Italien auf dem Weg von der Regierungs- zur Dauerkrise
Die Staatsgewalt verliert ihre Verlässlichkeit

Die Selbstkritik einer unzufriedenen Nation und ihrer Staatsführung. Die Auflösung der Parteienlandschaft durch eine neue Politikergarde und das „neue“ Programm für Italiens Zukunft: Stabile Staatsführung und staatliche Autorität.

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Italien auf dem Weg von der Regierungs- zur Dauerkrise
Die Staatsgewalt verliert ihre Verläßlichkeit

In Italien hat ein innenpolitischer Umsturz stattgefunden, der aus den politischen Größen, die die Nation jahrzehntelang nach innen und außen vertreten hatten, einfache Kriminelle werden und die bisher regierenden Parteien sang- und klanglos von der politischen Bühne verschwinden ließ.[1] Die Nation registrierte die rapide Talfahrt der eigenen Währung und den inneren und äußeren Ansehensverlust des heimischen Staatswesens und gelangte zu einem Schuldspruch: Dieses unverdiente, aber selbstverschuldete Schicksal hatte im „malgoverno“ der bislang staatsleitenden „partitocrazia“ seinen Grund. Richter, die sich aus nationaler Verantwortung über die der Judikative staatlich gezogenen Schranken hinwegsetzten – unter Führung des Volkshelden Di Pietro – verschafften der italienischen Öffentlichkeit die nachträglichen Beweise. Die alte Politikerklasse hatte die ihr aufgetragene Staatsverantwortung zu persönlicher Bereicherung mißbraucht, die Staatsgewalt in den Dienst partikularer Interessen gestellt, im Falle der Mafia sogar einem Feind der Staatsordnung in die Hände gespielt und so die italienische Staatsmacht zum Selbstbedienungsladen einiger Weniger verkommen lassen.

Jetzt ist die Nation schon wieder um eine Enttäuschung reicher. Die neuen Hoffnungsträger, die an Stelle des alten diskreditierten Herrschaftspersonals die staatliche Autorität des Landes wiederherstellen wollten und ihren Landsleuten eine stabile Führung versprochen hatten, haben sich als ebenso unfähig und national verantwortungslos erwiesen wie ihre Vorgänger. Nach nur siebenmonatiger Amtszeit ist die Regierung Berlusconi auseinandergebrochen und hat den Italienern zu Weihnachten eine Regierungskrise beschert. So etwas gehörte zwar zum politischen Alltag der Nachkriegsrepublik Italien, traf aber dieses Mal Parteien und Politiker, die für den Bruch mit der unrühmlichen politischen Vergangenheit standen und der Nation endlich die ordentliche Staatsführung versprochen hatten, die die korrupte alte Politikergarde dem Land immer vorenthalten hatte. Gemessen am verkündeten staatlichen Aufbruch fiel die Bilanz, was die Koalition von Forza Italia, Lega Nord und Alleanza Nazionale zustandegebracht hat, empörend aus. Unter ihrer Regierungszeit fiel der Kurswert der Lira von Tiefststand zu Tiefststand, keine der fälligen nationalen Sanierungsmaßnahmen wurde entscheidend vorangebracht. Statt in nationaler Verantwortung zusammenzustehen, lieferte sich die Koalition einen ständigen internen Machtkampf zwischen dem Lega-Führer Bossi einerseits und Berlusconi und Fini andererseits, durch den sich die Öffentlichkeit an das gerade überwunden geglaubte Grundübel der „partitocrazia“ erinnert fühlte: schon wieder eine Regierung, deren Mitglieder die Rivalität um die Macht und die persönliche Eitelkeit über die Sache der Nation stellten; letztlich soll die Wiedererrichtung der Italien gebührenden Staatsvollmacht an der banalen Männerfeindschaft von Bossi und Berlusconi gescheitert sein.[2] Bei Berlusconi, der die Wahl mit dem Versprechen gewonnen hatte, die italienische Staatsgewalt mit den Erfolgsrezepten, die ihn zum Chef des Fininvest-Konzerns haben werden lassen, zu erneuern, fiel der Öffentlichkeit nachträglich wieder die andere Seite dieses Erfolgs ein: Dieser ist mit und unter dem „tangentopoli“-System zustandegekommen.

Die 53. Regierungskrise in der Geschichte Nachkriegsitaliens ist keine unter anderen; mit ihr ist die Unregierbarkeit Italiens offenkundig geworden. Da hat sich nicht wieder einmal, wie mehr als 40 Jahre üblich, eine Führungsmannschaft überworfen und ist durch andere Figuren aus demselben Lager ersetzt worden, sondern die neuen politischen Kräfte, die den demokratischen Umbruch und Aufbruch versprochen hatten, haben sich wechselseitig gründlich demontiert: Erst haben sich die Lega Nord auf der einen, Berlusconi und Fini auf der anderen Seite in der Regierung schlimmer befehdet, als es selbst zwischen Regierung und Opposition gemeinhin üblich ist. Dann hat die Lega zusammen mit der Opposition die Regierung Berlusconi gestürzt. Jetzt finden sie nicht die Spur eines Konsenses, der ihnen die Bildung einer parlamentarisch bestätigten neuen Regierungsmehrheit erlauben würde, um die Staatsgeschäfte fortzuführen. Umgekehrt beharrt Berlusconi darauf, daß jeder Versuch in diese Richtung bereits ein Staatsstreich wäre; ein Versuch, die Ermächtigung, mit der ihn das Volk zum Führer einer anderen Republik gewählt hat, wieder rückgängig zu machen. Der Judas Bossi habe die ihm zustehenden Stimmen geraubt, das Parlament seine Legitimität verloren, weil es ihn abgewählt hat. Eine interessante Neudefinition des demokratischen Wahlrechts, der Rechte des Parlaments und der Pflichten einer Koalitionsregierung.[3]

In einem Land, dessen Regierungspolitiker sich wechselseitig ernstlich des versuchten Staatsstreichs beschuldigen, regiert der Staatsnotstand. Die Vorschläge und Maßnahmen, der Regierungskrise Herr zu werden, sehen entsprechend aus. Ausgerechnet der PDS zeigte sich zutiefst besorgt über die offenkundig gewordene Staatskrise. Der Nachfolger der ehemaligen Kommunistischen Partei, trotz seiner öffentlichen Bekehrung von Berlusconi und dem Führer der gewandelten Faschisten Fini unbeirrt als Feind Nr.1 der Nation verteufelt und bekämpft, sieht die linke Perspektive nur noch im umstandslosen Bekenntnis zur Rettung der Nation und hat in nationaler Verantwortung eine Notregierung des „Waffenstillstands“ vorgeschlagen. In ihr sollten alle Parteien zusammenarbeiten und dabei von ihren programmatischen Unterschieden, parteipolitischen Sonderinteressen und machtpolitischen Kalkulationen absehen; die kann Italien nicht gebrauchen, wenn es endlich stark und einheitlich geführt werden soll. Dieser Verzicht auf einen für die Nation schädlichen Partikularismus erscheint der Partei, die sich programmatisch auf die Volksmassen beruft, umso wichtiger, weil ansonsten die Hoheit der Politik dem „Druck der Straße“ zum Opfer fallen könnte. Ganz überparteilich staatsbesorgt hat sie daher der Forza Italia – wenn auch nicht Berlusconi – die Führung dieser Regierung angetragen und den Ex-Faschisten angeboten, ihre Alleanza Nazionale könne sich durch ihre Teilnahme in den Kreis der anständigen demokratischen Parteien einreihen; was diese höhnisch abgelehnt hat. Auch anderwärts hat der PDS-Vorschlag einer großen Koalition zur Rettung der Nation keine Nachfrage gefunden, wohl aber die Diagnose. Ganz in diesem Sinne hat Staatspräsident Scalfaro die Kompetenz seines Amtes in Anspruch genommen und freizügig ausgelegt, um am Parlament vorbei eine Regierung „super partes“ einzusetzen. Unter dem IWF-Fachmann und zweitem Nationalbank-Chef Dini, der als Unabhängiger schon in der Regierung Berlusconi Schatzminister war, ist inzwischen eine neue Regierung im Amt, deren Minister rein nach ihrem Wirtschafts- und Technokraten-Sachverstand ausgewählt wurden; den haben sie ausnahmsweise einmal dadurch bewiesen, daß sie kein Parteibuch einer der italienischen Parteien besitzen – die haben sich nämlich nach Auffassung des Staatspräsidenten als national verantwortungslos disqualifiziert. Der moralische Bonus dieser Übergangsregierung in den Augen der Nation hat freilich die Kehrseite, daß es ihr an politischem Rückhalt und praktischer Durchsetzungsfähigkeit fehlt.

Inzwischen setzen alle auf Neuwahlen im Sommer: Die sollen endlich die bislang ausgebliebene Erneuerung bringen, endlich eine einheitliche und starke Machtausübung ermöglichen. Das Bedürfnis nach staatlicher Autorität ist unbestritten – aber nach wie vor unbedient. Das wohlbekannte Schlagwort „crisi“ lebt wieder auf und verdrängt Mafia- und Politikerprozesse, Mord und Totschlag unter den tifosi und die spannende Frage, ob es ein neues Staatsamt für den von Berlusconi aus dem Amt gedrängten Di Pietro gibt – gibt es! –, aus den Schlagzeilen. Die Nation ist auf Dauerkrise eingerichtet.

Die italienische Staatsmacht hat ihre materielle Grundlage eingebüßt

Auch wenn es jedem nationalen Gemüt noch so sehr einleuchtet, daß ein Mißerfolg seiner Nation nur an Unfähigkeit und Unwillen der national verantwortlichen Politiker liegen kann, dem Recht des Staates nach innen gegen schädlichen Egoismus und nach außen gegen fremde Nationen Geltung zu verschaffen – das kann nicht wahr sein. Auch nicht in Italien, dessen mündige Bürger sich öffentlich darüber belehren lassen, daß sie in der so hoffnungsvoll ausgerufenen Zweiten Republik schon wieder oder noch immer von Figuren regiert werden, die unfähig oder nicht willens sind, die rigorose Wiederherstellung der so sichtbar unter die Räder gekommenen Staatsautorität zu ihrer Sache zu machen.

