Vom Zusammenwachsen in Europa Der Streit um die Beneš-Dekrete
Wie man mit einer historischen Frage die staatsrechtlichen Grundlagen eines ansonsten angesehenen Beitrittskandidaten in Zweifel zieht

Tschechien tritt der EU bei. Der Streit um den Status, mit dem es beitritt, wird von Deutschland über die Sudeten-Frage neu aufgeworfen, in die sich auch Österreich einmischt. So wird am tschechischen Beitritt der imperialistische Gehalt Europas augenfällig.

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Vom Zusammenwachsen in Europa

„Fast ein halbes Jahrhundert bereits trägt die Europäische Union zur endgültigen Beilegung früherer Konflikte sowie zur Festigung von Frieden, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand in ganz Europa bei. … Der Erweiterungsprozess macht Europa für seine Bürger sicherer und trägt zur Konfliktvermeidung und -beherrschung auf globaler Ebene bei. … Es werden keine neuen Trennlinien in Europa gezogen. Jeder neue Mitgliedstaat bringt sein politisches, wirtschaftliches, kulturelles, historisches und geographisches Erbe in die EU ein und bereichert damit Europa insgesamt.“ (Strategiepapier der Europäischen Kommission, 2001)

Sehr witzig. Es lässt sich nämlich kaum übersehen, dass besagter Erweiterungsprozess diverse Konflikte aufrührt; zwischen den Beitrittsländern, sowie zwischen diesen und den Nationen, die in ‚Europa‘ schon angekommen sind und in mehr oder minder einflussreicher Stellung die Aufnahmekriterien diktieren, die die Beitrittskandidaten zu erfüllen haben. Nach dem Motto ‚jetzt oder nie‘ zerren die Staaten alle möglichen historisch begründeten zwischenstaatlichen Rechts- und Schuldtitel hervor, um diese als ihr ‚Erbe‘ in die EU einzubringen. Sie werfen alle möglichen ‚offenen‘ staatsrechtlichen Grundsatz-‚Fragen‘ auf, und zwar keineswegs, um diese endgültig beizulegen; vielmehr kümmern sie sich mit einigem Ehrgeiz darum, dass sie diese auch in der erweiterten EU offen halten können. Was bislang sistiert war im Nachkriegseuropa, was verboten, erledigt, teils schon vergessen war – oder einfach keine Rolle gespielt hat, weil sich niemand gefunden hat, der sich der Sache angenommen hätte –, kommt nun gerade im Hinblick auf die Fertigstellung des großartigen europäischen Einigungswerkes als Materie erbittert geführter zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen auf den Tisch. Die zwei aktuellen Beispiele dafür sind die Auseinandersetzung um das ungarische Statusgesetz und der Streit um die Beneš-Dekrete.

Der Streit um die Beneš-Dekrete
Wie man mit einer historischen Frage die staatsrechtlichen Grundlagen eines ansonsten angesehenen Beitrittskandidaten in Zweifel zieht

Noch jeder Staat bewahrt aus seiner ihm eigenen berechnenden Stellung heraus – wer weiß, wozu sie mal gut sind? –, jenseits all seiner aktuellen Interessen, tief in seinem Kleinhirn historische Rechte auf, aus denen er bei Gelegenheit Ansprüche ableiten kann. Kurz bevor sie in seinem Unterbewußtsein versinken, übergibt er sie den Historikern – zur Pflege und Konservierung. Und man sieht ja, wofür sie gut sind. 56 Jahre nach Kriegsende bricht in Europa eine Debatte aus, die Gründungsakte der damaligen Tschechoslowakei betreffend. Während die Beziehungen angeblich immer besser und die Zeitzeugen immer spärlicher werden, fühlt sich der deutsche Außenminister mit der ihm eigenen zerfurchten Demonstration von Sensibilität bemüßigt, der Bitterkeit das Wort zu reden, die vorhanden ist bei Teilen unserer Bevölkerung. Wortführer dieser Teile beharren darauf, dass sie sich ihre per Vereinsleben bestens konservierte Bitterkeit nur in Heller und Pfennig abkaufen lassen; ein ehemaliger FAZ-Herausgeber schließt sich der Diagnose der österreichischen Freiheitlichen und der deutschen Nationalzeitung an und ruft den tschechischen Staat zum Eingeständnis und zur Buße für sein genozidhaftes Verbrechen auf; österreichische und deutsche EU-Parlamentarier beschwören eine kaum wiedergutzumachende Verletzung der kostbaren europäischen Wertegemeinschaft, falls Tschechien ungeläutert beitreten sollte, und beschäftigen ganze Stäbe von Juristen, um im heutigen tschechischen Rechtsapparat – wenn es sein muss noch auf der Ebene von Anmeldefristen – Divergenzen mit Euro-Gesetzen aufzuspüren, die den Verdacht auf fortgesetzte schwerste Menschenrechtsverletzungen belegen sollen. Der tschechische Ministerpräsident, bekanntlich amtsmüde, will aus seinem Herzen auch nicht länger eine Mördergrube machen, rechnet den Sudetendeutschen vor, dass auf Landesverrat im Prinzip die Todesstrafe steht, und der FPÖ, dass Österreich seinerzeit ein Drittel der KZ-Aufseher gestellt hat.

Unübersehbar wird dieses neu entbrannte Bedürfnis nach Vergangenheitsbewältigung weniger davon inspiriert, dass Vertreiben und Enteignen in Prag immer noch zum aktuellen politischen Handwerkszeug gehören würden, als vom bevorstehenden EU-Beitritt der mitteleuropäischen Staaten: Weil es dabei um die Frage geht, als was diese in Europa willkommen und akzeptiert sind bzw. zu was sie sich herrichten müssen, um in Europa aufgenommen zu werden, rührt das Zulassungsverfahren Kontroversen um Fragen der Nachkriegsordnung auf, die die einen – die „Begünstigten“ – für abgeschlossen halten wollen, die anderen aber – die „Verlierer“ – „jetzt oder nie“ aufwerfen wollen, um sie zu ihren Gunsten neu zu entscheiden oder zumindest den um sie entfachten Streit für sich politisch zu nutzen.

I. Die Interessenlage in der Sudeten-Frage

– auf deutscher Seite

Die Einheit von Revanchismus und Antikommunismus, die die bundesdeutsche Republik seit ihrer Gründung gepflegt hatte, ist vorbei. Die nahtlose Überführung des nationalsozialistischen Antibolschewismus und der Ressentiments des Kriegsverlierers in den Antikommunismus des aufstrebenden Nato-Mitglieds und deutschen Frontstaats – Einwände gegen die westlichen Siegermächte waren selbstverständlich nie gestattet –, das speziell deutsche Leiden am kommunistischen Völkergefängnis und dessen Pflege in Gestalt der Kultur der „Vertriebenen“ sind einerseits gegenstandslos geworden. Der Kommunismus ist tot, der Block aufgelöst und die Völker werden mit den Beitrittsanträgen an Europa in die andere Richtung umgepolt.

Andererseits ist die deutsche Anspruchshaltung in Sachen „Vertreibung“ bemerkenswerterweise gar nicht tot, sondern lebt enorm auf. Solange nämlich der Ostblock existierte, waren für die deutsche Republik bei aller Unverträglichkeit die Existenz einer DDR, Oder-Neiße-Grenze und Beneš-Dekrete zu akzeptieren, weil kraft der Gewalt des Ostblocks und seiner Führungsmacht als Status quo verankert. Jetzt aber wird Europa von einem neuen Kräfteverhältnis bestimmt: Durch die Dominanz von EU und Nato gegenüber einer Ansammlung von Kleinstaaten nämlich, die durch den Entfall der Schutzmacht und die Folgen des Systemwechsels mehr oder weniger geschwächt sind, denen gegenüber nun insbesondere die BRD ihre Wirtschaftsmacht und ihre langjährig gepflegten Sonderbeziehungen endlich voll ausspielen und ihre Dienste beim Heranführen dieser Staaten an Europa anbieten kann. Im Klartext: An den deutschen Forderungen kommen die Beitrittskandidaten auf ihrem Weg nach Europa nicht vorbei. Damit ist die Konzession von gestern endgültig überfällig, und dieses Moment von Nachgiebigkeit gegenüber einer anderen Machtkonstellation kann auch offiziell revidiert werden. Alle vertraglich niedergelegten Bekenntnisse zur Unabänderlichkeit der Kriegsfolgen sind Makulatur, seitdem es die Gunst der Stunde erlaubt, die alten Ansprüche von der einseitigen und folgenlosen Deklamation zur veritablen Verhandlungsmaterie zu befördern, an der sich die neuen „Partner“ abzuarbeiten haben.[1]

„Zu kommunistischer Zeit konnte sich Prag Einmischung in innere Angelegenheiten noch verbitten. Ein EU-Kandidat kann das nicht.“ (SZ, 7.9.01)

Der SZ-Kommentator hat es kapiert, und die Freude am neu eröffneten Erpressungsgeschäft ist es offensichtlich wert, die frühere Klage über die ach so beschränkte Souveränität unserer Nachbarn im Osten auf den dafür vorgesehenen Misthaufen zu befördern.

Dieser Lage entnehmen die Vertriebenen neue Chancen, den materiellen Kern ihres Revanchismus in Anschlag zu bringen. Während der Periode der Entspannungspolitik war man zwar auf luftigere Beschäftigungsfelder wie Brückenschlagen, Pflege von Kultur, Erinnern und vorbildliches Versöhnen verdrängt, bei aller Wertverbundenheit aber immer gut dotiert, unverwüstlich und ohne Nachwuchssorgen, wofür die deutsche Politik und ihre Bundesländer, wie Bayern mit seiner Pflege des „vierten Stamms“, gesorgt haben; auf die „Erlebnis“generation folgte die in der Bundesrepublik längst eingehauste, selbsternannte „Bekenntnis“generation, die, wie der Name schon sagt, den Schmerz über die „verlorene Heimat“ ziemlich berechnend kultivierte. Nun aber kommen die Vereinssprecher auf den handfesten Sinn ihrer Werte zu sprechen; die Wiederaneignung von Vermögen, mindestens aber Entschädigung ist verlangt, wobei es natürlich überhaupt nicht ums Geld geht:

„Stoiber und Neubauer betonten, Vermögensfragen stünden nicht im Vordergrund. Vielmehr gehe es vor allem um symbolische Gesten, sagte Neubauer. ‚Es ist uns klar, dass der ursprüngliche Zustand nicht uneingeschränkt wiederhergestellt werden kann, aber zwischen einer Null-Lösung à la Zeman und einer 100-Prozent-Lösung gibt es viele Möglichkeiten.‘“ (SZ, 10.3.99)[2]

Gemessen am „ursprünglichen Zustand“ ist ja schließlich jede Summe nur eine „symbolische Geste“. Unter der weitgefassten Parole „Recht auf Heimat“ nehmen Funktionäre der Sudetendeutschen die Gelegenheit wahr und die im zwischenstaatlichen Umgang etwas anders zu verstehende Redeweise von „Rechten“ wörtlich: Sie sehen sich durch die Dominanz ihrer Republik dermaßen auf Erfolgskurs, dass sie ihre Forderungen wie gegenüber der tschechischen Republik einklagbare Rechte vor sich hertragen. Der Sprecher der Sudetendeutschen Böhm, nebenbei Präsident des bayerischen Landtags, bekräftigt,

„dass das Recht auf Heimat und das Eigentumsrecht Individualrechte seien. Somit müsse die tschechische Regierung mit den Rechtsinhabern sprechen.“ (FAZ 1.6.01)

Dass diese ein Recht auf fremdes Eigentum im Ausland besitzen, wissen zwar die meisten auch erst, seitdem ihr Verband sie damit in Gestalt von Antragsformularen bekannt gemacht hat, und werden daran auch nur so weit glauben, wie die Politik signalisiert, dass auch sie bei dieser Frage einen gewissen Regelungsbedarf kennt. Aber warum sollten sich die Vertriebenen auch nicht zum edelsten aller demokratischen Gefühle, zur schlichten Habgier bekennen, wenn ihnen plötzlich gegen Ende des Jahrhunderts zum Dank für jahrelanges Erinnern und Versöhnen die Aussicht eröffnet wird, zum Grundeigentümer oder Entschädigungsberechtigten im benachbarten Ausland aufzusteigen?

Das nationale Interesse des Staatswesens, das diese Sippschaft beheimatet und sich gern in die Pose wirft, nur deren Interessen zu vertreten, rechnet allerdings nicht so kleinlich, sondern auf anderem Niveau. Von Staat zu Staat sind noch ganz andere Eigentumsfragen, nämlich solche der höheren Art, auszuhandeln; und auf der Etage sind die Beziehungen, wie deutsche Politiker unablässig versichern, einfach bestens.

