Das Gemeinschaftswerk der europäischen Nachbarschaftspolitik und des amerikanischen Friedensnobelpreisträgers
Ein Bürgerkrieg in der Ukraine und eine neue weltpolitische Konfrontation

Am Anfang hat nur eine Unterschrift gefehlt unter einem Vertrag, von dem die Europäer behaupten, dass er für alle Seiten nur das Beste gewollt hat. Jetzt zerlegt sich die Ukraine in einem Bürgerkrieg. Und NATO und Russland lassen Truppen aufmarschieren. Die Öffentlichkeit überholt die Politik bei weitem mit ihren Imperativen, was „wir“ an russischem Benehmen keinesfalls dulden können. Andererseits fragt sich dieselbe Öffentlichkeit mit Sorge, wieso nur das Unmögliche auf einmal wieder möglich erscheint, dass mitten in Europa, nachdem die Europäer dort angeblich in den letzten 59 Jahren ein einziges großes Friedenswerk zustande gebracht haben, ein Krieg ausbricht. Eine solche Lage bricht aber nicht einfach herein, sie wird hergestellt.

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Das Gemeinschaftswerk der europäischen Nachbarschaftspolitik und des amerikanischen Friedensnobelpreisträgers
Ein Bürgerkrieg in der Ukraine und eine neue weltpolitische Konfrontation

Am Anfang hat nur eine Unterschrift gefehlt unter einem Vertrag, von dem die Europäer behaupten, dass er für alle Seiten nur das Beste gewollt hat. Jetzt zerlegt sich die Ukraine in einem Bürgerkrieg. Und NATO und Russland lassen Truppen aufmarschieren. Die Öffentlichkeit türmt Beweise dafür auf, wie unerträglich das russische Benehmen ist, überholt die Politik bei weitem mit ihren Imperativen, was „wir“ keinesfalls dulden können. Andererseits fragt sich dieselbe Öffentlichkeit mit Sorge, wieso nur das Unmögliche auf einmal wieder möglich erscheint, dass mitten in Europa, nachdem die Europäer dort angeblich in den letzten 59 Jahren ein einziges großes Friedenswerk zustandegebracht haben, ein Krieg ausbricht. Eine solche Lage bricht aber nicht einfach herein, sie wird hergestellt.

1. Der Umsturz in Kiew und seine Subjekte

November letzten Jahres verweigert der ukrainische Präsident Janukowitsch seine Unterschrift unter den Assoziationsvertrag mit der EU. Er versucht noch einmal, mit der EU um die Bedingungen zu handeln, weil sein Staatswesen die im Vertrag niedergelegten Forderungen der EU schlicht nicht aushält. Er besorgt sich, um den Staatsbankrott fürs erste abzuwenden, Wirtschaftshilfe in Moskau, und fordert die Hauptmächte, die um die Ukraine ringen und das Land einer Zerreißprobe aussetzen, dazu auf, sich an einen Tisch zu setzen und sich zu einigen. Damit ist er für die EU schlagartig untragbar. Aus dem Stand schalten die europäischen Verhandlungspartner um: Anstelle einer legitimen Regierung, mit der man gerade noch unter dem Titel der europäischen Nachbarschaft übereinkommen wollte, sehen sie in Kiew nurmehr einen Haufen korrupter Figuren am Werk, ein russenhöriges Regime, mit einem Präsidenten an der Spitze, der den legitimen Willen des ukrainischen Volks, das nichts anderes als nach Europa will, mit Füßen tritt. Dem Präsidenten, der das Verbrechen begangen hat, seine Zustimmung zu besagtem Vertrag an zusätzliche Bedingungen zu knüpfen und dann die EU auch noch dazu bringen will, über die Zukunft der Ukraine mit Russland zu verhandeln, wird die Anerkennung entzogen, und zwar diplomatisch, praktisch und militant: Die EU feuert den Protest an, der sich auf dem Maidan in Kiew aufbaut. Der deutsche Außenminister demonstriert durch seine Anwesenheit vor Ort, dass der Aufstand mit seiner Forderung nach Rücktritt der Regierung unbedingt im Recht ist und zeigt dem Volk mit dem Boxer an seiner Seite auch gleich den geeigneten Mann für die Übernahme der Macht im Land. Gleichzeitig wird die Regierung zum Gewaltverzicht gegenüber den immer militanteren „friedlichen Demonstranten“ angehalten.

Interessante Umgangsformen in einem Staatenverkehr, der nach offizieller Lesart nur dem Wohle aller Beteiligten dienen sollte. Wenn der Chef der anzuschließenden Nation seine Unterschrift nicht freiwillig unter das Vertragswerk setzt, beschließt die europäische Nachbarschaft kurzerhand, dann eben mit Gewalt dafür zu sorgen, dass er abgesetzt wird. Die Verhandlungen sind auch nicht zu verwechseln mit einer Verständigung über die beiderseitigen Interessen, damit das Vertragswerk für beide Seiten zustimmungsfähig wird. Offensichtlich hat Europa sich das Recht auf Unterwerfung der anderen Seite zugesprochen und exekutiert das. Das wird dann aber auch der Kern des angepeilten Abkommens sein: Mit ihm soll dieses Staatswesen unter europäische Kontrolle gebracht, dem eigenen Besitzstand zugeschlagen und von Russlands Interessen an seinem nahen Ausland abgeschnitten werden. Die Politik der EU stellt sich als so ziemlich das Gegenteil von dem heraus, was die EU mit ihrem verlogenen Selbstbild als Zone von Stabilität, Wohlstand und Zusammenarbeit so gerne propagiert, als reichlich gewalttätige Angelegenheit: Wenn sich eine Regierung nicht umstandlos als Marionettenregierung zur Umsetzung der Beschlüsse, die in Brüssel oder Berlin gefallen sind, zur Verfügung stellt, dann erklärt sich Europa zur Schutzmacht des Rechts auf „Selbstbestimmung“, das ihrem Volk zukommt, und betreibt ihren Umsturz.

Auch im Hinblick auf Russland legt Europa ein ziemlich brachiales Verhalten an den Tag. Schließlich bürgt die Regierung, die abgesägt werden soll, auch für die Rücksichtnahme auf die Beziehungen, die Russland mit der Ukraine unterhält, und es ist gar kein Geheimnis, dass mit dem Umsturz in Kiew an ihrer Stelle eine Mannschaft an die Macht kommen soll, mit der die exklusive Zuständigkeit der EU für die Ukraine sichergestellt werden soll. Damit eskaliert die EU ihr Vorgehen gegenüber Russland, dessen Einsprüche gegen die Assoziierung – begründet mit dem Hinweis auf die vitalen russischen Interessen an der Ukraine – sie schon die ganze Zeit demonstrativ überhört und praktisch übergangen hat.

Steinmeier und Genossen haben es schon weit gebracht – sogar, was die Zustimmung Russlands zu einem Machtwechsel in Kiew anbelangt: Nachdem die Regierung durch den Aufstand und die Besetzung der Hauptstadt unhaltbar gemacht wurde, handeln sie mit ihr die Modalitäten ihrer Abdankung aus. Im Steinmeier-Abkommen stimmt Janukowitsch seinem Rücktritt zu und einigt sich mit der Opposition darauf, auf dem Weg von Neuwahlen eine legitime Regierung herzustellen – unter Federführung der Deutschen, die darauf Wert legen, Russland, das die neue Regierung genehmigen soll, dadurch zur Zustimmung zu bewegen, dass eine geordnete Übergabe der Macht geplant ist. Zudem sollen auch die inneren Verhältnisse unter Kontrolle bleiben, auch Janukowitschs Machtbasis und die Vertreter der Interessen der Ostukraine sollen daran ordnungsgemäß beteiligt werden, damit sie sich darin aufgehoben sehen und darein fügen können. Nachdem die EU alles für den Umsturz getan hat, will sie unliebsame destabilisierende Wirkungen im Land und unnötige Kollisionen mit Russland vermeiden. Russland hat sich unterdessen durch die Macht des Faktischen davon überzeugen lassen, dass Janukowitsch nicht zu halten ist, und lässt sich zähneknirschend auf dieses Szenario ein. Der „Übergangsregierung“ verweigert es zwar jede Anerkennung, einem geordneten Machtwechsel, bei dem am Ende eine gewählte Regierung steht, erteilt es aber keine Absage.

Diesen maßgeblich deutschen Versuch, den Machtwechsel in einer Form festzuzurren, in der er allseits und letztlich eben auch für die Russen zustimmungsfähig ist, hat dann allerdings Amerika torpediert. Es übergeht alle europäischen Berechnungen und durchkreuzt die Steinmeier-Diplomatie, indem es seinen langjährig aufgebauten Einfluss in der Ukraine dazu nutzt, das Abkommen platzen zu lassen. Die Opposition wird zum Durchmarsch ermuntert und befähigt. Der Präsident wird samt einem Teil seiner parlamentarischen Mehrheit verjagt, das Parlament unter Belagerung durch die Maidan-Mannschaften dazu genötigt, dem Umsturz zu akklamieren. Damit sind „Jaz“ und seine Timoschenko-Partei an die Macht geputscht. Die kurze Lebensdauer des Steinmeier-Abkommens, die saure Miene, die sein Namensgeber dazu macht, als im Laufe des Samstags Steinmeier klar wird, dass die Geschichte über das Abkommen teilweise hinweggegangen ist[1] – dokumentieren, dass die offizielle Lesart von der Einmütigkeit des Westens die Sache keineswegs trifft; die Behandlung des Falls durch Amerika folgt mehr dem Motto von Frau Nuland, der Vertreterin des US-Außenministeriums für Europa und Eurasien: Fuck the EU!.

Die USA sind immer schon so frei, das europäische Programm der östlichen Partnerschaft in ihrem Sinne umzufunktionieren. Von Beginn an haben sie auch die europäische Anwerbung der Ukraine als ihr Instrument zur Eindämmung und Einkreisung Russlands behandelt und mit eigenen Einflussmitteln flankiert und kontrolliert.[2] Nun übernehmen sie auch offiziell die Regie in Kiew und sorgen für eine Besitzergreifung in ihrem Sinn. Sie stiften einmal mehr good governance in der Ukraine, bringen offen russenfeindliche Figuren an die Macht, booten nebenbei den deutschpräparierten Führungskandidaten Klitschko aus, sind also fest entschlossen, ihre Versäumnisse nach der orangen Revolution wiedergutzumachen. Damals, so die amerikanische Erkenntnis, haben sie die Sache nicht energisch genug in die eigene Hand genommen, ihren Schützlingen vor Ort viel zu viel Freiheiten gelassen und mussten zusehen, wie die ihr Kapital verspielten und am Ende sogar die Macht wieder an das prorussische Lager abgeben mussten. Daher nehmen sie der EU die Initiative aus der Hand und sorgen dafür, dass die von ihnen gesponsorte Mannschaft die Masse der Regierungsposten übernimmt und der Machtwechsel im Eiltempo institutionell verankert wird: Jazenjuk wird von Obama und der UNO empfangen und mit US-Sicherheitsgarantien ausgestattet. Wenn Amerika die Mannschaft anerkennt, ist ja wohl selbstverständlich, dass das die legitime Regierung ist.[3] Und der Rest der Welt hat dem zuzustimmen. Der Autokrat ist erledigt, das Völkerrecht lebt und legitimiert die neuen Machthaber. Die Anerkennung der an die Macht geputschten Mannschaft als legitime Regierung der Ukraine wird von den USA zur Bedingung sine qua non jeglicher Diplomatie erhoben und damit die Euro-Politik in Richtung Russland ausgehebelt: Den europäischen Anlauf, Russland wieder in einen diplomatischen Prozess hineinzuziehen, unterbindet Außenminister Kerry, indem er zum Krisentreffen den neuen ukrainischen Außenminister einlädt und Lawrow damit konfrontiert – kein Dialog, ohne dass Russland die von Amerika eigenmächtig hergestellte neue Lage in der Ukraine und den damit vollzogenen Verlust, die Verletzung seiner Interessen, förmlich anerkennt.[4]

Unterdessen machen sich die neuen Machthaber an die Arbeit. Sie haben alle Hände voll zu tun mit der Festigung der ukrainischen Demokratie. In den Ministerien, in Polizei, Justiz, Funk und Fernsehen beginnt ein energisches Aufräumen gegen alles, was einer verkehrten Affinität zur Vorgängerregierung und zu Russland verdächtigt wird. Russisch als zweite Amtssprache wird abgeschafft, der Frontmann der rechten Swoboda-Partei will dem friedliebenden ukrainischen Volk schnell den freien Kauf und Besitz von blanken und Schusswaffen erlauben und die freie Meinungsbildung im Land durch das Verbot einiger TV-Sender, speziell russischer, befördern. Und der neue Verteidigungsminister macht kein Geheimnis aus seiner Überzeugung, dass er den Vertrag über den russischen Flottenstützpunkt für eine unerträgliche Schmach hält, die schnellstmöglich aus der Welt zu schaffen ist.

2. Russland schließt sich die Krim an

Für Russland ist diese Missachtung seiner Interessen unannehmbar. Es sieht seine sämtlichen Einsprüche übergangen und lässt sich nicht einfach vor vollendete Tatsachen stellen. Daher nimmt es sich das Recht, seinerseits Fakten zu schaffen und sichert sich durch den Einsatz von Militär und Volksabstimmung den Besitz der Krim als strategisches Faustpfand und unverzichtbaren Stützpunkt im zunehmend von NATO-Anrainern besetzten Schwarzen Meer. Die Inszenierung der Annexion als in jeder Hinsicht rechtmäßiger Akt fällt Russland auch nicht schwerer als dem Westen die Legitimation des gewaltsam herbeigeführten Machtwechsels in der Ukraine: Auf der Krim kopiert man den Maidan, hier schützt Russland das Selbstbestimmungsrecht des Volks und liefert mit der reibungslosen Übernahme der Macht samt Volksbegeisterung auf der Krim und in Russland einen Beweis seiner diesbezüglichen Fähigkeiten.