Der Wahrheit näher kommt da schon der seit einiger Zeit in der italienischen Presse üblich gewordene Brauch, die Taten und Unterlassungen der Regierung mit dem jeweiligen Stand des Wechselkurses zwischen Lira und DM zu konfrontieren. Damit verweist die Kritik an der Führungsschwäche des leitenden politischen Personals und an der Handlungsunfähigkeit der Staatsgewalt immerhin auf ein vernichtendes Urteil, das als objektiv gilt, ein Urteil, das der praktische Sachverstand der internationalen Finanzmärkte über die italienische Staatsführung getroffen hat. Italien, dessen Ökonomie von Weltmarkt- und Europageschäften lebt, wird von der Geschäftswelt bescheinigt, ein einziges Geschäftsrisiko zu sein. Die bekanntermaßen risikofreudige internationale Geldspekulation läßt sich nur durch Risikoaufschläge beim gebotenen Zinssatz dazu verleiten, auch weiterhin auf die sich laufend entwertende nationale Währung zu spekulieren. Die dadurch bewirkte Verteuerung des Kredits lähmt die Investitionsbereitschaft der heimischen Kapitalistenmannschaft und reduziert das ausländische Anlageinteresse. Das negative Urteil, das der unbestechliche Richter über Erfolg und Mißerfolg nationaler Politik, die in- und ausländische Geschäftswelt, über die Ökonomie trifft und exekutiert, die sich in Lirasummen saldiert, faßt sich in einen Befund zusammen: Die politische Instabilität des Landes hat die italienische Wirtschaft ziemlich grundsätzlich um ihren Kredit gebracht. Die Fachleute des IWF, die die zerrütteten Staatsfinanzen und die staatliche Wirtschaftspolitik längst nicht bloß ideologisch, sondern auch praktisch unter Aufsicht haben, erklären sich für unfähig, dem Land noch Rezepte und Wege für seine wirtschaftliche Wiedergesundung anbieten und auferlegen zu können:

„Mit Rücksicht darauf, daß sie Italiens politische Zukunft nicht mehr einschätzen und damit auch ihre Auswirkungen auf die Staatsfinanzen nicht bewerten können, haben die Inspektoren des IWF nach ihrer Prüfung in Rom diesmal keine konkreten Zahlen für eine nach ihrer Ansicht schon jetzt unvermeidbar erscheinende weitere Korrektur des Staatshaushalts genannt… Auf Grund dieser Unsicherheiten stellen der Wiedereintritt in den europäischen Wechselkursmechanismus und die damit verbundene Festsetzung einer Parität derzeit keinen gangbaren Weg dar“ (HB 16.12.94)

Diesen Befund nimmt sich die italienische Öffentlichkeit zu Herzen; ist er doch der schlagende Beweis dafür, daß eine eigentlich gesunde nationale Wirtschaft durch das Fehlen einer gesunden politischen Führung immer weiter in den Ruin getrieben wird: Der wirtschaftliche Verfall Italiens beruht auf Unfähigkeit des regierenden Herrschaftspersonals, Ordnung in den Staatshaushalt zu bringen, für einen glaubwürdigen Abbau der Staatsverschuldung zu sorgen und dem heimischen Kapital die nötigen Handlungsfreiheiten und Kreditmittel zu dekretieren; statt mit der fälligen Sanierung befassen sich die neuen Politiker mit der Fortsetzung des alten politischen Intrigenspiels, was sich im fortgesetzten Vertrauensverlust der Lira niederschlägt.

Tatsächlich aber exekutiert der Befund, die Lira müsse für die als instabil eingeschätzten innenpolitischen Verhältnisse büßen, ein etwas anderes Verhältnis zwischen Politik und Ökonomie. Daß die Stabilität einer nationalen Herrschaft zum allein ausschlaggebenden Indikator und Maßstab dafür wird, was sich mit einem dieser Staatsgewalt unterworfenen Land wirtschaftlich anstellen läßt, kennt man eher aus dem Umgang der imperialistischen Welt mit Staaten der Dritten Welt. Solche Staaten haben keine eigenständige nationale Ökonomie außer dem, was sich dort an Rohstoffen abholen läßt; für die Garantie des Abtransports ist dann verläßliche Gewalt vor Ort erfordert. Wo, wie bei Rußland, jeder Kredit und jede Investitionsbereitschaft an den Beweis geknüpft wird, ob die Regierung, in diesem Fall Präsident Jelzin persönlich, noch für einen Rest verläßlicher staatlicher Hoheit und politischer Stabilität einstehen kann, ist das ein vernichtendes Urteil über das, was in den Grenzen des Landes wirtschaftlich noch läuft und was es als Anlagesphäre an Geschäftsgelegenheiten und -sicherheiten zu bieten hat; konsequent bleiben deshalb auch die versprochenen Kredithilfen und die ausländische Geschäftswelt aus.

So weit ist es in Italien noch lange nicht gekommen. Aber soweit schon, daß das Land, immerhin Mitglied der G7-Gipfel, also eine führende Industrienation, in der weiterhin wie zu ihren erfolgreicheren Zeiten gearbeitet, produziert, gehandelt und spekuliert wird, mißtrauisch auf seine politische Stabilität befragt wird, wenn seine ökonomische Potenz begutachtet wird. Und das heißt allemal, daß diese Nation das weltweite Vertrauen in ihre Geschäftsfähigkeit ziemlich grundsätzlich verspielt hat. Italienische Politiker und Wirtschaftsfachleute weisen auf beeindruckende Exporterfolge der letzten Zeit hin, stellen fest, daß der Aufschwung der Weltwirtschaft auch bei der heimischen Produktion angekommen ist und daß die Inflationsrate erst in allerjüngster Zeit wieder merklich zu steigen beginnt, und beklagen ein ungerechtfertigtes Mißverhältnis zwischen den im Grunde gesunden wirtschaftlichen Grunddaten und der Zurückhaltung der internationalen Anleger; die positive Entwicklung der ökonomischen Faktoren wird einfach nicht honoriert, sondern mit viel prinzipielleren Vorbehalten in Frage gestellt.

Darüber radikalisiert sich der Anspruch der betroffenen Nation an die politische Führung, durch überzeugende wirtschaftspolitische Signale bzw. genereller: durch Geschlossenheit und Entschlossenheit des Regierens das Mißtrauen zu zerstreuen, das ökonomisch überhaupt nicht (mehr) gerechtfertigt sei. Das hat in Italien inzwischen sogar zu einer gewissen Entzweiung zwischen politischer Führung und heimischer Kapitalistenklasse geführt.[4]

Mit diesem Streit verwechselt das nationale Gemüt Ursache und Folge und erspart sich die Einsicht in das wirkliche Verhältnis von politischer Gewalt und nationaler Ökonomie gerade dann, wenn es sich – wie in Italien – schlagend aufdrängt. Wenn es einmal so weit gekommen ist, daß der Kurswert der Lira allein deswegen eine weitere Talfahrt antritt, weil sich die Koalitionsparteien in den Haaren liegen, die Fortsetzung der Regierung fraglich wird, der Ministerpräsident zu einem Verhör muß oder die Forza Italia in Regionalwahlen leichte Verluste erleidet, dann beweist das nur eines: die Ohnmacht einer Staatsgewalt, der ihr grundlegendes Herrschaftsmittel – ein schlagkräftiger nationaler Reichtum – nicht mehr zu Gebote steht. Wo eine Staatsgewalt den Rechten und Ansprüchen der vorhandenen und allseits gewürdigten Wirtschaftspotenz ihrer Nation Geltung verschafft, diese darüber mehrt und damit zugleich laufend das Geschäftsinteresse der weltweit tätigen Multis auf sich zieht, da wird die Führungsstärke und Sachkompetenz eines Kohl allenfalls in Wahlgängen auf die Probe gestellt. Wo jedoch die Regierungsgewalt durch ihr entschiedenes Handeln die verloren gegangene materielle Basis der Staatsmacht ersetzen soll, kann sie sich nur blamieren. Das bleibt dann auch für sie selbst nicht ohne Folgen. Der Versuch, durch Beweise politischer Führungsstärke und durch entschiedene Verarmung des Volkes der Lira zu neuer Glaubwürdigkeit zu verhelfen, die sie aus sich heraus nicht mehr besitzt – statt mit der Härte der DM rücksichtslos Politik zu machen –, läßt das Regierungspersonal schlecht aussehen. Es greift das Innenleben der nationalen Macht selbst an und zehrt an den bisherigen Verläßlichkeiten des politischen Lebens.

In Wirklichkeit hat es die italienische Führung gar nicht in der Hand, den bemerkten ökonomischen Notstand mit den gängigen Methoden nationaler Wirtschaftspolitik und schon gar nicht mit bloßen Demonstrationen neuer nationaler Entschlossenheit rückgängig zu machen. Was die Staatsverschuldung zu einer Dauerbelastung hat werden lassen und die Lira notleidend gemacht hat, ist nämlich gar nicht dieser oder jener grundsätzliche politische Fehler, ist auch nicht einfach eine grundsätzliche Rückständigkeit der italienischen Wirtschaft oder ein genereller Mangel Italiens als konkurrenzfähiger Kapitalstandort, sondern eine Änderung der weiteren, europäischen Geschäftsgrundlagen Italiens: die geänderte Bewertung, die Italien als Wirtschaftsstandort der EU und die Lira als Element der projektierten europäischen Gemeinschaftswährung erfahren hat. Italien, dessen nationaler Wirtschaftserfolg der letzten Jahrzehnte wie dessen Währung darauf beruht hat, daß es mit seinem nationalen Kapital, als Markt, als Exporteur, Finanzplatz und Anlagesphäre nicht unwesentlicher Teil des europäischen Wirtschaftsblocks gewesen ist, zu dessen Fortschritten beigetragen und an ihnen partizipiert hat, ist seines ökonomischen Kredits bei diesen Instanzen verlustig gegangen. Und das nicht als langsame Reaktion der ausländischen Geschäftspartner und Geldmärkte auf einen durch verfehlte nationale Wirtschaftspolitik hervorgerufenen Verfall des heimischen Wirtschaftslebens, sondern als Ergebnis eines Beschlusses der EU-Gemeinschaft, den bisherigen Beitrag der Lira-Geschäfte zum gemeinsamen Erfolg als Last zu behandeln, der die angestrebte Vollendung Europas zum alternativen Weltmarktblock mehr behinderte als beförderte. Entschieden wurde in Maastricht, bis auf weiteres nicht mehr mit dem europäischen Währungsverbund für den Geldgehalt der Lira einzustehen und den für Europa erfolgreich gelaufenen Geschäftsverkehr mit Italien diesem Land als seine Staatsverschuldung, mit der es jetzt allein zurechtkommen sollte, zu überantworten. Damit wurde die bisherige Gepflogenheit prinzipiell in Frage gestellt, den unterschiedlichen ökonomischen Ertrag der am europäischen Wirtschaftsblock beteiligten Nationen und die negativen Wirkungen auf die Nationalkredite der weniger erfolgreichen Nationen durch ein festes, mit auswärtigen Kreditgarantien ausgestattetes Währungssystem aufzufangen.[5]