Erstens kommt nämlich die ökonomische Aneignung der tschechischen Republik durch Deutschland voran, und das Auswärtige Amt rühmt die „äußerst dichten Wirtschaftsbeziehungen“. Seitdem der tschechische Staat die Marktwirtschaft ausgerufen und die ehemaligen Staatsbetriebe zur Privatisierung ausgeschrieben hat, nützen deutsche Firmen an vorderster Stelle die tschechische Notlage aus, dass eine zur Privatisierung erforderliche private Zahlungsfähigkeit in Tschechien so gut wie nicht vorhanden ist und daher auswärtige Angebote unschlagbar sind. Seit der Übernahme der Skoda-Werke bestreitet allein VW 10% des tschechischen Exports; mit einem Marktanteil von über 20% ist Deutschland der wichtigste Auslandsinvestor in Tschechien; die Firmenchefs danken dem Billiglohnland gleich hinter dem Bayerischen Wald den Zugewinn ihrer Bilanzen mit der treuherzigen Versicherung, dass sie Tschechien keinesfalls nur als verlängerte Werkbank ansehen. Daran, dass die tschechischen Regierungen ihren Investoren unnütze Kosten abnehmen und sich mit einer mehrjährigen Steuerbefreiung, der zollfreien Einfuhr von Technologie und Zuschüssen für die Requalifizierung von Arbeitskräften für die Benützung ihres Inventars erkenntlich erweisen, haben die deutschen Investoren nur die ungerechtfertigte Diskriminierung des Mittelstands auszusetzen, weil solche Vergünstigungen erst ab einer Investition von mindestens 10 Millionen Dollar gewährt werden. Auch was die von den EU-Beitrittskandidaten verlangte Bereitschaft zur „Öffnung“ angeht, die Bereitschaft, nationale Rücksichten zugunsten von Euro-Geschäft zurückzustellen, gibt es gemeinhin wenig Klagen. Die tschechischen Medien befinden sich zum überwiegenden Teil in Händen der Passauer Neuen Presse und anderer deutscher Unternehmer – wenn allerdings dieser Sachverhalt der tschechischen Politik Anlass zur Sorge gibt, dann entdeckt dieselbe deutsche Presse, die anlässlich der Perspektive, dass ein Murdoch Leo Kirch übernehmen könnte, fast den nationalen Notstand ausruft, jenseits der Grenze einen bedenklichen nationalistischen Sumpf. Auch bei der sogenannten „Liberalisierung“ der Versorgungsunternehmen ist man trotz zwischenzeitlicher Meinungsverschiedenheiten optimistisch: Wenn nämlich Eon und RWE die Bedingungen nicht passen, unter denen die tschechische Stromgesellschaft zum Kauf angeboten wird, geraten nicht die Bilanzen deutscher Stromkonzerne, wohl aber die Haushaltsplanungen der tschechischen Regierung in Schwierigkeiten.

Dass sich das tschechische Interesse an einer marktwirtschaftlichen Karriere dank der Einkaufspolitik europäischer Konzerne wohl oder übel am Interesse solch entscheidender Investoren zu orientieren hat, denen dank Globalisierung die freie Disposition über Ausbau oder Abbau ihrer verschiedenen Dependancen offensteht; dass es sich darüberhinaus auch an den Interessen der Regierungen, die hinter diesen entscheidenden Investoren stehen und in deren Macht es liegt, ihren marktwirtschaftlichen Pionieren ganze Länder als gute oder weniger gute Anlagesphäre auszuweisen, auszurichten hat; dass also die Zurichtung zu einem ökonomischen Anhängsel europäischer und insbesondere deutscher Konzerne schon sehr weitgehend im nationalen Interesse der anderen Seite verankert ist, das ist ein Faktor, der in der deutschen Optik die Zufriedenheit mit den guten Beziehungen begründet.

Zweitens kann sich Deutschland darauf verlassen, dass der politische Anschluss der tschechischen Republik durch die EU bewerkstelligt wird: Alle Kapitel des Gemeinschaftsrechts und der Gemeinschaftspraktiken werden mit den Beitrittskandidaten abgearbeitet und deren Verwandlung zum europäischen Hinterland organisiert. Trotz gelegentlicher Verstimmungen zählt die Tschechische Republik auch auf diesem Gebiet zu den Beitrittskandidaten, die beim Umbau ihrer inneren Staatsordnung am weitesten fortgeschritten sind – ein weiterer Faktor beim notorischen deutschen Lob der guten Beziehungen.

Und dennoch: Kaum wird von dritter Seite – Österreich und Ungarn contra Tschechien und die Slowakei – ein Streit um die Beneš-Dekrete angezettelt, schon sind die guten Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien erst einmal im Eimer.

„Entsetzt über den derzeitigen Zustand der Beziehungen äußern sich aber sowohl deutsche wie tschechische Diplomaten… Ursprünglich hatte der Besuch das gute Verhältnis 5 Jahre nach Unterzeichnung der deutsch-tschechischen Erklärung bekräftigen sollen… Schröder wird den Besuch in Prag nicht machen, weil er vermeiden will, in einen Streit verwickelt zu werden, der in mehreren Ländern Mitteleuropas geführt wird“. (SZ, 28.2.02)

Deutsche Anliegen sind selbstverständlich nicht auf derselben Ebene wie die der genannten Länder angesiedelt, aber die Substanz von deren subalternem Streit ist Deutschland überhaupt nicht egal.

Denn auf dem Weg der ökonomischen Vereinnahmung des Nachbarstaats durch deutsches Kapital und seiner politischen Angliederung an Europa wird zwar dessen Zurichtung zur deutschen Interessensphäre vorangetrieben, aber ein zusätzlicher deutscher Spezial-Anspruch, der sich auf eine „offene Frage“ berufen kann, ist in dem Zusammenhang offensichtlich auch nicht zu verachten. Und der hat immerhin so viel Gewicht, dass man von deutscher Seite die Beziehungen insgesamt in Frage stellt. Deutschland unterhält noch ein Sonderinteresse, das mit der ökonomischen und europa-politischen Subsumtion Tschechiens nicht bedient ist. Laut der aktuellen Version von Außenminister Fischer gibt es immer noch einen eigenen Komplex von unterschiedlichen Auffassungen und historischen Fragen, die er gerne weiter diskutieren möchte. (Interview von Bundesaußenminister Fischer und dem tschechischen Außenminister Kavan in einer Sendung des tschechischen Fernsehsenders CT 1 am 20.2.2002) So hört sich die verständnisheischende Fassung vor tschechischem Publikum an. Vor dem Bundestag tönt Fischer anders:

„In diesem Geiste und auf der klaren Grundlage der Deutsch-Tschechischen Erklärung und auf der Position, die ich gerade genannt habe, nämlich dass wir eine Kollektivschuld nicht akzeptieren können…, sind auch Kollektivstrafen nicht akzeptabel und können schon gar nicht schwerste Menschenrechtsverletzungen hinterher als Recht bezeichnet werden.“ (Fischer zu den Äußerungen des tschechischen Ministerpräsidenten Zeman zu den Sudetendeutschen – Aktuelle Stunde im Deutschen Bundestag, 23.1.02)

An Bemühungen darum, diese ersprießliche „Diskussion“ auch gegen den Willen des Diskussionspartners fortzusetzen, der bekanntlich seit Jahren einen „Schlussstrich“ gezogen haben möchte, hat es auch die rot-grüne Koalition trotz entgegenlautender Meldungen aus Bayern nicht fehlen lassen. So arbeitet Deutschland seit dem Zusammenbruch des Ostblocks zielstrebig heraus, was die politische Substanz dieser „offenen Frage“ eigentlich ist.

Die Mischung aus Eröffnen, Beilegen und Offenhalten in der deutschen Diplomatie gegen Tschechien

Der Einstieg: die deutsch-tschechische Erklärung von 1997

Sicher, Gebietsansprüche, wie sie in Kreisen der Sudetendeutschen fortleben, werden von der Bundesrepublik in den nach der Wende eröffneten Verhandlungen nicht erhoben. Vor dem Hintergrund der Erweiterung Europas um ganz Mitteleuropa, in deren Rahmen der deutsche Zugriff auf diesen Großraum gesichert wird, relativiert sich der Nutzen einer Rückführung des Sudetenlands in die deutsche Heimat denn doch. Die sogenannte „Vergangenheit“ bleibt der deutsch-tschechischen Diplomatie aber als Verhandlungsobjekt erhalten. Der feste Wille, ein für allemal mit der unheilvollen Vergangenheit in ihren Beziehungen ein Ende zu machen, den sich Deutschland und die damalige Tschechoslowakische Sozialistische Volksrepublik 1973 schon einmal geschworen hatten, will 1997 mit der gewendeten tschechischen Republik noch einmal neu vereinbart sein: Beide Seiten erklären, dass sie ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden. Es geht nämlich darum, Tschechien zur Anerkennung des Standpunkts zu bewegen, dass Deutschland mit der unheilvollen Vergangenheit eben doch kein Ende gemacht hat, sondern nur mit politischen und rechtlichen Fragen, die es für noch gar nicht geregelt erklärt, alle sonstigen nützlichen Beziehungen nicht belasten will. Damit sie das nicht tun, ist allerdings die Bereitschaft der Gegenseite vorausgesetzt, die Frage der politischen Schuld überhaupt zu behandeln. Immerhin hatte der tschechische Präsident, in der Berechnung, sich durch Versöhnungsgesten die Gewogenheit des mächtigen Nachbarn Deutschland beim Vorankommen in Europa zu sichern, schon einmal die deutsche Vokabel „Vertreibung“ in den Mund genommen, so dass man gemeinsam zu Protokoll geben kann:

„Beide Seiten sind sich zugleich bewußt, dass der gemeinsame Weg in die Zukunft ein klares Wort zur Vergangenheit erfordert, wobei“ – deutsches Zugeständnis an die tschechische Seite: – „Ursache und Wirkung in der Abfolge der Geschehnisse nicht verkannt werden dürfen.“

Mit dem Zugeständnis, dass die zu klärenden Schuldfragen nicht von vorneherein nur die tschechische Seite betreffen – man ist sogar so großzügig zuzugeben, dass Deutschland angefangen hat! –, ringt man der das Zugeständnis ab, dass sie sich zu einer noch nicht erledigten Klärung herbeilässt. Dass an diesem Punkt die tschechische Regierung nicht einhakt und nach deutschem Muster auf einem Unrecht insistiert, das als solches verurteilt, gesühnt, wiedergutgemacht und mindestens bezahlt gehört etc. etc., liegt nur vordergründig daran, dass der sozialistische Vorgängerstaat im Vertrag von 1973 erklärt hatte, der Vertrag bildet mit seinen Erklärungen über das Münchner Abkommen keine Rechtsgrundlage für materielle Ansprüche der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik und ihrer natürlichen und juristischen Personen. Wie man eine für erledigt erklärte Verhandlungsmaterie wieder eröffnet, exerziert ja gerade die so gutnachbarschaftlich gesonnene Bundesrepublik vor. Entgegen aller von deutscher Seite beschworenen, höheren und allgemein menschlichen Berufungstitel wie Recht und Moral entscheiden darüber einzig die Machtmittel, die die eine Seite gegen die andere aufzubringen vermag. Deswegen nimmt sich Deutschland die Frechheit heraus, dass es jetzt – endlich einmal – darum zu gehen hat, die Tschechien betreffende Schuldfrage zu erörtern. Daran, die andere Seite darauf festzulegen, arbeitet man weiter und erzielt dabei einen Teilerfolg:

„Die tschechische Seite bedauert, dass durch die nach Kriegsende erfolgte Vertreibung sowie zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen“ – ein Übersetzungsstreit geht los, die Tschechen wollen ein anderes Wort als Vertreibung in den Vertrag schmuggeln! Die Rolle der Slawisten in der Geschichte ist gefragt – „aus der damaligen Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt wurde, und dies auch angesichts des kollektiven Charakters der Schuldzuweisung.“

Man hat es also geschafft, die tschechische Regierung schon einmal auf die Übernahme eines deutschen Standpunkts, nämlich die Zurückweisung einer deutschen „Kollektivschuld“, und auf die Umkehrung der Schuldfrage zu verpflichten, allerdings auch nur in der Form, dass sie etwas „bedauert“.