Über seine Sicht der Dinge lässt Russland die Welt nicht im Unklaren. Anlässlich der förmlichen Aufnahme der Krim und der Stadt Sewastopol in die russische Föderation hält Putin eine Rede an die Nation, in der er den Standpunkt Russlands darlegt. Zum besseren Verständnis, was die westliche Übernahme der Ukraine für Russland bedeutet, erinnert er erst einmal an den Zerfall der UdSSR... Millionen von Russen gingen in einem Land schlafen, und wachten hinter einer Grenze auf; sie wurden in einem Augenblick zu einer nationalen Minderheit in den ehemaligen Sowjetrepubliken, und das russische Volk wurde damals zum größten geteilten Volk der Welt.[5] In diese Lage habe sich Russland hineingefunden – in der Erwartung, dass man aufgrund der Verflechtungen, die man aus der Vergangenheit als gemeinsamer Staat ererbt hat, und der besonderen Interessen, die man aneinander hat, gutnachbarliche Beziehungen mit der unabhängigen Ukraine wird unterhalten können. Bei alledem rechneten wir natürlich damit, dass die Ukraine uns ein guter Nachbar sein wird. Womit grundsätzlich schon mal klargestellt ist, dass Russland ein Recht auf gutnachbarschaftliche Beziehungen zur Ukraine hat, in denen seine Interessen Berücksichtigung finden, und dass es dieses Recht als Schutzmacht der dort lebenden Russen auch gegenüber der Ukraine jederzeit geltend zu machen gewillt ist. Stattdessen hat man es aber mit dem westlichen Zugriff auf die Ukraine zu tun bekommen, zuerst mit der orangen Revolution und jetzt mit dem Euro-Maidan, deren Auftraggeber man kennt und an deren Absichten keine Zweifel bestehen:

„Im Jahr 2004 erfand man eine von der Verfassung nicht vorgesehene dritte Runde bei den Präsidentschaftswahlen, um den genehmen Kandidaten damit durchzubringen. Das ist ein Absurdum und ein Hohn gegenüber der Verfassung. Jetzt wurde eine vorab ausgebildete, gut ausgerüstete Armee aus bewaffneten Radikalen in das Szenario eingebracht. Wir verstehen sehr gut, was hier abläuft, wir wissen, dass diese Aktionen sowohl gegen die Ukraine als auch gegen Russland gerichtet waren, ebenso auch gegen eine Integration im eurasischen Raum.“

Man hat registriert, dass die EU die Assoziierung der Ukraine für prinzipiell unvereinbar erklärt hat mit ihrer Teilnahme an der östlichen Zollunion. Der Weigerung, sich mit Russland darüber zu verständigen, hat man in Moskau entnommen, dass die Assoziierung offenbar auch genau so gemeint ist: Das Land soll seinem Einfluss entzogen werden. Und das in einem Fall, in dem vitale Interessen Russlands auf dem Spiel stehen: Die Anstrengungen der USA, die Ukraine in die NATO hinüberzuziehen, würden Russland in eine katastrophale strategische Lage versetzen:

„Was würde diese Perspektive für die Krim und Sewastopol bedeuten? Es würde bedeuten, ... dass es eine Bedrohung für den gesamten Süden Russlands gäbe – keine vorübergehende, sondern eine ganz konkrete... Wir sind dagegen, dass eine Militärallianz – und die NATO ist und bleibt bei allen internen Prozessen immer noch eine Militärallianz – vor unserem Zaun, an unserem Haus und auf unseren historischen Territorien das Sagen hätte.“

Zweitens wird Putin grundsätzlich. Er zieht Bilanz über die gesamte Periode seit dem Abgang der Sowjetunion und ordnet die Behandlung, die Russland im Fall der Ukraine erfahren hat, in die lange Reihe von Fällen ein, in denen der Westen, die USA im Verein mit der EU oder auch ohne sie, unter Missachtung russischer Interessen Weltordnungsfragen entschieden hat – als letzte und schwerwiegendste Etappe einer großangelegten westlichen Schwächungspolitik gegenüber Russland. Er rekapituliert, wie Russland versucht hat, sich als kooperative Weltmacht mit den ehemaligen Gegnern ins Benehmen zu setzen, um sich als kapitalistische Macht neu aufzubauen, dabei aber immer wieder erfahren hat, dass seine Interessen zurückgewiesen worden sind, dass es aus der Regelung ausgemischt worden ist, während der Westen seine strategische Übermacht rücksichtslos weiter ausgebaut hat.

„Wir schlagen ständig Kooperation in Schlüsselfragen vor, wir wollen das gegenseitige Vertrauen fördern, wir wünschen, dass unsere Beziehungen auf Augenhöhe stattfinden, dass sie offen und ehrlich seien. Aber wir sehen keinerlei Entgegenkommen. Im Gegenteil, wir wurden Mal ums Mal betrogen, es wurden Entscheidungen hinter unserem Rücken getroffen, man stellte uns vor vollendete Tatsachen. So war es mit der NATO-Osterweiterung, mit der Installation von militärischer Infrastruktur an unseren Grenzen. Uns wurde immer ein und dasselbe erzählt: ‚Na, das geht euch nichts an.‘ ...
So war es auch mit dem Aufbau der Raketenabwehrsysteme. Ungeachtet all unserer Befürchtungen bewegt sich die Maschinerie vorwärts. So war es auch mit dem endlosen In-die-Länge-Ziehen der Verhandlungen zu Fragen der Visafreiheit, mit den Versprechen eines ehrlichen Wettbewerbs und eines freien Zugangs zu den globalen Märkten.“

An all den Fällen und Streitfragen, mit denen er seit seiner Amtsübernahme befasst war, identifiziert er das Prinzip der westlichen Politik:

„Kurz, wir haben allen Grund zu der Annahme, dass die sprichwörtliche Eindämmungspolitik gegen Russland, die sowohl im 18., im 19. und im 20. Jahrhundert betrieben wurde, auch heute noch fortgeführt wird. Man versucht ständig, uns in irgendeine Ecke zu drängen, und zwar dafür, dass wir eine unabhängige Position vertreten.“

Und er macht deutlich, dass Russland aus all dem den Schluss gezogen hat, dass es dieser Eindämmungspolitik Einhalt gebieten muss:

„Im Falle der Ukraine haben unsere westlichen Partner eine Grenze überschritten, handelten grob, verantwortungslos und unprofessionell... Russland ist an eine Grenze gelangt, hinter die es nicht mehr zurück konnte. Wenn man eine Feder bis zum Anschlag durchdrückt, mit Gewalt, so wird sie irgendwann nicht mehr nachgeben. Dessen sollte man immer gewahr sein.“

Russland hat damit eine Wende vollzogen. Es sieht sich genötigt, seine vitalen Interessen, wenn nötig, auch ohne Einvernehmen mit und gegen den Willen der westlichen Staaten zu sichern; mit den dann fälligen Mitteln. Es spricht damit sich – in bescheidenerem Ausmaß, aber in Analogie zum Auftreten der USA – das Recht zu, als autonome Macht Fakten zu schaffen, die die Staatenwelt anzuerkennen hat. Das hat man im Kreml in all den Jahren gelernt, dass man sich als respektable Macht in dieser Ordnung nur behaupten kann, wenn man zur gewaltsamen Durchsetzung seiner Interessen und Wahrung seiner Rechte bereit ist. Das jedenfalls soll die Welt zur Kenntnis nehmen: Russland ist ein selbständiger, aktiver Faktor der internationalen Gemeinschaft, es hat, wie andere Länder auch, nationale Interessen, die man berücksichtigen und achten muss.

Bei all dem legt Putin sehr viel Wert auf die Klarstellung, dass sich Russland zu diesem Übergang gezwungen sieht und ihn nicht leichtfertig vollzieht. Seine Metapher aus der Welt der Mechanik soll deutlich machen, dass es die andere Seite, vornehmlich die amerikanische Gewalt ist, die Russland zu diesem Schritt regelrecht nötigt. Die Wende soll also nicht als Absage an die Kooperation mit dem Westen verstanden werden – schließlich will man mit denen ja auch im Geschäft bleiben –, sondern als Ansage, dass Russland die Anerkennung seiner substanziellen Interessen zur Bedingung für den einvernehmlichen Umgang mit den westlichen ‚Partnern‘ macht.

Mit der Beschuldigung, die USA hätten selbstherrlich an die Stelle einer Weltordnung, in der auch Russland den ihm zustehenden Platz einnehmen könnte, ihre Gewalt und an die Stelle des Völkerrechts ihre Willkür gesetzt, ergeht zugleich – wie schon auf der Sicherheitskonferenz 2007 – an alle anderen Nationen der Appell, dass ihnen die Missachtung des Völkerrechts und seines Grundprinzips, der Anerkennung der Staatensouveränität, sowie die Schwächung der Institutionen, die für eine solche Ordnung zuständig zu sein hätten, doch nicht gleichgültig sein kann:

„Nach dem Verschwinden der bipolaren Welt ist diese Welt nicht etwa stabiler geworden. Wichtige und internationale Institutionen erstarken nicht, im Gegenteil, häufig ist es so, dass sie an Bedeutung verlieren. Unsere westlichen Partner, allen voran die Vereinigten Staaten, ziehen es vor, in ihrer praktischen Politik nicht vom Völkerrecht, sondern vom Recht des Stärkeren Gebrauch zu machen. Sie glauben an ihre Erwähltheit und Exklusivität, daran, dass sie die Geschicke der Welt lenken dürfen, und daran, dass immer nur sie allein Recht haben können. Sie handeln so, wie es ihnen einfällt: mal hier, mal da wenden sie Gewalt gegen souveräne Staaten an, bilden Koalitionen nach dem Prinzip‚ ‚wer nicht mit uns ist, ist gegen uns‘. Um ihren Aggressionen das Mäntelchen der Rechtmäßigkeit zu verleihen, erwirken sie entsprechende Resolutionen bei internationalen Organisationen, und wenn das aus irgendeinem Grunde nicht gelingt, dann ignorieren sie sowohl den UN-Sicherheitsrat als auch die UNO als Ganzes ... Jugoslawien ... Kosovo ... Libyen ...“

Die vom amerikanischen Vorgehen ebenso betroffene Staatenwelt soll sich einmal Rechenschaft darüber ablegen, ob sie mit dieser Welt(un)ordnung gut fährt oder ob sie sich nicht dem russischen Standpunkt anschließen will. Daher verzichtet der Russen-Chef auch nicht darauf, auf die zivilisatorischen Wirkungen der amerikanischen Bemühungen um die Freiheit fremder Völker hinzuweisen: Es gab auch eine ganze Serie an gesteuerten ‚farbigen‘ Revolutionen... Im Endeffekt herrscht anstelle von Demokratie und Freiheit das Chaos, Gewalt und eine Abfolge an Staatsstreichen.

Putin bedankt sich ausdrücklich bei allen Völkern, bei denen er sich Verständnis für das russische Vorgehen bestellt, auch bei denen, die es gar nicht aufbringen, nicht zuletzt auch bei den Deutschen, denen er eine gewisse Pflicht zur Dankbarkeit vorrechnet, indem er extra daran erinnert, dass sie ihre Wiedervereinigung weniger ihren europäischen Verbündeten als seinem Russland zu verdanken haben.

Im Übrigen lässt Russland keinen Zweifel an seiner Bereitschaft, zur Herstellung der fälligen Achtung seiner Interessen in und außerhalb der Ukraine die nötigen Gewaltmittel in Anschlag zu bringen. Russische Truppen beziehen Stellung hinter der ukrainischen Grenze, und Putin lässt sich von seinem Föderationsrat das Recht genehmigen, die Bevölkerung der ostukrainischen Gebiete mit allen verfügbaren Mitteln zu verteidigen, bis sich die politische Lage wieder normalisiert habe. ‚Wenn wir sehen, dass diese Willkür auf östliche Regionen überschwappt, wenn die Menschen uns um Hilfe bitten (…), so behalten wir uns das Recht vor, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, um diese Bürger zu schützen‘, sagte Putin. (RIA, 4.3.)

Russland betätigt sich da also schon mal, wie angekündigt, als ein solcher selbständiger, aktiver Faktor, der in Bezug auf die Ukraine und die Frage, was aus ihr werden soll, eigene Forderungen zu stellen hat: Es besteht auf der Zusage, dass kein Eintritt in die NATO angestrebt wird, sowie auf einer Föderalisierung des Landes, durch die sicherzustellen ist, dass die Ostukraine einerseits an der Bestimmung der nationalen Politik mitwirken kann und andererseits genügend Selbstbestimmungsrechte eingeräumt bekommt, um selber über die ihr zuträglichen nützlichen Beziehungen zu Russland entscheiden zu können.[6]

3. Die USA erklären Russland zum Störfall ihrer Weltordnung

Amerika bezieht die russische Intervention umgehend auf sich, und zwar auf der höchsten Ebene der Gewaltverhältnisse, nämlich als rechtmäßiger Sachwalter der Weltordnung. Es definiert das russische Vorgehen auf der Krim, ohne erst groß irgendwelche anderen Instanzen zu befragen, vielmehr als Ankläger, Richter und Exekutor in einem, als Verstoß gegen dieses allerhöchste Gut und zieht daraus die Konsequenz: Wenn Russland die Schäden nicht hinnimmt, die man ihm im Fall der Ukraine zufügt, sich nicht in die neue Lage fügt und sich weigert, die verlangte Anerkennung der Ukraine als Besitzstand der Westmächte zu leisten, sondern aus eigener Machtvollkommenheit dagegen angeht, dann ist es selber der Problemfall, den es zu bereinigen gilt. Die Weltmacht sieht sich dazu herausgefordert, den politischen Willen, der sich gegen ihre Suprematie aufstellt, unter ihre Ordnung zu beugen. Ab sofort ist es nicht mehr damit getan, Russland die Ukraine wegzunehmen und das eigene Regime auf dem Schauplatz Ukraine durchzukämpfen; es geht auch nicht mehr darum, Russland die Anerkennung des damit eingetretenen Verlusts eines strategischen Besitzstandes aufzunötigen, sondern Russland unmittelbar selbst als Macht zu treffen. Es gibt in diesem Fall deswegen auch nichts zu verhandeln, sondern nur eines – Russland muss bestraft werden.

Damit beenden die USA ein ganzes weltpolitisches Kapitel: Sie entziehen Russland die Anerkennung als irgendwie berechtigter Mitmacher der Weltordnung und verabschieden damit die Doppelgleisigkeit ihres bisherigen Umgangs mit Russland, dem man für die Entmachtung, die es sich gefallen hat lassen, ein Stück Anerkennung als respektables Mitglied der Völkerfamilie und die Mitsprache in diversen internationalen Gremien gewährt hat. Mit dieser eigentümlichen Strategie ist Amerika nach seinem Sieg im Kalten Krieg gegen das Ärgernis vorgegangen, das die freiwillige Kapitulation der Sowjetunion hinterlassen hatte. Nach dem Verschwinden des Systemgegners war dann eben doch nicht der ewige Friede ausgebrochen, vielmehr galt es die neue Aufgabe zu bewältigen, Russland, eine mit seinen ererbten Mitteln immer noch beachtliche Macht, in die amerikanische Weltordnung einzubinden, den russischen Willen zur Eingliederung in ihren Weltmarkt und die dazugehörige Weltordnung dafür in Anspruch zu nehmen, seine Macht nur mehr konstruktiv im Sinne der Führungsmacht zu gebrauchen und seine Machtmittel auf ein irgendwie funktionelles Maß hinunterzustufen. Russland wird die formelle Anerkennung als Partner in Weltordnungsfragen gewährt, die G7 zur G8 erweitert, ein NATO-Russland-Rat gegründet etc., um sich seine Mitwirkung zu sichern bei den Anstrengungen, Russland gleichzeitig für Dienste an der amerikanischen Weltordnung zu instrumentalisieren, seinen Einfluss einzudämmen und seine Machtmittel zu dezimieren.

Mit dieser Strategie hat Amerika beachtliche Fortschritte beim Ausbau seiner Weltordnung erreicht, angefangen mit der Überführung der ehemaligen Bündnispartner im europäischen Osten in die westlichen Bündnisse EU und NATO, wodurch die NATO von Norden bis Süden, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer an die russischen Grenzen heranrückt. Mit verschiedenen Kriegen werden mehr oder weniger eng mit Russland liierte Staaten erledigt, Jugoslawien wird zerschlagen, der Irak und Libyen werden einem regime change unterzogen. Im Falle Syrien, einem Bündnispartner Russlands, steht das gewünschte Ergebnis, der Sturz der Regierung, noch aus. Unter dem Titel des Anti-Terror-Kriegs in Afghanistan haben sich die USA als strategische Macht in Zentralasien aufgebaut, an der Südgrenze Russlands betreiben sie ihre Politik der Einkreisung und ökonomischen Strangulierung gegenüber dem Iran, inkl. der Konkurrenz um die benachbarten Staaten in der GUS.

In der gesamten engeren russischen Nachbarschaft, dem von Russland so definierten nahen Ausland der ehemaligen Sowjetrepubliken, arbeiten die USA daran, die Herrschaften mit bunten Revolutionen und anderen Hebeln Russland abspenstig zu machen oder ihre Herrschaft zu untergraben. Last but not least haben die USA auch nichts unversucht gelassen, um Russland selbst eine solche Revolution zukommen zu lassen und mit NGOs und Wahlfälschungskampagnen nach dem Muster der Ukraine die politische Willensbildung in Russland selbst in ihrem Sinne zu korrigieren.

