Darum dreht sich der Streit in Europa; und
entsprechend fundamentalistisch wird er geführt.
Insbesondere die Staaten Osteuropas gründen quasi eine
europäische Internationale der Nationalstaaten; in
diversen Foren tun sie sich zusammen, restaurieren, so
gut sie können, und vor allem immer sehr demonstrativ
ihre Grenz- und Grenzkontrollanlagen und verweigern
diplomatisch auch nur die kleinsten Zugeständnisse an
eine europäisch zentralisierte Politik der Zuweisung von
Flüchtlingen an die Nationalstaaten. Mit der Beschwörung
des Untergangs des Abendlandes und der Erinnerung an die
schlimmen Zeiten des von der Sowjetunion errichteten
Völkergefängnisses machen sie klar, dass sie zwar
Unionsmitglieder und anerkannte Mitgestalter Europas sind
und bleiben wollen, Einbußen an staatlicher Souveränität
und nationaler Eigenständigkeit aber keinesfalls
hinnehmen; schon gar nicht, wenn sie hinter den Brüsseler
Zumutungen Berlin als Drahtzieher ausmachen. Die deutsche
Antwort auf diese Verweigerungshaltung aus Osteuropa
stellt auf ihre Weise klar, wohin es die europäische
Völkerfamilie inzwischen gebracht hat: Irgendeine Form
der Beschwichtigung, des – und sei es auch nur
diplomatisch geheuchelten – Eingehens auf die Beschwerden
aus dem Osten ist von Berliner Politikern nicht zu haben.
Vielmehr antworten die mit einer kongenialen
Unvereinbarkeitsansage: Wenn die Staaten der
Balkanroute und die Osteuropäer auf der Schließung ihrer
Grenzen beharren, dann ist der Schengen-Raum tot!
Klargestellt ist damit, dass für Deutschland die von ihm
verlangte Europäisierung der Flüchtlingspolitik
nicht einfach ein weiterer Fortschritt europäischer
Einigung ist, um den es zwar ringt, aber ohne den die EU
eben auf dem Status quo weiterwirtschaften könnte; die
europäische Führungsmacht drängt mit diesem
Fortschritt, einmal mehr ziemlich ultimativ, darauf, dass
die EU auch aus dieser Krise „stärker hervorgeht, als sie
hineingegangen ist“.
So nimmt die europapolitische Seite der deutschen
Welt-Flüchtlingspolitik, die Merkel letzten Herbst mit
dem Idealismus vom menschenfreundlichen Gesicht
Deutschlands gegenüber Flüchtlingen eingeführt hatte,
Kontur an. Deutschland beansprucht, dass eigentlich nicht
Deutschland Grenzen hat und in Berchtesgaden
aufhört, sondern dass die deutschen Grenzen mit denen
Europas zusammenfallen. Im Unterschied zu
anderen EU-Staaten verbindet sich für die deutsche
Regierungspolitik eine europäische Außengrenze nicht mit
Sorgen um den Verlust der nationalen Souveränität.
Vielmehr bedeutet die Parole Europas Außengrenzen
sichern
für die deutsche Regierung die Ausweitung
deutscher Richtlinienkompetenz über ein
vergemeinschaftetes europäisches Grenzregime, inklusive
Kontrolle über die Zuwanderung nach Europa und Auslegung
der Asylpolitik. Merkel betont jeden Tag, dass es im
deutschen Interesse ist, die Flüchtlingsfrage einer
europäischen Lösung zuzuführen, dass also für Europas
Führungsmacht die Ent-Grenzung der Hoheit voll
in ihrem nationalen Interesse liegt – im
Gegensatz zu ihren EU-Partnern, für die das keine
Gleichung darstellt. Wenn andere europäische Staaten das
anders sehen, dann legen sie damit einen unzeitgemäßen
Provinzialismus an den Tag, mit dem sie den
Herausforderungen unserer globalisierten Welt
überhaupt nicht gerecht werden. Das deutsche Projekt
Europa verträgt nationale Souveränität in Grenz- und
Volksfragen nicht mehr; diese auszuhebeln ist Ziel
der aktuellen deutschen Europapolitik und – damit der
Widerspruch komplett wird – der Anspruch an alle
souveränen Staaten, die diesen Verein ausmachen und auch
künftig ausmachen sollen.
[1] Der deutsche
Wortlaut der Vereinbarung findet sich unter:
www.consilium.europa.eu
[2] Für die
Abschiebung von Migranten in die Türkei hat Frontex
1500 Polizeibeamte veranschlagt, von denen die
Mitgliedsländer bisher 700 zugesagt haben.
(FR, 2.4.16)
[3] Das griechische
Parlament beschloss am Freitagabend im Eilverfahren ein
stark beschleunigtes Asylverfahren.
(Ebd.)
[4] Alle neuen
irregulären Migranten, die ab dem 20. März 2016 von der
Türkei auf die griechischen Inseln gelangen, werden in
die Türkei rückgeführt.(...)Migranten, die auf den
griechischen Inseln ankommen, werden ordnungsgemäß
registriert, und alle Asylanträge werden von den
griechischen Behörden gemäß der
Asylverfahrensrichtlinie auf Einzelfallbasis behandelt,
in Zusammenarbeit mit dem UNHCR. Migranten, die kein
Asyl beantragen oder deren Antrag gemäß der genannten
Richtlinie als unbegründet oder unzulässig abgelehnt
wird, werden in die Türkei rückgeführt. Mit
Unterstützung durch Organe und Agenturen der EU
ergreifen die Türkei und Griechenland die notwendigen
Maßnahmen und vereinbaren alle erforderlichen
bilateralen Regelungen, einschließlich der Präsenz
türkischer Beamter auf griechischen Inseln sowie
griechischer Beamter in der Türkei ab dem 20. März
2016.
