Deutsche Außenpolitik und Tschechien
Anerkennung ja, aber unter deutschem (General-)Vorbehalt!
Deutschland erpresst Tschechien mit dessen Interesse am baldigen EU-Beitritt zur Anerkennung grenzübergreifender deutscher Rechtsansprüche. Tschechien will sich den Status einer minderen Macht nicht zuweisen lassen. Da die Relativierung tschechischer Souveränität nur über den Willen dieses Staates läuft, wird der Streit nicht eskaliert.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- Was Deutschland in die „gute Nachbarschaft“ einbringt: „Wir haben keine Gebietsansprüche mehr“. Oder doch?
- Ein anspruchsvolles Do ut des: Deutsche „Kriegsschuld“ gegen tschechische „Kriegsfolgeschuld“
- Das Aufkochen einer warm gehaltenen „Frage“:„Für uns ist die Nachkriegsordnung nicht verbindlich!“
- Entstandene Abhängigkeiten gehören genutzt:„Euer Weg nach Europa geht nur über uns!“
- Vom Umgang mit einer diplomatischen Zwischenbilanz:„Zunehmende Spannungen – das muß Euch zu denken geben.“
Deutsche Außenpolitik und Tschechien
Anerkennung ja, aber unter deutschem (General-)Vorbehalt!
„Auch im Verhältnis zur Tschechischen Republik sind wir dabei, die Lasten der Vergangenheit endgültig zu überwinden. Die Wunden schmerzen hier immer noch ganz besonders. Beide Länder wollen jetzt die Chance ergreifen, einen die endgültige Versöhnung bringenden Schritt nach vorn zu machen. Dabei geht es auch um die Entschädigung des NS-Unrechts. Ich bin zuversichtlich und gebe mir als Verhandlungsführer größte Mühe, daß wir bald zu einer Lösung kommen.“ (Der deutsche Außenminister Kinkel)
„Die Verhandlungen zwischen Bonn und Prag sind auf einer Sandbank gestrandet. Kinkel hat den bereits abgeschlossenen Teil der Erklärung über die deutsch-tschechische Vergangenheit erneut zur Debatte gestellt und grundlegend neue Forderungen nachgeschoben. Seine Art der Verhandlungen kann zu keiner Lösung führen.“ (Der tschechische Außenminister Zieleniec)
An den diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik fällt auf, daß ihr bloßes Zustandekommen schon von einem grundsätzlichen Streit belastet ist. Das kommt daher, daß die deutsche Seite den Verkehr mit ihrem tschechischen Nachbarn als Akt der Aussöhnung auffaßt. So wurde lange Zeit verhandelt, um 1992 in etwas angespannter Atmosphäre
(Präsident Havel) einen „Vertrag über die gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ zustandezubringen, der aufgrund noch vorhandener „offener Fragen“ dann wiederum ergänzende Korrekturen notwendig machte. Wenn Aussöhnung zwischen Staaten angesagt ist, dann geht es nämlich darum, daß jede Nation für sich ein jeweils vom anderen Staat verletztes Recht, das auf beiden Seiten als „offene Frage“ daherkommt, in Anschlag zu bringen weiß, das der Herstellung „normaler Beziehungen“ im Wege steht.
Welche der beiden Seiten in diesen Verhandlungen eine „offene Frage“ nach der anderen „nachschiebt“, ist kein Geheimnis. Von seiten der Tschechen jedenfalls ist nicht bekannt geworden, daß sie die Zuständigkeit der deutschen Regierung über ihr – inzwischen vergrößertes – Territorium angezweifelt oder daß sie etwa die deutsche Verhandlungsführung mit dem Anspruch auf „keinerlei Diskriminierung für die tschechische Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland“ genervt hätten. Ebensowenig ist etwas von „neuen Forderungen“ der CR in Sachen „Entschädigung des NS-Unrechts“ laut geworden;[1] mit Forderungen an den Verhandlungspartner ist allemal nur die deutsche Seite in Erscheinung getreten. Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf den eigentümlichen Charakter dieser zwischenstaatlichen „Aussöhnungs“-Veranstaltung, darauf nämlich, wer sich hier eigentlich mit wem „auszusöhnen“ hat. Davon jedenfalls, daß der ehemalige Kriegsverlierer Deutschland diese Verhandlungen beantragt hätte, weil er sich aufgrund der Schäden, die er mit der Annexion der Tschechoslowakei an Land und Leuten angerichtet hat, einseitig im Obligo wüßte, sich um die Wiedergutmachung eines verletzten Rechts der CR verdient zu machen, kann keine Rede sein. Das ist auch nur konsequent vom Standpunkt einer demokratischen Außenpolitik aus, die sich der Kontinuität einer Diplomatie verpflichtet weiß, die von Beginn an aus der Kriegsniederlage ihres Vorgängerstaates und den daraus resultierenden territorialen Verlusten den Schluß gezogen hat, die Anerkennung der Souveränität ihrer östlichen Nachbarstaaten unter einen deutlichen Vorbehalt zu stellen; die also aus dem Vergleich der früheren mit der heutigen Souveränität den Anspruch ableitet, daß ihr die Rechte, die sie durch den Krieg verloren hat, wiedergegeben werden müssen. Soll man denn jetzt verzichten auf das Anmelden dieses „historischen Rechts“ – so nennt ein Staat das, was er schon immer vom anderen gewollt hat, um so sein Interesse in den Rang eines unwidersprechlichen Auftrags zu erheben, dem man sich nicht entziehen kann –,nur weil sich das in den neuen Beziehungen zur CR wie ein Bruch mit den eingerichteten Verhältnissen ausnimmt, den unser Nachbar nur schwer nachvollziehen kann? Macht nicht ganz umgekehrt der gewendete politische Wille des tschechischen Staates hin zu Marktwirtschaft und Demokratie ihn erstmalig „ansprechbar“ für deutsche Rechtsansprüche, zumal er sich für sein Interesse an einer „vollen Eingliederung in die EU“ auf die „besondere Unterstützung“ seitens seines mächtigen Nachbarn verwiesen sieht, folglich an „guten Beziehungen“ zu Deutschland dringend interessiert ist? Also muß doch die deutsche Diplomatie nach ihrem Dafürhalten diese Gelegenheit wahrnehmen und ausprobieren, ob und inwieweit sich die Gegenseite auf die eigene „Position zubewegt“, was soviel heißt wie: Dem tschechischen „Partner“ muß plausibel gemacht werden, daß es für ihn in seinem eigenen nationalen Interesse von Nutzen ist, sich den Bedingungen zu akkommodieren, die an den Gebrauch seiner Souveränität von deutscher Seite gestellt werden. Und wie den öffentlich gewordenen Verhandlungsstreitigkeiten zu entnehmen ist, kann die deutsche Außenpolitik schon längst einen ersten diplomatischen Erfolg verbuchen: Im Unterschied zu den Zeiten der „Ost-West-Konfrontation“ sind nämlich die von Deutschland immer schon gestellten, stets aber zurückgewiesenen „offenen Fragen“ jetzt als Materie der zwischenstaatlichen Diplomatie anerkannt. Schließlich wird darüber verhandelt.[2]
Was Deutschland in die „gute Nachbarschaft“ einbringt: „Wir haben keine Gebietsansprüche mehr“. Oder doch?