Als Vetomacht im Weltsicherheitsrat wird Russland immer dann übergangen, wenn es Einspruch einlegt, und wird dann auch wieder in Anspruch genommen, um z.B. den Iran zur Aufgabe seines atomaren Bewaffnungsprogramms zu erpressen oder Nordkorea zu isolieren. Unter Obama hat es da sogar ein ‚reset‘ gegeben, einen Neustart der unter Bush rapide verschlechterten Beziehungen, nur um Russland zur Zustimmung zu einer höchst asymmetrischen Abrüstungspolitik und den amerikanischen Ausbau der Raketenabwehr in Europa – angeblich gegen den Iran – zu bewegen sowie dazu, das Nonproliferationsregime im amerikanischen Sinn fortzuschreiben. In Fällen wie Nordkorea und Iran haben die USA Russland als Mitmacher bei der erwünschten Isolierung und Erpressung von Schurkenstaaten beansprucht, sie haben von ihm die Duldung beim Sturz von Gaddafi verlangt und ihm die Mitwirkung bei der Teilentwaffnung Assads abgehandelt.

Auf diese Weise haben die USA Russland in ihre Weltordnungsaffären einbezogen und ihm insoweit eine Mitzuständigkeit für die Weltordnung zugestanden, um ihm gleichzeitig Einflusssphären, Bündnispartner und strategische Positionen streitig zu machen. Mit all diesen Weltordnungsaktionen und -kriegen war immerzu Russland gemeint und immer auch der Betroffene, aber abgewickelt worden sind alle Fälle so, als würden sie Russland über die für es vorgesehene Rolle als Mitmacher hinaus eigentlich gar nicht betreffen. Man hat ständig beteuert, dass sich die Behandlung der Fälle nicht gegen Russland richtet. Dieser absurde Handel mit dem Inhalt: Anerkennung gegen die Aufgabe von Machtpositionen, diese Strategie, russische Macht Stück um Stück mit der Zustimmung und Duldung Russlands zu demontieren, hat funktioniert – und zwar weil und solange, wie es sich darauf eingelassen hat, die kriegerischen Aktionen und das Hineinwirken in seinen Machtbereich nicht unmittelbar als Angriff auf sich zu nehmen.

Geändert hat sich das Verhältnis, weil der Westen mit dieser Strategie so außerordentlich weit gekommen ist. Mit der Übernahme der Ukraine steht Russland nicht weniger als die Demontage seines strategischen Status als in Weltordnungsfragen zu berücksichtigende Macht ins Haus. Darüber machen sich beide Seiten nichts vor. Weder die amerikanische, die hier die Gelegenheit zu einer wirklich substanziellen Schwächung der russischen Macht sieht,[7] noch die Russen, für die hier eine Grenze erreicht ist, bei der es an die Machtsubstanz geht und die deswegen nicht überschritten werden darf. Dieser Staat ist ökonomisch und strategisch einfach zu wichtig für Russland. Der seltsame Deal, bei dem ein Stück Abbau russischer Macht gegen ein Stück Anerkennung derselben zu haben war, findet deswegen hier für beide Seiten sein Ende. Russland ist in diesem Fall nicht mehr bereit, für einen weiterhin einvernehmlichen Verkehr mit dem Westen seinen Anspruch auf einen imperialen Machtstatus zurückzustellen. Und Amerika, das sein Containment der russischen Macht fortsetzt, kündigt den Deal auf seine Weise. Es geht dazu über, Russland unmittelbar selber zum Objekt seines Angriffs zu machen: Für Amerika ist ein weltpolitischer Einfluss Russlands nicht hinzunehmen; das Maß an Anerkennung, mit dem es bislang versucht hat, Russland in seine Weltordnung einzubauen und zugleich als relevante Größe aus der Mächtekonkurrenz zu entfernen, wird von der Führung in Washington wie ein nicht länger tragbares Zugeständnis an den weltpolitischen Rivalen aus dem Verkehr gezogen.

4. Die USA exekutieren ihre Entscheidung, „Russland isoliert sich selbst“

In seiner Funktion als oberstes Weltgericht beschließt Obama, dass Russland zu bestrafen ist, und setzt den Preis fest, den es zu zahlen hat. Er vollzieht eine umfassende Kündigung der Beziehungen.[8] Amerika lässt kein Kapitel aus, von der Beendigung der diplomatischen Anerkennungs- und Beteiligungsverhältnisse über das Abschneiden der Geschäftsbeziehungen bis hin zur militärischen Einkreisung und dem Antrag auf weltweite Zensur,[9] und begreift ohne Umstände auch gleich den Rest der Welt mit ein, um Russland aus dem eingerichteten Staatenverkehr auszuschließen. Die USA nehmen den Standpunkt der Kriegsführung ein, indem sie alle Beziehungen aus den friedlichen Kapiteln des Staatenverkehrs, in die sich Russland eingeklinkt hat, dem Programm, dieses Land in die Knie zu zwingen, unterordnen und als Mittel zu seiner Schädigung in Anschlag bringen. Ein schöner Erfolg der Wende vom Systemgegensatz zum Miteinander von Nationen, die sich alle zu Freiheit und kapitalistischer Staatsräson bekennen: Die Eingliederung in die freie Welt und ihren Weltmarkt, die Russland erreicht hat, wird jetzt als ein ganzes Bündel von smart weapons gegen es in Stellung gebracht, um ihm zu beweisen, dass es sich die Verteidigung seiner Interessen an und in der Ukraine nicht leisten kann, und logischerweise, wenn es seine Interessen partout wahren will, an seinem Schaden selbst schuld ist. Die Staatenwelt, d.h. insbesondere die europäischen Verbündeten haben sich für den Aufbau einer geschlossenen Front zur Verfügung zu stellen, damit wahr wird, was Amerika seinem weltpolitischen Rivalen mit seiner Diagnose an den Hals wünscht: Russland isoliert sich selbst. Alle eingerichteten Beziehungen sollen wie ein prächtiger Kriegsersatz wirken, die gegnerische Macht zur Bedeutungslosigkeit herabsetzen und ihren störenden Willen so fundamental schädigen, dass der nicht mehr dazu in der Lage ist, sich der amerikanischen Weltordnung in den Weg zu stellen. Yes we can scheint auch auf dem Gebiet seine Gültigkeit zu haben, wenn der amerikanische Präsident das Resultat, das ihm vorschwebt, schon einmal als fact verbucht: Russland ist eine Regionalmacht, die einige ihrer direkten Nachbarn bedroht – nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche. (Tagesschau.de, 25.3.)

Umgehend werden amerikanische Truppen samt Ausrüstung in die Nähe der russischen Westgrenze transportiert, an EU und NATO vorbei. Die europäischen Bündnispartner dürfen dem nachher zustimmen, dazu ist das Bündnis ja wohl da. Die NATO-Mitgliedschaft der Staaten im neuen Europa erfährt eine strategische Nutzanwendung, ihre Bedrohtheitsgefühle stehen daher ganz hoch im Kurs: Sie brauchen Schutz vor der eigenen Konstruktion, dass Russland, hat es einmal mit der Krim angefangen, sicherlich weitermacht, bis es alle Nachbarn in einer neuen Sowjetunion einkassiert hat. Ganz nebenbei wird eine diplomatische Lüge aus dem Verkehr gezogen und der von Russland jahrelang vorgebrachte Verdacht gegenüber dem fortschreitenden Aufbau der amerikanischen Raketenabwehr in Europa bestätigt; selbstverständlich hat sich die nie allein gegen den Iran und unbekannte dritte Atommächte gerichtet. Aber wen interessiert schon the false narrative von gestern.

Daneben eröffnet Amerika einen Wirtschaftskrieg gegen Russland. Es beschließt Sanktionen, die mit Einreiseverboten und Kontensperrungen gegen einen Kreis von Figuren aus der russischen Führung und Wirtschaftselite anfangen; gegen einen sogenannten inneren Kreis, der die Regierung unterstützt, inklusive einer Bank, die diesen Individuen materielle Unterstützung liefert.[10] Obama verzichtet neben dem Vorwurf der Verletzung der Souveränität der Ukraine nicht auf die Stilisierung des russischen Wirtschaftsverkehrs mit der Ukraine zu einem Eigentumsdelikt, zum Raub von Vermögen des ukrainischen Volks, und erklärt diesen quasi zwischenstaatlichen Kriminalfall gleichzeitig zu einer ungewöhnlichen und außerordentlichen Bedrohung für die nationale Sicherheits- und Außenpolitik der Vereinigten Staaten. (whitehouse.gov, 20.3.14) Die nationale Sicherheit der USA ist offensichtlich eine ausnehmend empfindliche und weltweit verletzliche Angelegenheit.

Die Sanktionen werden schrittweise erweitert und jeweils mit der Ankündigung verknüpft, dass sich Amerika weitere beliebige Steigerungen vorbehält und dabei an alle Schlüsselindustrien Russlands denkt – womit ein eindeutiges Signal für die Geschäftswelt und insbesondere die Finanzmärkte ergeht: Jeglicher Geschäftsverkehr mit Russland steht ab sofort unter Vorbehalt.[11] Der besondere Reiz dieses Verfahrens besteht darin, dass ein solches Signal seine Wirkung erreicht, ganz ohne dass die USA dafür erst auf umständliche Weise die Zustimmung ihrer Mitmacher einholen müssten. Die spezielle Sensibilität der Finanzmärkte für Botschaften der Supermacht reicht hin, um ab sofort sämtliche Transaktionen in Richtung Russland mit einem negativen Vorzeichen zu versehen, sie dementsprechend zu verteuern oder lieber gleich zu unterlassen. Die prompt eintretenden Wirkungen auf Russland, Kapitalflucht, Verfall des Rubel etc. sind dem Wirtschaftsteil der Zeitungen zu entnehmen und werden von amerikanischer Seite mit Freude als Beweis dafür zitiert, wie sehr sich Russland schon „selbst“ geschädigt hat.

Des Weiteren gehen die USA ganz direkt die Zerstörung der ökonomischen Hauptquelle russischer Macht an: Mit der Ansage, dass vor allem der russische Energiesektor für nächste Sanktionsbeschlüsse vorgesehen ist, wird über einen der größten Energielieferanten der Welt das Urteil verhängt, dass es in Zukunft fraglich ist, wie weit der überhaupt noch seine Geschäfte machen kann und seinen Geschäftspartnern zur Verfügung steht. Flankiert wird der Beschluss durch die amerikanische Entscheidung, den Weltmarkt mit ihrem Gas zu bestücken und Europa unter Einsatz der US-Konzerne mit den Segnungen des Fracking vertraut zu machen. Auch wenn noch etliche Jahre veranschlagt werden, bis die nötige Infrastruktur steht: Immerhin wird die europäische Energiepolitik damit schon jetzt unter den heilsamen Druck gesetzt, sich schleunigst um den Abbau russischer Importe zu kümmern. Auf Grund der Eigenart der sogenannten strategischen Güter Öl und Gas, mit deren Preis und der zuverlässigen Versorgung über den Erfolg oder Misserfolg ganzer Kapitalstandorte entschieden wird, taugen sie als enorme Waffe in der jetzt anstehenden Auseinandersetzung. Damit steht nicht nur für Russland dessen gesamter Versuch auf dem Spiel, seinen Kapitalismus haltbar zu machen. Der US-Präsident macht auch kein Geheimnis daraus, dass die gezielte politische Verunsicherung des europäisch-russischen Energiegeschäfts Europa davon überzeugen soll, seine zunehmend gefährliche Abhängigkeit von Russland gegen die vernünftige Abhängigkeit von seiner Schutzmacht USA auszutauschen.

Jedenfalls ist die Infragestellung dieser Errungenschaft der Nachwendezeit, dass dem europäischen Kapital auch die Energievorkommen Russlands zur Verfügung stehen, inkl. aller darauf aufbauenden Kapitalverflechtungen und Geschäftsabteilungen und damit die Infragestellung eines großen Teils des Weltgeschäfts, gewollt. Schließlich ist das russische Kapital, das von Amerika als Opfer seiner Strafaktion gegen den Weltordnungsrivalen vorgesehen ist, inzwischen globalisiert; russische Schuldtitel fungieren als Vermögen in westlicher Hand, bilden einen ordentlichen Anteil am Finanzplatz der Londoner City, und Russland ist längst als Zukunftsmarkt für europäische Unternehmen verplant. Obama nimmt den Einwand vorweg, um ihn zu erledigen: Der Schäden für die Weltwirtschaft, mitten in der Krise, sind sich die USA bewusst – aber die muss man hinnehmen:

„Als Teil dieses Prozesses habe ich heute einen neuen Exekutiverlass unterzeichnet, der uns dazu ermächtigt, neue Sanktionen nicht nur über Individuen, sondern über Schlüsselbereiche der russischen Wirtschaft zu verhängen. Das ist nicht das von uns bevorzugte Ergebnis. Diese Sanktionen würden nicht nur die russische Wirtschaft erheblich beeinträchtigen, sondern könnten auch die Weltwirtschaft destabilisieren. Russland muss jedoch wissen, dass weitere Eskalation nur zu weiterer Isolierung von der internationalen Gemeinschaft führt.“ (abc-news, 20.3.14)

Dieselbe international community, als deren Sprecher der US-Präsident hier auftritt, mag sich zwar mitten in einer epochalen Krise befinden – der Chef der Weltordnung ist sich aber gewiss, dass ihr die Freiheit der Ukraine so sehr über alles geht, dass sie ihre global economy fraglos gerne in den Dienst der von ihm beschlossenen Strafaktion stellt. Im Übrigen darf sich die restliche Welt daran erinnern, wie im Fall des Iran auch nichtamerikanische Firmen vermittels ihrer Aktivitäten in Amerika unter die amerikanische Jurisdiktion gebeugt und zur Disziplin im Umgang mit den von Amerika definierten Schurkenstaaten veranlasst worden sind. Immerhin erläutert der US-Außenminister den Vorteil dieser Sanktionen – eine nuclear option ohne jeden fallout:

„‚Wenn man einmal mit Sanktionen für bestimmte Wirtschaftsbereiche angefangen hat, dann war’s das‘, sagte er. ‚Dann hat man die Sanktionen ausgeschöpft. Das ist die sogenannte atomare Version der verschiedenen Wirtschaftssanktionen... Aber wir versuchen, uns in der Weise angemessen zu verhalten, dass wir sagen: Schaut, wir meinen es ernst, aber wir versuchen, nicht gleich die härtesten Geschütze aufzufahren.‘ Und er fügte hinzu: ‚Wir sind davon nur noch einen Steinwurf entfernt, und wenn sie ihren Kurs weiter verfolgen, steuert man direkt darauf zu.‘“ (Wall Street Journal, 29.4.14)

Die USA bestehen auf einer Instrumentalisierung der EU als Helfershelfer für ihr Programm, die den Charakter einer Linienkorrektur hat und dem auch gleichkommen soll. Dazu drängen sie insbesondere die Führungsmacht Deutschland. Im Rückblick auf die Vergangenheit stellt sich ihnen der friedliche Handel und Wandel, der zwischen Europa und Russland stattgefunden und im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte immer mehr Umfang angenommen hat, als gravierender Fehler dar. Mit seinen Erfolgen auf dem Gebiet hat sich Europa zum einen in eine gefährliche Abhängigkeit von Russland begeben. Zum anderen sind darüber Russland Machtmittel in die Hand gespielt worden. Die Schlussfolgerungen daraus lauten: Europa hat diese Abhängigkeit unbedingt zu bereinigen und seine Wirtschaftsbeziehungen grundsätzlich zu überdenken. Ihr Verlangen nach Gefolgschaft rechnen die USA den europäischen Staaten als unausweichliche Konsequenz daraus vor, dass Europa mit seinem Vormarsch in der Gegenwehr Russlands auf eine Grenze gestoßen ist und dem zu wenig entgegenzusetzen hat: Es hat sich im Fall der Ukraine einmal mehr erwiesen, dass Europa auf die amerikanische Weltmacht als Schutzmacht seiner Interessen angewiesen ist, also hat es sich der auch zu unterstellen und seine bisherigen Berechnungen in Richtung Russland zu revidieren.[12] So die amerikanische Forderung, die insbesondere an die europäische Führungsmacht gerichtet ist.