(Erklärung
EU-Türkei)
[5] Die ausführliche Berichterstattung lautet wie folgt: „Die EU plant eine radikale Wende in der Asylpolitik. Nach monatelangem Streit über die Verteilung von Migranten auf die Mitgliedsstaaten will die europäische Kommission künftig allein verantwortlich sein und über die Zuweisung bestimmen. Das geht aus ersten Auszügen des Vorschlags der Kommission hervor,der am heutigen Mittwoch erwartet wird – und der bereits auf Unterstützung traf.
‚Wir brauchen eine gemeinsame Praxis‘, sagte Bundesinnenminister de Maizière gestern. Es könne nicht angehen, dass in einigen Mitgliedsländern nur zehn Prozent aller Asylanträge aus einem Drittstaat anerkannt werden, in anderen Ländern dagegen 90 Prozent. Der Vizepräsident des Europäischen Parlamentes, der liberale EU-Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff, lobte: ‚Die korrekte Anwendung des europäischen Asylrechtes ist längst überfällig. Und sie ist ein Gebot der Fairness. Denn manche EU-Staaten wetteifern förmlich darum, möglichst unattraktive Bedingungen für Migranten zu schaffen, die dann in andere Staaten weiterziehen.‘
Kern des neuen Vorschlags ist die Quasi-Entmündigung der nationalen Behörden. Stattdessen will die Kommission ‚die Verantwortung für die Bearbeitung von Asylansprüchen auf die EU-Ebene verlegen.‘ Dazu soll das bisherige Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) zu einer EU-Agentur mit Entscheidungsbefugnissen umgebaut werden. In jedem Mitgliedsland der Gemeinschaft würden Vertretungen der Agentur entstehen. ‚Dies würde einen einzigen und zentralisierten Entscheidungsmechanismus schaffen und so die komplette Harmonisierung der Verfahren, aber auch der konstanten Beurteilung von Schutzbedürfnissen sichern‘, heißt es in dem Papier mit dem Titel ‚Reform des europäischen Asylsystems und Stärkung legaler Wege nach Europa‘.
Die EASO soll künftig alle Asylanträge entgegennehmen, bearbeiten und verbindlich entscheiden. Anschließend könnte die Agentur den anerkannten Asylbewerber einem Mitgliedsland zuweisen. Dazu soll es bestimmte Quoten geben, die sich aus ‚der relativen Größe, dem Reichtum und den Aufnahmekapazitäten der Mitgliedsstaaten‘ errechnen. Damit lehnt sich das Verfahren eng an den deutschen ‚Königsteiner Schlüssel‘ an, der die Verteilung von Asylbewerbern auf die Bundesländer regelt.(...) Dieser neue Weg wäre das endgültige Aus für das heutige europäische Asylrecht und die umstrittenen Dublin-Regeln.
Absehbar scheint, dass einige Regierungen im Osten der Union wie Ungarn, Tschechien, Polen und die Slowakei, die schon jetzt die Aufnahme von Flüchtlingen ablehnen, diesen Vorschlag kaum begrüßen werden.“ (Ebd.)
Bis in die Feinheit hinein, dass Deutschlands „Königsteiner Schlüssel“ für die innerdeutsche Verteilung von Flüchtlingen auf die Bundesländer die Blaupause für die Verteilung der Flüchtlingskontingente auf die europäischen Nationalstaaten abgeben soll, ist ersichtlich, dass die supranationalen Europafachleute der EU-Kommission sich den Entwurf einer europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik zu eigen machen, wie er den Europapolitikern aus Berlin vorschwebt. Von der Verweigerungshaltung ihrer osteuropäischen Opponenten lassen sie sich also nur in dieser einen Weise beeindrucken: In der Flüchtlingspolitik gehört den Osteuropäern perspektivisch der Status von Quasi-Bundesländern gegenüber einer weisungsbefugten Zentralinstanz verpasst – freilich ohne ein Äquivalent zum deutschen ‚Länderfinanzausgleich‘ oder sonstige Maßnahmen zugunsten einer funktionstüchtigen innerstaatlichen Arbeitsteilung in Aussicht zu stellen.
Anfang April hat es die EU-Kommission dann fürs Erste
bei folgendem Vorschlag belassen: Wenn nun ein
Aufnahmestaat an seine Obergrenze kommt, würde ein
‚Fairness-Mechanismus‘ in Kraft treten, der die übrigen
Länder verpflichtet, dem Nachbarn Flüchtlinge
abzunehmen.
(Augsburger
Allgemeine, 7.4.16) Kurz darauf wurde, in
Vorwegnahme von Opposition gegen die
Kommissionsabsichten, noch einmal nachgelegt: Länder,
die nicht willens sind, das ihnen zugewiesene
Flüchtlingskontingent aufzunehmen, sollen eine Strafe
von 250 000 Euro je verweigertem Flüchtling zahlen.