Diese von den Deutschen überbrachte diplomatische Botschaft ist schon etwas anderes als das, was sich Staaten üblicherweise bei der Aufnahme bzw. der förmlichen Bestätigung diplomatischer Beziehungen als den notwendigen Respektserweis vor der Souveränität des anderen zu versichern pflegen. Zwar ist dieser für Staaten so wichtigen Formalität auch im Vertrag von 1992 „über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ zwischen Deutschland und der damaligen CSFR Genüge getan –
„Sie achten gegenseitig ihre souveräne Gleichheit, ihre territoriale Integrität, die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen, ihre politische Unabhängigkeit sowie den Grundsatz der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und den Grundsatz des Verbots der Drohung mit oder Anwendung von Gewalt“ (Art. 2) –,
doch der für notwendig befundene Zusatz –
„Die Vertragsparteien bestätigen die zwischen ihnen bestehenden Grenze. Sie bekräftigen, daß sie gegeneinander keine Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden.“ (Art. 3) –
ist der deutliche Beleg dafür, daß die Anerkennung der territorialen Integrität gar nicht und auch jetzt nicht die selbstverständliche Voraussetzung der diplomatischen Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten ist. Dabei steht natürlich außer Frage, wegen welcher der beiden Parteien diese „Bekräftigung“, keine Gebietsansprüche zu haben, gesondert vertraglich zu fixieren war: Keine solchen Ansprüche zu haben, macht als rechtsgültige Vereinbarung zwischen Staaten nur Sinn, wenn (mindestens) einer der beiden Vertragspartner diese Ansprüche bis dato im Bestand seiner nationalen Rechtspositionen hatte, sie also hätte geltend machen können, wenn er es gewollt hätte. War da nicht mal etwas mit einem „Münchener Abkommen“, durch das ein Teil der damaligen Tschechoslowakei rechtsgültig – damit auch für den Nachfolgestaat des Dritten Reichs verbindlich! – an Deutschland abgetreten wurde? Gab es da nicht Anfang der Siebziger Jahre auch ein deutsches Verfassungsgerichtsurteil, das zwar bestätigte, daß die BRD die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen
vertraglich zugesichert habe, das aber den bemerkenswerten Satz hinzufügte, daß ein künftiger gesamtdeutscher Souverän
an diese Zusicherung nicht gebunden
sei? Und nun gibt es ihn, den besagten gesamtdeutschen Souverän, und der widerlegt ganz praktisch, daß ein Gebietsanspruch in der heutigen Lage zu nichts mehr zu gebrauchen wäre. Wie aus den damaligen Verhandlungen zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik zu ersehen ist, entfaltet die – diplomatisch höflich ausgedrückt – „offene Grenzfrage“ nämlich schon dadurch ihre Wucht, daß es sie erstens als nationalen Rechtsstandpunkt der einen Seite gibt und daß sich zweitens die andere Seite davon beeindruckt zeigt, daß man nur insofern auf ihn verzichtet, als man ihn jetzt nicht geltend machen will. So kommt dann der beabsichtigte Effekt zustande, daß sich auch die Preisgabe einer solchen „Position“ insofern als ein berechnend eingesetztes Mittel bewährt, als die Anerkennung der territorialen Integrität des anderen Staates als die gar nicht selbstverständliche Leistung in die Vertragsverhandlungen eingebracht wird, die folglich der „Partner“ in seinem eigenen Interesse, diese Anerkennung vertraglich geregelt wissen zu wollen, entsprechend zu würdigen hat. Denn in der Logik der Vertrags-Diplomatie fordert die von Deutschland ausgesprochene und dann in zwischenstaatliches Recht umgemünzte
„Anerkennung der Tatsache, daß der tschechoslowakische Staat seit 1918 nie zu bestehen aufgehört hat“ sowie die „Bestätigung des Vertrags vom 11. Dezember 1973 über die gegenseitigen Beziehungen … auch hinsichtlich einer Nichtigkeit des Münchener Abkommens vom 29. September 1938“[3] (Präambel des Vertrags)
ganz sachnotwendig vom tschechischen Verhandlungspartner eine Gegenleistung, und die hat dieser auch erbracht. Und zwar in Gestalt von Sonderrechten für die zur „deutschen Minderheit“ ernannten tschechischen Staatsbürger, die auf diese Weise das Material dafür abgeben, als deutscher Staat über das grundsätzliche Recht auf Einmischung hinaus, das man sich im wechselseitigen Anerkennungsverhältnis erworben hat, in die „inneren Angelegenheiten“ des Nachbarstaates hineinzuregieren:
„Die Angehörigen der deutschen Minderheit…, d. h. Personen tschechoslowakischer Staatsangehörigkeit, die deutscher Abstammung sind oder die sich zur deutschen Sprache, Kultur und Tradition bekennen, haben demzufolge das Recht, einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen Mitgliedern ihrer Gruppe ihre ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität frei zum Ausdruck zu bringen, zu bewahren und weiterzuentwickeln, frei von jeglichen Versuchen, gegen ihren Willen assimiliert zu werden.“ (Art. 20)
Einen Haufen unangepaßter tschechischer Staatsbürger, die offen und organisiert ihrer geistigen Verbundenheit mit dem Nationalismus eines fremden Staatswesens frönen dürfen, die sich so als lebender Vorbehalt gegen die Assimilierung an die eigene nationale Zwangsgemeinschaft betätigen dürfen – das ist es, was die Vertragsparteien gemeinsam unter dem Titel „Minderheitenrechte“ vereinbart haben und was noch für so manchen Zündstoff im „guten Nachbarschafts“-Verhältnis sorgen wird. Dabei interessiert sie noch nicht einmal die derzeit begrenzte Größe des Haufens vor Ort.[4]
Als die von Deutschland aufgemachte Bedingung für die Anerkennung tschechischer Souveränität ist das nur konsequent: ‚Wenn wir schon keine Gebietsansprüche mehr gegen Euer Territorium stellen, das ja eigentlich uns gehört, dann habt Ihr uns selbstverständlich Befugnisse einzuräumen, die wir im Namen der Menschen, die auf jeden Fall zu uns gehören, auf Eurem Territorium geltend machen können.‘ Und wenn der tschechische Staat zudem noch seinen guten Willen dabei zu beweisen hat, dem deutschen Nachbarn beim Sponsoring besagten Menschenschlags als Material für dessen Recht auf Einmischung tatkräftig zur Hand zu gehen –
Er „ermöglicht und erleichtert im Rahmen seiner geltenden Gesetze der Bundesrepublik Deutschland Förderungsmaßnahmen zugunsten der deutschen Minderheit oder ihrer Organisationen.“ (Art. 20) –,
dann kann ein deutscher Außenminister mit Fug und Recht schon jetzt behaupten, daß im deutsch-tschechischen Verhältnis ein „Schritt nach vorn“ getan worden ist. Aber eben nur ein Schritt. Schließlich sind noch weitere „offene Fragen“ anhängig, auf die eine gemeinsame Antwort gefunden werden muß.
Ein anspruchsvolles Do ut des: Deutsche „Kriegsschuld“ gegen tschechische „Kriegsfolgeschuld“
Um es gleich vorweg zu sagen: Auf das „hartnäckige Drängen“ der Deutschen hin, die die richtige Antwort auf eine weitere „offene Frage“ ganz offenkundig zu dem entscheidenden Knackpunkt der Anerkennung tschechischer Souveränität erklärt haben, hat die Regierung der CR bereits 1992 erstmalig und höchstoffiziell eine staatliche „Schuld“ an der Zwangsaussiedlung der Sudetendeutschen eingestanden, die nun auch sie als „Vertreibung“ und damit als „Unrecht“ bezeichnet. So jedenfalls steht es in jenem Vertrag, der laut Präambel – eingedenk der zahlreichen Opfer, die Gewaltherrschaft, Krieg und Vertreibung gefordert haben, und des schweren Leids, das vielen unschuldigen Menschen zugefügt wurde
– die „gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ zwischen beiden Staaten geregelt wissen will.
Wie gesagt, das war im Jahre 1992. Und jetzt, vier Jahre später, wird von deutscher Seite auf dieser Schuldfrage weiter herumgeritten, gerade so, als hätte es jene gemeinsam beschlossene Präambel gar nicht gegeben. O-Ton Kinkel:
„Wir haben durchaus noch Probleme. Es geht dabei im wesentlichen um eine moralische Frage… Wir wollen von Prag eine distanzierende Äußerung über das Unrecht der Vertreibung.“
Oder etwas deutlicher der deutsche Finanzminister auf dem diesjährigen Pfingsttreff der Sudetendeutschen:
„Deshalb unsere klare Forderung an die tschechische Seite: Nennen Sie die Geschehnisse von vor fünfzig Jahren beim richtigen Namen. Nicht Aussiedlung, Abschub oder Transfer: Vertreibung fand statt. Bekennen Sie sich (sic!) zu den Verbrechen, die Tschechen an Deutschen begangen haben.“
So viel ist jedenfalls schon klar: Die Tschechen werden mit dieser ihnen von deutscher Seite aufgemachten Schuldfrage nicht in Ruhe gelassen. Daß sie die „Geschehnisse“ schon längst beim deutschmäßig „richtigen Namen“ genannt haben, daß ihr oberster Repräsentant bei der Unterzeichnung besagten Nachbarschaftsvertrags sogar noch etwas draufgelegt hat, das hat ihm zwar ein herzliches Danke-Schön durch den deutschen Kanzler eingetragen –
„Herr Präsident, Sie haben die Vertreibung der Deutschen als ‚zutiefst unmoralische Tat‘ bezeichnet. Für dieses offene Wort sind wir Ihnen dankbar.“ –,
hat jedoch nicht ihre Kalkulation aufgehen lassen, die sie mit ihrem „Entgegenkommen“ gegenüber den deutschen Ansprüchen ganz offenkundig im Auge hatten: nämlich gemeinsam mit ihrem Partner endlich einen Schlußstrich unter die Vergangenheit
(Außenminister Zieleniec) ziehen zu können, um so ein für allemal die Vorbehalte los zu werden, die der Nachbarstaat gegen die von ihm anerkannte Souveränität der CR geltend macht.