Das hat die Lira schlagartig um 20 Prozent entwertet, den Nationalreichtum, also auch die Geschäftsfähigkeit Italiens entsprechend verringert und der Nation die Konsequenzen des geänderten Europaprogramms der EU als nationales Gesundungsprogramm aufgebürdet: Italien sollte sich aus eigener Kraft sanieren und sich damit für den Wiedereintritt in den europäischen Wirtschaftsblock qualifizieren. Zugleich haben die europäischen Partner mit ihrer Abwertung der Wirtschaftskraft Italiens und dem Entzug weiterer ‚Hilfe‘ die Mittel zur „Sanierung“ entscheidend beschnitten. Seitdem dieses Urteil feststeht und exekutiert wird, ist der Nation eingefallen, daß sie gar nicht über ein blühendes Wirtschaftsleben verfügt hat, sondern immerzu Opfer einer korrupten Staatswirtschaft geworden war. Mit dieser Auffassung findet sie auch auswärts allseits Zustimmung. Heute lauten die Berichte über den ökonomischen Zustand der siebtgrößten Wirtschaftsmacht auf dem Weltmarkt folgendermaßen:

„Mit 2.000.000.000.000.000 Lire in der Kreide
Die italienische Staatsschuld ist über die Reizschwelle von 2000 Billionen L. (rund 2000 Mrd. DM) hinausgewachsen. Die Zahl ist mit abstrakten Kriterien nur schwer zu fassen. Aufschlußreicher sind internationale Vergleiche: Die in konvertibler Währung definierten Ansprüche an den italienischen Staat sind etwa dreimal so groß wie die Hartwährungsschuld ganz Lateinamerikas und erreichen zwei Drittel des Wertes der gesamten Drittwelt-Schuld dieses Planeten. Im Rahmen der wichtigsten Industrienationen hat das Land mit 35 Mio.L. die größte Pro-Kopf-Verschuldung und mit 123% die ungünstigste Relation zwischen Schuld und Bruttoinlandsprodukt…Dabei sind in der offiziellen Rechnung Italiens nicht einmal alle Schuldenelemente enthalten. Würden auch die absehbaren, letztlich vom Staat zu begleichenden Nettoansprüche gegenüber öffentlichen Wirtschaftsunternehmen und Vorsorgeeinrichtungen mitgerechnet, müßten die Vergleichszahlen schlicht verdoppelt werden… Italien entfernt sich immer mehr von den Sollvorgaben für die Währungsunion (WWU). Der Schuldenanteil am BIP ist im Vertrag von Maastricht nicht zufällig auf 60% fixiert worden…Es sind nunmehr schon Jahre, daß Italien mit schmerzhaften Sparprogrammen im Haushalt Primärüberschüsse erkämpft, die durch die Zinszahlungen auf der Schuld dann aber immer weit übertroffen werden…Rund ein Drittel der laufenden Staatsausgaben muß bereits zur Bedienung der Altschuld verwendet werden. Die Höhe des Zinssatzes für Staatsschulden hängt vom internationalen Zinsniveau…und in zweiter Linie von den länderspezifischen Überhöhungen ab. Das erste kann von Rom kaum beeinflußt werden, und das zweite – die Zulage für das „Risiko Italien“ – hat sich seit Silvio Berlusconi für die Regierungsgeschicke verantwortlich zeichnet, massiv verschlechtert. Die Märkte trauen der Römer Regierung immer weniger über den Weg. Sie zweifeln an der Verbesserung der Haushaltsperspektiven und erwarten weitere Kapitalabflüsse und damit auch neue Lira-Schwächen“. (NZZ 11.12.94)

Was den Journalisten der „Neuen Züricher“ wie jeden bürgerlichen Kopf am meisten beeindruckt, ist die unvorstellbare Zahl, in der sich die negative Bilanz der Industrienation Italien saldiert. Einmal so betrachtet, kämen auch für die USA oder für Deutschland ähnlich faszinierende und erschütternde Zahlengrößen zustande. Was den Witz dieses Zahlenwerks ausmacht, ist etwas anderes. Die italienische Währung unterliegt dem Urteil, ein – im Vergleich mit den Nationalkrediten von Wirtschaftsmächten wie Deutschland – unbrauchbares Bereicherungsmittel zu sein; deshalb fällt dem Journalisten bei einer bisherigen Hauptnation der imperialistischen Welt der Vergleich mit Südamerikas Schuldenlast ein. Und er kann sich dabei auf glaubwürdige Zeugen berufen. In Form solcher Zahlenwerke, die – im Vergleich mit anderen Nationen, deren wachsende Staatsverschuldung als verhältnismäßig solide gilt – ein beunruhigendes Mißverhältnis zwischen Staatsschuld und Umfang des nationalen Wirtschaftslebens registrieren, präsentieren nämlich die zitierten „Märkte“ der italienischen Ökonomie ihr grundsolides Mißtrauen. In Form ihrer eigentümlichen Vergleiche von Wachstumsrate und absoluter Größe staatlicher Defizite im Verhältnis zu Rate und Größe sämtlicher nationaler Wirtschaftsdaten vollstreckt die internationale Finanzwelt das Urteil, daß das geschäftliche Treiben in Italien nie und nimmer mehr für die Bedienung der Staatsschulden geradestehen kann – also das nationale Geld nicht verläßlich ist.

Diese Neubewertung der ökonomischen Qualität Italiens zeitigt die Wirkung, daß die in Lira getätigten Geschäfte inzwischen entsprechend enttäuschend für die Nation ausfallen. Ihres bisherigen Rückhalts durch die Währungsgarantie im europäischen Währungsblock beraubt, verliert die Lira schrittweise immer mehr von ihrer einstigen nationalen und internationalen Kaufkraft und Kreditwürdigkeit, ohne sich in ihrem Währungsverfall durch die gelungene Säuberung der politischen Landschaft und durch die Sanierungsmaßnahmen, mit denen die neuen politisch Verantwortlichen Italien wieder zu Wirtschaftserfolgen verhelfen wollen, beeindrucken zu lassen. Die internationale Geschäfts- und Finanzwelt, bisheriger Lira-Garantien beraubt, vermißt prompt auch noch die früher konstatierte relative Brauchbarkeit Italiens für ihre produktiven, vor allem aber spekulativen Geschäfte; und diese wahrgemachte Einschätzung verurteilt alle Versuche, den Kurs der Lira zu halten und die heimische Ökonomie zu sanieren, zu weiteren Belegen für die Unbrauchbarkeit der Lira als Geschäftsmittel.

Dabei haben sowohl Berlusconi wie sein Amtsvorgänger Ciampi alles getan, um dem nationalen und internationalen Kapital neue geschäftliche Freiheiten im Umgang mit der italienischen Arbeiterklasse zu verschaffen, und haben die tätige Mithilfe der Bevölkerung eingespannt und ausgereizt, um die Geldnöte des Staatssouveräns zu verringern.[6] Am Lebensniveau des Volkes zu sparen und es landesweit zu verarmen, indem es für die Sanierung des Staatshaushalts in Anspruch genommen wird, ist eine der leichteren Übungen, mit denen Politiker in Italien wie anderswo ihre Sachkompetenz und ihre Wirtschaftsverantwortung unter Beweis stellen können. Für diesen beabsichtigten Zweck haben die Steuererhöhungen, Abgaben auf Grund und Boden, Kürzungen von Rentenansprüchen und Einsparungen im Gesundheitswesen und beim Sozialen diesmal aber nur wenig gefruchtet. Der gute Wille, 50 Mrd. an Ausgaben im Staatsetat einzusparen, – das sah das durch die Regierungskrise jetzt erst einmal auf Eis gelegte Finanzgesetz vor –, wurde nicht honoriert. Wenn die Staatsschuld erst einmal als Ausweis einer umfassenden Misere der Nationalökonomie aufgefaßt wird, dann beweisen solche „halbherzigen“ und „im Sande verlaufenden“ Sanierungsversuche für die kundigen Beobachter eben nur die Unmöglichkeit oder Unfähigkeit, die auf Italien lastende Staatsschuld auf diese Weise durchschlagend zu verringern.

Der italienische Nationalkredit bekommt also zu spüren, daß Staatsverschuldung und Staatsverschuldung nicht das gleiche sind. Wenn Deutschland seinen Staatskredit wie zur Zeit immens aufbläht, fragt kaum jemand ernsthaft danach, ob die sich rapide vermehrenden Kreditzettel durch die Produktionsergebnisse seiner nationalen Industrie, durch wachsende nationale Wirtschaftsleistungen gerechtfertigt sind, oder ob durch solche Wechsel auf künftiges Wachstum nicht das nationale Geld grundunsolide wird. Deutschland und seine DM haben Kredit, allein deshalb, weil hinter diesem Geld die größte und schlagkräftigste kapitalistische Wirtschaftsmacht steht; jede durch die staatliche Finanzhoheit in die Welt gekommene DM wird deshalb erst einmal als ein zusätzliches Geschäftsmittel begriffen, dessen sich national wie international bedient, auf das von den Finanzkapitalisten spekuliert wird. Wo die Regierung Kohl ihr Volk verarmt, wird das als die Standortpflege gewürdigt, mit der Deutschland seine Exporterfolge und seine dominierende Stellung in Europa und auf dem Weltmarkt sichert und ausbaut – so und (solange) erhält und vermehrt sich das Vertrauen aller Welt in die DM als Weltgeldkonkurrent des Dollar.