5. Das europäische Dilemma

Mit der Frage, ob sie den von ihnen eröffneten Machtkampf in der Ukraine überhaupt beherrschen, die vom Zaun gebrochene Konfrontation mit ihren Mitteln durchstehen können, haben sich die Berliner Imperialisten ganz offensichtlich nicht lang aufgehalten. Rücksichtnahmen auf russische Interessen halten sie auch dort nicht für nötig, wo ihre Eroberungspolitik auf den entschiedenen Einspruch Russlands trifft. Selbst in dem Moment, in dem die Kollision mit der Großmacht im Osten auf der Tagesordnung steht, denken sie keine Sekunde an eine irgendwie gerartete Revision ihres Programms. Deutschland hält an seinem raumgreifenden Interesse fest. Es weiß die Macht der USA und der NATO hinter sich. Mit der Weltmacht und dem westlichen Kriegsbündnis an der Seite hält es sich für mächtig genug, in der Ukraine eine willfährige Regierung zu installieren, diese mit einem Machtmonopol im Land auszustatten, Russland zum Stillhalten zu bewegen und den störenden russischen Einfluß auf das Land zu eliminieren. Auf dieser Grundlage – mit der Ächtungs- und Kriegsdrohung des versammelten Westens im Rücken – verlangt es von Putin, die freiwillig nicht akzeptierte Beschlagnahmung seines wichtigsten Nachbarn in der GUS hinzunehmen. Dann könnte man ja, wenn es nach Steinmeier und Merkel geht, die gemeinsame „enge Partnerschaft“ weiter pflegen, also wieder zum business as usual zurückkehren. Diese Rechnung geht nicht auf. Die USA übernehmen zwar den Fall und machen sich das Anliegen zueigen, die Ukraine rücksichtslos gegen das russische Veto ins Lager der Freiheit einzugemeinden, dabei bleibt es aber nicht. Amerika packt das Problem sehr viel grundsätzlicher und gründlicher an als die EU und ihre Hauptmacht: Es will die russische Macht, die störende Interessen anmeldet, nicht ‚bloß‘ zum Einlenken nötigen, sondern kleinkriegen.

Für diesen Zweck verlangen die USA Gefolgschaft und schlagkräftige Beiträge; und das stellt die deutschen Imperialisten vor ein größeres Dilemma: Einerseits brauchen sie die Weltmacht, um die Ukraine als Besitzstand in ihr Europa einzugemeinden und Russland in Schach zu halten, andererseits betätigt sich die westliche Vormacht so, dass sie mit der Durchsetzung ihres Zwecks auch dem Sonderweg den Boden entzieht, auf dem Europa und insbesondere Deutschland zu der Macht geworden ist, die es heute darstellt.

Dieser deutsche Sonderweg hat nämlich darin bestanden, mit der berechnenden Distanzierung von den USA, auf deren überlegener Gewalt zur Sicherung der globalen Geschäftsordnung die Politik der europäischen Kontinentalmächte Deutschland und Frankreich in letzter Instanz immer schon beruht hat, in Sonderbeziehungen mit Russland einzusteigen und in und mittels dieser Beziehungen ihren eigenen Machtzuwachs zu betreiben. Europa, Deutschland als Führungsmacht allen voran, präsentiert sich dem Rechtsnachfolger der Sowjetunion, der nach der Konversion eine zusammengebrochene Ökonomie zu verwalten hat und sich heftigen Vorstößen der verbliebenen Supermacht ausgesetzt sieht, Russland weiter zu entmachten, als wertvoller Partner, Freund und Helfer. Es eröffnet einen umfänglichen wirtschaftlichen Verkehr mit dem Riesenreich, der für beide Seiten von herausragender Bedeutung ist: Die EU funktionalisiert Russland mit seinen enormen Öl- und Gasreserven für die Gewährleistung der Versorgungssicherheit auf dem Kontinent und bietet damit Russland die Perspektive, mit dem wachsenden Umfang des Geschäfts zur auch auf dem europäischen Markt präsenten und respektablen Energiemacht aufzusteigen; beide Seiten bekräftigen ihre weitreichenden Interessen aneinander mit dem Rang einer „strategischen Partnerschaft“. Unter dem Titel „Modernisierungspartnerschaft“ geht Deutsch-Europa auf den russischen Antrag zum Ausbau beiderseitig nützlicher Beziehungen ein. Russland verspricht sich davon Fortschritte bei seiner Kapitalisierung, und dem europäischen Kapital, vor allem dem aus dem von den Russen als Vorzugspartner umworbenen Standort Deutschland, erschließt sich so ein halber Kontinent als lukratives und zukunftsträchtiges Geschäftsfeld vom Turbinenbau bis zur Autoproduktion.

Auch in strategischer Hinsicht hat sich Deutschland als Vorzugspartner der russischen Führung aufgebaut. Man betreibt die Ausweitung des europäischen Machtbereichs in Richtung Russland. Und um dies im Konsens mit dem Kreml hinzukriegen, setzt man sich auch schon mal von der Führungsmacht ab oder tritt mäßigend und bremsend gegen die Politik der USA auf, die im Zuge ihres „Kriegs gegen den Terror“ russische Interessen und Mitspracherechte brachial außer Kraft setzen und Russland mit dem Aufbau eines Raketenschirms zu Leibe rücken. Deutschland lehnt die Aufnahme der Ukraine in die NATO zu Zeiten der orangen Revolution ab und organisiert nach Kräften überall da „Dialoge“ mit Russland, wo die US-Politik eine geschlossene Front zur Beschränkung seiner Ansprüche will. Beim Fall Irak kommt es sogar zu einer gemeinsamen deutsch-französisch-russischen „Achse“, die die amerikanische Militanz verurteilt. In dieser Periode gewinnt die weitergehende deutsch-französische Kalkulation Raum, mit Russland enger zu kooperieren, um sich perpektivisch gegen die Dominanz der USA aufzubauen – eine Linie, die in der Logik des europäischen Imperialismus so wenig abseitig ist, dass sie sich heute immerhin noch in Gestalt mehrerer deutscher Altkanzler und führender Ostpolitiker zu Wort meldet. Das alles nährt zwischenzeitlich die Hoffnung der russischen Führung, die Supermacht durch die Gründung einer Gegenmacht in Gestalt einer strategischen Partnerschaft mit Deutschland und Frankreich zügeln und zur Anerkennung einer „multipolaren“ Weltordnung zwingen zu können oder doch in den beiden europäischen Führungsmächten zumindest eine fallweise brauchbare Adresse gegen den amerikanischen Bellizismus zu haben.

So gelingt es der deutschen Ostpolitik, die russische Einflusszone mit Zustimmung Russlands Schritt für Schritt zu erobern, den ehemals feindlichen Staatenblock an europäischen Werten auszurichten, sich im Namen von Demokratie und Marktwirtschaft in die innere Souveränität der Staaten einzumischen, in Gestalt der OSZE und/oder gleich mit eigenen NGOs vor Ort die Umorientierung der bisherigen Staatsräson zu betreiben und so russischen Einfluss sukzessive, wenn nötig mit der (Mit-)Organisation von bunten Revolutionen zu erledigen – am liebsten auch gleich in Russland selbst. Eingefrorene Konflikte wie in Moldawien, die für Russland zwar nicht vorteilhaft geregelt, aber immerhin stillgestellt sind, werden durch Anheizung des russenfeindlichen Nationalismus vor Ort wiederbelebt, damit Moskau unter Zugzwang gerät, seine Position zu räumen.

Mit den Fortschritten auf dem Weg, Russland einerseits ganz zivil als Ordnungsmacht aus Europa und seinem nahen Ausland hinaus zu drängen, und der Konsolidierung des russischen Staates andererseits haben zwar auch zwischen Russland und Europa die hässlichen Töne zugenommen. Aber das Ensemble aus wachsenden ökonomischen Abhängigkeiten von und strategischen Berechnungen mit der EU hat den Preis Russlands für ein Nein gegen seine weitere Zurückdrängung und Entmachtung enorm erhöht und seinen Teil dazu beigetragen, dass es nicht nur die Expansion der EU, sondern auch die NATO-Osterweiterung bis ins Baltikum und ans Schwarze Meer sowie den Aufbau eines US-Raketenabwehrschirms in Europa zähneknirschend hingenommen hat – ein äußerst wertvoller Nebeneffekt der deutsch-europäischen Sonderpolitik mit Russland für die Festigung der amerikanischen Weltordnung.

Mit der Eroberung der Ukraine aber überschreitet Deutschland die Schwelle der für Russland noch zustimmungsfähigen Verluste und handelt sich das aparte Problem ein, sich die notwendige amerikanische Hilfe gegen den widerspenstigen Kreml zu Washingtons Bedingungen eigentlich gar nicht leisten zu können. Der Schulterschluss mit Obama ist für die Berliner Republik ebenso unvermeidlich wie fatal. Nur mit den USA bleibt man als Imperialist im Geschäft – aber zu einem absehbar ruinösen Preis:

Erstens verlangt Amerika von den Europäern, von Deutschland vorneweg, ihre vielen schönen Energie-, Handels- und Finanzbeziehungen mit Russland als Mittel zur Niederringung dieser Nation in Anschlag zu bringen und damit aufs Spiel zu setzen. Dies schließt neben dem ökonomischen Schaden ein, dass diese Beziehungen dann auch nicht mehr als nützliche Abhängigkeiten taugen, die sich als Mittel der Einflussnahme auf den Willen Russlands verwenden lassen. Damit ist ein ganz entscheidendes Mittel des deutsch-europäischen Imperialismus kaputt.

Zweitens zerstört das Verlangen nach Unterordnung unter die Feindschaftserklärung der amerikanischen Weltmacht gegen Russland das Prinzip der deutschen Ostpolitik; es nimmt ihr den Raum für die berechnende Distanzierung von den USA und ihrem Militärbündnis und damit auch für vorteilhafte Arrangements, die man auf der Grundlage mit Russland hinbekommen und mit denen man die eigene Expansion bislang bewerkstelligt hat. Es entfällt der in der Vergangenheit gerade von den Deutschen in Richtung Moskau sorgsam gepflegte Schein, Europa wäre die ganz andere, dialog- und kooperationsbereite, friedliche Alternative zum klaren Kurs der USA, die Macht des Nachfolgers der SU weiter zu beschränken, ihn auf eine weltpolitisch unerhebliche Größe zu reduzieren.

Das war zwar nie die Wahrheit, aber eben die praktizierte Lebenslüge und das Erfolgsgeheimnis der ausgreifenden deutschen Ostpolitik, die jetzt vor ihrem Ende steht.

6. Der Streit um die einheitliche Sanktionspolitik und die Suche nach diplomatischen Lösungen

Dieses Dilemma der Europäer – dass sie ihre Ambitionen gar nicht aus eigener Machtvollkommenheit verfolgen können, sondern darin auf die amerikanische Weltmacht und deren massives Einwirken auf Russland angewiesen sind, dass sie dem amerikanischen Verlangen nach Unterordnung und tatkräftiger Unterstützung aber nicht nachkommen können, ohne dass dadurch ihr eigenes imperialistisches Projekt unter die Räder kommt – dieses Dilemma bestimmt das deutsch-europäische Vorgehen in der aktuellen Krise.

Gerade weil die Interessen auf der amerikanischen und der europäischen Seite gründlich auseinandergehen, herrscht an deklamatorisch dick unterstrichenen Beschwörungen der Einigkeit hüben wie drüben kein Mangel. Die Amerikaner mahnen damit unübersehbar Linientreue an. Bei den Deutschen, die sich hier in erster Linie angesprochen sehen dürfen, ist das obligate laute Bekenntnis zum transatlantischen Schulterschluss regelmäßig der Auftakt für den Versuch, die amerikanische Politik dem eigenen Interesse entsprechend umzudeuten und zu unterlaufen, ohne dabei in offenen Dissens mit der Weltmacht zu geraten.

Und so ist es ja eben auch gar nicht, dass der Schulterschluss mit Amerika, zu dem man sich bekennt, bloß deklamatorischen Charakter hätte. Wenn die Amerikaner in der Ukraine dafür sorgen, dass dort eine Regierung von ihren Gnaden ans Ruder kommt und sich durchsetzt, dann können ihre europäischen Partner damit schon etwas Nützliches anfangen. Immerhin taugt die neue Regierung, noch bevor sie überhaupt die Herrschaft über ihr Land errungen hat, schon einmal dazu, mit ihr den politischen Teil des Assoziierungsabkommens unter Dach und Fach zu bekommen. Mit dem Abschluss der entsprechenden Vereinbarung wird der Entzug der Ukraine aus dem russischen Einflussbereich ein weiteres Stück weit festgeklopft – was durchaus auch im Sinne der USA ist. Und die EU schafft sich mit dieser Vereinbarung ein Instrument ihrer konkurrierender Einflussnahme auf die Mannschaft in Kiew, deren erste Adresse naturgemäß erst einmal Washington ist. Dafür fließt sogar gutes europäisches Geld.[13] Was daraus weiter wird, wird man sehen. Der ökonomische Teil des Abkommens wird jedenfalls erst einmal auf Eis gelegt, was Russland so verstehen darf, dass man seinen Einwänden Rechnung zu tragen gewillt ist; und dass es deswegen eigentlich gar keinen Grund mehr hat, sich dem Hineinwirken der EU in sein ökonomisch-strategisches Vorfeld noch entgegenzustellen. Außerdem ist ja auch gar nicht absehbar, was sich mit der Ukraine, nachdem sie derart zerlegt und mit den vereinten Kräften aller Beteiligten zu einem failed state gemacht worden ist, demnächst dann ökonomisch überhaupt noch anstellen lässt.

In Brüssel und Berlin hat man – unabhängig vom amerikanischen Verlangen danach – durchaus auch eigene Gründe, Sanktionen gegen Russland zu begrüßen und in Maßen auch selber zu beschließen: Damit will man Russland zum Einlenken bewegen; ihm soll ein Ja zum Seitenwechsel der Ukraine abgerungen werden; und es soll sich unter europäischer Federführung auf Verhandlungen mit der neuen Regierung einlassen und Beiträge zur Stabilisierung von deren Herrschaft über das Land leisten. Die Sanktionsforderungen aus den USA bemessen sich jedoch an einer viel fundamentalistischeren Zielsetzung – bezweckt ist ausdrücklich ein wirksamer Angriff auf die russische Macht –, reichen deswegen auch viel weiter und machen sich daher auch ziemlich frei von der Bezugnahme auf irgendwelche Anlässe, die sich als Fehlverhalten Russlands interpretieren lassen.