Dabei mag es schon sein, daß sich das die Tschechen mit dem ihnen abverlangten „Schuldbekenntnis“ anfänglich ein wenig harmloser vorgestellt haben, weil sie womöglich geglaubt haben, ihnen würde eine solche Wende von der Bonner Außenpolitik in der Weise vergütet, daß ihnen dann der ihrem Vorgängerstaat angetragene Revanchismus in Sachen „Vertreibung“ erspart bleibt. Wie dem auch sei: Sie bekommen jedenfalls derzeit die Lektion in Außenpolitik erteilt, daß „Schuldfragen“ zwischen Staaten Machtfragen sind, die deswegen auch nicht mit einer billigen Entschuldigung aus der Welt zu schaffen sind. Dafür, was es heißt, wenn ein deutscher Politiker den tschechischen Staat auffordert, sich zu einer Schuld infolge eines begangenen Unrechts höchstförmlich zu bekennen, ist die Sache mit der deutschen Kriegsschuld ein gutes Beispiel, allerdings (und ironischerweise) in einem ganz anderen Sinne, als sie von der deutschen Diplomatie gegenüber den Tschechen in Anschlag gebracht wird. Denn das von Deutschland aufgemachte Do ut des: ‚Wenn wir uns zu unserer Kriegsschuld an Euch bekennen, dann müßt auch Ihr Euch zur Eurer Kriegsfolgeschuld an uns bekennen!‘ hat ja nicht bloß die diplomatisch unverschämte Seite, daß auf diese Weise der ehemalige Kriegsverlierer aus seiner „Kriegsschuld“ lauter Ansprüche an seinen tschechischen Nachbarn ableitet. Auch die Sache selbst steht ziemlich auf dem Kopf, wenn die Deutschen das Bekenntnis zu ihrer Schuld als ihre ureigene Leistung verkaufen, die eine entsprechende Gegenleistung verdient. So sehr es der deutschen Diplomatie auf diese Botschaft ankommt – auf das Schuldbekenntnis ist, um der historischen Wahrheit die Ehre zu geben, auch der deutsche Staat nicht aus freien Stücken gekommen. Dazu haben ihn schon die Siegermächte zwingen müssen; mit all den Folgen, sprich „Wiedergutmachungsforderungen“, für die das „Schuldeingeständnis“ der Verlierernation die Rechtsgrundlage abgibt: Auch solch ein Diktat wird in der diplomatischen Form des Vertrags abgewickelt.
Die deutsche Außenpolitik hat sich also einiges vorgenommen, wenn sie bei der Tschechischen Republik am Fall von deren „Kriegsfolgeschuld“ etwas, was normalerweise das Resultat eines Krieges ist, mit den Mitteln der Diplomatie durchzusetzen sucht. Denn das penetrante Beharren der Deutschen darauf, daß die Tschechen die „Vertreibung“ nicht nur als irgendwie moralisch verwerflich zu beurteilen, sondern als ein vorsätzlich vom Staat begangenes „Verbrechen“ zu verurteilen haben, erklärt die tschechische Rechtsordnung selbst in einem entscheidenden Punkt zum Un-Recht – und damit den Sachwalter dieses Unrechts, die drübige Herrschaft, zum Unrechtsregime, dem es an der fundamentalsten aller Legitimationen mangelt. Also stehen sich in dieser Frage nicht Interessen gegenüber, die von der anderen Seite Recht bekommen wollen – der ansonsten selbstverständliche Ausgangspunkt diplomatischen Schachers –, sondern deutsches Recht steht gegen tschechisches Unrecht, das beseitigt gehört. So ist eine elementare Hoheitsfrage aufgerührt: Eine souveräne Rechtshandlung – nichts anderes war und ist vom tschechischen Staatsstandpunkt aus der „Transfer“ der Sudetendeutschen, was im dortigen „Bundesgesetzblatt“ unter dem Stichwort „Benesch-Dekrete“ einzusehen ist – soll als unrechtmäßig definiert und folglich außer Kraft gesetzt werden. Nicht, daß so etwas im Rechtsleben einer Nation nicht vorgesehen wäre – und gerade die Tschechen haben aufgrund ihrer Wende bei ihrem Rechtsvorgänger so manches Unrecht dingfest gemacht.[5] Doch grundsätzlich anders sieht die Sache aus, wenn solch ein Staatsakt nicht in eigenem nationalen Interesse und nach dessen Ermessen, sondern auf Antrag einer fremden, also konkurrierenden Souveränität erfolgen soll, die damit ihre Mitzuständigkeit bei der Ausübung der tschechischen Rechtshoheit verankern will und dies als deutsches Recht beim Nachbarstaat auf Dauer zu institutionalisieren sucht. Damit sind die Tschechen herausgefordert, auf eben diesen Zuständigkeitsbereich ihrer Souveränität aufzupassen und sich solche deutschen Übergriffe zu verbitten:
„Prag läßt sich nicht darüber belehren, was Rechtsordnung und Rechtsstaat bedeuten.“ (Ministerpräsident Klaus)
Bloß: Prag hat sich die Notwendigkeit dieser Klarstellung dadurch eingehandelt, daß es mit Bonn in einen Dialog über Schuldfragen eingetreten ist. Es sieht sich nun mit dem deutschen Standpunkt konfrontiert, daß geklärte Schuldfragen rechtliche Konsequenzen haben müssen. Von denen hat Bonn auch schon konkrete Vorstellungen:
„Ich will bald eine Übereinkunft, die Zeit ist reif. Wir müssen über den deutsch-tschechischen Vertrag von 1992, der ein guter Ansatz gewesen ist, hinauskommen. Dieser Vertrag hat die Vermögensfrage, die für die Sudetendeutschen wichtig ist, offengelassen.“ (Kinkel)
„Offengelassen“ – ein bemerkenswertes diplomatisches Sprachdenkmal: Der einseitige deutsche Wille, in Sachen Sudetendeutsche noch Forderungen zu haben, wird als objektiv zu regelnde Frage ausgedrückt, an der beide Seiten nicht vorbeikommen. Was dieser Vertrag für die andere Seite „offengelassen“ hat – mit dem eingeleiteten Aufrechnungsverfahren von Schuld hier und Schuld dort ist dafür gesorgt, daß auch über den tschechischen Rechtsanspruch auf die aus deutscher Kriegsschuld abgeleitete „Entschädigung des NS-Unrechts“ noch nichts entschieden ist: Da besteht die deutsche Diplomatie auf einem Junktim:
„Es geht sowohl um Wiedergutmachung für tschechische Opfer des Nationalsozialismus als auch um die sudetendeutsche Frage. Entkoppeln kann man diese schwierigen Themen nicht.“ (Kinkel)
Kann man schon, aber will man nicht, weil das eigene Angebot zur „Wiedergutmachung“ das probate Mittel dafür sein soll, den mit der CR verhandelten Tausch in Bezug auf staatliche Befugnisse erfolgreich fortzusetzen.