Der italienische Staat dagegen hat die Freiheit verloren, sich in der Gewißheit, über eine in aller Welt geschätzte nationale Währung zu verfügen, verschulden zu können. Nachdem die bisherigen Garantien und verläßlichen Einsortierungen im Rahmen der EU zweifelhaft geworden sind, kämpft er vielmehr um den Status eines zuverlässigen Schuldners und scheitert laufend daran wegen des ausbleibenden Wachstums, das wachsende Staatsschulden erst recht unvermeidlich macht. Wenn die italienischen Regierungen ihre Hoheit primär dafür einsetzen, neue Kreditzettel und Staatsanleihen in die Welt zu setzen, dann nicht, weil sie nicht zu sparen verstünden – das macht sowieso kein Staat –, sondern weil sie nicht mehr über einen frei kalkulierbaren Staatshaushalt, also über die Freiheit verfügen, die erforderlichen Aufgaben und Ausgaben so zu finanzieren, daß die staatlichen Schulden in einem für normal angesehenen Verhältnis zum Geschäftswachstum in der Nation und zu den staatlichen Einnahmen daraus wachsen. Statt daß die Einnahmen wachsen, die Schulden wieder einmal etwas abnehmen und sich die Währung stabilisiert, erfordern der Wertverfall der Lira und die Bedienung der alten Schulden quasi automatisch laufend neue Staatsschulden. Alle staatlichen Haushaltsansätze erweisen sich bereits als Makulatur, bevor sie überhaupt verabschiedet worden sind.

Allein für den aufgelaufenen Schuldenberg und seine Bedienung muß der italienische Staat inzwischen laut Auskunft der Wirtschaftsfachleute jährlich 600 Mrd. DM an Staatstiteln an den Mann bringen. Die Antwort des Geldmarkts auf die staatliche Schuldenklemme läßt nicht auf sich warten: Der Staat hat Mühe, für seine neu aufgelegten Titel überhaupt Nachfrage zu finden. Das hat gravierende Folgen. Um seine Papiere loszuschlagen, muß er den Geldmärkten einen Risikoaufschlag anbieten; die italienischen Zinsen stehen um rund 5% über dem deutschen Zinsniveau – mit den entsprechenden Folgen für das heimische Kapital. Ausländische Investitionen gehen zurück und zu dem immer schon üblichen Brauch der Steuerhinterziehung seitens derer, die über Geld verfügen, beklagt die Nation seit neuestem Kapitalflucht in großem Maßstab. Selbst die italienische Bevölkerung, die bislang in kurzfristigen Staatstiteln gespart hatte, zeigt sich mehr und mehr unempfindlich für dieses Staatsangebot. Der Versuch der Regierung, die einjährigen Staatsschuldscheine unter der Hand in zehnjährige zu verwandeln, um sich zumindest an dieser Front eine Erleichterung beim Schuldendienst zu verschaffen, hat wenig vertrauensstiftend gewirkt. Inzwischen plaziert der italienische Staat Schuldentitel zunehmend in ausländischen Währungen. Mit der Zustimmung der entsprechenden Nationalbanken legt er DM- und Yen-Anleihen auf, muß sich also immer mehr bei anderen Nationen verschulden und von deren wirtschaftspolitischen Berechnungen abhängig machen, um seinen Haushalt zu finanzieren. Die fällige Zinsen muß er dann in Devisen oder mit neuer Verschuldung bei den Staatsgläubigern bezahlen; die Lira wird dadurch schon wieder ein Stück mehr zum untauglichen Mittel der Bereicherung und durch auswärtige, „sichere“ Anlageobjekte ersetzt.

Italiens Staat ist also im Grunde bankrott und die Quantität und Qualität seiner Staatsverschuldung verurteilt auf Dauer jeden Versuch zum Scheitern, mit den gängigen Methoden staatlicher Haushalts- und Finanzpolitik – Beschränkung des Schuldenwachstums, Durchsortierung der staatlichen Aufgaben nach „produktiven“ und „unproduktiven“, Standortförderungsmaßnahmen, Steigerung der Staatseinnahmen – den Staat wieder auf ein Wachstum des privaten Reichtums und auf einen wachsenden staatlichen Ertrag daraus zu gründen: Sein nationales Geld versagt der Geschäftswelt die einschlägigen Dienste, die versagt deshalb dem Staat die ausgiebige Benutzung seines Staatskredits als Mittel produktiver und spekulativer Geschäfte; so entwertet sich laufend die staatliche Geldhoheit. Insgesamt ein klassischer Fall, in dem ein Land dieser ökonomischen Bedeutung sich nur noch durch eine radikale Entschuldung, durch einen tiefgreifenden Währungsschnitt, der rücksichtslos nationalen Reichtum entwertet, wieder Luft verschaffen könnte. An die Möglichkeit einer Währungsreform denkt in Italien freilich niemand. Das wäre nämlich das wahrgemachte Eingeständnis, damit erst einmal aus dem Kreis der wirtschaftlich bedeutenden Nationen ausgeschieden zu sein, zu denen Italien gehört und gehören will – und das macht eine Nation dieses Kalibers nur gezwungenermaßen, wie damals Nachkriegsdeutschland, dem mit dem Marshallplan zudem Dollargarantien gewährt wurden.[7]

Umgekehrt wäre mit einem solchen Schritt der Reichtum einer der wenigen Weltwirtschaftsmächte nicht nur mit einem Schlag im Land entwertet, sondern vor allem auch bei den anderen, den Gläubiger-Nationen, die die gewaltig aufgelaufenen Lira-Ansprüche als Positiva in ihren Wirtschaftsbilanzen verbuchen und zur Grundlage ihrer Kreditschöpfung gemacht haben. Außerdem würde Italien als Teil des europäischen Marktes, als Ansammlung von Zahlungsfähigkeit, als Anlagesphäre und Heimat von internationalen Anlegern rigoros beschnitten: als solches ist es nämlich durchaus noch gesamteuropäisch, insbesondere für deutsches Geschäft nützlich und verplant. Das ließe die Kreditfähigkeit der den Weltmarkt bestimmenden Hauptnationen nicht unberührt, würde also unmittelbar die Gefahr eines Zusammenbruchs des internationalen Spekulationsüberbaus provozieren. Für den europäischen Wirtschaftsblock, insbesondere für seine Führungsmacht Deutschland würde die schlagartige Entwertung und Brachlegung großer Teile der italienischen Ökonomie, die ein integraler Bestandteil seiner Wirtschaftsgröße ist, das Ende der imperialistischen Großmachtträume heraufbeschwören. Also kommt auch von den Gläubigernationen niemand Italien mit der Forderung, einen staatlichen Offenbarungseid zu leisten. Der steht zwar laufend auf der Tagesordnung, sein Nichtvollzug wird aber von aller Welt bis auf weiteres geduldet und erwünscht. Deshalb sieht es dann doch immerzu noch so aus, als hätten sich nur die Wirtschaftsdaten Italiens auffällig verschlechtert. Das gibt Italien Halt, macht aber seine Lage andererseits auch so unhaltbar. Der Beschluß, an dem der Fortgang des bisherigen Wirtschaftslebens Italiens hängt, – Italien weiterhin wie ein im Prinzip normales. geschäftsfähiges Führungsmitglied der EU zu behandeln – ist nämlich gänzlich unabhängig vom Willen der nationalen Politiker und deren erfolgreichem oder ruinösem Wirtschaftsgebaren. In deren Bemühungen, politische Autorität und wirtschaftspolitische Entschlossenheit zu demonstrieren, findet dieser Beschluß höchstens sein Material, darin hat er aber nie und nimmer seinen Grund; der liegt außerhalb – in den Berechnungen der führenden Weltwirtschaftsmächte.

Die neue Unregierbarkeit

An der politischen Zuverlässigkeit des Südstaates der EU jenseits der Alpen lassen Italiens Politiker nicht zweifeln. Weiterhin wird dort für den Weltmarkt kapitalistisch gearbeitet und produziert; was darüber zustandekommt, ist Bestandteil des europäischen Marktes. Das war und bleibt die Grundlage des außenpolitischen Gewichts dieser NATO-Nation, das sie sich seit ihrer faschistisch verschuldeten Niederlage wieder errungen hat. Auch wenn die Nation die negativen Folgen dieser Abhängigkeit jetzt zu spüren bekommt, werden keine Stimmen laut, die das Ende dieser Einbindung in die Weltgemeinschaft verlangen. Um sich das Vertrauen bei den EU-Partnern wieder zu verdienen, setzt die Politik auf nationale Standortpflege und saniert den Staatshaushalt von Kosten, die einstmals zur staatlichen Pflege des Volkskörpers fest eingeplant waren. Das tut einerseits seine Wirkung – den Bürgern Italiens wird das Zurechtkommen in ihren Lebensverhältnissen sichtbar erschwert; andererseits gelingt die Anstrengung, darüber die Glaubwürdigkeit und die vergangene Größe dieser Nation wiederherzustellen, ganz und gar nicht.

Das wirft ein schlechtes Licht auf die Macht der neuen nationalen Regenten. Mit dem sichtbaren Mißerfolg der Nation machen die Parteien Politik und weisen sich wechselseitig die Schuld dafür zu. Weil dieser Mißerfolg allen politischen Wechseln zum Trotz bleibt, wird der Verdacht mehr und mehr unabweisbar, daß nicht bloß die beseitigten Träger der „partitocrazia“ schuld waren, sondern irgendwie die gesamte politische Verfaßtheit Italiens das Übel ist. Diese Kritik wird den Machtträgern nicht durch eine Massenbewegung von unten entgegengehalten, sondern von den für die staatliche Machtausübung Zuständigen selbst aufgebracht. Das strapaziert die demokratischen Verkehrsformen der Politik und den institutionellen Rahmen wie die Verläßlichkeit der demokratisch organisierten Gewaltausübung. Zu viele Retter der um ihren Kredit gekommenen Staatsgewalt stehen sich gegenseitig im Weg, die sich mit dem Gewicht ihrer Amtsbefugnisse, ihrer Machtpositionen und ihrer Wahlermächtigung gegenseitig traktieren. Die Austragung dieses Streits, der um die Wiedergewinnung der vollen Staatsautorität und ihrer ungeteilten Machtbefugnis geht, stößt an die Grenzen der demokratischen Parteienlandschaft, deren Vertreter sich selbst wechselseitig verdächtigen, eben doch nur Parteien zu sein, die ihre Interessen vor die Nöte der Nation stellen. Entsprechend fällt die innenpolitische Streitkultur aus. Das allen Parteien gemeinsame Bedürfnis nach neuer Stabilität des Regierens betätigt sich in einer Parteienkonkurrenz, die weniger auf das geregelte Miteinander von Regierung und Opposition und mehr auf ein Ausschlußverfahren zielt. Das beißt sich mit den Mitteln, die das demokratische Procedere zur Verfügung stellt.