Um nicht in die absehbare Totalkollision mit Russland hineinzugeraten, mit der dann absehbarerweise auch der deutsch-europäische Sonderweg beendet wäre,[14] verlegt sich die Merkel-Regierung deswegen unter dem schönen Titel Kooperation statt Konfrontation nicht ohne Erfolg auf eine Obstruktionspolitik gegen das verlangte Sanktionsregime. Sie deckt damit auf, dass auch die amerikanische Politik einen kleinen Widerspruch zu bewältigen hat. Die Mittel, die Obama zur Isolation des Rivalen Russland einsetzen will, sind nur zum Teil in amerikanischer Hand; damit aus der Ächtung Russlands das fait accompli wird, als das Obama es in seiner gewohnten Art behandelt, braucht er die Mitwirkung der europäischen Partner, die ihre Wirtschaftsbeziehungen zu Russland zur Waffe gegen Russland machen sollen; er ist insbesondere auf die Mitwirkung Deutschlands angewiesen, das hier die größten Potenzen zu bieten, also auch am meisten zu verlieren hat, und das zugleich als europäische Führungsmacht die EU im Sinne der amerikanischen Sanktionspolitik auf Linie bringen soll. Der Streit um die Sanktionen, die man natürlich gemeinsam will, bleibt deswegen Dauerthema. An den Bestimmungen der Sanktionspolitik und an den Sanktionsmaßnahmen wird heftig herumdefiniert und herumproblematisiert: Während Obama unentwegt bereits Sanktionen für spezifische Sektoren der Wirtschaft in Russland ins Spiel bringt, sind Sanktionen für Merkel generell nur eine zweite Maßnahme, die dann, wenn sie fällig wird, auch nur in Kombination mit der Offerierung diplomatischer Lösungen ergriffen werden soll.[15] Was den Stoff der Sanktionen anbelangt, will Deutschland bis auf Weiteres darauf verzichten, Kriegsgerät an Russland zu liefern, was natürlich auch heißt, dass das Geschäft mit unverdächtiger Ware weitergehen soll. Zur selben Zeit, in der die Amerikaner die Deutschen nachdrücklich zur Verschärfung der Strafaktionen gegen Russland anhalten, fährt der Siemens-Chef in einer, wie eigens betont wird, mit dem Kanzleramt abgestimmten Mission nach Moskau und versichert, dass die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen solche temporären Eintrübungen überstehen werden.[16] Wenn die USA mit giftigen Eskalationsstufen Vorgaben für die fällige Einigkeit gegen Russland machen, definiert Deutschland sich seine eigenen: Die ersten beiden fallen – welch Überraschung – deutlich milder aus als die amerikanischen, und bei der Sanktionierung russischer Firmen hat sich die EU vorerst nur zwei handgezählte auf der Krim ausgesucht. Die für den Wirtschaftsverkehr mit Russland kritische dritte Stufe der Sanktionen, die ganze Wirtschaftszweige lahmlegen würde, soll möglichst überhaupt nicht eintreten, bzw. erst nach offener militärischer Intervention Russlands in der Ostukraine. Neuerdings, nach einer Übereinkunft von Merkel und Hollande, hat Europa aber wiederum eine eigene Drohung gegenüber Russland aufgemacht: Man kündigt bereits vorbeugend härtere Strafen an; und zwar für alles, was Europa als Versuch zur Verhinderung der Wahlen vom 25. Mai einstuft. Dafür, das steht jetzt schon fest, macht man Russland ausdrücklich verantwortlich.

Daneben unternimmt Deutschland immer wieder Vorstöße auf dem Feld der Diplomatie. Auch hier zeigt sich die Dialektik von Kooperation und Konkurrenz zwischen Amerika und Europa im Kampf gegen Putins Russland aufs Schönste. Die Suche nach diplomatischen Lösungen gestaltet sich so, dass von deutscher oder europäischer Seite unermüdlich nach Mitteln und Wegen gesucht wird, wie man die Militanz der amerikanischen Weltmacht gewissermaßen zerlegen kann in einen nützlichen Teil, der unverzichtbar ist, um den Russen die Bereitschaft abzuhandeln, über die eigenen, erklärtermaßen unverhandelbaren Interessen zu verhandeln, und in eine schädliche Komponente, die nur dazu führt, dass sich Russland zur Wahrung seiner vitalen Interessen auf seine letzten Machtmittel besinnt und in der Verfassung für die Europäer dann erst einmal nicht mehr erreichbar ist. Ein nicht ganz einfaches Unterfangen, weil es von vornherein unter der argwöhnischen Beobachtung der USA steht, die hinter solchen diplomatischen Manövern grundsätzlich die Absicht am Werk sehen, die klare Frontstellung, die sie vorgeben, zu verwässern, und solche Versuche daher nach Kräften obstruieren.

Zustandegekommen sind unter solchen Voraussetzungen tatsächlich die Genfer Gespräche. Dass es dem deutschen Außenminister Steinmeier gelungen ist, sich mit einem selbsterteilten Vermittlungsauftrag in den Konflikt einzuschalten und die EU damit überhaupt erst wieder als irgendwie mitzuständiges Subjekt ins Spiel zu bringen, nachdem die USA mit ihrer Anerkennung der prowestlichen Putschisten in Kiew als legitimer Regierung der Ukraine erst einmal für klare Rechtsverhältnisse gesorgt, den berühmten ‚Raum für Gespräche‘ mit den Russen gleich null gesetzt und die Europäer als irgendwie maßgebende Größe erfolgreich ausgemischt hatten, verdankt sich entgegen deutschem Selbstlob allerdings nicht der Kombination von Unermüdlichkeit und Geschick des deutschen Chefdiplomaten. Vielmehr hatte sich zuvor die von den USA inthronisierte Regierung in Kiew als unfähig erwiesen, ihren Laden unter Kontrolle zu bringen. Der Einsatz ihrer Sonderkräfte gegen die Aufständischen in der Ostukraine gerät zum Debakel, bei dem Hubschrauber abgeschossen, Panzer von Aufständischen erobert werden und Einsatzkräfte zum Gegner überlaufen. Und justament in der Lage stellt sich Russland bedrohlich auf. Putin nutzt die Gunst der Stunde, um seinem amerikanischen Kollegen gegenüber klarzustellen, dass Russland nicht tatenlos zusehen werde, wenn die Kiewer Regierung die Lage militärisch zu bereinigen versucht; er fordert die USA dazu auf, das von ihnen eingesetzte Regime zur Ordnung zu rufen: Es hat seine Übergriffe auf die russischen Bevölkerungsteile einzustellen und es hat sich auf Verhandlungen über eine Föderalisierung der Ukraine einzulassen. In diesem historischen Moment sehen sich die USA zu besagten ‚Gesprächen‘ bereit – und machen aus diesen Gesprächen, noch bevor sie begonnen haben, eine Veranstaltung, bei der allen Beteiligten klar sein muss, dass nur eines auf der Agenda steht: Russland auf einen Verzicht auf Gewaltanwendung festzulegen und ihm die Verpflichtung zur Deeskalation der Lage aufzuerlegen. Die Amerikaner sprechen Jazenjuk und Co. von jeder Schuld an der Eskalation der Lage frei und kündigen unmittelbar vor Beginn der Verhandlungen die weitere Verschärfung der Sanktionen gegen Russland an.

Die EU nutzt die Gelegenheit, um auf eine Vereinbarung hinzuwirken, in der sich beide Seiten, nämlich Russland und die Kiewer Regierung, zur Deeskalation verpflichten und aus der Europa so besondere Zuständigkeiten und damit wieder Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Konfliktparteien und auf die innerukrainischen Verhältnisse erwachsen sollen. Tatsächlich wird vereinbart, dass der OSZE als neutraler Institution eine führende Rolle bei der Unterstützung der ukrainischen Behörden und Kommunen zukommt. Was dieses Mandat praktisch bedeutet, steht freilich auf einem ganz anderen Blatt. Die Jazenjuks stehen nämlich auf dem Standpunkt, dass für sie die Vereinbarung in keiner Weise bindend ist. Und sie können sich diesen Standpunkt leisten, weil und solange die USA ihnen dabei grünes Licht geben.

Der praktische Ertrag dieser diplomatischen Episode besteht deswegen nur in einem zusätzlichen Rechtstitel, der sich bei jeder Gelegenheit einsinnig gegen Russland wenden lässt. Wenigstens in dem Punkt sind sich Amerikaner und Europäer, Obama und Merkel nämlich völlig einig: dass auf jeden Fall Russland für die Eskalation der Lage vor Ort verantwortlich zu machen ist.

7. Der Streit um die Linie in der EU

Das großartige Europa, das sich so gerne als Friedensmodell des Jahrhunderts vorführt, präsentiert sich im Inneren als das, was es ist: Ein Haufen von Nationalisten, die die durch Amerika geschaffene neue Lage im Lichte ihrer Interessen beurteilen und gegen- und miteinander ihre Rechnungen damit anstellen. Je nach Interessenlage und Mitteln entdecken sie Gelegenheiten zur Aufwertung ihrer Machtposition, wenden sich gegen die zu erwartenden Schäden durch die angekündigten harten Sanktionen oder wägen ab zwischen beidem. Insgesamt sortieren sie sich auseinander in die Scharfmacher auf der einen, Bedenkenträger auf der anderen Seite oder sind beides in einem. Da ist jedenfalls viel zu tun für die Führungsmacht Deutschland, die ihre Besitzstände zu verteidigen hat; darunter die, die sie als Hauptnutznießer und -betreiber der europäischen Machtentfaltung nach Osten erworben hat, sowie den überhauptigen, der in der Anerkennung ihres Führungsanspruchs und der Festlegung der EU auf ihre imperialistischen Ambitionen besteht. Das alles kommt auf, weil Europa ja nicht erst seit gestern ein Konkurrenzprojekt der daran beteiligten Nationen ist. Steinmeier klappert unentwegt die europäischen Hauptstädte ab, die Sicherung der Einheit Europas überhaupt steht an, gegen Angriffe auf die eingerichtete Hierarchie, die mit der Verengung der Politik auf die militärische Dimension einhergehen.

Das neue Europa im Osten kommt durch die Benützung als Standort für den Aufbau der amerikanischen Abschreckungsmacht wieder zu Ehren. Amerika verzichtet selbstverständlich nicht darauf, sich rufen zu lassen; die baltischen Staaten und Polen werfen sich ihm an die Brust und unterminieren allein damit schon die Bemühungen der deutschen Führungsmacht um eine eigenständige Politik Europas. Diese Staaten betreiben schon immer unter dem Schutzschirm der NATO ihre Feindschaft gegen Russland in einem Maß, das sie sich aus eigener Kraft niemals hätten leisten können, u.a. drangsalieren die Balten die unter ihre Herrschaft gefallenen russischen „Minderheiten“; in Lettland macht diese Minderheit immerhin fast ein Drittel der Bevölkerung aus. Da sind sie natürlich jetzt, wenn nach Beschluss der NATO Russland gerade mit seiner Expansion angefangen hat, äußerst schutzbedürftig – und Amerika zögert keine Sekunde, ihr Staatenleben auf die Funktion von US-Stützpunkten festzulegen.

Der große Nachbar Polen, der ohnehin schon mit seinen Interessen an der Ukraine an vorderster Front beteiligt ist und für die Funktion als Militärmacht und NATO-Frontstaat eine ganz andere Masse an Territorium und Volk aufbieten kann, ergreift mit sichtlicher Genugtuung die Gelegenheit zur Aufwertung der eigenen Bedeutung, nicht zuletzt auch gegen die deutsche Hegemonie in Europa. Im Rahmen der NATO tritt Polen fordernd in Erscheinung, auch Deutschland habe gefälligst seinen Beitrag zu leisten und sich vorbehaltlos hinter seinen östlichen Nachbarn zu stellen, wenn der Bündnissolidarität anmahnt; was aus Berlin mit einem Schlag etwas unterhalb der Gürtellinie beantwortet wird:

„In Rede stehe etwa die Verlegung von schwerem militärischen Material ins Baltikum oder nach Polen. Hier gibt es Widerstand aus Deutschland. Zum einen wird die Notwendigkeit einer Verlegung des Materials etwa nach Polen bestritten, da das Land objektiv nicht durch Russland bedroht werde. Zum anderen widerstrebt es Berlin offenbar, innenpolitischen Reflexen in Polen zu folgen.“ (FAZ, 29.3.)

Kaum einer der Euro-Staaten kann auf der anderen Seite der gemeinsamen Sanktionspolitik viel abgewinnen, wenn die verlangt, mitten in der Krise und der ohnehin heftig tobenden Konkurrenz darum, welche nationalen Konzerne oder Banken auf der Strecke bleiben, die eigenen Geschäftsbeziehungen zu Russland aufs Spiel zu setzen. EU-Haushaltskommissar Janusz Lewandowski spricht stellvertretend für viele EU-Mitglieder: Europa, das sich gerade von der jüngsten Krise erholt, soll keine Sanktionen gegen Russland verhängen, weil Länder der Europäischen Union nach dem Schlagabtausch mit Sanktionen ebenfalls betroffen werden. Wir wissen, was die zielgerichtete Rache bedeutet: sie trifft vor allem jene, denen es am meisten weh tun wird. (RIA, 18.4.)

Die Güterabwägungen, die hier angestellt werden, fallen allerdings sehr unterschiedlich aus, je nachdem wie man im Geschäft mit den Russen drin ist, welchen Posten in der nationalen Bilanz das ausmacht und welche Rolle man sich bei der Neuausrichtung Europas ausrechnet oder ob man dabei sowieso nichts zu sagen hat.

England blickt zwar mit Sorge auf seine City – zufällig kommt ein Papier des Außenministeriums an die Öffentlichkeit, in dem es heißt, es sei nicht im britischen Interesse, Russen den Zugang zum Finanzzentrum London zu versperren (FAZ, 18.3.14) –, rechnet aber auch umgekehrt mit der City als sicherem Hafen für Fluchtkapital aus Russland und bleibt seiner historischen Rolle als bedeutende Militärmacht an der Seite der USA treu. Frankreich und Italien sind es ihrer Stellung als führende Mächte in der EU und bedeutende NATO-Mitglieder ebenfalls schuldig, die Drohungen gegenüber Russland mitzutragen, und suchen gleichzeitig, ihre bedeutenden Geschäftsbeziehungen zu Russland zu retten. Frankreich ist mit viel Finanzkapital, Autofabriken und Handelskapitalen in Russland unterwegs, zudem steht neben verschiedenen rüstungstechnischen Kooperationen ein gewaltiges Waffengeschäft mit Russland – zwei Hubschrauberträger – auf dem Spiel. Italien bezieht den Standpunkt, dass angesichts seiner krisengeschädigten Wirtschaft und den ziemlich unverzichtbaren Wirtschaftsbeziehungen mit Russland Sanktionen erst einmal überhaupt nicht in Frage kommen.

Die Rücksichtslosigkeit, mit der ein großer Teil der nationalen Energieversorgung einer ganzen Reihe europäischer Staaten unter den strategischen Gesichtpunkt der gefährlichen Abhängigkeit von Russland subsumiert wird, stellt die europäische Solidarität auf eine harte Probe.

Etliche Staaten in der untersten Abteilung der EU-Hierarchie kommen sofort in die Schusslinie: Ungarn gerät in die Kritik, weil es sich schrittweise der Vorherrschaft der europäischen Energiekonzerne entledigen und dazu ausgerechnet von Russland ein AKW hinstellen und kreditieren lassen will. Orbán verkündet, dass er Sanktionen gegen Russland nicht zustimmen wird, was ihm eine verschärfte Aufmerksamkeit für seine ohnehin mangelnde demokratisch-menschenrechtliche Qualifikation einbringt. Die EU-Kommission, die ohnehin schon seit langer Zeit gegen die ungarischen Eigenmächtigkeiten angeht, antwortet mit dem Einfrieren der im Rahmen der Regionalförderung zugesagten Mittel; ein empfindlicher Schlag gegen den ungarischen Haushalt,[17] mit dem Orbán nachdrücklich in Erinnerung gebracht wird, wer hier von wem abhängig ist.