Das Aufkochen einer warm gehaltenen „Frage“: „Für uns ist die Nachkriegsordnung nicht verbindlich!“
Daran, daß die „Vermögensfrage“ für die Sudetendeutschen auch noch nach 50 Jahren seit ihrer Ausweisung aus der damaligen CSSR „wichtig“ ist, worauf sich der Außenminister beruft, läßt sich schon ermessen, daß hier nicht irgendwelche um ihr Recht betrogene Privatmenschen unterwegs sind, sondern ein Haufen lebender Rechtstitel, die ihr deutscher Staat in die Welt gesetzt und über diese lange Zeit sorgsam aufbewahrt und gepflegt hat. Denn wären besagte Menschen als bloß rechtsbewußte Staatsbürger aktiv geworden, hätte der ganze Spuk ein schnelles Ende genommen: Sie hätten den üblichen Rechtsweg beschreiten müssen, wären mit ihrer Klage vom dafür zuständigen Gericht der CSSR abgewiesen worden[6] und hätten sich dann – wie es anständige Bürger gewöhnlich zu tun pflegen – mit ihrer Lage abgefunden, also sich in ihrem Fall an den normalen deutschen Untertanenstatus „assimiliert“.[7]
Daß aber diese Mannschaft – egal, wenn sie ihrer „Erlebnisgeneration“ über die Jahre weitgehend verlustig gegangen ist – per Profession als aufmüpfige Sudetendeutsche auf sich aufmerksam macht, ein organisiertes Vereinsleben entfaltet und sich einmal jährlich zum Sudetendeutschen Tag versammelt, um Eigentumsansprüche und Heimatrecht auf dem Boden eines fremden Staates einzufordern – all das hat nur einen einzigen, und zwar politischen Grund: Der Kriegsverlierer Deutschland hat – kaum hatte er sich als demokratische Republik neu konstituiert – die Aktion des tschechoslowakischen Staates gegen dessen deutschstämmige Untertanen auf sich bezogen, die Nation also zu dem eigentlich Betroffenen der Sache erklärt, deren Rechte mithin von der CSSR mit Füßen getreten werden. Als Beitrag zum gemeinsamen Antikommunismus wurde das den Deutschen von den westlichen Alliierten auch durchaus zugestanden. Ohne Antikommunismus betreibt die deutsche Seite ihre Betroffenheit mit ganz neuen Erfolgsaussichten. Das demokratische Deutschland besteht darauf, daß seine Absage an das Unrecht seines nationalsozialistischen Rechtsvorgängers dessen Rechte allemal in Kraft hält – insbesondere die mit dessen einstmals vorhandenen sudetendeutschen Besitzstand verbundenen Rechte –, und macht nun in aller Vehemenz gegen den Nachfolgestaat der CSSR sein Anliegen geltend. Deutsche Staatsbürger haben einen rechtlich verbürgten Anspruch auf tschechisches Eigentum; und dem muß jetzt nachgegeben werden – jetzt, wo doch das neue Tschechien auch das Privateigentum bei sich eingeführt hat, also dasselbe Recht respektiert wie wir.[8]
Man merkt schon: Daß Deutschland „keinen Gebietsanspruch“ hat, heißt eben gar nicht, daß es gegen die CR nicht lauter Fälle vorzubringen weiß, die unter Beweis stellen, daß der Nachbarstaat viele kleine Gebiete seines Territoriums zu Unrecht sein Eigen nennt. Also ist mit der so aufgemachten Sudetenfrage der staatliche Besitzstand der Tschechischen Republik und somit die „Frage“ der Grenzen zwischen beiden Staaten unter einen deutschen Generalvorbehalt gestellt, auch wenn dieser nicht direkt in Form eines staatlichen Revisionsanspruchs, sondern „bloß“ als politisch angemeldeter Eigentumsanspruch hiesiger Staatsangehöriger daherkommt.
Bei den verantwortlichen Politikern der CR ist diese „Botschaft“ der deutschen Sudetenfrage naturgemäß – bei solch heiklen Souveränitätsfragen werden Politiker nun einmal von Berufs wegen ganz besonders hellhörig – „mit großer Aufmerksamkeit“ zur Kenntnis genommen worden. Schließlich kann ihnen beim abverlangten Schuldbekenntnis gar nicht verborgen bleiben, daß es der Nachbarstaat mit der angestrebten Verbeugung vor deutschem Rechtsanspruch auf eine Beugung ihres Staatswillens abgesehen hat. Daß es also bei der hiesigen Anwaltschaft für die privaten Eigentumsansprüche der Sudetendeutschen nicht um irgendeinen Schacher in materiellen Entschädigungsfragen geht, sondern um Ansprüche, die sie als Sachwalter tschechischer Hoheitsbelange sehr prinzipiell herausfordern, ist ihnen nicht entgangen: Sie reagieren entsprechend „empfindlich“. So hat derselbe Präsident Havel, der es noch vor einiger Zeit für opportun hielt, den Deutschen in Sachen „Vertreibungsschuld“ großzügig „die Hand auszustrecken“, inzwischen die Hand etwas zurückgezogen, weil er aus solch „gemeinsamer Aufarbeitung der Vergangenheit“ eines gelernt hat:
„Wir werden die (jetzt wieder:) Aussiedlung von drei Millionen Sudetendeutschen nach Kriegsende nicht ewig verurteilen, wenn daraus immer neue Ansprüche abgeleitet werden.“
Damit ist auch die Verhandlungsposition benannt, die die tschechische Diplomatie in Bezug auf die vorbereitete „Gemeinsame Regierungserklärung“ einnimmt: Sie versucht nicht nur, die von Deutschland aufgemachte „Schuldfrage“ von den daraus abgeleiteten Forderungen abzutrennen[9] –
„Wir wollen mit der Erklärung vor allem einen politischen und juristischen Schlußpunkt unter die Vergangenheit setzen.“ (Zieleniec) –,
sondern darüberhinaus von ihrem Verhandlungspartner eine gesonderte Willenserklärung darüber zu erreichen, daß dieser mit dem zu verabredenden politischen und juristischen Schlußpunkt
auch wirklich einen Schlußpunkt setzt:
„Ohne die Bestätigung des politischen Willens, daß sich beide Seiten politisch und rechtlich nicht mehr mit der Vergangenheit beschäftigen wollen, hat die Gemeinsame Erklärung keinen Sinn.“ (Zieleniec)
Und gerade weil die Tschechen in den gelaufenen Verhandlungen längst gewahr wurden, daß einerseits eine solche Bestätigung von den Deutschen partout nicht zu haben ist – die wollen ja gerade einen Schlußstrich, der ein Auftakt ist –, sie aber andererseits mit ihrem Interesse an einer „Aussöhnung“ mit dem mächtigen Nachbarstaat bekunden, daß ihnen dessen per Sudetenfrage eingebrachter Vorbehalt gegen existentielle Belange ihrer Souveränität keineswegs gleichgültig ist, haben sie nach einem vermittelnden Ausweg aus dieser Lage gesucht. Wenn schon kein verpflichtender Rechtszustand zwischen den beiden Staaten existiert und herzustellen geht, der die Deutschen daran hindert, ihre hoheitlichen Befugnisse so gründlich auszudehnen, dann muß als Berufungsinstanz ein internationales Recht her, das zu der Zeit, aus der die Deutschen ihr historisches Recht ableiten, wirklich gegolten hat: das Siegerrecht der alliierten Mächte nämlich, wodurch es gemäß Artikel XIII des Potsdamer Abkommens der damaligen Tschechoslowakei erlaubt war, für eine geregelte Umsiedlung
der Sudetendeutschen zu sorgen. Doch das, was dazu gedacht war, die deutsche Gegenseite zur Kompromißbereitschaft gegenüber dem tschechischen „Aussöhnungs“-Interesse zu bewegen, hat diese gar nicht beeindruckt. Das Gegenteil ist der Fall, wie der Klarstellung des deutschen Außenministers zu entnehmen ist:
„Bisher hat die Bundesregierung die Vertreibung in Übereinstimmung mit der deutschen Völkerrechtswissenschaft als rechtswidriges Unrecht betrachtet. Bonn hat daher die Rechtswirkung der Potsdamer Beschlüsse nie anerkannt. Die Bundesregierung betrachtet das Potsdamer Abkommen nicht als rechtliche Anerkennung der Vertreibung, sondern nur als politische Erklärung.“ [10]
Das ist doch mal eine politische Klarstellung, wenn auch damit ein wenig unterschlagen wird, daß diese gute deutsche Tradition, sich als Kriegsverlierer in der Sudetenfrage nicht an das Potsdamer Siegerrecht gebunden zu wissen, heutzutage in einer veränderten weltpolitischen Lage fortgeführt wird: Schließlich ist das Warmhalten der Sudetenfrage, die seinerzeit von den westlichen Siegermächten als deutscher Beitrag zum Kalten Krieg gegen den Osten gebilligt war, heute ein Vorpreschen aus eigener Machtvollkommenheit und steht damit in Konkurrenz zu denjenigen, die einmal als die Siegerstaaten in Europa das Sagen hatten. Die Tschechen haben sich für die scharfe Zurückweisung der deutschen Ansprüche –
„Die Tschechische Republik hat an der Entfesselung beider Weltkriege keinen Anteil gehabt. Sie wird deshalb niemals über eine Revision von deren Ergebnissen verhandeln, sie wird keine Eingriffe in die Kontinuität ihrer Rechtsordnung zulassen und auf keine Korrektur der Geschichte auf Kosten unserer Zeitgenossen eingehen.“ (Havel) –
dann auch folgerichtig des Rechtsschutzes durch die ehemaligen Siegermächte versichert, der auch prompt erfolgt ist:
„Wir bestätigen auf Wunsch der Tschechischen Republik, daß die Beschlüsse von Potsdam fest auf der Basis internationalen Rechts geschlossen worden sind.“
Da diese Staaten natürlich genau wissen – schließlich haben sie selber es qua Siegerrecht vorexerziert –, daß besagtes internationales Recht nicht gilt, wenn Deutschland sich nicht daran hält, haben die USA gleich eine diplomatische Botschaft nachgereicht, die unschwer als Warnung an die Adresse der Deutschen zu verstehen ist. Und das eben nicht nur „auf Wunsch“ der Tschechen, sondern weil sich die USA selber mit dieser von Deutschland betriebenen Revision der imperialistischen Nachkriegsordnung in ihrer Zuständigkeit als Weltordnungsmacht herausgefordert sehen:
„Die Ergebnisse des Potsdamer Abkommens sind eine historische Tatsache, und die USA glauben, daß kein Land wünscht, sie anzuzweifeln.“
Deutschland wünscht es.