Nur: Aus der einen, demokratisch organisierten, Welt will sich in Italien niemand verabschieden.[8] Die Herrschaftsmethode, die die Handlungsfähigkeit der staatlichen Machtausübung keiner größeren Belastungsprobe aussetzt als den durch Wahlen erfolgten Austausch des Regierungspersonals, wird nicht gekündigt. Mit ihr und in ihr soll ein unerträglicher Zustand des politischen Gemeinwesens behoben werden, der an letzte politische Machtfragen rührt, weil zur Behebung des eingerissenen Staatsnotstands nicht demokratische Verwaltungsroutine an der Staatsspitze, sondern die Rettung der Nation angesagt ist. Eine starke Hand, die mit uneingeschränkten Gewaltvollmachten das Land führt, ist gefragt; eine Staatsgewalt, deren Rettungsgeboten der Gehorsam an keiner Stelle verweigert werden darf; deren erste Gewaltaufgabe also darin besteht, die im Ränkespiel der vergangenen Politik abhanden gekommene Einheit der Nation wiederherzustellen.

Oben und unten sind sich die italienischen Nationalisten in dem Befund einig geworden, daß die gründliche Niederlage ihrer Nation durch die Abwesenheit einer machtvollen Staatsautorität zugefügt wurde; darin unterscheiden sie sich in nichts von den Nationalisten aus aller Herren Länder. Die Methoden zur Behebung des Staatsnotstands, zu denen die politischen Kräfte Italiens greifen, haben allerdings ihre Eigenheit. Für den schlimmsten aller Fälle sorgt die demokratische Staatsgewalt normalerweise mit Notstandsgesetzen vor; ansonsten steht längst vor dem Amtsantritt eines neuen Regierungschefs alles fest, was der demokratischen Herrschaft stabiles Regieren ermöglicht und ihren Untertanen eine lebendige Demokratie beschert: Die Staatsraison, aus der sich Zwecke wie Ziele des Regierungsprogramms wie von selbst ergeben; die materiellen Mittel, dessen sich die Staatsgewalt für deren Durchsetzung bedienen kann; der Machtapparat wie die einander zuarbeitenden Organe der staatlichen Gewaltenteilung, die für die Gültigkeit der angemeldeten Regierungsnotwendigkeiten landesweit sorgen; und Parteien, die sich im Wechselspiel von Regierung und Opposition einander ablösen. Das ist alles in Italien, das sich durch einen Aufbruch aus alten verkommenen politischen Verhältnissen erneuern will, durcheinander gekommen. Die Rettung aber soll ohne Staatsnotstandsmaßnahmen im Rahmen der überkommenen Herrschaftsverhältnisse angestrebt werden und gelingen. Das ist ein ziemlich unlösbarer Widerspruch, der Folgen zeitigt.

Berlusconi setzt neue Maßstäbe und scheitert an ihnen

Der Wunsch nach einem charismatischen Führer, der in seiner Person die staatliche Autorität zu neuer Machtvollkommenheit führt, ist in Italien aufgekommen und bedient worden. Berlusconi hat seine Wahlstimmen mit dem Bonus gesammelt, daß er ein neuer Mann sei, über den Parteien und außerhalb der verrotteten Politikerklasse stehend, von deren nationaler Mißwirtschaft sein Unternehmererfolg überzeugend absticht. Seinen Einstieg ins politische Leben gestaltete Berlusconi in demonstrativer Abkehr von den Gepflogenheiten, mit denen die italienischen Parteien bisher um die Regierungsvollmacht konkurriert haben. Sein Wahlunterstützungsverein, den er ins Leben gerufen hat, ist keine Partei im üblichen Sinn. Die Forza Italia ist bis heute eine Bewegung, deren Anhänger allein der Wunsch ‚Berlusconi an die Macht!‘ eint; der politische Kern dieser Bewegung, die Getreuesten der Getreuen, sind die Führungsetage des Fininvest-Konzerns. Diese ganz auf die Person zugeschnittene Organisation macht den unbedingte Führungswille Berlusconis zum einzigen Inhalt des Parteilebens und dokumentiert das Interesse, die Verkehrsformen des bisherigen Parteienlebens zu überwinden. Den Schein eines Parteiprogramms, das noch mehr als den volkstümlichen Ruf ‚Italien vor!‘ enthält und auf parteipolitische Unterscheidbarkeit angelegt ist, hat Berlusconi erst gar nicht aufkommen lassen. Das haben ihm die Wähler honoriert.

Ins Amt gekommen, hat er das Versprechen auf die starke Amtsführung durch persönliche Tatkraft dann doch nicht einlösen können. Sein Regierungsgenosse Bossi hat das in dem Maße durchkreuzt, in dem Berlusconi sich durch die Koalition und in ihr das Führungsmonopol sichern wollte. Statt dem Führer der Lega Nord den Stuhl vor die Tür zu setzen, hat er mit ihm ein koalitionstaktisches und öffentliches Hickhack veranstaltet, also nach allen bekannten und verurteilten Unarten des Koalitionsschachers regiert; und damit dem italienischen Volk ein erneutes Schauspiel des sattsam bekannten Politikergezänks auf oberster Stufe abgeliefert. Damit war für eine enttäuschte Öffentlichkeit klar, was Berlusconi bewogen hatte, sich mit Bossi zusammenzutun: pure persönliche Besessenheit, auf Teufel komm raus an die Macht zu kommen, statt – wie versprochen – das redliche Bemühen um die machtvolle Erneuerung der Staatsgewalt und deren autoritäre Führung.

Dieselbe Doppeldeutigkeit bei seinem Rücktritt. Der war ja gar nicht als Abdankung von der Macht gemeint, sondern als Fanal, als Bekräftigung des Anspruchs, allen Koalitionsquerelen und parlamentarischen Intrigen zum Trotz jetzt erst recht zum Regieren berufen zu sein, also auch ein Anrecht auf entsprechende parlamentarische Schritte für seine neuerliche, endlich unbestrittene Einsetzung in die höchste Verantwortung zu haben. Die banale Umsortierung der Mehrheitsverhältnisse im Parlament und die Sturheit des Staatspräsidenten haben Berlsuconi dann doch kläglich scheitern lassen. So in seinem Führungsanspruch beschädigt, baute Berlusconi sich dann wieder in staatsmännisch beleidigter Pose vor dem italienischen Volk auf und erinnerte es daran, daß mit seiner Amtseinsetzung ein Bruch mit solchen parlamentarischen Unsitten vollzogen sein sollte: eine wirkliche Ermächtigung sollte sie gewesen sein, die Schluß machte mit unverbindlichen Urnengängen und gewohntem Parteienhickhack und Koalitionsgerangel. Mit der Wahl vom vergangenen März hätte das italienische Volk ihm persönlich einen uneingeschränkten Machtzuschlag erteilt, der ihm durch kein demokratisches Procedere und durch kein Parteiengekungel wieder entzogen werden könne. Berlusconi klagte rückwirkend die ihm – per Wahl! – übertragenen notstandsmäßigen Vollmachten ein, von denen er im Amt gar keinen imponierenden Gebrauch gemacht hatte; noch nicht einmal seine ganz gewöhnliche Absetzung hatte er ja verhindern können:

„In einer teilweise direkt übertragenen Sendung entlud er seinen ganzen Haß auf den Widersacher Bossi, sprach jeder anderen Regierungskoalition die Legitimität ab und forderte die Italiener auf, im Falle eines Erfolgs seiner Gegner so lange für Neuwahlen zu demonstrieren, bis dem Präsidenten der Republik nichts anderes übrigbleibe, als sie durchzuführen. Damit bewegt sich der Ministerpräsident, der offenbar nicht mehr an ein Überleben im Parlament glaubt, auf Messers Schneide zwischen Legalität und Verfassungsbruch.“ (NZZ 19.12.94)
„Am 27 und 28. März haben die Italiener, die vorher immer für eine Liste der Parteien in einem Verhältniswahlrecht gewählt hatten, in einer direkten Konkurrenz sich für einzelne Kandidaten entschieden und haben der politischen Koalition, die sich um die Regierung des Landes beworben hat, ein klares Mandat ausgestellt. Dieses Resultat kann nicht mehr rückgängig gemacht oder geraubt werden, was auch freiwillig vom Staatspräsidenten erklärt worden ist.“ (Berlusconi, Repubblica 11.1.95)
„Wenn der Verrat sich vollzieht, werden wir schweigend Stunden um Stunden durch die Straßen ziehen, um zu zeigen, auf welcher Seite Italien steht. Mit unserem Votum wollen sie genau jene Regierung der Unfreiheit möglich machen, gegen die wir ins Feld gezogen sind.“ (Berlusconi an sein Volk, FAZ 21.12.94)

Mangels Masse ist der „Marsch auf Rom“ dann doch unterblieben, der nichts Größeres durchsetzen sollte als möglichst baldige Neuwahlen. Das gegenüber seinen Politikern anspruchsvoller gewordene italienische Volk läßt sich eben nicht so einfach funktionalisieren, wenn es den Verdacht nicht ausgeräumt bekommt, auch ein Berlusconi würde nur an seinem Regierungssessel kleben.