Die Slowakei wird genötigt, sich mit dem Hauptversorger Gazprom anzulegen, mit dem man gerade noch einen Rabatt für russisches Erdgas aushandeln konnte, und die Kosten für die Umstellung einer Gas-Pipeline zur Belieferung der Ukraine mit russischem Gas zu tragen. Die Schubumkehr kostet 20 Millionen Euro, und der slowakische Regierungschef hat kein Geld übrig, um Kiew zu unterstützen (RIA, 3.4.), was ihm aber wenig hilft. Immerhin tut er sich mit dem tschechischen Kollegen Sobotka zusammen, der im Namen seines Wirtschaftsstandorts ankündigt, sich gegen europäische Sanktionsbeschlüsse starkzumachen: Die Entscheidung über zusätzliche Sanktionen gegen Russland soll auf der Ebene der europäischen Staats- und Regierungschefs getroffen werden. In diesem Fall wird Tschechien dagegen stimmen. (RIA, 24.4.) Die Wirtschaftskammer des Landes hat härtere Sanktionen gegen Russland abgelehnt. Rund 20 000 Arbeitsplätze in Tschechien sind nach eigenen Berechnungen unmittelbar in Gefahr, wie der Unternehmerverband mitteilte. Zudem seien 30 000 Jobs bei Zulieferern bedroht. Die politischen Spannungen kämen zum ‚ungünstigsten Zeitpunkt‘. Russland sei der wichtigste Handelspartner Tschechiens außerhalb der Europäischen Union. (Radio Prag, 21.3.) Was andererseits den Staatspräsidenten Zeman nicht hindert, sich hinter die US-Linie zu stellen, demonstrativ Härte zu zeigen, den Russen höchstpersönlich eine „rote Linie“ zu ziehen und mit einem militärischen Eingreifen der NATO in der Ukraine zu drohen.

Um das mangelnde eigene Gewicht in der EU zu kompensieren, revitalisieren Ungarn, die Slowakei, Polen und Tschechien ihr mitteleuropäisches Bündnis und werden im Format der Visegrad Vier in Kiew vorstellig. In Gestalt nationaler Minderheiten kann man dort einen eigenen Rechtstitel geltend machen,[18] fordert von Jazenjuk eine baldige Lösung des Sprachengesetzes, gibt der Besorgnis vor großen Flüchtlingswellen aus der Ukraine Ausdruck und pocht auf ein Stück eigene Berechtigung zur Aufsicht darüber, ob die neue Regierung den nötigen Respekt vor den Menschenrechten an den Tag legt. Soviel kann man als EU-Mitglied immerhin in Anschlag bringen:

„Die V4 erklärten: Priorität solle zwar die territoriale Integrität der Ukraine haben, dennoch sollten den ‚östlichen Regionen‘ Zugeständnisse gemacht werden, so dass der ‚Krimkonflikt‘ sich nicht über die östlichen und südlichen Regionen ausbreitet. Bei allen Entwicklungen sei den Menschen- und Minderheitenrechten der ‚volle Respekt‘ zu gewähren.“ (Pester Lloyd, 3.3.14).

Weiter südlich müssen sich diverse Staaten dafür rechtfertigen, dass sie ihre nationale Energieversorgung mit einem Projekt sichern wollen, das überhaupt nicht mehr in die neue Lage hineinpasst und schon länger von seiten der EU-Kommission bekämpft wird.

„Barroso wurde bei einem Besuch in Sofia mit der Bemerkung zitiert, das Projekt South Stream, das russisches Gas unter Umgehung der Ukraine durch das Schwarze Meer nach Bulgarien und von dort über Serbien, Ungarn und Slowenien nach Italien und Österreich (samt Nebenarmen nach Bosnien und Kroatien) transportieren soll, sei ‚eingefroren‘. Da sich alle an South Stream beteiligten Balkanstaaten davon eigene Einnahmen, geringere Gaspreise und mehr Unabhängigkeit von den Auswirkungen russisch-ukrainischer Gaskonflikte erhoffen, hat die Barroso zugeschriebene Äußerung in der Region für große Aufmerksamkeit gesorgt.“ (FAZ, 16.4.)

Der Streit betrifft aber nicht nur die Balkan-Bewohner, bei denen die EU-Kommission sich vermutlich fragt, wozu diese Wirtschaftsstandorte, die durch den Jugoslawien-Krieg, durch die marktwirtschaftliche Rosskur ihrer Integration in Europa und die Krise weitgehend ruiniert sind, überhaupt Strom brauchen, wenn sie den ohnehin nicht bezahlen können. Beim Thema South Stream legen sich auch potentere Staaten wie Österreich und Italien quer. Österreich schließt mitten in dieser Lage einen Vertrag mit Gazprom über den Anschluss an South Stream. Auch Italien besteht auf Fortführung des von der EU-Kommission als wettbewerbswidrig zurückgewiesenen Grossprojekts des russischen Konzerns Gazprom zum Bau der Pipeline South Stream (NZZ, 6.5.14), eines von vielen Projekten, mit denen Italien seine strategische Partnerschaft mit Russland aufgebaut hat und unterhält.

Umgekehrt meldet sich Polen, die bislang eher subalterne Spitze des Weimarer Dreiecks, auch auf dem Gebiet der Energiepolitik mit Forderungen gegen Deutschland. Es ergreift die Gelegenheit, sich bei Deutschland für die Vorschriftenmacherei in Sachen Klima zu rächen und ihm umgekehrt den Vorwurf reinzuwürgen, dass es mit seiner Energiepolitik die nötige Härte im Umgang mit Russland vermissen lässt und damit Europa in den Rücken fällt:

„Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat Deutschland aufgefordert, seine Abhängigkeit von russischem Erdgas zu verringern. Sie könnte ansonsten die europäische Souveränität einschränken... Ich werde mit Merkel vor allem darüber reden, wie Deutschland einige seiner Wirtschaftsmaßnahmen korrigieren kann, damit die Abhängigkeit von russischem Gas Europa nicht dann lähmt, wenn es entschlossen auftreten muss.“ (reuters.com, 10.3.)

Immerhin wird damit nicht weniger gefordert, als dass die Führungsmacht Fehler eingesteht und sich korrigiert. Deutschland soll gefälligst auf seine Konkurrenzmittel bei der Energiebeschaffung verzichten und lieber mit einer „Energieunion“, analog zur Bankenunion, dem militanten Aufbau Rückendeckung geben:

„Eine eigens dafür eingerichtete EU-Behörde soll künftig Gas für alle 28 EU-Mitgliedstaaten zentral einkaufen. Bei Energieengpässen könnten dann die betroffenen Staaten entsprechend versorgt werden. Parallel dazu müssten die 28 Länder ihre fossilen Energieträger wie Kohle und Schiefergas nutzen.“ (Tagesschau.de, 25.4.)

Auch von anderer Seite bekommt es Deutschland mit Forderungen zu tun. Im Streit, wer die Kosten des europäischen Imperialismus zu tragen hat, beantragen verschiedene Nationen in Brüssel eine Kompensation allfälliger ökonomischer Schäden:

„Der Ungar Janos Martonyi sprach offenbar für viele, als er nach einem Vieraugengespräch mit dem Deutschen Steinmeiers Einschätzung teilte, bei Sanktionen sei darauf zu achten, dass man sich selbst nicht mehr schade als der Gegenseite. Auch gibt es aus dem Kreis der Osteuropäer, die zum Teil vollständig vom Import russischer Energieträger leben, Nachfragen, ob Berlin sich im Fall von Gegenmaßnahmen des Kremls solidarisch zeigen, also ihnen Teile der deutschen Gasreserven zur Verfügung stellen werde.“ (FAZ, 15.3.)

Das lässt sich dann wiederum zur Zurückweisung der Scharfmacher mit ihren galligen Bemerkungen in Richtung Berlin verwenden. Den Hitzköpfen wird empfohlen, erst einmal nachzurechnen, wer denn in der EU nun wirklich von russischem Gas abhängig ist und wer nicht. (FAZ, 31.3.)

Deutschland verweist demonstrativ auf die Zwiespältigkeit der osteuropäischen Wortmeldungen, mit denen sich das ‚neue Europa‘ zwar lauthals zu Amerika bekennt, aber postwendend in Brüssel oder gegenüber Deutschland den Anspruch auf Entschädigung anmeldet, weil es die absehbaren ökonomischen Verluste, die mit einer solchen Politik der Scharfmacherei gegen Russland verbunden sind, nicht verträgt. So leicht stellt Deutschland seine entscheidende Wirtschaftsmacht in und über Europa nicht als Selbstbedienungsladen für wirtschaftliche Schwächlinge zur Verfügung. Und schon gleich denkt es nicht daran, den unverschämten Anspruch zu tolerieren, dass neuerdings andere dazu befugt sein wollen, die europäische Linie mit zu definieren.

8. Die Herrichtung der Ukraine für die fällige Auseinandersetzung mit Russland

Mit dem Umsturz in Kiew haben die USA einer Mannschaft zur Macht verholfen, die sich mit ihrem radikal antirussischen Nationalismus für die vorgesehene Funktion als amerikanisches Bollwerk qualifiziert, ansonsten aber nicht viel mehr in die neue Partnerschaft einbringt als ein mit allen Merkmalen eines failed state ausgestattetes Gebilde. Dem Widerspruch, dass die neue Herrschaft nicht nur einen Staatsbankrott zu verwalten hat, sondern dass ihr auch die wesentliche Eigenschaft eines Souveräns, die Verfügung über ein landesweites Gewaltmonopol abgeht und ihre ökonomischen, politischen und militärischen Mittel nicht annähernd dazu hinreichen, so etwas wie Stabilität im Land herzustellen, tragen die USA Rechnung, indem sie sich als Subjekt aller wesentlichen Entscheidungen direkt im ukrainischen Machtapparat installieren. Die innere Verfassung der Ukraine kann und darf schließlich kein Hindernis dafür sein, Russland mit seinen Einflussmitteln aus diesem Raum zu verdrängen.

Die Zuständigkeit für die ukrainische Schuldenlage wird dem IWF übergeben, der ab sofort die auswärtige Zahlungsfähigkeit der Nation verwaltet und die Haushaltsentscheidungen diktiert. Ein Heer von amerikanischen Beratern sitzt in den Ministerien in Kiew, damit der wilde Nationalistenhaufen an der Macht nichts falsch macht – man hat ja 2004 schon einmal erlebt, wie der Notstand der Ukraine russischer Einflussnahme doch wieder eine Chance eröffnet. Amerika schickt technische Experten aller Art, die von der Sicherheitslage über das Geld, den Staatshaushalt und das Energiewesen über das ukrainische Rechtswesen bis hin zu den kommenden Wahlen und der dafür nötigen Organisation der Öffentlichkeit alles Nötige in die eigene Hand nehmen. CIA, FBI und US-Militärberater samt privatem Fachpersonal für Sicherheitsfragen, assistiert von der NATO, kümmern sich um die Sorte Stabilität, die das Land braucht. Es gilt die Obama-Devise no (american) boots on the ground, aber das muss ja auch nicht sein, wenn außer Soldaten in offizieller US-Montur und schwerem Gerät so ziemlich alles geliefert wird, was nötig ist, um die Herrschaft über den immerhin flächenmäßig größten Staat in Europa mit 45,5 Millionen Bevölkerung durchzufechten.

Was die USA, mit der EU an der Seite, da in Auftrag geben und mit Geld und noch viel mehr Gewalt hinorganisieren, ist eine weltpolitische Innovation aus dem Lager der Freiheit: Zerstörtes Gewaltmonopol versucht abtrünnige Volksmassen mit Bürgerkrieg unter seine Hoheit zu zwingen – ein Staatsmodell für ein Zusammenleben der Völker in der Ukraine, wie es schöner nicht sein könnte. Insgesamt eine herausfordernde Kombination von Aufgaben für die neue Regierung, das Verelendungsprogramm gegen die Bevölkerung durchzusetzen, gleichzeitig den auf die richtige auswärtige Adresse gerichteten nationalen Geist in Schwung zu halten, die widerstrebenden Teile der Bevölkerung samt Oligarchen unter Kontrolle zu bringen und all das auch noch mit einer Wahl zu krönen, die aller Welt beweist, wohin die Ukraine gehört. Es ist auch der erste Fall, in dem die von Amerika und Europa mittlerweile schon gewohnheitsmäßig praktizierte Methode, missliebige Herrschaften durch das Anfachen von Aufständen zu destruieren, dazu führt, dass sich die Initiatoren solcher Revolutionen mit dem Problem herumschlagen müssen, wie man in dem zerstörten Staatswesen, das so ein Umsturz hinterlässt, wieder eine funktionierende Herrschaft hinbekommt. Schließlich hat man mit der Ukraine einiges vor: Sie soll ja als antirussischer Frontstaat taugen.

Westliche Ertüchtigung für einen nicht-existenten Bürgerkrieg

Trotz aller autoritativen Statements aus den westlichen Hauptstädten, was die Rechtmäßigkeit der neuen Machthaber betrifft, lässt sich die Tatsache nicht wegdefinieren, dass sich Teile des Landes in der freien Selbstbestimmung des ukrainischen Volks, die Jazenjuk in Kiew an die Macht gebracht hat, überhaupt nicht aufgehoben sehen. Zumal die neue Regierung alles Nötige dafür getan hat, dem Misstrauen der Fraktionen, die dem bedingungslosen Pro-Euro-Kurs skeptisch bis feindlich gegenüberstehen, weitere Gründe zu liefern, so dass sich der Widerstand radikalisiert.

Seit ihrem Amtsantritt lassen der selbst- bzw. von Amerika ernannte Regierungschef und die Mitstreiter vom rechten Rand keine Zweifel an ihren Absichten, mit ihren Gegnern gründlich aufzuräumen, alle russophilen Neigungen im Land auszurotten. Da gibt es offensichtlich nichts Wichtigeres zu tun, als erst einmal das Sprachengesetz, das die lokale Geltung des Russischen als zweite Amtssprache geregelt hat, abzuschaffen. Erwogen wird des Weiteren das Verbot der Partei der Regionen und der Kommunistischen Partei. Noch bevor das ergangen ist, werden schon mal Wortführer der verkehrten Sache kriminalisiert und eingesperrt. Die selektive Justiz tritt in Aktion, diesmal unter entgegengesetzten Vorzeichen, nachdem ein Mann von der Swoboda-Partei als neuer Generalstaatsanwalt fungiert.[19] Der entscheidet, dass die Toten vom Maidan trotz massiver Zweifel sogar der ukrainischen Untersuchungskommission auf das Konto von Janukowitsch und seiner Sicherheitstruppe Berkut gehen, einige von deren Leuten werden angeklagt und die gesamte Truppe wird aufgelöst.[20]

In Sachen Sprachgesetz legen die Aufsichtsmächte postwendend Einspruch ein. Und überhaupt ist die Durchsetzung einer funktionellen politischen Linie auch innerhalb der eigenen Mannschaft fällig: Jazenjuk soll seinen zusammengewürfelten Nationalistenhaufen an der Macht so sortieren, dass keine Eigenmächtigkeiten vorkommen. Da gilt es zu scheiden zwischen dem guten ukrainischen Nationalismus und einem extremen, radikalen, ultra-mäßigen – einem, der auch schon einmal antiamerikanische und EU-feindliche Töne anschlägt. Der neue Chef soll einen hörigen ukrainischen Nationalismus durchsetzen, also den auf der rechten Seite auf das Maß einzudampfen, das für die von außen gewollten Funktionen passend ist, und für die Unterordnung der rechtsradikalen Kampfmannschaften unter die Staatsgewalt sorgen. Einer ihrer Führer wird deshalb umgelegt; der Rechte Sektor soll seine Potenzen in die neue Nationalgarde und deren Aufgabenbereich vorwiegend im Osten einbringen.