„Sie bedauert insbesondere die Exzesse, die im Widerspruch zu elementaren humanitären Grundsätzen und auch den damals geltenden rechtlichen Normen gestanden haben, und bedauert darüber hinaus, dass es aufgrund des Gesetzes Nr. 115 vom 8. Mai 1946 ermöglicht wurde, diese Exzesse als nicht widerrechtlich anzusehen, und dass infolgedessen diese Taten nicht bestraft wurden.“

Auf mehr als auf ein folgenloses „Bedauern“ lässt sich die tschechische Regierung 1997 nicht ein; die deutsche Regierung hat dabei aber schon im Hinterkopf, wie sich daraus ein juristischer Strick drehen lässt. Deswegen legt sie Wert auf die Feststellung, dass die „Exzesse“, die Tschechien bedauert, im Widerspruch schon zu „damals geltenden rechtlichen Normen“ gestanden haben und dass der damalige tschechische Staat selbst den Beweis dafür erbracht hat in Gestalt des namentlich genannten Gesetzes Nr. 115. „Insbesondere“ hat die deutsche Seite damit eine Unterscheidung eingeführt: Die zwischen dem im Potsdamer Abkommen beschlossenen „Bevölkerungstransfer“, an dem Deutschland wegen dem auch heute nicht zu ignorierenden Gewicht der Signatarmächte nicht offiziell herumnörgeln will, und den „Exzessen“, die sich das tschechische Volk in seinem Rachebedürfnis gegenüber den deutschen Okkupanten herausgenommen hat und für die das Gesetz Nr. 115 eine umfassende Amnestie erlassen hatte. An der Unterscheidung – von Tschechien ja schon unterschrieben – kann man dann weiterarbeiten. Die Zustimmung der anderen Seite zur deutschen Rechtsauffassung, dass für die tschechische Schuld nun auch einmal Sühne zu leisten wäre, ist allerdings nicht zu erreichen:

„Gerade deshalb, weil sie sich der tragischen Kapitel ihrer Geschichte bewusst bleiben, sind sie entschlossen, in der Gestaltung ihrer Beziehungen weiterhin der Verständigung und dem gegenseitigen Einvernehmen Vorrang einzuräumen, wobei jede Seite ihrer Rechtsordnung verpflichtet bleibt und respektiert, dass die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat.“

Die deutsche „Rechtsauffassung“ besteht gegenüber der tschechischen auf der Unrechtmäßigkeit von drei unter Beneš erlassenen Dekreten: Deren Definition „staatlich unverlässlicher Personen“, u.a. „Personen deutscher und magyarischer Nationalität“, „mit Ausnahme jener Personen, die nachweisen, dass sie der tschechischen Republik treu geblieben sind“ (Die Presse, 24.1.02), die des Landes verwiesen und deren Eigentum konfisziert werden sollten, soll sich des Vergehens der „Kollektivschuld“ schuldig gemacht haben. So lautet der deutsche Einwand gegen die im Krieg von kriegführenden Mächten noch allemal praktizierte Gleichsetzung einer feindlichen Staatsmacht mit der ihr zugehörigen Bevölkerung – schließlich gelten ja auch in dem angeblich nach höchsten menschenrechtlichen Maßstäben geführten Krieg gegen Serbien die sogenannten Kollateralschäden an der Bevölkerung, außer in der Optik von Milosevic, nicht als Unrecht. Diese Gleichsetzung wurde von tschechischer Seite an den völkischen Anhängseln der deutschen Okkupanten durchexerziert; und die Siegermächte haben dieselbe Gleichsetzung bei der vertraglichen Vereinbarung über den Abtransport der Deutschen aus Mitteleuropa im Potsdamer Abkommen vorgenommen, weil sie die Machtmittel des deutschen Kriegsverlierers auch in dieser Hinsicht beschneiden wollten. Der deutsche Einfall, eine „Kollektivschuld“ zu bestreiten, verdankt sich historisch erst einmal dem Bedürfnis der Nachkriegspolitik, die Kontinuität einer unbestrittenen deutschen Staatlichkeit in Absetzung vom Kapitel der schlechten Nazi-Herrschaft auf dem Umweg über die Kontinuität des guten, allenfalls verführten deutschen Volkes zu konstruieren. Nachdem aber Deutschland an Alter, Gewicht und Anerkennung zugenommen hat, benützt es diese Konstruktion als Einfallstor, um die Schuldfrage umzudrehen und gegen die Staaten zu wenden, die von der Nachkriegsordnung auf deutsche Kosten profitiert haben. Dass die Forderung, die damalige angebliche Vollstreckung der Kollektivschuld-These förmlich zurückzunehmen, Kriegszustände heutzutage aus der Optik der Strafprozessordnung inspiziert, führt zu gewissen Absurditäten, nimmt man den deutschen Anspruch einmal wörtlich: Mitten in der Krieg- und Nachkriegslage hätte die damalige Tschechoslowakei Prozesse veranstalten und den Nachweis von Schuld gegen jeden einzelnen Sudetendeutschen führen sollen. Sollen die Tschechen doch einmal eine rechtsstaatliche Nachkorrektur bei der Entnazifizierung in die Wege leiten, die die Siegermächte, wiederum aus Gründen politischer Zweckmäßigkeit aufs Führungspersonal beschränkt und mit der Methode der Persilscheine bekanntermaßen großzügig abgewickelt haben! Aber so historisch ist das mit der Aufarbeitung der Vergangenheit von den Deutschen ja auch gar nicht gemeint.

Das Wiederaufwärmen der Beneš-Dekrete dient dazu, den tschechischen Vertragspartner zur Anerkennung einer auf seiner Seite vorliegenden Schuld zu bewegen. Er soll zugeben, dass sein Staat damals Unrecht an Deutschen begangen hat und damit anerkennen, dass er dem heutigen Deutschland etwas schuldig ist. Dass gar nicht feststeht, was und wieviel sudetendeutsche Forderungen Deutschland da dann hineinpackt, wenn es erst einmal das Geständnis in der Hand hat, macht die Sache so pikant. Zwar hat Tschechien mit dem Eingeständnis einer Schuld in allgemeiner Form noch überhaupt keine der möglichen politischen und materiellen Konsequenzen anerkannt, die Deutschland daraus ableiten mag. Aber so ein generelles Schuldanerkenntnis hat, gerade weil mit ihm nichts ausgeschlossen, sondern der Gegenseite alles eröffnet wird, den Charakter einer Auslieferung an deren Willen, und so ist das Verlangen danach auch gemeint. Jedenfalls von deutscher Seite, die nicht locker lässt. Auch wenn man, was die präzise Fassung der tschechischen Schuld angeht, nicht die deutsche „Rechtsauffassung“ durchsetzen kann, so steht die immerhin schon einmal in dieser Form im Vertrag, nämlich als Auffassung, die man sich vorbehält durchzusetzen. Denn bei der Behandlung dieser Frage auf einer bloß polit-moralischen, allgemeinen Ebene will es Deutschland nicht bewenden lassen, sondern die tschechische Schuld schon soweit konkretisieren, dass sie auf einer zwischenstaatlichen Ebene justitiabel wird. Woran man dabei so denkt, das ist den Auskünften des damaligen Außenministers Kinkel zu entnehmen: Die deutsche Seite habe sich nicht verpflichtet, Eigentumsfragen nicht aufzuwerfen. Eine beachtliche Leistung der deutschen Diplomatie: Um die tschechische Republik zur Anerkennung einer Schuld zu bewegen, hat man die Schuldfrage von speziellen Forderungen nach Wiedergutmachung getrennt, und kaum hat sie anerkannt, dass sie Deutschland etwas schuldig ist, stellt man die Verknüpfung her. Die Form, in der das geschieht, besteht darin, dass man die nächste Frage für offen erklärt.

Die Verknüpfung mit der Eigentumsfrage würde dem Schuld-Eingeständnis, das man der tschechischen Regierung schon abgerungen hat, eine ungeheure materielle Wucht verleihen – und die deutsche Seite will sich nicht darauf festlegen lassen, diese Verknüpfung nicht irgendwann herzustellen. Da wird dann doch schön langsam klar, welches Spektrum von Optionen sich Deutschland eröffnet hat, wenn sich Tschechien mit der Anerkennung dieser offenen Frage an seinen Willen ausliefert. Der Kern dieser „Frage“ ist eine Drohung mit für Tschechien unabsehbaren Folgen, allerdings eine, die man nicht ausspricht, sondern in der Hinterhand hat und die man bei Bedarf aktualisieren kann. Unabhängig davon, ob der vorliegt, und auch unabhängig davon, ob Deutschland aktuell oder überhaupt darauf hinauswill, dass die tschechische Seite irgendwelchen Eigentumsforderungen irgendwelcher Sudetendeutschen nachkommt, besteht Deutschland mit seiner Politik des Offenhaltens Tschechien gegenüber darauf, dass es die Frage jederzeit eskalieren kann. Ihr Witz liegt darin, dass es im Ermessen der deutschen Seite liegt, ob und bis zu welchem Punkt es sie als Waffe gegen Tschechien ausreizt; dass es das vom Wohlverhalten Tschechiens ihm gegenüber abhängig machen kann; dass es sie das nächste Mal also auch wieder bis auf die Ebene gemeinsamer Bekenntnisse zu einem vergangenen Unrecht herunterkochen kann. Deutschland arbeitet da an einem Instrument seiner Politik, mit dem es Tschechien – neben seiner ökonomischen und euro-imperialistischen Aneignung – noch einmal ganz speziell auf sich verpflichten und sich gefügig machen will; und zwar in allen Belangen, die sich so unter dem Titel „gute Beziehungen“ zusammenfassen. Die Schärfung dieses Instruments betreibt es, indem es umgekehrt diese Beziehungen, den erreichten Stand der Abhängigkeiten, als Hebel einsetzt, um der tschechischen Seite Zugeständnisse in der „offenen Frage“ abzunötigen. Die Verständigung über diese Waffe, den Umgang mit ihr, ist der Inhalt der in Sachen ‚Sudetendeutsche‘ betriebenen deutsch-tschechischen Politik. Und wie weit man mit der gemeinschaftlich vorankommt, daran spiegelt sich der gute oder schlechte ‚Stand der Beziehungen‘.

Weil es die von Kinkel betriebene Politik dabei so weit treibt, sich schon mal darauf festzulegen, die Behandlung dieser Frage auf die in ihr steckenden Vermögensfragen hinzuführen, an Tschechien also die Zumutung richtet, es möge an einer Diplomatie weiter teilnehmen, in der es Deutschland das Recht bestätigen soll, ihm mit „zwischen einer Null-Lösung à la Zeman und einer 100%-Lösung“ offenen materiellen Forderungen zu kommen, wird diese Phase der Versöhnung logischerweise von wachsenden Verstimmungen begleitet. Regierung und Präsident der Tschechischen Republik fühlen sich genötigt, unmissverständlich klarzustellen, dass in ihrer Rechtsauffassung ein grundsätzliches Unrecht bei der Nachkriegsgründung nicht vorgesehen ist; die deutsche Seite kontert, indem Kohl dem tschechischen Premier Klaus jedes Zusammentreffen verweigert. Auf der Ebene kommt Deutschland also erst einmal nicht weiter, zumal sich die tschechische Diplomatie bei anderen Instanzen Rückhalt für ihre Rechtsauffassung verschafft. Die westlichen Siegermächte sehen keinen Anlass, die Rechtlichkeit der Nachkriegsordnung in Europa, soweit sie von ihnen beschlossen war, in Zweifel zu ziehen, außerdem verfolgen sie andere Berechnungen: Die Führungsmacht USA drängt gegen russische Einwände auf die erste Nato-Erweiterung, und die Nato-Diplomatie verzichtet nicht darauf, die Aufnahme Tschechiens demonstrativ auf den Jahrestag des Einmarschs deutscher Truppen in Böhmen und Mähren zu legen.

Die sozialdemokratische Betreuung der tschechischen Bereitschaft zur Versöhnung…

So erhält ein Regierungswechsel Gelegenheit, seine diplomatische Produktivkraft zu beweisen: Dazu wird eigens das Gerücht in die Welt gesetzt, mit sozialdemokratischen Regierungen auf beiden Seiten käme man besser voran, und Schröders außenpolitischer Berater, Steiner, meldet Erfolge: Schröder… habe das Verhältnis zwischen Deutschland und der tschechischen Republik ‚entsäuert‘. (SZ, 10.3.99) Womit?

„Schröder und Zeman hatten in Bonn erklärt, sie wollten das gegenseitige Verhältnis“ – schon wieder einmal – „nicht länger mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten. Sie würden weder heute noch in Zukunft Vermögensfragen in diesem Zusammenhang aufwerfen.“ (SZ, 10.3.99)

Deutschland bekennt sich in Gestalt seines neuen Kanzlers also erst einmal erneut zur Trennung von zu kultivierenden Schuldbekenntnissen und dem, was man daraus zu machen gedenkt. Die Verwechslung mit der in Tschechien verbreiteten Lesart, nun sei der von den entscheidenden politischen Kräften in der Tschechischen Republik gewünschte Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen worden. Im Prager Rundfunk hieß es, nun könne man die Geschichte den Historikern überlassen und mit der Zukunft würden sich jene befassen, ‚denen an ihr wirklich liegt‘ (SZ, 10.3.99), ist diplomatisch beabsichtigt. Zur Pflege des neuen Klimas gehört auch die Zurechtweisung der Sudetendeutschen Landsmannschaft.[3] Steiners Versicherung, die Bundesregierung hätte keineswegs Rechte der Vertriebenen preisgegeben, es bleibe jedem Sudetendeutschen unbenommen, vor einem tschechischen Gericht zu klagen, ist natürlich nicht die ganze Wahrheit; soviel ist auch noch jedem Berufsvertriebenen klar, dass ihn da seine Regierung auflaufen lässt, weil die schönsten „Individualrechte“ nichts taugen, wenn nicht die eigene Staatsmacht eine andere dazu zwingt, sie in ihrer inneren Rechtsordnung in Kraft zu setzen. Das ruft Proteste im Inneren hervor – Lamers: Dämlich und kontraproduktiv, Neubauer: Die Bundesregierung sei nicht befugt, zivilrechtliche Ansprüche aufzugeben, ohne regresspflichtig zu werden[4] –, die von der Regierung in aufschlussreicher Weise zurückgewiesen werden; mit der Klarstellung nämlich, sie habe sich um kein Jota bewegt:

„Mit der Ankündigung des Bundeskanzlers, seine Regierung werde keine Ansprüche nach einer Vermögensrückgabe der Sudetendeutschen verfolgen, würden keine Rechtsauffassungen aufgegeben, betonte Michael Steiner. Mit seinen Äußerungen habe der Kanzler keinesfalls auf individuelle Rechtsansprüche von Sudetendeutschen verzichtet. Es gehe darum, dass die jetzige Regierung wie die Regierung Kohl keine Ansprüche stelle… Die neue Regierung betrachte die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg genauso als Unrecht wie die Verbrechen der Nazis in Lidice oder Theresienstadt.“ (SZ, 10.3.99)