Entstandene Abhängigkeiten gehören genutzt: „Euer Weg nach Europa geht nur über uns!“
Und „nach Europa zurückkehren“ wollen die regierenden Tschechen mit aller Macht, nachdem sie sich von der sozialistischen Staatsräson „losgesagt“ haben, der sie den bezeichnenden Generalvorwurf zu machen hatten, mit der Festlegung des Staates auf das Soziale dem Erfolg der Nation im Wege gestanden zu haben. Den suchen sie nun konsequent herbeizuregieren und setzen ihre Macht – mit aller Rücksichtslosigkeit gegen eben das Soziale – dafür ein, sich in Konkurrenz zu ihren gleichfalls gewendeten Nachbarstaaten zu einem Vorzugsobjekt der Berechnungen von Nationen zu machen, die allein über die Mittel verfügen, aus der Benutzung ihres Lands und ihrer Leute konkurrenzfähige Geschäftsresultate zu erzielen.[11] Was dabei entscheidend hinzukommt: Bei ihrem Fitmachen für ein Staatsprogramm, das sich ganz auf „Hilfe von außen“ verwiesen sieht, hat sich die tschechische Regierung ganz speziell der Unterstützung der Macht versichert, die als ausgewiesene ökonomische Führungsmacht in Europa auch über den nötigen politischen Einfluß verbürgt, der CR von ihrer jetzigen Assoziierung an die EU zu einer Vollmitgliedschaft in diesem Staatenclub zu verhelfen. Das jedenfalls haben Deutschland und Tschechien fest miteinander vereinbart:
„Die Bundesrepublik Deutschland wird die Bemühungen (der CR) um die Herbeiführung von Bedingungen für ihre volle Eingliederung in die Europäischen Gemeinschaften unterstützen.“ (Nachbarschaftsvertrag, Art. 10)
Bei so etwas „unterstützt“ man seinen Partner natürlich gern, wenn der sich in seinem eigenen Interesse partout den Bedingungen akkommodieren will, die von europäischen Erschließungs-Interessenten an eine freie, vom Staat unbehinderte kapitalistische Betätigung an das Land angelegt werden. Zumal man sich wechselseitig die Gewährung von Sonderkonditionen zugesichert hat, die ganz zwangsläufig diejenige der beiden Vertragsparteien bei der wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenarbeit auf allen Gebieten
begünstigt, die mit einem erfolgreichen kapitalistischen Geschäftsleben bei sich daheim überhaupt nur über die Voraussetzungen verfügt, die Zusammenarbeit für sich lohnend zu gestalten:
„Sie werden im Rahmen ihrer Gesetzgebung und ihrer Verpflichtungen aus internationalen Verträgen, darunter den Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus der Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft, die günstigsten Rahmenbedingungen, insbesondere auf wirtschaftlichem, finanziellem, rechtlichem und organisatorischem Gebiet für natürliche und juristische Personen für unternehmerische und wirtschaftliche Tätigkeiten schaffen.“ (Art. 15)
So ist an Tschechien in den letzten Jahren gutes Geld verdient worden: Deutsche Unternehmen wie Siemens, Mercedes und VW, aber auch viele sog. kleine und mittlere Betriebe wußten die im Vergleich zu hiesigen Verhältnissen als „konkurrenzlos“ eingestuften Billiglöhne sowie die sonstigen staatlichen Sonderangebote z.B. in Form mehrjähriger Steuererleichterungen und ungehinderten Gewinntransfers erfolgreich zu nutzen. Also kann hier die deutsche Politik eine durchaus „positive Bilanz“ ziehen und so konstatieren, daß sich auf dem Felde der Wirtschaft die verabredete „gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ bestens bewährt hat.
Aber Achtung: Prüft man diese Bilanz vom Standpunkt der deutschen Diplomatie, die mit der CR noch eine dicke politische Rechnung offen hat, welche vom guten Nachbarn nur in Form einer Preisgabe von Souveränitätsrechten zu begleichen geht – dann kommt die zufriedenstellende ökonomische Bilanz der beiderseitigen Beziehungen noch einmal neu ins Blickfeld. Dann sieht man im wirtschaftlichen Hin und Her lauter zwischen den beiden Staaten gestiftete Abhängigkeiten, die sich als probater Hebel dafür einsetzen lassen, die gewünschten Zugeständnisse vom anderen Souverän zu erlangen. Es ist also alles andere als ein Zufall, wenn der deutsche Außenminister mitten in einer Pressekonferenz, in der er über die „schwierigen Gespräche“ mit seinem tschechischen Amtskollegen Auskunft gibt, scheinbar beiläufig folgende Bemerkung von sich gibt:
„Die Wirtschaftsbeziehungen sind für beide Partner bedeutsam. Deutschland ist der wichtigste Wirtschaftspartner der Tschechischen Republik und profitiert von der Öffnung des dortigen Marktes, wobei Tschechien ein Drittel aller seiner Auslandsinvestitionen aus Deutschland bezieht.“
Damit ist die Anfrage auf dem Tisch, ob sich die Tschechen das überhaupt leisten können, womöglich ihren „wichtigsten Wirtschaftspartner“ zu verprellen, wenn sie ihm auf dem Feld seiner diplomatischen Ambitionen dauernd so viele „Schwierigkeiten“ machen. Zumal sie sich schließlich noch in einer weiteren für sie bedeutsamen ökonomischen Affäre gleich doppelt von den Deutschen abhängig gemacht haben: Sie brauchen die verabredete „wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit“, um den Bedingungen genügen zu können, die Europa als Hürde für beitrittswillige Kandidaten errichtet hat. Und sie brauchen die besondere Geneigtheit des deutschen Kanzlers, gegen dessen Votum nun einmal kein Mitgliedsausweis für diesen ambitionierten Staatenverein vergeben wird. Wenn dieser daher den Tschechen vor vier Jahren bei Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrages „versichert“ hat, daß Deutschland das Streben der Tschechen nach voller Mitgliedschaft in einem überschaubaren Zeitraum nachdrücklich unterstützt
und daß sich diese damit schon jetzt auf die Rechte und Pflichten eines Mitglieds der künftigen Europäischen Union einrichten
können, dann ist dieses großkotzige Angebot, gerade weil die Nachfrager sich davon einseitig abhängig wissen, eben auch als Druckmittel dafür einzusetzen, den Willen des Verhandlungspartners gegenüber den eigenen Ansprüchen gefügig zu machen. Wie das geht, hat Kohl dem Nachbarn in derselben Rede damit klargemacht, was er unmißverständlich „begrüßen“ würde. Aus seiner Sicht gibt es nämlich einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Wunsch der Tschechen nach einer Mitgliedschaft in der EU und der von Deutschland gegen die CR in Anschlag gebrachten Vertriebenenfrage:
„Die Verbundenheit der Heimatvertriebenen mit der alten Heimat enthält zugleich die Bereitschaft, sich aktiv an deren Entwicklung zu beteiligen. Die Zukunft der CSFR liegt in einem Europa der offenen Grenzen. Ich würde es deshalb begrüßen, wenn Ihr Land im Hinblick auf die von Ihnen angestrebte EG-Mitgliedschaft schon bald rechtliche Erleichterungen in der Frage der Niederlassung von Ausländern in der CSFR einräumen würde. Der Briefwechsel zum Vertrag enthält dazu eine klare Aussage.“ [12]
Also hat die „Rückkehr“ der Tschechen nach Europa, noch bevor sie dessen Regelungen unterworfen sind, sie aber umgekehrt auch in Anspruch nehmen können, nach dem Willen des Kanzlers von einer Vorleistung begleitet zu sein, die in der europäischen Fassung eines Rechts für alle Ausländer unübersehbar ein speziell deutsches Anliegen vorziehen und bedienen soll: Die hier heimischen Nachfahren der Vertriebenen sollen sich in der CR „niederlassen“ dürfen, um dann in ihrer „alten Heimat“ den Bestand der „deutschen Minderheit“ und des damit etablierten Rechts auf deutsches Mitmischen weiter „entwickeln“ zu helfen.