Die Säuberung des Staatsapparats, die Berlusconi schuldig geblieben ist, haben andere, nämlich die Richter der „Mani pulite“ auf ihre Weise umso energischer betrieben und haben dabei auch nicht Halt vor dem Ministerpräsidenten gemacht. Mit diesem Gegner hat sich Berlusconi einen veritablen Machtkampf geliefert, mit dem vollen Recht seiner Amtsgewalt, die durch strafrechtliche Angriffe auf seine Person in Mitleidenschaft gezogen wird. Daß ein Unternehmer, dessen Geschäftserfolge auf das alte System zurückgehen, in dessen Beziehungsgeflecht zwischen Geschäft und Politik verwickelt ist, das jetzt als Verbrechen entlarvt wird, ist die eine Seite. Daß die Justiz aber aus nationaler Verantwortung ihre staatliche Neutralitätspflicht in den Wind schlägt und gegen die Staatsspitze strafrechtlich vorgeht und damit aus eigener Befugnis Politik macht, ist die – ungewöhnliche – andere Seite. Das konnte einer, der Italien retten und deshalb alle Macht auf sich vereinen will, eigentlich nicht zulassen. Der angegriffene Berlusconi hat es aber mit seiner ganzen Regierungsgewalt nicht unterbinden können. Statt die Richter mit ihren ausgreifenden Kompetenzen zur Verfolgung des ‚alten politischen Sumpfs‘ in die nach Regierungsauffassung gebotenen Schranken gegenüber den ‚neuen‘ Politikern zu verweisen, hat sich sein Machtkampf in Versuchen erschöpft, selbst ins Rechtsgeschehen einzugreifen und den Justizapparat durch Leute seines persönlichen Vertrauens zu erweitern.[9] Das politisiert die Justiz erst richtig; jetzt stehen in ihr Berlusconi-Anhänger und -Gegner einander gegenüber. Damit wird sich aber auch die Öffentlichkeit sicher: Berlusconi, der nur in die Politik gegangen ist, um den anstehenden Konkurs seines Fininvest-Konzerns zu verhindern, versucht aus persönlichen Motiven den Lauf der Gerechtigkeit aufzuhalten.

Öffentlich am meisten angekreidet wird dem Medienzar Berlusconi, daß er neben seinen Privatsendern auch das öffentlich-rechtliche Staatsfernsehen RAI zum Sprachrohr seiner Politik zu machen versuchte, indem er dessen Leitungspersonal durch Leute seines Vertrauens ersetzte. Der Wille zur Gleichschaltung der italienischen Öffentlichkeit im Namen der notwendigen nationalen Einheit war da, aber überzeugend zur Geltung gebracht hat er sich dann doch nicht. Herausgekommen ist letztlich doch bloß eine Art Hausmachtpolitik. Und wenn jetzt die Reichweite des persönlichen Einflusses die durcheinander gekommene Befehlshierarchie im Staatsleben und die verläßliche öffentliche Propaganda für Italiens Regierung ersetzen soll, dann ist das freilich auch nicht das tatkräftige und überzeugende Regieren, das die Wähler mit der Person Berlusconi verbunden hatten. Vielmehr bemerkt die enttäuschte Nation an diesen Aktivitäten, daß Berlusconi nicht über dem verderblichen Parteienschacher steht und ihn qua Regierungsgewalt erledigt, daß er die Staatsgewalt nicht von diesen inzwischen allgemein als eine einzige Fessel angesehenen demokratischen Gepflogenheiten befreit, sondern sie nur noch weiter in die Parteienkonkurrenz hineingezogen hat – aus persönlichem Machtegoismus.

Die Parteien Italiens kennen nur noch die Rettung der Nation – darüber löst sich die Parteienlandschaft auf

Immerhin hat das Vorbild Berlusconi politisch stilbildend gewirkt. Das Bedürfnis nach einem charismatischen Führer mag Berlusconi für einen Großteil der Wähler enttäuscht haben; das Bedürfnis selbst hat als Maßstab, an dem sich die von allen erhoffte Erneuerung Italiens bemißt, nur an Dringlichkeit gewonnen. So viel an Führungsqualität haben Berlusconi und der ihn taktisch und inhaltlich unterstützende Fini ja durchaus ausgestrahlt, daß die von Berlusconi ausgegebene Losung „Wer nicht für mich ist, ist gegen Italien!“ die politische Öffentlichkeit weit mehr als zu den verflossenen Zeiten der Ersten Republik polarisiert hat: Die Nation ist entzweit in Berlusconi-Befürworter und -Gegner. Inzwischen können auch die Letzteren auf eine Figur verweisen, die genau wie Berlusconi durch ihre Persönlichkeit eine Konzentration der Staatsgewalt auf das Wesentliche verspricht. Der Mann heißt Prodi, verfügt als langjähriger Wirtschaftsmanager der staatlichen IRI-Holding über die gleichen Unternehmertugenden wie sein Kontrahent und ist wie dieser kein Mitglied der abgewirtschafteten Politikerkaste, steht also mit seiner Person ebenfalls für die Freisetzung des staatlichen Gewaltmonopols aus dem kleinlichen Gezänk und den staatsvergessenen Eifersüchteleien seiner bisherigen politischen Verwalter. Gegen den programmatisch strahlenden Volksführer Berlusconi strahlt Prodi mehr die gebildete Variante des Wunsches nach ordentlicher Staatsautorität aus; zum geistigen Mentor hat er sich Umberto Eco erkoren. Wenn allerdings der Volksmund gefragt würde – was nur in Umfragen geschieht –, dann käme als charismatischer Führer und Erneuerer der Nation nur Di Pietro in Frage, der volkstümliche Rächer an der verlotterten Politikerklasse, die Italien seinen Ruin eingebrockt hat.

Der neue Staatsradikalismus hat die Politiker aller Parteien ergriffen. Das totalitäre Bedürfnis nach einer durch machtvolle Führung verbürgten Einheit der Nation treibt alle vorhandenen Parteien um. Mit diesem Programm machen sie sich voneinander ununterscheidbar. In dem Wunsch nach einer Befreiung der Nation von schädlicher Zerrissenheit entdecken sie einander als Grund der Staatsschwäche und als Hindernis der Staatsrettung. Damit tritt das Ideal der radikalen Erneuerung des Gewaltmonopols nach innen in Widerspruch zur überkommenen demokratischen Verfaßtheit des politischen Lebens.

Die Parteienherrschaft abschaffen will aber niemand. Statt dessen konkurrieren die Parteien darum, sich diesem immer dringlicheren Ruf nach nationaler Führung gemäß zu machen. Sie tilgen ihre bloß parteiliche Programmatik, um sich selbst gegen alle anderen Parteien als die zur Rettung der Nation Berufenen zu profilieren und so qualifiziert Regierungsverantwortung wahrzunehmen. Die von allen angestrebte Einheit der Nation wird zum Kampfprogramm, das die Nation mehr spaltet, als es das Wirken der jahrzehntelang staatstragenden Democrazia Cristiana je vermocht hat mit ihrer Regierungspraxis, die Kommunistische Partei von der obersten Staatsverantwortung strikt auszugrenzen, sich aber – nicht zuletzt zu diesem Zweck – mit ihr als politischer Kraft in Italien zu arrangieren. Heute zeigt der PDS sein linkes Profil durch die hemmungslose Parteinahme für die Klasse Italiens, die keine Klassen mehr gelten läßt. Das ändert nichts daran, daß der rechte Block der Forza und der Alleanza die überholten politischen Ortsangaben zur Scheidelinie erklärt, an der ihr Vernichtungsfeldzug gegen unnationale Elemente stattfindet.[10] Es stehen sich also zwei ausschließende nationale Rettungsprogramme unversöhnlich gegenüber. Während der PDS an den konservativen Bestand der Nation anknüpft und für das Wohl der Nation eine Einheitsfront schmieden will, die niemanden und nichts ausschließt, halten es Berlusconi und Fini mit der Säuberung der Nation von allen Elementen, die sich vom alten System in die neue Zeit hinübergerettet haben. Die sind daran erkennbar, daß sie der eigenen Machtergreifung im Weg stehen; dadurch verraten sie die Nation und müssen als deren Feinde, für die Berlusconi nur das Wort „nemici“ gebraucht, aus der politischen Landschaft eliminiert werden. So bestimmt jetzt eine unverträgliche Mischung aus antidemokratischer Erneuerung und demokratischen Methoden ihrer Durchsetzung den politischen Streit in Italien: Der PDS mit seinem alle Parteigrenzen überspringenden Notstandsbewußtsein will die Erlösung des demokratischen Parteienlebens von seinen Gegensätzen, um zu einer demokratisch legitimierten Einheit der Nation an der Staatsspitze zu gelangen; die Rechten mit ihrem Selbstbewußtsein als geborene nationale Retter kämpfen um ihr Machtmonopol, wollen die Ausschaltung ihrer politischen Gegner aus dem politischen Leben – und führen diesen Kampf dann doch bloß mit Hilfe der parteipolitischen Erpressung und im Setzen auf ihren Wahlerfolg.

Über diese Auseinandersetzung lösen sich die Parteien zwischen den beiden Blöcken auf. Ihr Bekenntnis zur ungeteilten Einheit der Nation heißt starke Mitte; sie spalten sich über die Alternative Mitte-rechts oder Mitte-links. Das ist einerseits lächerlich – wie die italienische Öffentlichkeit hämisch bemerkt –, andererseits sehr sachentsprechend. Auch diese Erneuerer haben bemerkt, daß es um ein ganz neues Italien geht; gleichzeitig können sie gar nicht anders, als diesem Wunsch in den Formen der überkommenen politischen Verfassung Italiens Ausdruck zu geben. So fällt ihr Erneuerungsbeitrag dann doch vergleichsweise banal aus: Sie kämpfen als Parteien um ihr politisches Überleben, das sie entweder im Bündnis mit der Forza oder mit dem PDS besser gewährleistet sehen, und suchen krampfhaft nach der für sie besten Startposition für die nächsten Wahlen. Das wird Wendepolitikern wie Buttiglione öffentlich angekreidet.

Das Notstandsbewußtsein aller Parteien ist inzwischen zum Wunsch nach Machtergreifung vorangeschritten. Ernstgenommen würde das Mittel und Methoden verlangen, die sich etwas aus dem Umkreis der demokratischen Verkehrsformen entfernen. Daß es in Italien gar nicht mehr um die Neubesetzung eines stabil in sich ruhenden Macht- und Staatsapparates geht, haben alle politisch Verantwortlichen mitbekommen. Ihre Suche nach Bedingungen, unter denen überhaupt erst wieder so etwas wie neue Regierbarkeit des Landes zustandekommen soll, aber läßt sie zu neuen Überlegungen greifen, die weit unterhalb der fälligen Staatsreform bleiben. Außer den öffentlichen Versuchen Berlusconis, ein neues Bündnis zwischen sich und dem italienischen Volk zu beschwören, das über die bloße Wahlermächtigung hinausgeht und ihn zum Volksführer macht, fallen den versammelten Politikern Italiens gegenwärtig nur zwei Mittel für die Rettung der verlorenen Staatsmacht ein: die Änderung des Wahlrechts und die Neuorganisation der Medienlandschaft. Ein Beweis, wie sehr die radikalen Neuerer ihrer demokratischen Herkunft verhaftet bleiben.