Der feine semantische Unterschied, ob nun Kinkel betont, er habe sich nicht verpflichtet, die Fragen nicht aufzuwerfen, oder Schröder erklärt, die Fragen nicht aufzuwerfen, aber keine einzige deutsche Rechtsauffassung werde aufgegeben, besteht offenkundig darin, dass die neue Regierung die divergierenden Rechtsauffassungen nicht zum Anlass nehmen will, der Gegenseite die Anerkennung der ihren aufzunötigen, jedenfalls aktuell nicht. Nur was heißt das? Jedenfalls eines bestimmt nicht: Das wunderbare Instrument, das Deutschland mit der „offenen Frage“ gegen Tschechien in der Hand hat und jederzeit in Anschlag bringen kann, gibt seine Regierung nicht aus der Hand. Die Frage ist weiterhin offen. Und damit behält sich Deutschland auch weiterhin vor, sie bei Bedarf wieder zu eskalieren. Vorderhand ist aber etwas anderes angesagt. Nämlich die Pflege der Beziehungen, die durch die intransigente Haltung der Vorgängerregierung in der Frage der Sudetendeutschen auf dem Tiefpunkt stehen. Und dass die neue da nicht so intransigent ist, lässt sich ja auch als Entgegenkommen interpretieren, das der Gegenseite wiederum ein Entgegenkommen wert sein sollte: Zeman spricht bei seinem Besuch in Bonn die Beneš-Dekrete an – und anerkennt sie damit immerhin irgendwie auch als fortbestehendes Problem der zwischenstaatlichen Beziehungen:

„Zeman hatte formuliert, dass unter Beibehaltung der Kontinuität der tschechischen Rechtsordnung die ‚Wirksamkeit‘ einiger Maßnahmen nach dem zweiten Weltkrieg inzwischen ‚erloschen‘ sei.“ (SZ, 10.3.99)

Von beiden Seiten wird das neue gute Klima gepflegt. Von der deutschen nicht zuletzt dazu, um die Instrumente zu nutzen, die man sich per Vertrag geschaffen hat – den „deutsch-tschechischen Zukunftsfonds“, die „deutsch-tschechische Historikerkommission“, das „deutsch-tschechische Gesprächsforum“ –, und auf dieser Ebene an der Verbreitung der deutschen Interpretation der Vergangenheit weiterzuarbeiten.[5]

Erfolge dieser „Politik der kleinen Schritte“ stellen sich ein; sie betreffen alle die Verankerung, Fortbildung und Pflege der Materie, an der Deutschland sein besonderes Recht, auf den tschechischen Staat einzuwirken, festmacht: die sudetendeutsche Landsmannschaft. Es gelingt nämlich, jenseits der Grenze ein paar Positionen aufzuweichen, z.B. die schrittweise Aufwertung der Landsmannschaft in Richtung politischer Gesprächspartner durchzusetzen:

„Zwar habe Havel die sudetendeutsche Landsmannschaft als einen Verein bezeichnet, mit dem es keine offiziellen Gespräche geben könne. Doch habe Ministerpräsident Zeman bei seinem Besuch in München auch ihm, Böhm, einen Besuch abgestattet.“ (FAZ 1.6.01)

Die Stadt Brünn bedauert feierlich „Exzesse“; bis Winter dieses Jahres erwägt die tschechische Regierung sogar eine „humanitäre Geste“ gegenüber nachweislich antifaschistisch tätigen Sudetendeutschen. Und in professoralen Kreisen mehren sich Stimmen, man könnte durchaus mehr für die Versöhnung tun, auch der jungen tschechischen Demokratie stünden Gesten der Reue und Wiedergutmachtung gut zu Gesicht, ganz so als hätte das Vorbild Deutschland seine Reue-Veranstaltungen aus eigenem Gutdünken und nicht auf das Diktat der Siegermächte hin unternommen – da sieht man, dass auch die Wissenschaft in der Politik zuweilen zu etwas gut ist, wenn sie z.B. tschechischen Kollegen in die Auffassung hineinquasseln kann, es ginge auch nur um so edle Handelsware wie Moral und Versöhnung. Die FAZ verzeichnet bei ihrer akribischen Beobachtung inzwischen immerhin schon 250 tschechische Überläufer aus der Intellektuellenszene. Das ist zwar nicht viel angesichts einer tschechischen Öffentlichkeit, die zu 99% die Entrüstung des Ministerpräsidenten teilt, aber ein paar potentielle „Meinungsführer“, die „dem Präsidenten nahestehen“, sind auch nicht zu verachten.

… und die erneute Zuspitzung

Man hätte fast meinen können, die Sache sei insoweit bereinigt, als sich „beide Seiten aufeinander zu bewegen.“ Aber auch wenn die deutsche Seite aus dem deutschen Vorbehalt in Sachen „Rechtsauffassung“ auf offizieller Ebene aktuell und seit längerer Zeit nichts macht: Er gilt in aller Grundsätzlichkeit weiter. Das zeigt sich, nachdem Haider, Schüssel und Orban die Beneš-Dekrete zum Zulassungshindernis zur EU hochgespielt haben, die tschechische Seite das Thema für erledigt erklärt hat und die Schließung der Akten von der EU förmlich anerkannt haben will. Auch wenn Deutschland diesen Streit nicht angezettelt hat, er ihm vielmehr ungelegen kommt, weil es genügend damit zu tun hat, den EU-Erweiterungsprozess in seinem Sinne unter Dach und Fach zu bringen; auch wenn es derzeit – nicht zuletzt deswegen – kein Interesse daran hat, die „offene Frage“ gegenüber Tschechien zu eskalieren: Die Schließung der Akte kann und will es nicht zulassen. Es besteht in Gestalt seines Außenministers ausdrücklich auf ihrer Nicht-Schließung:

„Wir haben bezogen auf die Gültigkeit der Beneš-Dekrete unterschiedliche Auffassungen. Ich hoffe, dass dies eines Tages überwunden werden kann…
Frage: Aber sie persönlich, wären Sie dafür, dass die Beneš-Dekrete aufgehoben werden, oder nicht?
Fischer: Ich wäre froh, wenn wir die Debatte wirklich als eine historische Debatte eines Tages den Historikern überlassen könnten.“

Warum er nicht kann, warum Deutschland an diesem Einspruchstitel und er an seinem Konditional unbedingt festzuhalten gedenken, verrät er seinem Publikum nicht; dem soll seine von der nie enden wollenden Historie geplagte Leidensmiene Argument genug sein:

„Wenn wir ein Verhältnis zwischen unseren Staaten und Menschen hätten, wo das eine historische Frage ist…“ (Fischer-Kavan-Interview)

Ist es aber nicht, darf es nicht sein, weil die Staatsmacht, deren Interesse Fischer verdolmetscht, das Kapitel eben nicht zumachen will.[6] Auch wenn Berufsheuchler im Staatsdienst wie Fischer Höchstleistungen vollbringen, wenn sie den Vorbehalt mal vermenscheln[7], mal als Bedarf nach einem polit-moralischen Abtausch hochanständiger, aber folgenloser Gesten vorstellig machen oder über unsere leidvolle Geschichte herumschleimen, die „uns“ nicht „loslässt“ – die politische Substanz dieses deutschen Sondertitels gegenüber der Tschechischen Repubik bleibt dieselbe.Und Fischer konfrontiert seinen Gesprächspartner von neuem damit, diesmal unterstrichen durch das „Argument“ der „besonders guten Beziehungen“, die zwischenzeitlich erreicht worden sind und deren Beschädigung sich Tschechien ja wohl keinesfalls mehr leisten kann:

„Für uns ist es sehr, sehr wichtig, dass die exzellenten deutsch-tschechischen Beziehungen fortentwickelt werden… Das ist unter Freunden so – und vor allen Dingen mit solch einer tragischen Geschichte –, dass man unterschiedliche Auffassungen haben kann und dennoch sehr gut zusammenarbeitet… Wenn wir uns dieser gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft bewusst sind, werden wir die anstehenden Fragen partnerschaftlich lösen… Die historischen Fragen werden wir im bilateralen Verhältnis weiter zu diskutieren haben…“ (Fischer-Kavan-Interview)

Das ist dann wohl der Gehalt der besonderen Freundschaft, die Fischer den Tschechen anträgt: das Recht, die guten Beziehungen enorm zu strapazieren, indem man Tschechien „anstehende Fragen“ vorlegt und deren „partnerschaftliche Lösung“ verlangt, das Recht auf ein besonders „bilaterales Verhältnis“ in Europa, auf Sonderbeziehungen nämlich, in denen Deutschland seinen Nachbarn auf eine spezielle Botmäßigkeit gegenüber seinen Ansprüchen verpflichtet. Anstelle des verblichenen Protektorats Böhmen und Mähren eine deutsche Domäne in Europa, in die die Bundeskanzler hineinregieren und das auch noch institutionalisiert – so ungefähr sieht der deutsche Bedarf nach tschechischer Vergangenheitsbewältigung aus. Nebenbei erfährt man damit auch noch, dass deutsche Interessen in der Fertigstellung Europas nicht aufgehen, sondern noch in anderer Art festgehalten werden, um einen speziell deutschen Besitzstand in Mitteleuropa zu begründen.

Die österreichische Interessenlage

Österreich hat in seiner Doppelrolle als Opfer und Mitmacher des Nationalsozialismus etwas später als die Bundesrepublik das Verfahren der Vergangenheitsbewältigung, das auch der Alpenrepublik mehr aufgenötigt wurde, siehe Zwangsarbeiterregelung, als außenpolitische Waffe entdeckt. Es versucht seinerseits sich damit als forderungsberechtigte Nation ins Spiel zu bringen: im Namen der Sudetendeutschen als „Altösterreicher“ (im Rückgriff auf 1918) mit der Verwendung der Beneš-Dekrete als Einmischungstitel gegenüber Tschechien und der AVNOJ-Bestimmungen (ähnliche Nachkriegsbeschlüsse des damaligen Jugoslawien) gegenüber Slowenien. In seiner Eigenschaft als EU-Mitglied ist nämlich auch Österreich bei der Zulassung der Beitrittskandidaten gefragt; da spielt es (noch) eine Rolle, die auszunützen ist, mit der man sich beispielsweise nach der Verhängung der leidigen EU-Sanktionen Kompensation verschaffen wollte:

„Österreich will sich als Reaktion auf die causa prima nun verstärkt Mittel- und Osteuropa zuwenden… Warum sollen wir nicht mit unseren Nachbarn für den mitteleuropäischen Raum eine sehr starke Achse bilden.“ (Außenpolitischer Sprecher der ÖVP. Spindelegger, die Presse, 2.10.00) „Schüssel hatte sein Offert zu verstärkter Zusammenarbeit damit begründet, dass Prag, Budapest, Preßburg und Laibach historisch und kulturell mehr mit Wien verbinde als mit Berlin und Paris.“ Der Ministerpräsident der CR Zeman hingegen „sei sich ‚nicht ganz sicher, dass gerade Österreich jenes Land ist, das glaubwürdig die Rolle unseres Helfers beim Beitritt‘ zur EU sein könne… Aus dieser Sicht ‚verlasse ich mich viel mehr auf Deutschland‘. Mit Deutschland hätten sich die Beziehungen seit März 99 rasant und dauerhaft verbessert. ‚Es gibt hier keine offenen Probleme mehr‘.“ (Die Presse, 5.10.00)

Seitdem sich das Unternehmen aber von tschechischer Seite diese Abfuhr eingefangen hat, wird im österreichisch-tschechischen Verhältnis stetig eskalierend gestritten. Angefangen von Temelin bis eben zu der Frage, wer hier wem in Sachen korrekter Vergangenheitsbewältigung etwas vorzuschreiben hat,[8] also letztlich darum, ob es in der österreichischen Macht liegt, Tschechien zur Zurücknahme seines Standpunkts zu zwingen. Schließlich spielt die österreichische Seite das tschechische Festhalten an den Dekreten zu einer Grundsatzfrage der Legitimität der Staats-Verfassung Tschechiens hoch: Es gebe den begründeten Verdacht, dass einzelne dieser Dekrete bis heute diskriminierende Wirkung entfalten. (Schüssel beim „kleinen Donaugipfel“, bei dem sich Ungarn, Österreich, Bayern und Baden-Württemberg zusammentun, Die Presse, 12.3.02) Es liege also ein fortgesetztes Bekenntnis zum Verstoß gegen Menschen-und Völkerrecht vor, das mit den sittlichen Maßstäben der europäischen Gemeinschaft nicht zu vereinbaren sei.

„Schüssel forderte die Tschechische Republik zu einer ‚freiwilligen Entschädigung‘ der aufgrund der Beneš-Dekrete vertriebenen Sudetendeutschen ‚analog der österreichischen Zwangsarbeiterregelung‘ auf. Seine Empfehlung sei immer gewesen, ‚zu sagen, das ist totes Unrecht – und dass das mit dem Beitritt zur EU auch rechtlich einwandfrei sichtbar wird. Damit sind nicht zwingend die Entschädigungsfragen verbunden, aber es ist ein Thema, das jeder mit sich ausmachen muss. Wir haben es für uns gelöst, und es war eigentlich eine Befreiung‘.“ (FAZ, 4.3.02)

Auch ein netter Einfall, die eigene Erpressung einmal als therapeutische Maßnahme darzustellen. Schüssel beherrscht im übrigen auch die Technik, das von Tschechien verlangte Eingeständnis von „Unrecht“ „zunächst einmal“ davon zu „trennen“, was man dann weiter daraus machen möchte:

„Die Forderungen der Vertriebenenverbände gehen selbstverständlich weiter, aber das kann man juristisch zunächst einmal trennen.“ (Der Standard, 2.3.02)[9]

Dabei geht es der österreichischen Politik, von deutschen Beobachtern mühelos durchschaut, „nur“ um eine klare Macht- und Rangfrage, die sie mit Hilfe ihres Status als EU-Mitglied aufwerfen und entscheiden will, weshalb sich Deutschland mit seinem Herumhacken auf den Beneš-Dekreten auch keineswegs solidarisch hinter Österreich stellt: Denn einerseits hat Deutschland kein Problem mit der Rangfolge, weil es die mit seiner Führungsposition nicht nötig hat, zweitens auch kein Interesse, österreichische Rechte durchzukämpfen, und drittens schlägt es in seinem Umgang mit Tschechien Kapital daraus, dass Wien Prag dermaßen zusetzt, indem es seine Bedeutung als die wahre Schutzmacht auf dem Weg in die EU herausstreicht. Umgekehrt lässt Österreich nicht locker im sicheren Wissen, dass für eine Nation seiner Statur die Gelegenheit einmalig und mit der Aufnahme vorbei, nämlich nur solange gegeben ist, wie die Rangordnung in Europa noch durch das Verhältnis zwischen innen und außen garantiert ist. Daher der definitive Standpunkt der österreichischen Politik, den Streit darauf zuzuspitzen, wieweit seine Rechte in der EU respektiert werden, ob die tschechische Republik gegen ein österreichisches Machtwort in die EU kommt.