Wie gesagt, das war anno 1992. Inzwischen ist die Forderung nach einem Recht für deutsche Personen auf „vorgezogene Niederlassung“ in der CR um den Anspruch auf ein sudetendeutsches „Heimatrecht“ – so Waigel und Stoiber in ihren Reden auf dem diesjährigen Pfingsttreff dieser Landsmannschaft – erweitert worden, also um das Recht auf ein gutes Stück Territorium des Nachbarstaates, das dieser den Sudetendeutschen als Siedlungsgebiet zur Verfügung zu stellen hat. Und inzwischen wird es auch immer offenkundiger, d.h. öffentlich ausgesprochen, daß zur Erfüllung dieser Ansprüche der erklärte Wille der CR, sich über Deutschland einen Zutritt zu Europa zu verschaffen, als die Gelegenheit ergriffen werden soll, die Tschechen gefügig zu machen. Von namhaften Politikern, wenn auch wohlweislich (noch) nicht von den für die deutsche Außenpolitik offiziell Zuständigen, wird insofern Klartext geredet, als der Gegenseite mitgeteilt wird, daß der Staat, der sich den grenzübergreifenden Rechtsansprüchen Deutschlands verweigert, ebenso gegen europäisches Recht verstößt, folglich auch kein Mitglied dieser Gemeinschaft sein kann.[13] Das jedenfalls hat CSU-Chef Waigel auf dem diesjährigen Sudetentreffen unmißverständlich erklärt:
„Eine Nation mit derart rudimentärem Rechtsverständnis wird kaum Platz in den integrierten Strukturen Europas haben können.“
Denn, so der Generalsekretär seiner Partei:
„Die Europäische Union ist nicht nur eine Freihandelszone, sondern eine Wertegemeinschaft.“ [14]
Welches die gültigen europäischen „Werte“ sind, auf die sich die Tschechen zu verpflichten haben, das bestimmen in diesem Fall ganz klar die Deutschen, die mit der von ihnen betriebenen „Heranführung“ der CR an Europa nicht nur den kleinen Nachbarstaat herausgefordert haben.
Herausgefordert sind damit auch die großen europäischen Konkurrenten, die gar nicht übersehen können, daß Deutschland mit seiner Tschechien-Politik einen exklusiven Machtzuwachs bei sich verbuchen und ihn in die deutsche Europa-Politik einbringen will. Denn soviel ist klar: Wer den Zugang zur europäischen „Wertegemeinschaft“ zum Hebel dafür machen will, mit der Osterweiterung der EU zugleich seine „offenen Fragen“ mit der Tschechei auszufechten, der hat eben auch die „Frage“ an die Union gestellt, ob sie bei diesem „deutschen Vorstoß“ mitspielen will…
Vom Umgang mit einer diplomatischen Zwischenbilanz: „Zunehmende Spannungen – das muß Euch zu denken geben.“
Daß bei der Besichtigung des gegenwärtigen „Standes“ der deutsch-tschechischen Beziehungen „zunehmende Spannungen“ vermeldet werden, kann nicht verwundern. Allerdings fällt auf, daß das die deutsche Politik wenig zu beschäftigen scheint. Zwar bekundet der deutsche Außenminister ein ums andere Mal, daß er „höchst unglücklich“ über den schlechten Stand der Beziehungen sei und daß diese „Spannungen“ natürlich „ernstgenommen“ werden müssen. Das muß er auch sagen, weil er in den laufenden Verhandlungen, in die er immer neue Forderungen „nachschiebt“, schließlich etwas von einem Kontrahenten erreichen will, dessen Verhandlungswille ganz offenbar nicht nur aufgrund der zu klärenden Materie, sondern auch durch seine Verhandlungsführung – wie der zuständige Tscheche beklagt – ziemlich strapaziert wird. Aber ansonsten? Ziemliche Fehlanzeige. Da gibt der Außenminister ein dickes Interview über die wesentlichen Ziele und Problemfelder
seines Metiers – mit seiner europafreundlichen „Kernaussage“ als Überschrift: Es ist Hauptaufgabe der Außenpolitik, nationale Interessen zu vertreten
(WamS) –, und das „Problemfeld“ namens deutsch-tschechisches Verhältnis kommt ganz demonstrativ erst gar nicht vor. Auch der Kanzler läßt auf RTL-Anfrage vom Wolfgangsee grüßen, daß die Sache mit den Tschechen nicht so dringlich
sei, und Deutschland ja bereits in Polen einen guten Freund
im Osten habe, also jemanden, der offenbar besser nach der deutschen Pfeife tanzt als etwa der Tschechen-Kanzler Klaus, den Kohl ohnehin wegen – wie zu hören ist – dessen harter Haltung im deutsch-tschechischen Verhältnis
nun schon seit Jahr und Tag aus terminlichen Gründen
mit demonstrativer Nicht-Beachtung abstraft.
Was das den Tschechen sagen soll? Erstens: Es liegt ganz allein bei ihnen, das „gespannte Verhältnis“ wieder zu entspannen, durch entsprechendes Entgegenkommen in der verhandelten Sache natürlich. Und zweitens: Die Bereinigung der leidigen Affäre hat auch deshalb ganz ihre Angelegenheit zu sein, weil sie nun einmal dringend auf die „freundschaftliche Zusammenarbeit“ mit ihrem Nachbarn angewiesen sind, sich also eine weitere Verschlechterung der Beziehungen oder gar deren Abbruch nicht leisten können.
Und soviel ist ja auch tatsächlich dran an dem, was die deutsche Seite hier als berechnende diplomatische Demo gegenüber den Tschechen aufführt und was diesen zu denken geben soll: Deutschland will wirklich nur solche Beziehungen zu seinem tschechischen Nachbarn, in denen seine (revanchistischen) Konditionen den Maßstab für die Regelungen setzen, nach denen die andere Seite ihre Souveränität betätigt. Gewiß, das ist ziemlich einseitig, aber es ist definitiv so gewollt, daß sich die andere Seite zu korrigieren hat. Das sagen die Deutschen nicht nur in diesbezüglichen Verhandlungen mit den Tschechen, sondern, wie es in der Welt der Diplomatie so üblich ist, sie zeigen es ihnen auch, eben durch die Art und Weise, wie sie mit ihnen umspringen.
Eben deshalb kann es nicht verwundern, daß auch in der deutschen Öffentlichkeit – ganz diplomatisches Sprachrohr ihres Herrn – eine genauso demonstrative Gleichgültigkeit ob des schlechten Standes der Beziehungen bekundet wird. Daß die Medienkollegen von der anderen Seite inzwischen über ein Deutschlandbild verfügen, das so finster ist wie seit dem Kommunismus nicht mehr
, daß sie den Kriegsverlierer Deutschland in der Pose eines Kriegsgewinnlers
bei sich aufmarschieren und ihr Land mit der „Perspektive bedroht sehen, einmal als Euroregion in Kohls Bundesrepublik Europa zu enden“ – das wird unter der demütigenden Rubrik: ‚Typische Überempfindlichkeit einer kleinen Nation, die viel durchgemacht hat‘ abgehakt und als deren pure Einbildung für nicht weiter befassungswürdig erklärt.