Die praktizierten Ideale der Manipulation und der Gleichschaltung gehören ja zum eisernen Bestand demokratischen Regierens. Auch ein Kohl kann die ARD nicht mehr leiden, wenn er zur Auffassung gelangt, der Staatssender würde seinem und dem Ruf seiner Regierung Abträgliches vermelden – und hält sich dabei weniger an Fakten als an sein untrügliches Gespür und an die Arroganz der ihm übertragenen Machtfülle. Und wenn die Ex-Zonis statt der erwünschten Parteien eine PDS ins Parlament wählen, dann drängen sich der demokratischen Parlamentsmehrheit unweigerlich entsprechende Korrekturen an den demokratischen Prozeduren vom Ausschußwesen bis zum Wahlrecht auf, um dieser Partei möglichst den Zutritt zu verwehren. Und darüberhinaus ist sowieso alles Entscheidende dafür getan, daß die Fraglosigkeit der Machtausübung nicht von der Volksbetörung abhängt und umgekehrt die öffentliche Volkserziehung den herrschenden Konsens der Regierenden vermasst. In Italien aber herrschen da allgemeine Zweifel: Von Berlusconi aufgestachelt, erklären alle politischen Kräfte zur Zeit den „Kulturkampf“ und eine Reform des Wahlmodus zum entscheidenden Kriterium dafür, ob wieder so etwas wie Regierbarkeit des Landes zustandekommt. Das Volk soll sprechen, um das, was die Parteien aus eigener Kraft nicht mehr zuwegebringen, doch noch in Gang zu setzen und Italien aus der Staatskrise zu retten. Es soll deshalb aber auch garantiert so sprechen, daß die Freiheit der Politik zum Regieren neu in Kraft gesetzt wird. Wie ein Mehrheitswahlrecht, ein Verhältnismodus oder eine Mischform aus beiden das Bedürfnis der verfeindeten Parteien erfüllen kann, den jeweils für sich beanspruchten Wahlsieg gegen alle anderen mit neuer Volkslegitimität zu versehen, ist freilich schwer abzusehen. Im Vertrauen auf das gute Volk, das schließlich nicht schlauer sein kann als die Berieselung, die es allabendlich vorm Fernseher über sich ergehen läßt, meinen die Konkurrenten das allerdings durch ordentliche Propaganda schon hinzubekommen, daß die entsprechend mündig gemachten Bürger ihnen ein für allemal die lästige Parteienkonkurrenz vom Hals schaffen. Entsprechend kleinlich und parteikonkurrenzmäßig wird um den Hauptpunkt einer Reform, den „par condicio“, also gleiche Sendezeitbedingungen hauptseitig gegen den Medienzar Berlusconi gerungen.

Neben allem anderen wird in Italien weiter regiert. Die neue Regierung Dini ist durch eine politische Zustimmung ins Amt gekommen, die die Öffentlichkeit ratlos gemacht hat. Von Forza und Alleanza ist Dini – einem der Ihren, der bereits Schatzminister im Kabinett Berlusconi war –, nur solange stillschweigende Duldung vrsprochen worden, solange er keine volle Regierungskompetenz für sich beansprucht, sondern möglichst bald Neuwahlen organisiert. Der PDS dagegen hat diesen antisozialen Hardliner der alten Regierung freudig ins Amt gehoben. Sachgerecht ist auch dies: Den Rechten paßt eine Regierung nicht, die sie nicht selbst an die Spitze des Staates stellt; sie wollen sie deshalb unbedingt darauf verpflichten, ihre einzige Aufgabe bloß darin zu sehen, den rechten Zugriff auf die Staatsmacht zu organisieren.

Die „Linke“ sieht dagegen in Dini den demokratischen Konsens am Werk, der den Aufbruch aus der Staatskrise signalisiert. Sie will, daß sie ordentlich zum Regieren kommt, daß sie – ganz dem Allgemeinen der Nation verpflichtet – die Sanierung des Staates in Angriff nimmt, also das Programm weiterführt, das Berlusconi und sein Minister Dini angefangen haben. So macht sich „die Linke“ dafür stark, daß Forza Italia und Alleanza nicht die Regierung lahmlegen und die alten Programmpunkte, die vor allem auf Volksverarmung lauten, nicht wegen eines vorzeitigen Rücktritts der Regierung im Papierkorb landen. So im Amt, beschränkt die neue Regierung ihre Amtstätigkeit auch keineswegs bloß auf die Wahlrechtsreform und auf die Klärung der Medienlandschaft, sondern macht mit der Umsetzung des ‚50 Mrd-Sparprogramms‘ weiter und plant neue Steuern und Haushaltseinsparungen. Andererseits versuchen Forza und Alleanza den von der Regierung vorgeschlagenen Nachtragshaushalt zum Anlaß für den Versuch zu nehmen, die Regierung gleich wieder zu stürzen. Das verschafft dem Kurswert der Lira den nächsten historischen Tiefststand.

Und neben und mit diesem eigentümlichen politischen Leben überlebt ungebrochen der Schein politischer Normalität. Keiner der befangenen öffentlichen Beobachter im Ausland will mehr diese immer erbittertere Auseinandersetzung der politischen Kräfte um eine glaubwürdige nationale Führung – eine Auseinandersetzung, die verläßliche Machtausübung zersetzt, statt stiftet, die Souveränität des Regierens schädigt, statt endlich wiederherstellt – von den früheren italienischen Zuständen unterscheiden. Nicht um damit die Unhaltbarkeit solcher politischer Verhältnisse anzuprangern, sondern um sie unter eigentlich ganz ‚normal‘ abzubuchen – jedenfalls für so ein Land wie Italien. So als könne man sich damit beruhigen, daß die unübersehbare Staatskrise, die Anhänger eines konsolidierten europäischen Machtblocks eigentlich nicht ruhen lassen kann, auch nicht viel schlimmer ist als die alte ‚Dauerkrise‘, mit der Italien, so stellt es sich jedenfalls für diese Kenner jetzt dar, vierzig Jahre irgendwie und nicht einmal so schlecht zurechtgekommen ist und die ja irgendwie auch zur besonderen Mentalität des südländischen Menschenschlags gepaßt hat.

Dieser öffentlich gepflegte Schein von einer staatlichen Machtausübung, die bloß die Dauerhaftigkeit und Eindeutigkeit der politischen Verhältnisse anderswo etwas vermissen läßt, aber im Grunde doch auch seine nationale und internationale Verläßlichkeit bietet, hat eine objektive Grundlage. Keiner der EU-Partner Italiens rüttelt an diesem Schein. Kohl und Konsorten werden es schon anders wissen und NATO-Planer werden eine gewisse Unberechenbarkeit dieses Landes in ihre Kalkulationen einbeziehen. Öffentlich gemacht wird aber nur die Versicherung, Italien sei weiterhin ein vollwertiges Mitglied der europäischen Gemeinschaft, der NATO, der G7… Und das mit gutem Grund. Denn unbeschadet der italienischen Staatskrise geht die Benutzung Italiens für den Fortschritt der Europamacht und für die NATO ihren normalen Gang. Der schließt ein, daß das Land als Aufmarschbasis an der Jugoslawien-Front in jüngster Zeit zusätzliche Aufgaben zugewachsen sind; daß die Sicherung des Mittelmeers und seiner Ränder verstärktes Europa-Programm ist, und manches andere mehr, wofür italienische Stützpunkte, italienischer Hoheits- und Einflußbereich, italienisches Militär und jede italienische Regierung mit einstehen.

So geht die staatliche Dauerkrise Italiens, an der sich seine Politiker abarbeiten und in die sich sein Volk eingehaust hat, weiter, ohne daß im Land und von außen endgültig auf eine Korrektur der nationalen Linie und damit auch Machtverhältnisse gedrungen wird. Dauerhaft ist dieser Zustand aber auch nicht; denn die verantwortlichen Politiker mühen sich zur Zeit um Antworten auf den Staatsnotstand, die an die längst aufgeworfene Problemlage der Nation gar nicht heranreichen.

[1] Alles Notwendige über Gründe, Verlauf und Auswirkungen dieser nationalen Selbstkritik, die das ganze bisherige Innenleben der Staatsmacht in Frage gestellt hat, ist nachzulesen in „Italien vor der Wahl“ GegenStandpunkt 1-94, S.100 und „Italien nach der Wahl“ GegenStandpunkt 2-94, S.163

[2] Wie so oft in der Vergangenheit müssen die Bürger wieder mit geballter Faust die abgefeimten, eigensüchtigen Manöver der Mächtigen im Palazzo über sich ergehen lassen und zusehen, wie darüber die Glaubwürdigkeit des Landes endgültig zuschanden kommt. Der Lira-Kurs zeigt es mit immer neuen Tiefenrekorden täglich an… Berlusconi spricht im Blick auf seinen Koalitionsfreund Bossi von Delirien, dieser tituliert den anderen als Chefkomiker und kündigt neuerlich das Ende der Zusammenarbeit an. (SZ 14.12.94)