Die tschechische Seite

registriert den dreifachen Angriff: Ökonomisch lauert hinter der Forderung nach Aufhebung der Beneš-Dekrete eine Erschütterung der nationalen Eigentumsverhältnisse, wie sie sich ein Staat normalerweise nur nach einer Niederlage im Krieg gefallen lassen muss. Zudem hat Tschechien gerade die Periode der Wiederherstellung einer kapitalistischen Eigentumsordnung hinter sich, hat immer noch genug damit zu tun, auswärtige Anträge auf eine „stabile“ Rechtsordnung und eine „transparente“ Privatisierung des verbliebenen Staatseigentums zu bedienen und die privatisierten Reste der sozialistischen Volkswirtschaft zu einem kapitalistischen Wachstum zu bewegen, als dass man dem bescheidenen tschechischen Kapitalismus eine neuerliche Infragestellung der Besitzverhältnisse zumuten möchte.[10] Und schließlich ist es auch nicht so, dass die bereits erreichte Vorherrschaft deutscher Interessen im nationalen Wirtschaftsleben nicht auch mit Sorge betrachtet würde, was die eigene Erpressbarkeit angeht.

Auch die staatsrechtliche Brisanz der deutsch-österreichischen „Rechtsauffassungen“ hat man in Prag zur Kenntnis genommen. Einerseits ist klar, dass sich die Forderung nach Aufhebung der Beneš-Dekrete nicht auf eine rein symbolische Geste des Bedauerns und Versöhnens richtet, sondern einen Rechtsakt erwirken will, der seinerseits Folgen erzeugen soll: Nämlich mindestens die Folge, dass die tschechischen Staatsmacher auf dem Gebiet der Legitimität ihrer Staatsordnung, bei der Berufung auf die Kontinuität einer vorbildlichen tschechischen Demokratie seit 1918 einen Einwand anerkennen und einen illegitimen Einsatz der Staatsgewalt eingestehen sollen, was sich Staatsgewalten mit ihrem Bedürfnis, die Unbedingtheit ihrer Hoheit auch staatsmoralisch zu untermauern, normalerweise auch nur nach einer Niederlage im Krieg gefallen lassen müssen. Die heutige Staatsmacht soll sich der Erpressung durch auswärtige Mächte beugen und ausgerechnet an der Herleitung einer unanfechtbar rechtlich und demokratisch verfaßten Staatlichkeit aus der antifaschistischen Tradition, an die man in Tschechien anknüpfen möchte, nachdem die sozialistische Etappe der russischen Fremdherrschaft zugeschrieben worden ist, am polit-moralischen Selbstbild der Nation als Opfer beider Varianten des „Totalitarismus“ einen Makel eingestehen, um sich wiederum vom Ausland die nötige Wiedergutmachung vorschreiben zu lassen.

Des weiteren ist bei der Forderung nach einer solchen staatlichen Selbstbezichtigung offenkundig, dass damit der Eröffnungsschritt zu einer Ableitung von Rechtsfolgen geleistet wäre, die sich auf die ganze Breite der Forderungen unter dem Titel Wiedergutmachung erstrecken könnten, die man von seiten des interessierten Auslands und seiner Vereine nicht nur von früher kennt.[11] Auch wenn die deutschen Vertriebenen offiziell zur Zeit nur von „Entschädigung“ reden – der tschechische Haushalt hat schon genug Finanzierungsprobleme. Und außerdem ist nicht ausgemacht, auf welche Interpretation von Wiedergutmachung sich die Internationale der Sudeten verlegt, wenn man an einer Stelle nachgibt. Immerhin besitzt die „Eigentumsfrage“, wenn sie im Namen eines Volkstums und von seiten anderer Mächte aufgeworfen wird, eine besondere politische Brisanz, insofern als die Anerkennung legitimer Rechte eines solchen Volkstums, das sich als einer anderen Hoheit zugehörig definiert, in den eigenen nationalen Grenzen ein Einfallstor für weitergehende Ansprüche der fremden Hoheiten bildet. Und bei Bedarf und Gelegenheit lässt sich die Forderung nach einem völkischen Recht auf einen Landesteil durchaus in die Forderung nach Grenzkorrektur rückübersetzen, siehe Hitler und seine Sudetendeutschen.

„In Österreich und Deutschland bestehe ein Interesse an einer Revision der Eigentumsverhältnisse in Tschechien und letztlich auch an der Territorialordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, sagte Klaus. Das erachte er als ‚unsagbar riskant‘ für die Zukunft.“ (SZ, 25.2.02) „Nicht die Aufhebung der Beneš-Dekrete sei das Ziel der gegenwärtigen Debatte, sondern die Umkehrung der Resultate der beiden Weltkriege.“ (Klaus, FAZ, 27.3.02)

Der außenpolitische Sprecher der Klaus-Partei ODS – Attacken aus dem Ausland richteten sich unterschwellig auf die Infragestellung der selbständigen tschechoslowakischen bzw. tschechischen Staatlichkeit – fordert daher als Akt der nationalen Selbstbehauptung einen Orden für Beneš, Beneš symbolisiere den tschechischen Widerstand gegen Nazi-Deutschland und die Kontinuität des tschechischen Staates (FAZ und Die Presse, 16.3.02), das Zentralkomitee von Zemans Sozialdemokraten verpflichtet alle Parteimitglieder auf die Verteidigung der nationalen Interessen und der Nachkriegsordnung. (FAZ, 8.4.02)

Dass es schließlich in dem Streit um einen Angriff auf den Stellenwert Tschechiens als EU-Mitglied geht[12], wenn die Demütigung durch und vor Österreich als Eintrittsbedingung präsentiert wird, ist der tschechischen Politik auch nicht verborgen geblieben. Dementsprechend unhöflich weist Außenminister Kavan Schüssels Formulierungshilfe zurück, fertigt dessen Aufforderung zur freiwilligen Entschädigung damit ab, dass überhaupt keine österreichischen Rechte tangiert seien, folglich Österreich nicht mitzureden hat und beschimpft den Nachbarn zudem als Trittbrettfahrer:

„Es gibt einen großen Unterschied zwischen den Begriffen ‚erloschene Dekrete‘ und ‚totes Unrecht‘. Wir können dem Wunsch Wiens nicht folgen. Die Dekrete bezogen sich nicht auf österreichische Staatsbürger, sondern auf deutsche und ungarische… Nebenbei bemerkt, hatte Österreich 97 die tschechisch-deutsche Deklaration begrüßt und kein Interesse gezeigt, mit uns ähnliches abzuschließen. Die spätere österreichische Forderung nach Verhandlungen zu diesem Thema war für uns eine unangenehme Überraschung.“ (Die Presse, 20.2.02)

Angesichts der Tragweite, die die zunehmende Aufwertung dieser „Frage“ für die tschechische Staatsraison besitzt, hält der tschechische Parlamentspräsident Klaus eine Gegenoffensive für dringend nötig. Er will gegen die Anfeindungen aus den Nachbarstaaten die förmliche Anerkennung von seiten einer höheren Instanz beantragen, dass der Streit beendet ist, in jeder Hinsicht. Er schlägt vor,

„die Dekrete als Teil der europäischen Nachkriegsordnung in einer Klausel zum tschechischen EU-Beitrittsvertrag zu verankern, über eine Klausel in den Beitrittsvertrag eine rechtliche und insbesondere eigentumsrechtliche Garantie einzubauen, dass es zu keiner ‚Revision der Nachkriegsordnung‘ kommen werde.“ (FAZ, 23.2.02)

Der Antrag von Klaus wird zwar von der tschechischen Regierung nicht übernommen, auch wegen der vereinten Bemühungen von EU-Kommissar Verheugen und Außenminister Fischer: keine zusätzlichen Erweiterungshemmnisse. Stattdessen verabschiedet aber das tschechische Parlament ohne Gegenstimme eine Resolution, die, unter Berufung auf die Schlussstrich-Lesart der deutsch-tschechischen Erklärung[13] und den entschiedenen tschechischen Willen zum Beitritt, dem Rest der Welt als unverrückbaren und geschlossenen Standpunkt aller tschechischen Parteien unter Einschluß der Kommunisten folgenden Standpunkt präsentiert: Die Beneš-Dekrete sind 1. in der Folge des Krieges und der Niederlage des Nazismus entstanden, also ebenso über jeden Zweifel erhaben wie die europäische Verurteilung des Nazismus; sie sind 2. realisiert, so dass auf ihrer Grundlage keine neuen Rechtsbeziehungen entstehen können. Damit wird der Versuch, eine Verbindung zur heutigen Rechtsangleichung an die EU herzustellen, abgewiesen; 3. sind die rechtlichen und Eigentumsverhältnisse, die aus ihnen hervorgegangen sind, unbestreitbar, unantastbar und unveränderbar. Außerdem wird konstatiert, dass Umfang und Bedingungen der Restitutionsgesetzgebung zur Gänze und ausschließlich der Kompetenz der verfassungsmäßigen tschechischen Organe unterliegen. (FAZ, 22.4.02)

Zur Absicherung dieses Standpunkts versucht die tschechische Diplomatie die Solidarität anderer europäischer Staaten einzuholen, insbesondere derjenigen, die ebenfalls von revanchistischen Forderungen betroffen sind oder sein könnten.[14] Vor allem aber bemüht man sich darum, die alten Siegermächte zu mobilisieren. Eine rechtliche Analyse des Problems sowie eine vergleichende Studie, die die tschechische Regierung in Auftrag gibt, sollen zeigen,

„dass deutsches Eigentum nach dem Krieg nicht nur in der damaligen Tschechoslowakei konfisziert und die Entscheidung über ‚Bevölkerungstransfers‘ nicht von der Tschechoslowakei, sondern von der Konferenz der Siegermächte in Potsdam getroffen worden sei und keineswegs nur die Tschechoslowakei betroffen habe.“ (FAZ, 28.2.02)[15]

II. Der Streit hat sich zur europäischen Affäre ausgewachsen

Praktisch spitzt sich alles auf den EU-Beitritt zu: Die – durchaus nicht identischen – deutsch-österreichischen Interessen an Vermögens-Restitution, an Sondereinfluss, was Deutschland besonders verlogen unter dem Titel der besonders pflegebedürftigen und -würdigen gutnachbarschaftlichen Beziehungen vorträgt, und an prinzipieller politischer Platzanweisung für Prag durch Österreich dringen massiv in die Beitrittsverhandlungen ein. Auf der anderen Seite kontern tschechische Politiker, dass sie nicht bereit sind, jeden Preis für die Zulassung zu zahlen:

„Wenn die tschechische Öffentlichkeit das Gefühl bekommt, dass die Aufhebung der Dekrete zur Vorbedingung für den EU-Beitritt gemacht wird, besteht das Risiko, dass sich die Mehrheit beim Referendum gegen den Beitritt ausspricht.“ (SZ, 26.3.02)

Klaus droht damit, mit einem Nein der ODS-Anhänger im Referendum für eine solche Mehrheit zu sorgen, sollte Brüssel keine Garantie geben, dass die Beneš-Dekrete ‚gesichert‘ bleiben.