Im östlichen Teil der Ukraine werden die Signale aus Kiew wahrgenommen, die Protestmethoden hat man sich vom Maidan abgeschaut, und auch die westlichen Auftraggeber kommen nicht ganz umhin, so etwas wie eine wachsende Eigendynamik der Ostukraine (Steinmeier) zur Kenntnis zu nehmen. Die entsandten Beobachter wundern sich zuweilen darüber, dass ganz normale Leute – ältere Herrschaften, Hausfrauen und Teenager – applaudieren, wenn Bewaffnete Gebäude besetzen und Straßensperren einrichten. Bei Meinungsbefragungen erhalten sie ein Sammelsurium von Beschwerden, angefangen vom Jammern über ausbleibende Renten und sonstige Zahlungen, nach dem Muster, „die Regierung kümmert sich nicht um uns, bei uns kommt kein Geld mehr an“, bis zu Anklagen gegen Oligarchen und sonstige Verbrecher, untermauert mit dem Rechtsstandpunkt der ostukrainischen Industrieregionen, nach dem man dort mit ehrlicher Arbeit das Geld verdient, das in Kiew verschleudert wird. In Erinnerung an die Zeiten unter der Sowjetherrschaft, in der es so etwas wie eine Ordnung und pünktliche Rentenzahlungen gegeben hat, lassen sich schwer enttäuschte Anhänger einer volksfreundlichen Staatsgewalt Forderungen zur Gründung einer Volksrepublik einfallen. Ex-Sowjetbürger mit ihrer historischen Bildung geraten in Entsetzen angesichts der Tatsache, dass in Kiew jetzt Leute ans Ruder gekommen sind, die sich zu Bandera und seinen Heldentaten gegen Polen, Juden und Russen im 2. Weltkrieg bekennen. Und die militanten Vorstöße von Regierungskräften im Osten sorgen dafür, dass der Standpunkt, dass eine Regierung, die auf ihr eigenes Volk schießt, keine legitime Regierung sein kann, weiter um sich greift.

Im Westen besteht man dennoch ungerührt auf der eigenwilligen Wahrnehmung, nach der es keinen Bürgerkrieg in der Ukraine gibt, sondern nur einen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine sowie eine russische Destabilisierung der Ostukraine. Der Aufruhr im Osten wird als Separatismus aus der ukrainischen Volkseinheit herausdefiniert, auch wenn er das gar nicht unbedingt sein will, damit die Schuldfrage entschieden ist: Alle Unzufriedenheit im Osten ist entweder direkt von Russland organisiert oder die Beteiligten sind durch russische Propaganda manipuliert. Die Gegenaufklärung in Gestalt ukrainischer Panzer, Schießereien und verbrannter Pro-Russland-Demonstranten stiftet allerdings so recht auch keinen Frieden.

Der Interimspräsident tritt martialisch, mit der ganzen Würde seines neuen Amtes als US-Statthalter auf, bedient sich gleich der Rhetorik der Supermacht und verkündet einen Antiterrorkampf, für den ihm erkenntlich nicht der Wille, wohl aber der erforderliche Gewaltapparat fehlt.

Die Sicherheitsorgane, die Armee, die für die innere Sicherheit zuständige Elitetruppe samt Geheimdienst und Polizei haben sich aufgrund der wechselnden Machtverhältnisse unter den verschiedenen Präsidenten selber in verschiedene Lager gespalten; ihre Kampfkraft und ihr Kampfeswille leidet zudem unter schlechter Ausrüstung und Bezahlung sowie vor allem auch darunter, dass die Einsätze auf dem Maidan nachträglich kriminalisiert und die Opfer aus den eigenen Reihen übergangen werden. Die Polizei schaut öfter zu, wenn im Osten öffentliche Gebäude besetzt werden, teils aus Sympathie mit den Besetzern, teils aus Unlust, den Kopf hinzuhalten und damit nur zwischen die Fronten zu geraten. Die Armee erweist sich als nur sehr bedingt einsatzfähig, Truppenteile fragen sich, für wen und warum sie jetzt eigentlich im Osten aufs eigene Volk schießen sollen, einzelne Abteilungen verweigern den Einsatz oder laufen über.[21]

Dass sich die neuen Machthaber auf die regulären Sicherheitsorgane nicht verlassen können und wollen, haben sie auch gleich nach der Machtübernahme mit der Gründung einer Freiwilligen-Miliz, der Nationalgarde, dokumentiert. Die soll idealerweise die Schlägertrupps der Fußball-Ultras und aus dem „Rechten Sektor“ integrieren, die mangelnde Einsatzfreude der Armee kompensieren und wird im Schnelldurchgang für ihr patriotisches Handwerk trainiert; der „Rechte Sektor“ behält sich vor, auch auf eigene Rechnung in den Kampf zu ziehen.[22]

Für den Kampf gegen das Janukowitsch-Lager mobilisieren die Machthaber in Kiew zwar auch das Gerechtigkeitsgefühl ihrer Volksmassen, indem sie die hemmungslose Bereicherung der Oligarchen verurteilen; auf der anderen Seite wollen sie aber nicht darauf verzichten, dieselben mit ihren speziellen Machtmitteln zur Durchsetzung ihrer Herrschaft im Osten einzuspannen. Zwei dieser Exemplare werden als Gouverneure im Osten eingesetzt, damit sie eine Gelegenheit bekommen, ihren Reichtum in den Dienst des Vaterlandes zu stellen. Der als Gouverneur in Dnepropetrowsk eingesetzte Kolomojski gründet eine eigene Miliz und setzt für jeden Separatisten, der erwischt wird, ein Kopfgeld als Lohn aus. Der berühmt-berüchtigte Achmetow, laut Spiegel Quasi-Feudalherr in der Region Donbass, operiert mit seinem Kommando über die Arbeiter. Denen hat er schon während des Maidan bei Strafe der Entlassung das Demonstrieren untersagt. Jetzt sieht er, nach Auskunft des Spiegel, durch den prorussischen Aufstand in der Ostukraine seinen Status gefährdet. Der 47-Jährige, dessen Vermögen auf mehr als acht Milliarden Euro geschätzt wird, hat die etwa 300 000 Angestellten seines Metinvest-Konzerns aufgerufen, sich den Separatisten in den Weg zu stellen. (Spiegel online, 16.5.)

Eine doppeldeutige Adresse an die Regierung in Kiew: Mit seiner Dienstleistung für die Befestigung ihrer Macht deutet Achmetow gleichzeitig auf deren Grenzen und pocht auf den Respekt, den die Regierung seiner Privatmacht über die Region schuldig ist. Gemeinsam mit dem Oligarchen und Gouverneur von Donezk, Taruta, fordert auch er mehr Föderalisierung, die Regierung soll z.B. in Zukunft auf die Steuergelder ihrer wirtschaftlich potenten Gebiete verzichten und die lieber denen überlassen – ein Angriff auf die Zentralgewalt, der auch nicht weniger fundamental ist als der der pro-russischen Kräfte.

Auch gegen die geht Achmetow aus eigenen Gründen vor und lässt seine Belegschaften als Schutztruppe für sein längst internationalisiertes Geschäft antreten:

„Sintschenko, Generaldirektor des zu Metinvest gehörenden Stahlwerks von Mariupol, verwies darauf, dass der Konzern in mehr als hundert Länder exportiere und auf sichere und anerkannte Ausfuhrrouten angewiesen sei. ‚Das ist nicht nur der Unternehmensführung klar, sondern auch den Arbeitern‘, sagte er. ’300 000 Angestellte und ihre Familien – das ist eine große Armee.‘ Dass alle Metinvest-Angestellten freiwillig mitmachen, steht in Frage: ‚Jeder kann seine eigene Meinung haben, aber nicht auf der Arbeit‘, sagte Sergej Istratow, Schichtführer im Stahlwerk von Mariupol. ‚Auf der Arbeit musst du tun, was die Fabrik verlangt.‘“ (Spiegel online, 16.5.)

Und jetzt werden sie eben zur „Arbeit“ auf der Straße abkommandiert. Wie man sieht, greifen die europäischen Werte immer weiter um sich.

Die Erfolge des ausgerufenen „Anti-Terror-Kriegs“ sind eher zweischneidig. Die Kiewer Mannschaft massiert die verfügbaren Kräfte, so gut es geht, an der langen Grenze zu Russland, um den Aufstand von jeglicher Art der Unterstützung abzuschneiden. Die sonstigen Militäraktionen beschränken sich – auch im Blick auf die kommenden Wahlen – auf punktuelle Einsätze wie die Einkreisung der Stadt Slawjansk, einer Hochburg der Aufständischen und auf die Rückeroberung von Sendestationen. Wo die Regierung die Lage kontrolliert, nimmt sie exemplarische Verhaftungen vor und verhängt drakonische Strafen.[23] Ihre Ankündigungen wechseln zwischen Kampfgebrüll und Angeboten zur Befriedung, man verspricht Straffreiheit, wenn die Waffen abgegeben werden, will über mehr Föderalisierung nachdenken und lässt Appelle an die nationale Einheit vom Stapel, während ihre Schlägertrupps im Osten ihrem Hass auf alles Un-Ukrainische Luft machen.

Da gibt es für die westlichen Auftraggeber, in erster Linie die USA, viel zu tun. Auf dem Gebiet der NATO-Staaten an der Westgrenze der Ukraine werden US-Truppen in Stellung gebracht, die NATO-Mächte fassen eine dauerhafte Stationierung von Truppen ins Auge, eine Reihe größerer Manöver von der Ostsee bis herunter zum Schwarzen Meer demonstriert die Schlagkraft – zur Abschreckung der an der Nord- und Ostgrenze der Ukraine aufmarschierten russischen Kräfte. Das Land selbst wird unterhalb der Schwelle der formalen Aufnahme ins Bündnis in allen Hinsichten militärisch betreut. Die NATO kümmert sich um die Steigerung der Verteidigungsfähigkeit des neuen Partners, plant allein in diesem Jahr acht Militärübungen mit mobilen Trainingseinheiten, macht sich also quasi permanent im Land breit, damit aus der unzuverlässigen Armee regierungstreue und an NATO-Standards ausgerichtete Kampftruppen geformt werden.[24] Die Aufrüstung, die Jazenjuk beantragt hat, nehmen die USA zur Vermeidung von unliebsamen Eigenmächtigkeiten lieber gleich selbst in die Hand. Nicht – jedenfalls bis auf Weiteres – mit eigenen Truppen, wie es die Kriegshetzer in Kiew gerne hätten, wenn sie die Aggression der Russischen Föderation brandmarken; die Entsendung und Finanzierung von schlagkräftigen kleinen Söldnerheeren privater US-Unternehmen reicht ja vielleicht schon fürs erste, damit die im Verein mit der neugebildeten Nationalgarde und den Kämpfern des Rechten Sektors den Separatismus ganz ohne direkten Zusammenstoß mit den Russen und unabsehbare Risiken für Amerika fertigmachen.[25] US-Kräfte verfügen über das nötige Know-how für alle Arten von Kriegführung – Wie wir in der Ukraine und anderswo sehen, müssen wir uns auf Schattenkonflikte vorbereiten, in denen Nationen irreguläre Truppen einsetzen, einen Cyberterrorismuskrieg führen und nach Wegen suchen, unseren technologischen Vorsprung zu entkräften.[26] – und liefern das nötige Material.[27] Europa assistiert mit Sondermissionen, bei der OSZE kann man sich offensichtlich Fachpersonal für Spionage bestellen – das dient laut Auskunft aus dem Verteidigungsministerium der Vertrauensbildung.

Vor allem aber muss erst einmal am 25. Mai der richtige Präsident für die Ukraine gewählt werden.

Die Wahlen – eine echte Sternstunde der Demokratie

Im Unterschied zum Referendum auf der Krim und dem in der Ostukraine erfüllt diese Wahl alle Kriterien der Rechtmäßigkeit, das haben die politischen Instanzen samt ihrer meinungsbildenden Anhänger schon vorher zweifelsfrei und autoritativ ermittelt, weil sie dafür sorgen. Allein die USA haben schon 2000 Wahl-Beobachter in Bewegung gesetzt und spendieren

„11,4 Millionen US–Dollar, um die landesweite, faire Durchführung der Wahlen am 25. Mai zu fördern... Ziel ist es, mit diesen Geldern demokratische Prozesse voranzutreiben – es geht nicht darum, einen bestimmten Kandidaten zu unterstützen oder ein bestimmtes Wahlergebnis herbeizuführen. Mit diesen Mitteln unterstützen wir auch Angebote zur Aufklärung der Wähler über die Wahlen, die transparente Durchführung der Wahlen, eine wirksame Kontrolle des Wahlprozesses, Sicherheit während der Wahlen, Abhilfe bei Verstößen gegen das Wahlrecht und ein vielfältiges, ausgewogenes und sachorientiertes Medienumfeld.“ [28]

Die Wahlen haben nach dem Willen der westlichen Veranstalter schließlich die Leistung zu erbringen, ihre Herrschaft über die Ukraine in Gestalt ihrer Marionettenregierung auf ganzer Linie ins Recht zu setzen. Im Unterschied zu der eher langweiligen Funktion in gefestigten Demokratien dient die Befragung des Wählerwillens nicht der Neubestellung von Personal für eine ohnehin feststehende und im Konsens der Parteien verankerte Staatsraison. In diesem Fall hat der Wählerwille die Aufgabe, für die Machtübernahme durch das prowestliche Lager und die Neuausrichtung der ukrainischen Staatsraison als Bestandteil des westlichen Lagers die umfassende Legitimation nachzuliefern und die Einheit der Nation in diesem Sinne herzustellen. Rückwirkend, damit der Putsch endgültig als Äußerung des ukrainischen Volkswillens sanktioniert wird, wie als Auftrag für die Zukunft: Für das nötige Aufräumen im Osten wird eine wasserdichte demokratische Auftragslage organisiert. In dem Fall kommt die Demokratie aus den Gewehrläufen; daher zirkuliert auch im Westen das Gerücht, dass Wahlen genau das passende Mittel wären, um einen Bürgerkrieg zu befrieden. Hier sollen Wahlen leisten, was sie noch nie und noch nirgendwo auf der Welt geleistet haben: Sie sollen den nationalen Streit, auf welche auswärtigen Mächte sich das Land ausrichten soll, entscheiden, die ‚Pro-Russland‘-Bestrebungen mundtot machen und so für Stabilität sorgen, also ungefähr den Zustand herbeihebeln, der unterstellt ist, wenn Regierungen ihr Volk befragen.[29]

Nach außen haben diese Wahlen die Funktion, die neue Staatsmacht gegen alle russischen Einsprüche zu legitimieren; allen Unternehmungen von russischer Seite, sich vermittels der prorussischen Mannschaften in der Ostukraine weiterhin im innerukrainischen Machtkampf festzusetzen und so das Recht zu wahren, über die Zukunft der Ukraine mitzubestimmen, den Boden zu entziehen. Was Russland in Bezug auf die Wahl zu tun hat, ist damit klar: Es hat sie gefälligst anzuerkennen und damit die westliche Inbesitznahme der Ukraine ein für allemal zu unterschreiben. Für den Fall, dass die russische Führung diese Unterschrift verweigert, die Wahlen schlecht macht und sich unter Berufung auf gravierende Mängel bei ihrer Durchführung weigert, das für sie unschöne, aber legitime Votum des ukrainischen Volkes zu respektieren, ist bestens vorgesorgt.