Und wie zum Beweis, wie richtig die Tschechen mit ihrer Bilanzierung des Standes der Beziehungen liegen, daß die Forderungen ihres mächtigen Nachbarn darauf hinauslaufen, sie in ihrer Souveränität herabzustufen, ihnen also den eindeutigen Status einer minder wichtigen Macht zuzuweisen, hat der bayerische Ministerpräsident Stoiber noch einmal nachgelegt und daran erinnert, was er schon seit mindestens zwei Jahren verlangt. Die Tschechen sollen gefälligst neben der Bundesregierung den Verband der Vertriebenen als Verhandlungspartner offiziell anerkennen, also auch diesen Verein sich mit Recht in ihre Belange einmischen lassen. Die Antwort, man lasse sich nicht in einen Standard drängen, der nicht den üblichen Beziehungen zwischen anderen Ländern entspricht
(Klaus) – er hätte auch „Bananenrepublik“ sagen können – und man habe doch schließlich normale diplomatische Beziehungen aufgenommen und Botschafter ausgetauscht, konnte ebensowenig ausbleiben wie umgekehrt die eindeutige diplomatische Botschaft rüberkommen soll und intransigent stehen bleibt: ‚Unsere Beziehungen zu Euch sind eine Gunst, also erweist Euch auch dessen würdig. Wie? Dazu ist alles gesagt!‘.
So fein diplomatisch geht es derzeit zu im deutsch-tschechischen Verhältnis. Die „zunehmenden Spannungen“, für die die Deutschen mit ihrem Souveränitätsvorbehalt gegen die CR sorgen und zugleich wegen dieses Vorbehalts nichts zu deren „Abbau“ beitragen wollen, bezeugen allerdings auch, daß die deutsche Seite mit dem Stand des Erreichten noch längst nicht zufrieden sein kann. Daß der Vertragspartner einen eigenen Willen hat, der sich gegen die „nachgeschobenen“ Forderungen sperrt, also nicht einfach das unterschreibt, was die deutsche Seite ihm an hoheitlichen Befugnissen abringen will, das zeigt, daß es auch für die Deutschen nicht ohne Widerspruch ist, die Souveränität der Tschechen unter einen einseitigen Vorbehalt stellen zu wollen und eben dafür auf den Willen des anderen angewiesen zu sein, sich das im eigenen Interesse einleuchten zu lassen. Wenn sich deshalb ein deutscher Ex-Außenminister öffentlich um den jetzt eingerissenen Stand der Beziehungen zwischen beiden Staaten „besorgt“ zeigt und auf die Gefahr einer Beschädigung des deutsch-tschechischen Verhältnisses
hinweist, dann ist schon die Sorge darum zu spüren, Deutschland könnte seine Position „überreizen“ und so womöglich das „verspielen“, was es doch bereits an „beachtlichem Erfolg“ gegenüber Tschechien erreicht hat. Doch auch diese Äußerung ist kein Gegensatz zur, sondern ein notwendiger Bestandteil der deutschen Diplomatie, weil auch ihr die „zunehmenden Spannungen“ nicht ganz gleichgültig sein können, wenn sie demonstrativ so tut, als wären sie es. Also braucht es sie auch immer wieder, die begleitende Rückkehr zu „versöhnlichen Tönen“, damit die Deutschen ihre Affäre mit den Tschechen im Interesse weiterer „beachtlicher Erfolge“ aushandeln können. Deshalb bekundet das, was ein Genscher meint, bei anderer Gelegenheit auch sein Nachfolger im Amt: Wir müssen die Spannungen im deutsch-tschechischen Verhältnis ernstnehmen.
Eben.
Es gibt schließlich noch einen entscheidenden „Schritt nach vorn“ zu tun…
[1] Daß die Tschechische Republik als einer der beiden Nachfolgestaaten der kommunistischen CSSR ohnehin keine Rechtsgrundlage für materielle Ansprüche
in dieser Angelegenheit hat, ist im „Vertrag über die gegenseitigen Beziehungen“ im Jahr 1973 festgelegt worden. Wie die von Kinkel versprochene „Entschädigung des NS-Unrechts“ in eigenem deutschen Ermessen geregelt wird, können die Tschechen daher bei ihrem polnischen Nachbarn erkunden: Die Bundesregierung stellte als humanitäre Geste 500 Millionen Mark zur Verfügung. Bisher haben fast eine halbe Million Menschen über die Stiftung Deutsch-Polnische Versöhnung eine einmalige Zahlung von durchschnittlich 950 Złoty (530 Mark) erhalten. Die Regierung Polens verpflichtete sich im Gegenzug, künftig keine Ansprüche der NS-Opfer gegenüber Deutschland zu erheben.
(Welt, 23.7.96)
[2] Auf diese Weise bekommt die deutsche Diplomatie von den Wende-Politikern der CR die praktische Bestätigung dafür geliefert, wie nützlich es ist, auch zu Zeiten, in denen von der Gegenseite das deutsche Anliegen als „Revanchismus“ entschieden für nicht verhandlungsfähig erklärt wurde, solche „Fragen“ wie etwa die „Sudetenfrage“ (dazu später mehr) gleichwohl beständig „offen“ zu halten und dies die damalige CSSR bei jeder sich bietenden Gelegenheit wissen zu lassen. So wurde das, was sich bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Staaten im Jahr 1973 nicht regeln ließ, vom damaligen Bundeskanzler Brandt in einer Tischrede auf der Prager Burg nachgereicht: Niemand kann seiner Vergangenheit, seiner Geschichte entfliehen. Nur wer sich ihr stellt, wird sie ins Positive, Konstruktive wenden können. Das gilt nicht nur für die Dunkelheit der Dreißiger Jahre, für die erschreckend um sich greifende Gewaltpolitik, für die Periode des Krieges, die so viel Leid und Unheil über das tschechische und slowakische, aber – zumal mit den Folgeerscheinungen – auch über das deutsche Volk brachte
. Fürs heimische Publikum wurde der deutsche „Entspannungskanzler“ noch etwas deutlicher: Der Vertrag, den wir heute unterzeichnet haben, sanktioniert nicht geschehenes Unrecht. Er bedeutet also auch nicht, daß wir Vertreibungen nachträglich legitimieren.
(Fernsehansprache aus Prag)
[3] Der scheinbare Widersinn, daß sich die beiden Staaten das noch einmal „bestätigen“, was sie schon einmal vertraglich vereinbart hatten, hat seinen banalen Grund in dem von zwei höchsten Gewalten eingegangenen Rechtsverhältnis, das schließlich nur solange gilt, wie die vertragsschließenden Parteien gewillt sind, sich daran zu halten. Folglich unterliegt auch das Daranhalten einer jeweils eigenwilligen nationalen Vertrags-Auslegung. So auch bezüglich des Passus über das Münchener Abkommen: Geht die tschechische Seite davon aus, daß dessen Nichtigkeit von Anfang an
gilt („ex tunc“), so ist von deutscher Seite zu vernehmen, daß es nicht von Anfang an ungültig ist
, sondern erst „ex nunc“ (von jetzt an), womit gemeint ist, daß das Abkommen erst ab dem Zeitpunkt „nichtig“ ist, wo Hitler vertragswidrig den Rest der Tschechei annektiert hat. – Also ist das Ding jetzt „nichtig“ oder nicht?
[4] Auch mit dieser vertraglichen Regelung befindet sich die deutsche Außenpolitik ganz auf der Kontinuitätsschiene ihrer Diplomatie gegenüber dem Osten: Wenn sich schon nicht der kommunistische Vorgängerstaat zur Einführung dieser „Minderheitenrechte“ überreden ließ, obgleich er den westlichen Einmischungsrechten in seine Hoheitsbefugnisse mit seiner Unterschrift unter die KSZE-Verträge prinzipiell seine Zustimmung erteilt hat, dann ist mit der „Wende“ drüben eben jetzt „die Zeit reif“, die Tschechen darauf hinzuweisen, daß ihre Verpflichtung von damals heute die Untergrenze dessen ist, was sie einzuhalten haben: Die Vertragsparteien erfüllen mindestens die in den KSZE-Dokumenten … verankerten politischen Verpflichtungen als rechtlich verbindliche Verpflichtungen.
(Art. 20)
[5] Eine Gruppe tschechischer Intellektueller hat in einem Offenen Brief unter der Überschrift Der Weg zur Versöhnung
ihrer Regierung vorgeworfen, durch das Festhalten an den Benesch-Dekreten und somit durch das Beharren auf dem sogenannten dicken Strich unter die Vergangenheit
schuld daran zu sein, daß die Verhandlungen über die geplante deutsch-tschechische Erklärung „festgefahren“ seien. Offensichtlich haben sie in ihrer leicht wahnhaften Kritik am Nachkriegspräsidenten Benesch, der nach ihrer Auffassung das Land an die Russen verkauft hat, ganz übersehen, welche gewichtigen nationalen Gründe ihre Regierung gerade jetzt hat, an den Dekreten des mittlerweilen allseits unbeliebten Staatsmanns festzuhalten. Die tschechische Öffentlichkeit hatte für diesen Brief der Intellektuellen, der so für „gute Beziehungen“ zu Deutschland werben wollte, den passenden nationalistischen Vorwurf parat: Landesverrat!