Deutscherseits gilt zwar das prinzipielle Interesse, Tschechien durch die EU politisch anzugliedern; dennoch lässt man sich keineswegs dazu herbei, die eigene „Rechtsauffassung“ bezüglich der Beneš-Dekrete zu relativieren. Umgekehrt wird die tschechische Renitenz als Störfall behandelt. Es gilt, dafür zu sorgen, dass sich die Initiative von Klaus nicht durchsetzt und etwa – der schlimmste aller denkbaren Fälle – von seiten der EU als übergeordneter Instanz die tschechische Staatsgründung für erledigt erklärt und damit das deutsch-tschechische Sonderkapitel geschlossen würde. Dementsprechend beunruhigt sich die deutsche Öffentlichkeit lebhaft, dass der tschechische Wahlkampf zu „nationalistischen Exzessen“ führen könnte, die diese demokratische Institution bei anderen Völkern offensichtlich leicht hervorruft. Minister Fischer beharkt seinen tschechischen Kollegen:

„Ich hielte das auch von den Beitrittskandidaten für keine gute Idee, jetzt von tschechischer Seite hier zusätzliche Themen auf den Tisch zu bringen… Und nochmals, ich möchte allen Zuschauern hier unsere Position zweifelsfrei klar machen: Österreich ist Österreich. Die Bundesrepublik Deutschland ist die Bundesrepublik Deutschland. Das ist ein wichtiger Unterschied. Das bitte ich zu bedenken, ohne den österreichischen Freunden zu nahe zu treten… keine Verbindung zum Beitritt. Da würde ich ganz energisch dagegen sein, und ich hoffe auch, dass dieses hier in Tschechien nicht allen Ernstes von verantwortlichen politischen Kräften geplant wird.“ (Fischer-Kavan-Interview)

Der österreichische Einfall aber, nationale Rechnungen europa-politisch einzukleiden, um Tschechien unter Hinweis darauf, dass sein Beitritt genehmigungspflichtig ist, zur Nachgiebigkeit zu zwingen, macht auch in Deutschland Karriere. Stoiber befindet, dass Zemans Äußerungen bestätigen, dass noch eine lange Wegstrecke notwendig ist, um sich der europäischen Grund- und Werteordnung anzugleichen. (FAZ, 26.1.02) Und deutsche und österreichische Europa-Parlamentarier suchen nach Wegen, um ihren nationalen Standpunkten auf der Ebene des Parlaments eine europäische Stimmenmehrheit zu verschaffen und sie darüber, gegen den erklärten Willen der Kommission, doch in die Beitrittsprozedur einzuschleusen. Diesen Vorstoß kamouflieren sie als Sorge um die schöne Gleichung von EU und Menschenrechten. Ursula Stenzel von der ÖVP:

„Die mittel- und osteuropäischen Länder schlössen sich nicht nur einem Binnenmarkt, sondern auch einer Werte- und Rechtsgemeinschaft an.“ (FAZ, 6.3.02)

Diese Wendung erlaubt es, den Verdacht offensiv zurückzuweisen, dass da eventuell braun-gefärbte Rechtspositionen eines Haider oder geistesverwandter Deutscher durchschlagen, indem man die neuere Selbstdarstellung Europas als unparteiische Aufsichtsinstanz über weltweite Menschenrechte mobilisiert.[16] Es entbehrt allerdings nicht einer gewissen Komik, dass die mit höchstem Pathos angeleierte Affäre, als gälte es geradezu, ein neues Srebrenica im Böhmerwald zu verhindern, sich in der Hauptsache darauf verlässt, Tschechien mit der Drohung der Nichtzulassung zum Binnenmarkt weichzuklopfen. Frau Stenzel sollte sich also lieber nicht so abschätzig über den Binnenmarkt verbreiten.

Die Rolle des EU-Parlaments: Vom menschenrechtlichen Wertehimmel zur Paragraphenklauberei hin und zurück

Dass das Parlament im wesentlichen auf die Funktion einer innereuropäischen diplomatischen Börse beschränkt ist, in der die Vertreter der nationalen Parteienlandschaften um die wechselseitige Anerkennung nationaler Interessen und Standpunkte schachern, deren europäische Fassung sie dann bei der „Kontrolle“ der Kommission und der Abfassung von Resolutionen bekannt geben, schafft aber andererseits auch die Freiheit für ideologisches Scharfmachertum. Die Parlamentarier maßen sich gerne die Aufsicht über die Einhaltung sämtlicher edler Prinzipien an, denen sich das europäische Einigungswerk angeblich verpflichtet haben soll. In dieser Tradition hat das Parlament schon 99 eine Entschließung losgelassen:

„Das Europäische Parlament fordert die tschechische Regierung im Geiste gleichlautender versöhnlicher Erklärungen von Staatspräsident Vaclav Havel auf, fortbestehende Gesetze und Dekrete aus den Jahren 1945 und 1946 aufzuheben, soweit sie sich auf die Vertreibung von einzelnen Volksgruppen in der ehemaligen Tschechoslowakei beziehen.“

Nachdem das Parlament bei der Aufnahme der Erweiterungskandidaten wirklich gefragt ist und seine Zustimmung erteilen muss, haben CDU/CSU und ÖVP die Gelegenheit genützt, die europäische Internationale der Konservativen hinter sich gebracht und damit eine Mehrheit dafür gewonnen, das deutsch-österreichische Herumreiten auf dunklen Punkten in der tschechischen Vergangenheit zum europäischen Zweifel an einer staatsrechtlich einwandfreien Qualifikation Tschechiens zum EU-Beitritt hochzustufen. Der daraus erwachsenden Aufgabe, die Relevanz der Beneš-Dekrete für die Beitrittsverhandlungen nachzuweisen, genügen die Menschenrechtsvorkämpfer erst einmal, indem sie das lauthals behaupten. Nämlich, was heißt hier „erloschen“?! Nassauer, CDU: Wenn die Beneš-Dekrete, wie die tschechischen Politiker behaupten, so bedeutungslos seien, warum würden sie dann nicht aufgehoben? Posselt, den die CSU im Europa-Parlament platziert hat: Einmal würden tschechische Politiker die Dekrete für erloschen erklären, ein andermal wollten sie sie sogar im Beitrittsvertrag zur EU verankern. (FAZ, 6.3.02)

So wird an ein absichtsvolles Mißverständnis der tschechischen Seite mit einem eigenen angeknüpft: Die tschechische, genervt von dem Antrag, sie möge doch bitte rechtsförmlich die Rechtsgrundlage für gewisse ihrer Staatsgründungsaktivitäten aufheben, hat die Redeweise eingeführt und so getan, als ginge es der deutschen darum, sicherzustellen, dass die lieben Deutschen heute nichts mehr von den Dekreten zu fürchten hätten; sie erklärt, dass die Dekrete in ihrer Wirkung „erloschen“ sind, weil ihr damaliger Zweck erledigt ist. Die deutsche Seite will jetzt überhaupt nicht mehr verstehen, warum man dann nicht die rechtsförmliche Aufhebung der Dekrete bekommen kann, und tut so, als verberge sich dahinter doch die böse Absicht, mit Benešs Dekreten noch heute Unrecht zu begehen.

In diesem Sinne gibt der außenpolitische Ausschuß des EU-Parlaments ein Rechtsgutachten in Auftrag zur Ermittlung in der Frage, ob sich aus den Erlassen auch heute noch Diskriminierungen für bestimmte Personen ergeben (Pöttering, CDU, FAZ, 6.3.02). Es geht darum, sozusagen Beweismaterial aufzubringen, mit dem man sich in das Beitrittsverfahren einschalten kann: Nachdem das Rechtswesen der Beitrittskandidaten ohnehin schon auf seine Kompatibilität mit dem EU-Rechtsbestand hin überprüft und umgekrempelt wird, gilt es, einerseits angebliches oder vorhandenes EU-Recht und andererseits heutzutage gültige Bestandteile des tschechischen Rechts heranzuzerren, um der Kommission von ihr bisher außer Acht gelassene Diskrepanzen aufzutischen. Damit sollen die deutsch-österreichischen Interessen gegen Tschechien von Europa anerkannt werden und zwar in Gestalt schwerwiegender Bedenken, ob dieser Beitrittskandidat mit seiner auf der Nachkriegsordnung fußenden Legitimation und deren Rechtsfolgen überhaupt in dieses Europa hineinpasst.

– Bei der Beweisführung macht sich zwar das Herumfuchteln mit den Menschenrechten gut vor großem Publikum, ist aber bei der europäischen Rechtsabgleichung schlecht handhabbar zu machen. Ein deutscher Völkerrechtler hat der sudetendeutschen Gemeinde die schwierige „Rechts“lage schon einmal erklärt. Er plädiert auf Völkermord … unverjährbar oder bestenfalls in 100 Jahren verjährt, die Opfer hätten Anspruch auf volle Naturalrestitution bzw., falls dies unmöglich sei, auf Entschädigung mit Abgeltung des in der Zwischenzeit eingetretenen Vermögensentgangs. Die schlechte Nachricht lautet aber:

„Die eigentliche Crux sei allerdings die Durchsetzung: Das Völkerrecht verpflichte jenen Staat, dessen Bürger die Opfer einer Völkerrechtsverletzung sind, nicht, diplomatischen Schutz in einem bestimmten Ausmaß oder in einer bestimmten Art zu fordern. Die in ihren Rechten verletzten Bürger haben keinerlei Möglichkeit, von ihrem Heimatstaat zu verlangen, dass ihre Rechte gegenüber dem Täterstaat durchgesetzt werden, wenn die Durchsetzung als nicht politisch opportun gesehen werde.“ (Die Presse, 29.11.00)

Genausowenig aber, wie sich Staaten von ihren Bürgern auf außenpolitische Forderungen verpflichten lassen, lassen sie sich durch Paragraphen des Völkerrechts verpflichten. Auch wenn die Nato-Staaten in den letzten Jahren einiges dafür geleistet haben, den Schein einer zunehmenden Herrschaft des Völkerrechts und insbesondere der darin aufgenommenen Menschenrechte zu erzeugen – der Sache nach hat sich an dem elementaren Verhältnis nichts geändert, dass sie in ihrem Verkehr untereinander kein höheres Recht über sich anerkennen, sondern auch nur die Gewalt, die sie gegeneinander aufbieten. Und auf dem Gebiet haben weder Nato noch EU bisher einen Gerichtshof erfunden, vor den man die Beneš-Dekrete zerren könnte.[17]

– Ein Mann von der CDU hat daher lieber die EU-Verträge herangezogen und dort einen Artikel 6 ausfindig gemacht:

„Im Besonderen soll die Verträglichkeit des tschechischen Gesetzes mit dem Artikel 6 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft von 57 untersucht werden, der ‚jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit‘ verbietet.“ (FAZ, 28.2.02)

Ein guter Witz! Die grundsätzliche Leistung jeder Staatsgewalt, die Unterscheidung (das deutsche Wort für die Sache) von In- und Ausländern, die Diskriminierung, mit der jeder Staat seine menschliche Manövriermasse strengstens scheidet von denen, die auf eine andere Hoheit dienstverpflichtet sind und in seinem Rechtsraum daher erst einmal gar nichts zu suchen haben, die soll neuerdings gegen EU-Recht verstoßen?! Und die alltägliche Verlaufsform dieser Unterscheidung, die Unterstellung solcher Existenzen unter Sonderbestimmungen, die vom puren Dasein bis zu gewerblichen Unternehmungen den Rechtsstatus des Ausländers penibelst regeln, weil und soweit die Staatsmacht in deren Aufenthalt einen nützlichen Beitrag erkennen kann, auch ein Fall von „Diskriminierung“? Das kann ja heiter werden. Da haben gerade die Mitgliedsstaaten der EU in ihrem jahrzehntelangen kleinlichen Ringen darum, was sie auf Grund des Bedürfnisses nach einem gemeinsamen Markt und europa-weiter Bereicherung sich an Rechten und ihren Völkern an Bewegungsfreiheit wechselseitig einräumen mögen, einen einzigen Beweis geliefert, wie mühsam sie sich vom „Diskriminieren aus Gründen der Staatsangehörigkeit“ trennen. Es müssen schon außerordentlich wichtige staatliche Güter in die Rechnung eingehen, so etwas wie die Karriere zur Weltmacht z.B., damit Staatsgewalten die Rechte von (EU-)Ausländern in gewissen genau definierten Angelegenheiten den Rechten von Inländern annähern. Außerdem ist dieselbe europäische „Werte- und Rechtsgemeinschaft“ zur Zeit in Sachen Osterweiterung mit nichts anderem befasst als damit, wiederum zu „diskriminieren“, nämlich Vorkehrungen zu treffen, damit die Beitrittskandidaten und deren Bürger garantiert nicht in den Genuss der gleichen Rechte kommen wie die Mitgliedsstaaten, siehe Agrarmarkt, siehe Freizügigkeit… Aber dem Einfallsreichtum der Euro-Parlamentarier bei der Auslegung von Artikel 6 ist sicher einiges zuzutrauen.