[3] Mir wird ein Hinterhalt ohne Beispiel gelegt…Sie wollen eure Stimmen nehmen und sie dorthin bringen, wo ihr euch nie hättet vorstellen können, daß sie enden: Ins Feld unserer politischen Gegner. (SZ 21.12.94) Und anläßlich der Vorwürfe, die ihm wegen seiner Medienmonopol-Stellung gemacht werden: Das ist ihre Gleichberechtigung: Allen öffentliches Stimmrecht zu geben, die gegen mich sind. Jetzt wissen meine Feinde nicht mehr, auf was sie noch alles zurückgreifen sollen. Sie klagen mich des Staatsstreichs, der Mafia-Beziehungen, der Geldwäsche und jetzt sogar eines Attentats auf die Konstitution an: Schande, Ungeheuerlichkeit! Aber das Volk ist schlauer, als sie glauben. Das Volk ist mit mir und versteht das infame Niveau und die Gemeinheit, zu der sich meine Feinde herablassen, nur um mich zu treffen… Aber ich wiederhole, was das Volk verstanden hat und was die Journalisten und die Politiker der Ersten Republik nicht begreifen wollen. Man kann nicht so tun, als wäre alles wie früher und daß die Italiener nicht das Mehrheitssystem gewählt hätten, das sich auf den unmittelbaren Bezug zwischen Wählern und Gewählten gründet… Das Volk soll seine Meinung hören lassen, sagen, wer regieren soll und wer in der Opposition bleiben muß, und entscheiden, ob es in Ordnung gehen kann, daß derjenige, der ein präzises Wahlmandat erhalten hat, die Wähler verhöhnen und einen Umsturz vollziehen darf. Wie anders könnten wir eine Regierung bezeichnen, die unterstützt würde von der Rifondazione und dem PDS (Repubblica 5.1.95) Die Antwort auf Berlusconi läßt nicht auf sich warten: Berlusconi ist kein Führer einer moderaten und konservativen Partei, der sich mit der Linken auf dem Feld der Programme und Ideen streiten will. Er ist einer, der Haß schürt auf einen Teil des Landes, auf Millionen Bürger. Hier sind alle Bestandteile einer antidemokratischen Gesinnung vorhanden…, einer Mentalität nach der jeder Kommunist ist, der nicht zu Berlusconi hält. (D’Alema, Chef der PDS, in Repubblica 5.1.95) (Berlusconi) benutzt die Demagogie und den Terrorismus, um Politik zu machen… In einem zivilen Land herrschen die Gesetze und nicht die Männer… Es ist eine Aufgabe der konstitutionellen Korrektheit, das System der Medien zu reformieren. Das Fernsehen ist heute die Piazza: Mussolini verjagte seine Gegner mit Knüppeln von den Plätzen. Heute lassen sich die gleichen Resultate mit dem Fernsehen erzielen. (Buttiglione, Vorsitzender der Popolari, der Nachfolgepartei der Democrazia Cristiana, in Repubblica 5.1.95)

[4] Die Unternehmer sehen sich durch die Regierung Berlusconi um den Lohn ihrer Arbeit gebracht: Alle wissen es: Unsere Wirtschaft befindet sich im Aufschwung. Aber wir brauchen eine Regierung, die mit Entschiedenheit die vier Ziele verfolgt, auf die sich alle geeinigt haben: ein rigoroses Finanzgesetz zu verabschieden, die Privatisierungen zu beschleunigen, das Rentensystem zu reformieren und den sozialen Frieden aufrecht zu erhalten. (C. Abete, Chef des italienischen Unternehmerverbandes Confindustria). Dasselbe als enttäuschte Schuldzuweisung von einem Vertreter der Mailänder Börse vorgetragen: Italien ist in der Scheiße, bis zum Frühling wird nichts mehr gehandelt. Der Cavaliere ist schon aus dem Rennen, aber bis Ostern wird es ein Chaos geben… Mit Berlusconi hat sich nichts geändert: Das zentrale Problem des Landes war und bleibt das Staatsdefizit. (Alles aus Repubblica 13.12.94) Umgekehrt sieht sich Berlusconi durch die unverantwortliche internationale Spekulation, durch die Kapitalflucht und die mangelnde Investitionsbereitschaft seiner Unternehmerkollegen sowie durch das national schädliche Zinsgebaren des Chefs der Nationalbank um den wirtschaftlichen Erfolg seiner politischen Anstrengungen gebracht.

[5] Dazu „Was ist Europa? Was hat es vor?“ in GegenStandpunkt 1-92, S.31 und „Vom Staatenbündnis zur Staatengründung“ in GegenStandpunkt 3-92, S.107

[6] In den italienischen Gewerkschaftsverbänden findet die Regierung dabei weniger Gegner als Mitstreiter aus nationaler Verantwortung vor. Im Namen ihrer betroffenen Mitglieder haben die Gewerkschaftsführer einiges zusammen mit der Regierung unterschrieben: den Wegfall bisheriger Tarifschranken beim Lohn; die Einführung bislang nicht üblicher Niedriglöhne, besonders beim Einstieg ins Arbeitsleben; das Recht der Unternehmer auf möglichst freie Gestaltung der Arbeitszeitverhältnisse nach ihrem Geschäftsbedürfnis; die Entlastung des Staatshaushalts von sozialen Kosten, die ihm durch die Verwaltung des nationalen Arbeitermaterials bislang entstanden sind; sowie einiges andere mehr. Die Vertretung der Arbeiter versteht dies als Kampf um ihre weitere politische Existenzberechtigung, die ihr die rechte Regierung bestreitet. Dafür wollte sie im Herbst anläßlich des Regierungsbeschlusses, die Renten zu kürzen und das Rentenalter heraufzusetzen, einen nationalen Generalstreik durchführen, der sich dann für sie glücklicherweise erledigt hat.

[7] Italien stößt auf den Willen seiner EU-Partner, an den in Maastricht getroffenen Beschlüssen, die aus den Schulden Italiens, die einst ein Beitrag zum Aufstieg des europäischen Wirtschaftsblocks und gesamteuropäisch im Rahmen des EWS abgesichert waren, überhaupt erst eine ausschließlich italienische Schuldenlast gemacht haben, festzuhalten.

[8] Lediglich ein paar letzte übrig gebliebene geistige Anhänger Mussolinis warten mit einer Kritik am derzeitigen Zustand der Nation auf, der anzumerken ist, daß sie sich auch eine andere Staatsalternative vorstellen können: Hat Fini von der kastrierenden und gleichmacherischen Weltherrschaft gesprochen? Hat er wenigstens die wirkliche Autonomie unserer Außenpolitik beschworen? Hat er seinen Anhängern erklärt, daß die in Maastricht als Kompromiß zwischen konkurrierenden kapitalistischen Systemen geborene europäische Einheit für Italien nur zur Depression und Abhängigkeit führen kann? Und zur Demokratie: In Italien hat die Demokratie ein gutes Zeugnis dafür abgegeben, was ihre Natur ist. Niemand kann sich vorstellen, wie dieser Beweis noch schlechter hätte ausfallen können. Die Italien nach 1945 auferlegte Demokratie hat dem Land nichts gebracht und ist auf nichts gegründet, was man ernsthaft als Willen des Volkes bezeichnen könnte. (Repubblica 27.1.95) Den Beweis der demokratischen Wandlung der Alleanza hat Fini auf dem jüngsten Parteikongreß durch den Ausschluß dieser Stimmen aus der Partei erbracht. Ansonsten lautet seine Kritik an der jetzt getilgten faschistischen Herkunft, daß Mussolini bloß die Nation gespalten statt geeint hat, während die neue Alleanza für die ganze Nation zuständig sein will und deswegen auch die von Mussolini inhaftierte nationale Linksgröße Gramsci zum italienischen Traditionsgut erklärt. Die Grenzziehung gegen die ‚Linken‘ im Land machte Fini allerdings auch gleich wieder deutlich, indem er darauf bestand, daß der Antifaschismus gleich mit aus dem Land zu verschwinden hat.

[9] Dem obersten Untersuchungsrichter Siziliens versuchte die Berlusconi-Regierung die verwerflichen Machenschaften nachzuweisen, deren Berlusconi angeklagt ist: Jetzt wurde bekannt, daß die Vorwürfe des Hauptstaatsanwalts von Palermo, Caselli, gegen Justizminister Biondi darin begründet waren, daß der Justizminister eine Inspektion der Staatsanwaltschaft im sizilianischen Hauptort angeordnet hatte wegen des Verdachts angeblicher Verstrickungen mit der Mafia und Freimaurerei. (FAZ 12.12.94) Der Vorwurf Berlusconis gegen die Richter lautet auf Staatsstreich und Staatsverschwörung: Der Regierungschef bezeichnete das Verhör dagegen als Staatsstreich, um ihn zu Fall zu bringen. Es handle sich um eine politische und juristische Verschwörung (HB 14.12.94) – und behandelt dieses von ihm zum Staatsdelikt erklärte Vergehen dann doch nur wieder als Amtsverstoß. Der bekanntermaßen „Mani pulite“ verseuchten Mailänder Justiz wurde ein Strafverfahren, das eine Bestechungsaffäre Berlusconis zum Inhalt hatte, entzogen; der durch seine politische „Unbestechlichkeit“ zu nationalen Ehren gekommene Di Pietro trat demonstrativ zurück, weil ihm die Politik die Erfüllung seiner politischen Richterpflichten laufend schwer zu machen versucht und seine legitimen Kompetenzen beschnitten habe. Auf demonstrative Akte und politische Signale verstehen sich die Richter der „Mani pulite“ übrigens genau so gut wie ihr Gegner. Während der Regierungschef in Neapel gerade einer UNESCO-Konferenz über organisiertes Verbrechen und dessen internationale Bekämpfung präsidierte – symbolisch war der Ort gut ausgewählt –, wurde ihm ein gerichtlicher Vorladungsbescheid präsentiert. Die Anklage: Bestechung von Beamten, denen die Steuerprüfung seines Konzerns oblag.

[10] Berlusconi: Ich werde Italien nicht den Händen der Kommunisten überlassen; ich habe nicht vor, einer proletarischen Enteignung zu weichen. Wenn rechte Parteien wie die Lega oder die Popolari, eine Nachfolgepartei der untergegangenen Democrazia Cristiana, aus taktischen Gründen mit dem PDS liebäugeln, ist für Berlusconi alles klar: Buttiglione will die Kommunisten an die Macht bringen, vielleicht sogar die Rifondazione. Aber das ist der ‚compromesso storico‘, er will den Ruin seiner Partei und will für immer mit dem Vatikan brechen. Wir wären das dritte Land, das von alten Kommunisten regiert würde: Kuba, Nordkorea und jetzt Italien… Der Staatspräsident hat die Gelegenheit, in die Geschichte einzugehen, er darf Italien nicht den Kommunisten überlassen. (Corriere 12.1.95) Die entsprechende Antwort des PDS: Das ist kein Streit mehr zwischen links und rechts, sondern eine entscheidende Schlacht für die Demokratie… Heute steht die Verteidigung der Demokratie auf dem Spiel. Wir brauchen Regeln, Gesetze, die Verfassung und demokratische Prinzipien, aber nicht die Knobelbecher des Senators Previti. (D’Alema, Repubblica 5.1.95)