[6] Das Verfassungsgericht der CR hat die rechtliche Gültigkeit der Benesch-Dekrete erst jüngst bestätigt und damit bewiesen, daß die tschechischen Juristen von ihren neuen Freunden und Kollegen im Westen flott gelernt haben, daß das „Wohl der Nation“ den Rahmen für die „Unabhängigkeit der Hohen Gerichtsbarkeit“ abgibt und daß sich dies in der Urteilsbegründung lässig moralisch rechtfertigen läßt. Also war es richtig
, besagte Sudetendeutsche als Deutsche kollektiv dafür haftbar zu machen, daß ein überwiegender Teil
von ihnen für Hitler war und so an der Expansion Nazi-Deutschlands gegenüber der Tschechoslowakei … teilhatte.
[7] Zu Zeiten, als es noch als staatstragende Wahlalternative einen „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ sowie einen eigenen Vertriebenenminister gab, hatte Deutschland nach Auskunft eines solchen Ministers für die politische Pflege der Sudetenmannschaft eine interessante Perspektive: Nicht alle Vertriebenen dürfen sich assimilieren. Wir müssen Heimatvertriebene behalten, um eines Tages ein Abstimmungsreservoir zu haben, wenn das Selbstbestimmungsrecht zum Zuge kommt.
Man sieht, was alles drin ist, wenn man die Forderung nach einem „Heimatrecht“ nur konsequent weiter denkt.
[8] Dafür ist der deutschen Seite keine Begründung zu blöd. So behauptet Kinkel allen Ernstes, wegen der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes seien ihm juristisch die Hände gebunden; Privatklagen seien zu befürchten, wenn die Bundesregierung den von ihr vertretenen Eigentumsforderungen die Unterstützung versage etc. Als ob ihm nicht vertraut wäre, daß die Bonner Regierung neulich hinsichtlich der DDR-Enteignungen ziemlich souverän die Rechtsgrundlage geändert hat, auf die sich private Eigentumsansprüche beziehen können, und daß das Bundesverfassungsgericht in dieser Frage der politischen Vorgabe aus Bonn entsprechend entschieden hat, stellt sich Kinkel vor die tschechische Regierung und erklärt seine Intransigenz als Ausgeburt einer rechtsstaatlich über ihn gekommenen Not.
[9] Auch auf deutscher Seite gibt es diesen Versuch der Abtrennung, und zwar in Gestalt der Grünen-Politikerin Antje Vollmer. Diese hat die Sudetenfrage inzwischen als ihr Steckenpferd entdeckt und bezichtigt sich und die frühere linke Bewegung, dem persönlichen Schicksal der Sudetendeutschen nur ein mitleidloses Desinteresse
entgegengebracht zu haben. Mit solcher „Selbstkritik“ in der Vorhand legt sie als Vertreterin Deutschlands bei ihren diplomatischen Besuchen in Prag den tschechischen Kollegen nahe, ebenfalls Buße zu tun und die Vertreibung der Deutschen als ethnische Säuberung
in die Liste der totalitären Verbrechen dieses Jahrhunderts
aufzunehmen. Das soll der CR gut tun, weil sie so in den ihre Existenz betreffenden Grundfragen Rechtssicherheit und Bestandsgarantie von Deutschland erhält.
Damit liegt sie zwar daneben, aber es zeigt, wie gut sich eine Grüne reingedacht hat in die Anspruchshaltung ihrer Nation, wenn sie den Tschechen die Konditionen für lohnendes Wohlverhalten vorbuchstabiert.
[10] Wie leicht es für Politiker zu haben ist, sich als Legitimationsinstanz für die angemeldeten Rechte auf eine deutsche Völkerrechtswissenschaft zu berufen, ist einem Gutachten zu entnehmen, das die FAZ unter der Fragestellung Wen bindet das Potsdamer Abkommen?
bei einem Professor Fastenrath in Auftrag gegeben hat. Hier die Antwort. Einerseits war Deutschland schon daran gebunden, und zwar absolut: Die Hauptsiegermächte verhandelten in Potsdam nicht nur als Sieger, sondern zugleich als Herrscher der Besiegten. Deutschland war demnach gar nicht unbeteiligter Dritter auf der Konferenz.
Andererseits aber (war nicht längst alles gesagt?!) muß dann eben der deutsche Wunsch der Vater des Gedankens sein: So einfach müssen sich die deutschen Juristen allerdings nicht geschlagen geben.
Na also. Wenn einem das, was einen Staat „bindet“, nicht paßt, dann sucht man sich in den allgemeinen Regeln des Völkerrechts
das, was einem paßt, insofern es sich als Berufungstitel für die eigenen Ansprüche eignet. Demgemäß war die Vertreibung ein Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit.
So gibt es sie dann: die von Kinkel ins Feld geführte „Übereinstimmung“ der Völkerrechtswissenschaft mit den völkerübergreifenden Rechten der Nation.
[11] Daß der unbedingte Anschlußwille an den europäischen Imperialismus auch den letzten Grund dafür abgibt, daß die Tschechen mit der Abtrennung der Slowakei für ihren Erfolgsweg „nach Europa“ sogar eine Verkleinerung der Nation in Kauf genommen haben, ist näher nachzulesen in: „Die samtene Trennung der CSFR – Nationalisten zerlegen ihren Staat“ (GegenStandpunkt 2-93, S.121).
[12] Der erwähnte Briefwechsel zwischen den Ministern des Auswärtigen erfüllt die diplomatische Funktion, das in Erinnerung zu rufen und zu unterstreichen, was man dem Verhandlungspartner in Sachen Niederlassungsrecht als „Erklärung“, aber eben (noch) nicht als „vertragliche Vereinbarung“ abgerungen hatte. Der Außenminister der CSFR hat denselben Text, den ihm sein deutscher Amtskollege zugeschickt hatte, gegengezeichnet, zurückgeschickt und somit den angemeldeten Regelungsbedarf in der Frage der „vorgezogenen Niederlassung“ ebenso bestätigt wie den nächsten Tagesordnungspunkt: 2. Beide Seiten erklären übereinstimmend: Dieser Vertrag befaßt sich nicht mit Vermögensfragen.
Deshalb wird sich in den laufenden Verhandlungen damit befaßt.
[13] Solch eine Arbeitsteilung zwischen Politikern hat ihren guten diplomatischen Sinn: So teilt man seinem Gegenüber etwas über die eigenen politischen Absichten mit, ohne daß dieser sich unmittelbar gezwungen sehen muß, darauf zu reagieren und somit womöglich für diplomatische „Verwicklungen“ zu sorgen. So haben die Tschechen sich an etwas abzuarbeiten, von dem sie „offiziell nichts gehört haben“, während die hiesige Regierung zu den Reden der Waigels und Stoibers beredt „schweigt“ und somit die angemeldeten Ansprüche auf die CR wirken läßt…
[14] In der deutschen Öffentlichkeit hat es eine lange Tradition, auf den jährlichen Treffen der Sudetendeutschen nie Willenserklärungen deutscher Politik, stattdessen „Entgleisungen“ derselben zu registrieren, die einem opportunistischen Kotau der vornehmlich bayerischen Politiker vor dem Wählerreservoir dieser Landsmannschaft zugeschrieben werden. Dies war so auch immer eine diplomatische Botschaft an die Adresse des attackierten Nachbarn: ‚Seht her, unsere offizielle Politik ist eigentlich viel besser als der Ruf, der diesen Treffen vorausgeht.‘ Das war in diesem Jahr allerdings etwas anders, wo an der Rede eines wichtigen Kabinettsmitglieds kaum zu überhören war, daß mit den „kraftmeierischen Sprüchen“ auf dem Sudetentreffen deutsche Außenpolitik betrieben wurde, also die offizielle deutsche Politik immer weniger Wert auf den Schein legt, daß solche Sprüche vor den gebeutelten Heimatvertriebenen zwar „verständlich“, aber ansonsten durch die betriebene „Aussöhnungspolitik“ mit den tschechischen Nachbarn nicht gedeckt seien.