– Dankenswerterweise haben sich schließlich 3 tschechische, 1 schweizerischer und 1 österreichischer, mit genügend Geld oder Rechtsbeistand ausgestattete Prozesshansl mit Restitutionsforderungen gegen Tschechien immerhin schon einmal bis auf die Ebene des UN-Menschenrechtsausschusses vorprozessiert und dort „Recht“ bekommen – wegen „Mißachtung der Bestimmungen“ eines aus was für Gründen auch immer 1966 einmal geschlossenen ‚Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte‘. Diese 5 Entscheidungen werden gewöhnlich zur Verkündung der frohen Botschaft verwendet, „Tschechien wegen Menschenrechtsverletzung verurteilt“, „UN-Menschenrechtsausschuss stellt fest: Beneš-Dekrete noch nicht erloschen…“

„In einer am 30.10. einstimmig angenommenen Entscheidung stellt der Ausschuß fest, ‚dass die im Gesetz enthaltene Bedingung der Staatsbürgerschaft als notwendige Voraussetzung der Rückgabe konfiszierten Eigentums eine willkürliche und in der Folge diskriminierende Unterscheidung zwischen Individuen trifft, die gleichermaßen Opfer früherer staatlicher Konfiskationen waren, und damit eine Verletzung des Artikels 26 des Paktes darstellt.‘“ (FAZ, 9.11.01)

Dieser schöne Erfolg leidet zwar auch wieder am oben benannten Mangel des Völkerrechts; der Ausschuss hat keine weiteren Befugnisse als die, seine „views“ zu veröffentlichen. Die haben aber als Ansporn gedient, im Kleingedruckten der Ausführungsbestimmungen der tschechischen Restitutionsgesetze nachzuforschen, um den Tatbestand der Verletzung internationalen Rechts weiter zu untermauern. Und siehe da:

„Nach dem Bodenrestitutionsgesetz (Nr. 243/93) müssen tschechische Bürger deutscher und magyarischer Nationalität zum Beispiel einen Loyalitätsbeweis erbringen, der von Antragstellern tschechischer Nationalität nicht verlangt wird. Deutsche und Ungarn müssen außerdem die ununterbrochene tschechoslowakische Staatsbürgerschaft von Kriegsende bis 1990 dokumentieren, während von Bürgern tschechischer Nationalität nur die Staatsbürgerschaft zum Zeitpunkt der Antragstellung verlangt wird. Selbst bei der Antragsfrist wird diskriminiert: Bei Bürgern tschechischer Nationalität beträgt sie 19 Monate, bei Deutschen und Ungarn achteinhalb Monate.“ (FAZ, 11.3.02)

Die solchermaßen dingfest gemachte „Diskriminierung“ ist allerdings auch nur eine unter tschechischen Staatsbürgern und stellt deren nationale Herkunft in Rechnung. Ungefähr genauso wie ja auch Deutschland die Heimtücke von Ausländern kennt, die sich aus niederen Berechnungen die deutsche Staatsbürgerschaft erschleichen möchten, hegt man in Prag den Verdacht, dass sich Deutsche und Ungarn einbürgern lassen, nur um sich wieder in den Besitz von Eigentum zu bringen. Dazu bezieht die Tschechische Republik den Standpunkt, Fragen der Enteignung, der Restitution und der Privatisierung seien nicht Gemeinschaftsrecht, sondern Angelegenheit der souveränen Jurisdiktion der Mitgliedsstaaten der Union (FAZ, 8.4.02), den die EU-Kommission bislang bestätigt: die Vermögensrückgabe ist nicht Angelegenheit der EU, sondern der Tschechischen Republik. (Verheugen, SZ 12.4.02) Das Gemeinschaftsrecht hatte ja bislang auch wenig Grund dazu, sich auf die Reprivatisierung einer realsozialistischen Eigentumsordung auszudehnen. Ein weiterer Mangel der bisher erwirkten, zitierfähigen „views“ des UN-Ausschusses besteht schließlich darin, dass die mit akribischer Mühe ermittelte „Diskriminierung“ gar nicht auf der Ebene der eigentlich gemeinten Beneš-Dekrete angesiedelt ist, sondern vielmehr der heutigen tschechischen Justiz eine rechtsimmanente Unsauberkeit nachweist. Die Entscheidung bezieht sich nämlich auf fünf Sonderfälle, in denen heutige Gerichtsentscheidungen den Klägern, denen es gelungen war, in der Nachkriegsperiode den Kollaborationsverdacht zu widerlegen, die Restitution verweigert haben. Den Euro-Parlamentariern dürfte aber weniger daran gelegen sein, die tschechische Justiz auf solche Pannen aufmerksam zu machen, an deren Beseitigung sie sicher selber schon arbeitet. Stattdessen geht es ja – mindestens – darum, bei der heutigen rechtlichen Regelung von Eigentums- und Restitutionsfragen ein Einfallstor zu finden, um Tschechien Zugeständnisse aufzuerlegen oder es – im Idealfall – zur Aufhebung der Dekrete zu zwingen. Gefragt ist also ein Stück europäischer Rechtsauslegung oder -konstruktion, das dem politischen Geist, in dem hier das Recht besichtigt wird, gerecht wird.

Die Parlamentarier sind sich schließlich bei aller Paragraphenfledderei der Tatsache bewusst, dass es sich bei der Frage nach dem etwaigen Fortwirken überkommener Dekrete und Gesetze und deren etwaiger Löschung nicht um einen rein juristischen, sondern vielmehr um einen moralisch-politischen Problemkomplex handelt. (FAZ, 27.3.02) Denn auf die „politisch-moralische“ Anklage kommt es ihnen ja eigentlich an, darauf, das Beitrittsverfahren, das bisher dem Funktionalismus gehorcht, das Rechtswesen der Beitrittsstaaten EU-kompatibel zu machen, auf die Grundsatzfrage der Legitimität des Staatswillens umzulenken, den sich Europa da angliedern will. Im Rahmen des Beitrittsverfahrens und der darin vorgenommenen Statuszuweisung wird damit die Frage der Rechtlichkeit dieses Staatssubjekts, der Berechtigung dieses nationalen Eigenwillens ganz neu und prinzipiell aufgeworfen. Der Vorwurf einer fortgesetzten Missachtung von Menschenrechten ist einerseits vom Vorwurf des Schurkenstaats soweit nicht entfernt, andererseits erheben die Parlamentarier diesen Vorwurf Tschechien gegenüber, um es zur freiwilligen Besserung zu bewegen, schließlich geht es ja darum, diesem Staat seine Anspruchshaltung abzugewöhnen und ihn als Manövriermasse in die EU einzugemeinden.

Die deutsch-österreichischen Ansprüche sind damit zum Streit in der EU avanciert, die Entscheidung darüber in den Rang einer Rechtszuweisung durch Europa befördert. Und der Erweiterungskommissar Verheugen, in die Position einer Partei in diesem Streit geraten, sieht sich genötigt, mit dem Parlament darum zu rechten, welche Stellung die aufgeworfenen staatsrechtlichen Bedenken gegen Tschechien einerseits, die mit ihnen irgendwie verbundenen Eigentumsfragen andererseits in einer europäischen Rechtsordnung haben, ob und gegebenenfalls wie diese sich auf die Materie auszudehnen hat. Verheugens Angebot, die Affäre in einen prinzipiellen staatsrechtlichen Teil, der als abgeschlossen gelten soll, und eine durchaus noch lösungsbedürftige, aber pragmatisch zu lösende Eigentumsfrage zu zerlegen, ist vom Europa-Parlament jedenfalls schon einmal abgelehnt worden. Nachdem er seine bisherige Erweiterungsarbeit im Falle Tschechien nicht am Europa-Parlament scheitern lassen will, gibt auch er im Namen der Kommission ein Rechtsgutachten zur Frage der aktuellen staatsrechtlichen Relevanz der Beneš-Dekrete in Auftrag.

Die „Frage“ ist jetzt also auf neue Weise „offen“: Einerseits ist sie Deutschland weggenommen worden, ist damit erst einmal keine bilaterale, deutsche oder österreichische Waffe mehr, vielmehr entscheidet Europa über die Zulässigkeit von Einwänden hinsichtlich der Nachkriegsordnung. Andererseits aber hat Europa die Einwände auch übernommen, und der Streit zwischen Parlament und Kommission dreht sich um die Konstruktion einer neuen europa-rechtlichen Fassung für die nationalen Gegensätze, um die sich Europa in diesem Fall „bereichert“. Von wegen also: Europa macht all den Feindseligkeiten und Gehässigkeiten, die die vorhergehenden Jahrhunderte auf dem Kontinent so ungemütlich gemacht haben, endlich ein Ende.

[1] Die ersten Erfolge, die Deutschland beim tschechischen Nachbarn damit erreicht hat, sind nachzulesen in GegenStandpunkt 3-96, S.78, Deutsche Außenpolitik und Tschechien

[2] Als demokratischer Verein beherbergt die sudetendeutsche Landsmannschaft natürlich auch einen gewissen Pluralismus, vertreten durch „Übelacker, Vorstandsmitglied der Landsmannschaft und Kamerad im Witiko-Bund.“ Derselbe „hält“, wenn er einmal ohne politische Rücksichten auf einen anwesenden Politiker seine Meinung sagen darf, wenig vom ‚Brückenbau‘ gegenüber den ‚Vertreiberstaaten‘, die nun in die EU drängen, um sich nach 45 erneut am deutschen Eigentum ‚zu mästen‘… möchte sich für die Zukunft gern folgendes vorstellen: ‚Rückgabe der Sudetendeutschen Gebiete und deren Selbstverwaltung‘. (SZ 5.6.01.) Solche Definitionen des sudetendeutschen Eigentums, die noch etwas ausgreifender in Richtung Grenzveränderung vorandenken, stellt die seriöse Öffentlichkeit zwar gelegentlich als unpassende Entgleisung vor, um ihre unparteiische Geisteshaltung unter Beweis zu stellen, sie stören aber unser Bild von den guten, auf Versöhnung abonnierten Vertriebenen nicht.

[3] Eigenmächtige Provokationen der Landsmannschaft werden vom Außenministerium abgebügelt – Noch vergangenen Sommer, als die Landsmannschaft auf die Idee verfiel, Geld aus dem deutsch-tschechischen Zukunftsfonds zu fordern, hatte ihr Außenminister Joschka Fischer vorgeworfen, sie verletze ‚massiv deutsche Interessen‘. (SZ 5.6.01) – und durch die wohldosierte Pflege des Verbands ergänzt: Frau Sonntag-Wolgast lobte die ‚wichtige Brückenfunktion der Vertriebenen‘, die über Jahrzehnte mehr getan hätten, ‚als manche, die erst nach der Wende mühsam lernen mußten, dass Europa nicht an der Elbe und am Böhmerwald endet‘, und wollte die Sudetendeutschen bei dem Prozeß der deutsch-tschechischen Aussöhnung im Rahmen der europäischen Integrationspolitik weiter einbezogen wissen. (FAZ 5.6.01)

[4] Als politische Profis finden sich die Vertriebenenchefs auch damit zurecht. Die von Kinkel an die Wand gemalte und von Neubauer noch einmal angedrohte Prozeßwelle ist unterblieben.

[5] Die Bundesregierung bekennt sich zu dem Verfahren auch als bewusst eingesetzte Methode: Diese Fragen diskutieren wir am besten so: Je weniger wir uns gegenseitig unter Druck setzen, desto mehr können wir selbst in den Spiegel schauen, was die Vergangenheit betrifft. Das ist, was ich auch immer den Sudetendeutschen sage: Je mehr Druck von außen kommt… (Fischer-Kavan-Interview) Sich auf den Druck verlassen, den man praktisch ausübt, und sich daneben in der Positur des herrschaftsfreien Diskutanten aufbauen, das kann Fischer gut. Auch Stoiber hat den Sinn dieser Politik kapiert: Er baue auf Kontakte zwischen Sudetendeutschen und Tschechen sowie auf ernsthafte Bemühungen von jungen Menschen, Studenten, Politikern, Historikern, Politologen, Journalisten und Kirchen in der Tschechischen Republik, die Wunden der Vergangenheit zu heilen. ‚Wir hoffen, dass dieser Geist auch auf die Parteien und die Regierung übergreift.‘ (SZ 5.6.01) Ganz nach dem Muster der ideologischen Aufweichung, die man schon am Ostblock ausprobiert, mit der man sich dort Dissidenten hochgezüchtet hat, um der dortigen Herrschaft Schwierigkeiten zu bereiten. Fragt sich nur, wie diese Methode bei Nationalisten von der eigenen demokratischen Machart verfängt.

[6] Dabei geht sein Leiden an der Geschichte ausgesprochen doppelzüngig zu Werk: Geschichte, die uns zwar geprägt hat, aber die uns doch nicht fesseln darf, die uns doch nicht in ihren Bann schlagen darf. Das ist etwas, was ich mit einer gewissen Sorge betrachte. Das letztere zielt in Richtung Österreich, wo man den richtigen Umgang mit der Geschichte offensichtlich nicht beherrscht.

[7] Vor dem Bundestag präsentiert sich Fischer in der Rolle des versöhnungsbereiten Vertriebenen. Erstens hat ihm nämlich seine Mutter erzählt, dass die Verbrechen im Rahmen der Vertreibung hauptsächlich Unschuldige getroffen haben, weil diejenigen, die sich schuldig gemacht haben, mit der Wehrmacht meistens über alle Berge waren. (Aktuelle Stunde im Deutschen Bundestag, 23.1.02) Im tschechischen Fernsehen erinnert er sich an das Haus seiner Eltern am Rand von Budapest: Ja, das war auch einmal das Haus meiner Eltern. Es wurde eine leichte Entschädigung angeboten. Es war kaum etwas und ich habe nicht davon Gebrauch gemacht, denn es ist Vergangenheit und das ist vorbei. Chapeau!

[8] Die FPÖ in ihrer Doppelrolle als Regierungspartei und Opposition gibt ihr Bestes, um dem Streit die notwendige Schärfe zu verleihen: „Völkermorddekrete“, „Schandnormen“, ‚Es handelt sich nicht um eine klassische Enteignung, sondern um den klassischen Tatbestand des Raubes‘. (Vertriebenensprecher der FPÖ, die Presse, 15.3.02) Die österreichischen Sudetendeutschen klinken sich in das von ihrer Regierung gestiftete Klima ein, fördern noch ältere, aus der Auflösung der Doppelmonarchie abgeleitete „Rechte“ zutage und verlangen eine härtere Gangart als ihre bundesdeutschen Kollegen: Die 3,5 Millionen Sudetendeutschen seien 1918 gegen ihren Willen in die Erste Tschechoslowakische Republik gepreßt worden, das Selbstbestimmungsrecht habe man ihnen verweigert. Wegen der unhaltbaren Zustände für die Sudetendeutschen hätten auch Frankreich und England im September 1938 Prag ultimativ aufgefordert, die mehrheitlich von Deutschen bewohnten Gebiete abzutreten. (Zeihsel, FAZ, 22.1.02) Derselbe: Landesverräter seien nicht die Sudetendeutschen gewesen, sondern vielmehr ‚die tschechischen Regimenter der k.u.k. Armee, die im 1. Weltkrieg zu den Russen übergelaufen sind‘. (Die Presse, 1.2.02) In diesem Sinne feiert die Sudetendeutsche Landsmannschaft Österreichs Anfang März das Gedenken an 54 Landsleute, die 1919 bei einer Demonstration für das Selbstbestimmungsrecht der Völker von der Prager Polizei ermordet wurden, Riess-Passer hält die Festrede und Schüssel übermittelt folgende Grußbotschaft: Unrecht verjähre nie und könne nicht als Grundlage einer europäischen Zukunft akzeptiert werden. (Die Presse, 11.3.02)

[9] Im Februar kündigen Vertriebene aus Österreich an, Restitutionsklagen gegen tschechische Kommunen stellen zu wollen, Posselt verspricht, dass sich Deutsche beteiligen werden, und Westenthaler kündigt an: Die FPÖ werde in einem solchen Fall ‚unterstützend tätig sein und Anwälte beschäftigen‘. (Die Presse, 16.4.02) Der Vertriebenensprecher der FPÖ, Graf, hält eine „Restitution für Volksdeutsche“ auch für eine „Wirtschaftshilfe für Tschechien“. Und Kanzler Schüssel pflichtet ihm bei: Eine europäische Regelung wird bei vielen Vertriebenen das Interesse wecken, das Heimathaus wieder zu erwerben und zu renovieren. Das ist ganz sicher nicht revanchistisch, sondern eine Chance zur Rückkehr. (Kurier, 18.3.02) Ein schönes Dementi von Revanchismus: Wer in die EU will, ist doch auf unser Geld angewiesen, muß sich also auch die Übersetzung des landsmannschaftlichen Einmischungstitels in Wirtschaftshilfe gefallen lassen.

[10] Daneben sind auch die Tschechische Republik und Polen in die von den USA und den Jüdischen Organisationen in den 90er Jahren aufgemachte, in erster Linie gegen die Schweiz, Deutschland und Österreich gerichtete Entschädigungskampagne einbezogen worden und verhandeln seitdem über die Entschädigung für auf ihrem Boden von den Nationalsozialisten konfisziertes jüdisches Eigentum. Dabei mag zwar der Holocaust auf polit-moralischer Ebene als einmaliges und per definitionem unvergleichliches Unrecht gelten, auf der rechtlichen Ebene aber gibt es das Problem, keinen Präzedenzfall für andere Ansprüche zu schaffen. „Es geht um den Gleichbehandlungsgrundsatz. Die neuen demokratischen Regierungen wollen ja den Alteigentümern entgegenkommen – solange es um Landsleute oder jüdische Vorbesitzer geht… Nur, wie schafft man das juristisch, ohne dass Angehörige des Volks der Täter die gleichen Rechte bekommen.“ (Der Tagesspiegel, 26.2.02)

[11] Besonders ergreifend fallen die Bemühungen der deutschen Öffentlichkeit aus, auch noch jeden möglichen Zusammenhang zu Besitzansprüchen zu dementieren: „Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem berühmten Junker-Urteil entschieden: Enteignungen zwischen 45 und 49, dem Gründungsjahr der DDR, sind zwar unrecht und illegitim, aber aus Gründen des inneren und des Rechtsfriedens gültig. Wer also wollte Tschechen und Slowaken einen inneren Rechtsfrieden versagen, den man für sich selbst als unabdingbar ansieht?“ Ja, wer mag das schon sein? Eine solche Zeitgrenze existiert in allen postkommunistischen Staaten. Sie gilt gemeinhin als legitim, auch wenn sie früheres Unrecht zementiert. Denn sie ist unvermeidlich, wenn man mit Besitzstreitigkeiten nicht noch beim Karolingerreich landen will… Nur scheint die politische Klasse in Tschechien und der Slowakei kein rechtes Zutrauen in die Haltbarkeit der eigenen rechtlichen Vorkehrungen zu haben. Dies ist offenbar der Kern des Problems. Er verleitet dazu, auf der fragwürdigen Rechtssetzung des unglückseligen Präsidenten Beneš zu beharren. Den Parlamenten beider Staaten wird es aber nicht erspart bleiben, diese Rechtssetzung für ungültig zu erklären. Man braucht sie ja auch nicht mehr, weil die zeitliche Restitutionsgrenze eine neuerliche Landnahme der damals Enteigneten ausschließt. (Michael Frank, SZ 16.3.02) Der Schreiber verzichtet keineswegs darauf, seine Auffassung über das „Unrecht“ zu Protokoll zu geben, das unseren Vertriebenen widerfahren ist, dürfte außerdem wissen, dass deren Unrechtsbewußtsein auch von höherer Stelle gepflegt wird und dass das innere Rechtswesen dieser Staaten ohnehin gerade einer Generalrevision unterzogen wird. Davon gänzlich ungerührt bezichtigt er aber die tschechisch-slowakischen Politiker der Hysterie, wenn sie sich weigern, die Dekrete zu streichen. Nachdem er ihnen doch großzügig zugesichert hat, dass er die „Zeitgrenze“ für „legitim“ befindet! Und was den Grund der Unerschütterbarkeit dieser Legitimität betrifft, ist es auch kein Rätsel, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit seinem Junker-Urteil dafür entschieden hat, den Respekt vor Russland und dessen Machtwort im Rahmen der 2+4-Verhandlungen beizubehalten und als Rechtsgrund der besonderen Art anzuerkennen, was aber eben auch nur für die sowjetischen Enteignungen in der anderen Hälfte Deutschlands gilt.

[12] Die tschechische Regierung ist da hellhörig, weil sie bereits auf anderen Gebieten zur Kenntnis nehmen muss, dass es in den Beitrittsverhandlungen nicht nur um die Angleichung an den acquis der EU geht, sondern gleichzeitig auch schon um den künftigen Status in der EU, die Einstufung auf einer eher niedrigen Position im Rahmen der EU-Hierarchie und um die Einschränkung der Rechte der Beitrittskandidaten im Verhältnis zu den bisher gültigen Rechten von EU-Mitgliedern: Die Streitigkeiten mit der EU-Kommission um die Regelungen in Sachen Freizügigkeit und Agrarmarkt legen die Befürchtung nahe, dass die Tschechische Republik letztlich nur ein zweitrangiges Mitglied wird. (Kubernat vom Prager Außenministerium, SZ, 16.8.01)

[13] Nachdem die tschechische Diplomatie die „deutsch-tschechische Erklärung“ immerzu als Berufungsmaßstab zur Bekräftigung ihrer Position verwendet, machen Fachkundige darauf aufmerksam, dass diese nicht ein Vertrag, sondern ein politisches Dokument (FAZ, 9.3.02), also ohne Bindungswirkung für deutsche Regierungen sei, dass man also angesichts dieses Missbrauchs Tschechien den Berufungstitel auch wieder entziehen könnte…

[14] Die FAZ meldet bei der Gelegenheit den Stand der Dinge im deutsch-polnischen Verhältnis: Eigene Dekrete, deren Zurücknahme man fordern könnte, hat es da leider nicht gegeben, sondern nur den praktischen Vollzug des Potsdamer Abkommens. Dennoch ist es nicht auszuschließen, dass ehemalige Besitzer vor polnischen Gerichten und dann auch vor internationalen Instanzen versuchen werden, ‚trotz Potsdam‘ ihre Eigentumsansprüche geltend zu machen… Wohlmeinende deutsche Fachleute haben Polen deshalb geraten, gemeinsam mit der Bundesregierung nach einer Lösung zu suchen, um eine Prozesslawine zu vermeiden. Geschehen ist noch nichts. (14.3.02) Polen hat offensichtlich den „wohlmeinenden“ Sinn noch nicht kapiert und dank der 2+4-Verhandlungen und seines größeren Gewichts in der Nato einen etwas stabileren Rückhalt als Tschechien.

[15] Blair, Putin und ein Vertreter der US-Administration bekräftigen zwar die „Unverletzlichkeit“ des Potsdamer Abkommens, aber die tschechische Politik hätte sich offensichtlich etwas mehr Begeisterung und Einsatz gewünscht: ‚Wir haben es abermals mit einer Vor-München-Atmosphäre zu tun‘, sagte der stellvertretende tschechische Ministerpräsident Rychetsky, ‚weil die Länder der Anti-Hitler-Koalition zu den Forderungen nach einer Revision der Resultate des Zweiten Weltkriegs schweigen‘. (FAZ, 2.4.02)

[16] Der Einfall löst in der deutschen Öffentlichkeit allgemeine Begeisterung aus. Die Freude darüber, dass sich ehemals als Revanchismus gescholtene deutsche Ansprüche heutzutage als Sorge um die EU-Rechts- und Wertegemeinschaft vorstellig machen können, vereint „Liberale“ von der Süddeutschen Zeitung mit Vertretern der Stahlhelmfraktion der Frankfurter Allgemeinen. Michael Frank: Während es der EU also um rechtliche Hygiene, um einen Infekt im rechtsstaatlichen Immunsystem geht, wittern Tschechen und Slowaken dahinter den revisionistischen Plan, sie um Teile ihres materiellen und rechtlichen Nachkriegsbesitzstandes zu bringen. (SZ, 1.3.02) Reißmüller: Es geht darum, wie der tschechische Staat heute zu diesem seinem genozidhaften Verbrechen steht… In Wahrheit brauchen vor allem der tschechische Staat und seine Volksmehrheit eine Umkehr. In ihrem Interesse ist es, dass sie aus der Rechts- und Moralverwilderung herausfinden, in der sie sich an ihrer Doktrin festhalten, der ‚Abschub‘ der Deutschen sei ihr Recht gewesen. (FAZ, 25.3.02) Der Tscheche als moralverwilderter Bazillenträger – das ist doch einmal ein Beitrag zu unseren exzellenten Beziehungen! Auch die Europa-Parlamentarier von SPD und Grünen können dem neuen Dreh, die deutsche Erpressung aus Euro-Werten abzuleiten, ihren Respekt nicht versagen. Hänsch, SPD: ‚Wir können keinen Staat aufnehmen, dessen Rechtsordnung gegen die EU-Grundsätze verstößt.‘ Ebenso wie der Vorsitzende der Grünen, Cohn-Bendit, hält Hänsch den förmlichen Verzicht auf Restitutionsansprüche und damit die Bestätigung des status quo für eine Möglichkeit, Ängste in der Tschechischen Republik und in der Slowakei abzubauen. Allerdings komme dies nur für Enteignungen auf der Grundlage der Beneš-Dekrete, aber nicht für die ‚wilde‘ Inbesitznahme von fremden Eigentum in Frage. (FAZ, 14.3.02)

[17] Das hat die Sudetendeutsche Landsmannschaft nicht daran gehindert, sich umfassend kundig zu machen, was es seit der imperialistischen Boomperiode des Völkerrechts so alles an internationalen Rechtswegen gibt, von Den Haag über Straßburg und Genf bis zu „Sammelklagen nach US-Recht“. Besonders gut gefällt der Landsmannschaft das Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien; das ist zwar leider zeitlich und räumlich auf den Jugoslawienkonflikt beschränkt. Trotzdem ist das Tribunal wichtig, da Urteilssprüche internationaler Gerichtshöfe verbindliches Völkerrecht darstellen (‚lex lata‘). Der Nutzen für die Sudetendeutschen wäre aber allenfalls indirekt. Bereits in den Nürnberger Prozessen wurde mit den Urteilen wegen Vertreibungen der Polen aus dem Posener Land und Westpreußen ein völkerrechtlich verbindliches Vertreibungsverbot festgeschrieben… Die Urteile des Nürnberger Tribunals reichen völlig aus, um die absolute Völkerrechtswidrigkeit der Vertreibung der Sudetendeutschen zur Tatzeit zu belegen, nur scheren sich weder Prag noch Bonn darum. (Mitteilungsblatt Nr. 10/1997) Hoffnung stiftet andererseits ein Fall, bei dem das Fürstentum Liechtenstein vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Bundesrepublik klagt. Besagtes Fürstentum, das mit seiner Klage gegen die Tschechische Republik auf die Herausgabe ehemaliger Ländereien des Fürsten nicht vorankommt, weil Tschechien es sich in dieser Frage leicht macht und Liechtenstein nicht als Staat anerkennt, hat eine weitere Klage gegen die Bundesrepublik wegen unterlassener Rechtshilfe erhoben. Das Bundesverfassungsgericht hatte unter Berufung auf einen 1954 mit den Westmächten abgeschlossenen „Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen“ eine Klage aus Liechtenstein nicht zur Befassung angenommen. Nach diesem Vertrag darf die Bundesrepublik keine Einwendungen gegen Maßnahmen erheben, die gegen das deutsche Auslands- oder sonstige Vermögen durchgeführt worden sind oder werden sollen, das beschlagnahmt worden ist für Zwecke der Reparation oder Restitution. (FAZ, 8.6.01) Pech für Hans-Adam II, dass Liechtenstein nur eine Art feudales Disneyland in der Schweiz und die Schweiz nicht in der EU ist. So kann er kaum auf eine antitschechische „Rechtsauffassung“ der Bundesrepublik bezüglich seiner ehemaligen Güter rechnen. Pech für die Sudetendeutschen und die FAZ, die ihre Hoffnung in eine Verurteilung der Bundesrepublik in Straßburg setzen: Wenn mit der Enteignung der Ostdeutschen aber deutsche Kriegsschulden beglichen wurden, müssten sie dann nicht vom deutschen Staat für dieses Sonderopfer entschädigt werden?