Nämlich dadurch, dass die Schutzmächte der westlich umgepolten Ukraine alle Defizite dieser absurden Wahl schon im Vorfeld und ganz prinzipiell Russland zur Last legen. Schon im Vorlauf identifiziert man die Lage im Osten als das Produkt russischer Störmanöver mit dem Zweck, die Wahlen zu verhindern, und beschließt vorweg zur Strafe eine neue Ladung Sanktionen. Was auch immer Anlass zu Zweifeln an der demokratischen Güte dieser Volksbefragung geben sollte – mangelnde Wahlbeteiligung, gewaltsame ‚Zwischenfälle‘, ‚Unregelmäßigkeiten‘ bei der Auszählung usw. – geht für die Erfinder der Veranstaltung eindeutig auf das Konto der Unruhestifter in Moskau; und ebenso eindeutig ist, dass hier nur weitere harte Maßnahmen zur Schädigung des Kreml weiterhelfen.

Damit präsentieren die demokratischen Aufseher über die neue Ukraine Russland ein feines Szenario: Es ist gefordert, sich konstruktiv an der Ausschaltung seines Einflusses auf den Nachbarstaat zu beteiligen und erhält zugleich die Generalverantwortung dafür, dass das Verfahren, mit dem diese Ausschaltung betrieben wird, absehbarerweise nicht lege artis ausfällt. Gegen diese westliche Übung, für alles, was der Regierung in Kiew nicht gelingt, russische Drahtzieher haftbar zu machen und den Bürgerkrieg in der Ukraine als Destabilisierung durch Russland und Instrument der Sabotage der Wahl zu identifizieren, führt Russland seinen diplomatischen Kampf. Es will sich der Definition als Feind entziehen und bemüht sich demonstrativ darum, eine unmittelbare Beteiligung an den Unruhen zu bestreiten – die entsprechenden amerikanischen Beweise mit Fotos von bärtigen Männern werden auch in der westlichen Öffentlichkeit eher ironisch behandelt, was aber an der grundsätzlichen Schuldzuweisung nichts ändert. Die russische Diplomatie betont dagegen unentwegt, dass nicht Russland, sondern die Aktionen der Kiewer Putschisten für die Unruhen verantwortlich sind, dass Russland mitnichten als Partei in den ukrainischen Bürgerkrieg involviert ist, besteht darauf, dass das Problem in der Ukraine angesiedelt ist, um sich selber die Berücksichtigung als ebenso zur Regelung befugte Macht zu verschaffen. Es präsentiert sich als völkerrechtlich legitimierte diplomatische Schutzmacht der bedrängten ostukrainischen Bevölkerung, damit der Aufruhr im Osten die NATO-Mächte darüber belehrt, dass es sich aus der Angelegenheit nicht hinausdrängen lässt und dass die NATO-Mächte an der Anerkennung Russlands als gleichermaßen zur Regelung befugte Macht nicht vorbeikommen. In dieser Absicht empfiehlt Putin den Selbstverteidigungskräften im Osten, das Referendum über die Selbstbestimmung der östlichen Provinzen zu vertagen, gibt zu erkennen, dass Russland die Wahlen unter gewissen Bedingungen anerkennen könnte und verlangt im Gegenzug, dass die Machthaber in Kiew ihre Militäraktionen im Osten einstellen und sich auf einen Dialog mit ihren Gegnern einlassen.

Die Selbstverteidigungskräfte im Osten halten sich aber nicht daran und führen ihr Referendum durch. Das wird zwar im Westen einhellig für illegal erklärt, aber die EU will es im Namen der Stabilität, die sie ihrer Neuerwerbung verschaffen möchte, auch nicht einfach übergehen. Zumal sie darin wiederum eine Gelegenheit entdeckt, sich in der für sie typischen Weise in die Lage einzuklinken und sich ein Stück Entscheidungsbefugnis auch über die amerikanische Marionettenregierung zu beschaffen. Die OSZE lanciert einen Runden Tisch unter deutscher Führung und sucht passende Vertreter aus der Ostukraine. Selbst ernannte Repräsentanten kommen nicht in die Tüte, vermitteln will die EU nur unter Parteien, die sie anerkennt, und mit Figuren, die sie selbst ernannt hat. Die ukrainische Regierung hält dagegen überhaupt nichts vom Vermitteln, setzt sich zwar notgedrungen an den Runden Tisch, tut aber alles, was in ihren Kräften steht, um das europäische Unternehmen zu sabotieren. Auf die Rückendeckung durch die USA kann sie sich schließlich verlassen.

Daneben laufen die Vorbereitungen für die rechtmäßigen Wahlen auf Hochtouren, damit das nötige Ergebnis auch mit einer durchschlagenden Prozentzahl zustande kommt. Wie versprochen kümmern sich die USA um das erforderliche „vielfältige, ausgewogene und sachorientierte Medienumfeld“. Auf die Organisation der Öffentlichkeit kommt es besonders dann an, wenn man wie in der Ukraine einen wankelmütigen und unzuverlässigen Wählerwillen zu bearbeiten hat. Das einschlägige Fachpersonal wird mit seinem reichen demokratischen Erfahrungsschatz aktiv, was öffentliche und insbesondere Wahlkampagnen betrifft, in denen man politische Gegner per Rufmord ruiniert und das erforderliche giftige Klima erzeugt. Das Medienumfeld bilden die unabhängigen Fernsehsender, die von amerikanischen NGOs in der Ukraine seit längerem finanziert werden und sich schon im letzten Herbst mit dem Aufruf an ihr Publikum bewährt haben, sich möglichst massenhaft auf dem Maidan einzufinden.

Wertvolles Material für die Öffentlichkeitsarbeit liefert die von Amerika in Gang gesetzte internationale Ermittlungsstätigkeit: Auf einer eigens dazu veranstalteten Konferenz in London versichern die USA, Großbritannien und weitere 33 Länder, dass sie der Ukraine beistehen werden, um milliardenschwere Dollarvermögen, die angeblich während der Amtszeit des früheren Präsidenten Viktor Janukowitsch gestohlen wurden,[30] zurückzuholen. Für die Fragen ukrainischer Wähler, wie es zum Zusammenbruch ihrer früher einmal gewichtigen Nationalökonomie und der grassierenden Armut kommen konnte, gibt es nämlich eine frappierend einfache Antwort: Der Titel Korruption deckt so gut wie alles vom Staatsbankrott der Ukraine ab; die über die Jahre akkumulierten ukrainischen Schulden, samt der Kosten für Tschernobyl, stellen sich als Produkt einer Kleptokratie heraus, in der es einem Herrscher gelungen ist, vermittels seines Privatkonsums, vielleicht auch noch unterstützt von ein paar Oligarchen, auf jeden Fall durch russische Hintermänner seinen ganzen Staat arm zu machen.

Mit der einschlägigen Kampagne werden die früheren Machthaber und ihre Anhänger kriminalisiert, um deren Seilschaften als Machtfaktor aus dem politischen Leben zu entfernen.[31] Unter Assistenz des FBI entdecken ukrainische Beamte Goldklumpen, Saunaanlagen und sonstige Möbel in Ministerien und speisen ihre Erkenntnisse samt eindrucksvollen Bildern in die Öffentlichkeit ein. FBI und CIA befassen sich des Weiteren mit allen Verbindungen und Geldströmen, anhand derer russische Geschäftsinteressen in der Ukraine dingfest gemacht und damit auch schon als Diebstahl am Reichtum der Ukraine identifiziert werden können. Im Prinzip weiß man, wo die Gelder gelandet sind; Österreich und die Schweiz haben in vorauseilendem Gehorsam schon Konten der abgesägten Führungsspitze und ihrer Entourage beschlagnahmt, jetzt wird Russland zwar zu der Konferenz nicht eingeladen, wohl aber freundlich dazu aufgefordert zuzugeben, dass in seinem Land auswärtige Korruption einen sicheren Hafen hat.[32]

Der laufende Wahlkampf wird auf diese Weise von der freiheitlichen Propagandamaschinerie mit der nötigen Munition versorgt. Die Machthaber in Kiew bestellen sich von der kommenden Volksbefragung schließlich die Ermächtigung ihres militanten Nationalismus und rücken die Wahl in den Rang einer Schicksalsfrage der Nation: Angesichts der existentiellen Bedrohung durch innere und äußere Feinde hat sich das Volk geschlossen hinter seiner Führung zu versammeln und alle schnöden materiellen Sorgen zu vergessen. Nicht zuletzt auch die unschönen Begleiterscheinungen der neuen Herrschaft im Dienst der westlichen Reformen wie steigende Gaspreise, sinkende Renten und Löhne, massenhafte Entlassungen und eine abschiffende Währung.

Wie viel Wirtschaft braucht die Ukraine?

Neben all diesen Fortschritten der Freiheit gibt es schließlich auch noch ein Wirtschaftsleben in der Ukraine. Das zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es schrumpft. Die EBWE (Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung) rechnet mit 7 % in diesem Jahr, begleitet von einer rasanten Teuerung dank der IWF-kontrollierten Reformen. Nicht nur deshalb unterbleiben Zahlungen an allen möglichen Stellen; das Bankwesen selbst bekommt die Wirkungen der Reform zu spüren. Nachdem der Kurs der nationalen Währung auf Geheiß des IWF den freien Marktkräften überantwortet und sehr beweglich geworden ist, stören zahlreiche Kontobesitzer das Bankgeschäft und verlangen die Herausgabe von Devisen. Gleichzeitig müssen sich auch die Geldinstitute dem politischen Verdacht auf Korruption stellen, und einige von ihnen, denen man Geldwäsche unter dem Janukowitsch-Regime zur Last legt, bekommen Besuch vom Sicherheitsdienst der Ukraine. [33] Die wichtigste ukrainische Bank schließt angesichts der Sicherheitslage alle Filialen im Osten,[34] und auswärtige Banken treten den Rückzug an.

Das Ganze ist aber trotz der Einbrüche im nationalen Wirtschaftsleben garantiert auf dem richtigen Weg, nämlich unter Kontrolle des IWF. Der entlastet die neue Regierung von der gröbsten Not, sich mit ihrer Zahlungsunfähigkeit zu befassen, und übernimmt die Abwicklung der fälligen internationalen Verpflichtungen, damit eine offizielle Insolvenz mit möglichen unerfreulichen Weiterungen im westlichen Kreditüberbau verhindert wird. Auch im Inneren wird die Regierung von einem Stück autonomer Handlungsfähigkeit befreit, indem der IWF die Kontrolle regierungsamtlicher Finanzströme übernimmt [35] sowie die Durchsetzung der überfälligen „Reformen“ im ukrainischen Haushalt betreut: Zehn Prozent aller Staatsangestellten und 50 Prozent vom Personal der Präsidentenverwaltung werden entlassen, die Gaspreise für Privathaushalte werden erhöht und Sonderrenten gekürzt, die Währung wird dem freien Fall auf den Finanzmärkten anheimgestellt, so dass die Kosten der weit verbreiteten Verschuldung in Fremdwährung explodieren. Bei seinem Durchgreifen beruft sich der IWF auf seine schlechten Erfahrungen mit allen vorherigen ukrainischen Regierungen: Ein zukunftsfähiger, von russischen Abhängigkeiten unabhängiger Staatshaushalt für die Ukraine verträgt einfach keine nationalen Berechnungen.

Auch Amerika spendiert Kredit, nämlich eine Kreditbürgschaft in Höhe von einer Milliarde US-Dollar, damit die Ukraine ihren finanziellen Verpflichtungen nachkommen kann, und um bedürftige Bürger vor den Auswirkungen wirtschaftlicher Anpassungsmaßnahmen zu schützen. Sogar an die Leute, die man radikal verarmt, wird also gedacht, was man denen gar nicht oft genug sagen kann. Außerdem werden technische Experten vom US-Finanzministerium die ukrainische Regierung vor Ort dabei unterstützen, die Kredite effektiv zu verteilen... drei Bankenexperten... Experten für öffentliches Schuldenmanagement... makroökonomische Berater... zusätzliche technische Hilfe in den Bereichen Haushalts- und Steuerverwaltung...[36] Die nötigen Investitionen in die Zukunft tätigen die amerikanischen Experten gleich an der Regierung vorbei.[37]

US-Fachleute betreuen auch die ukrainische Energiesicherheit... Ein amerikanisches Expertenteam aus Vertretern mehrerer US-Behörden soll helfen, eine Schubumkehr zu realisieren, damit die Ukraine mit Erdgas aus europäischen Nachbarstaaten versorgt werden kann. Amerika schickt technische Experten für konventionelle Erdgasförderung… die Erschließung von Schiefergasquellen… Energieeffizienz etc.[38] Zu den überfälligen Reformen zählt auch die Privatisierung der defizitären Staatsbetriebe. Diverse US-Konzerne stehen schon auf der Matte, um dem Energiesektor der Ukraine mit einer vernünftigen Kosten-Ertrags-Struktur aufzuhelfen, die Belegschaften zu verschlanken und die Bevölkerung mit marktwirtschaftlichen Preisen vertraut zu machen, falls ihnen die Zustände im Land ausreichend stabil erscheinen. Dass im Rahmen dieser Wirtschaftshilfe der Sohn von Vizepräsident Biden samt einem Freund des Sohns von Außenminister Kerry Beraterfunktionen in einem ukrainischen Energiekonzern übernimmt, ist rein zufällig und nicht im geringsten mit der Rolle der Söhne von Janukowitsch und Konsorten zu vergleichen. Auch die Europabank EBWE fordert von der Regierung, zügig die Privatisierung von Unternehmen in staatlicher Hand anzugehen und macht sich anheischig, als Eigentümer in ukrainischen Unternehmen eine vernünftige Führung durchzusetzen[39] – Hauptsache, die Unternehmen sind in westlicher Hand, die auch nicht besonders private Natur des Eigentümers tut dann nichts weiter zur Sache.

Vorerst ist die wirtschaftliche Lebensgrundlage der freien Ukraine aber noch viel zu wenig von Russland abgenabelt, so dass der IWF sich auch mit der heiklen Frage der Bezahlung für das russische Gas befassen muss. Die Belieferung von Europa soll dann doch nicht unmittelbar vom antirussischen Furor der neuen Machthaber in Frage gestellt werden. Ebensowenig möchte man das ukrainische Verfahren, immer dann, wenn man den Handelspartner nicht leiden kann, die Zahlung der Ware zu verweigern, zum Präzedenzfall für den internationalen Handelsverkehr erheben.[40] In diesem Sinne schaltet sich auch die EU-Kommission ein und bestellt Russland und die Ukraine zu trilateralen Verhandlungen über die Beilegung der Schuldenkrise der Ukraine in Bezug auf russisches Gas. EU-Energiekommissar Günther Oettinger gesteht Russland immerhin ein überhauptiges Recht auf Zahlung zu, es sei unstrittig, dass die Ukraine im Februar, März und April Gas bezogen, aber nicht bezahlt habe. (FAZ, 3.5.) Wie hoch der Preis und demgemäß die aufgelaufenen Schulden allerdings anzusetzen sind, ist damit alles andere als entschieden.

Russland macht auch in dieser Frage handfest darauf aufmerksam, dass es Mittel in der Hand hat, sich aus dem Streit um die Ukraine nicht einfach ausmischen zu lassen. Als erstes berechnet die russische Führung nach allen Regeln der Kunst einen neuen Preis, da ja nach dem Anschluss der Krim logischerweise der Rabatt auf den Gaspreis entfällt, mit dem die Gebühren für den russischen Flottenstützpunkt beglichen wurden. Im Weiteren macht Gazprom die entsprechenden Klauseln geltend, nach denen die Ukraine durch ihre Nichtzahlung überhaupt den alten Vertrag samt Vorzugspreis gegenstandslos gemacht hat, und besteht auf Vorkasse, so lange wie die alten Schulden nicht beglichen sind, andernfalls droht man für den kommenden Juni mit einem Lieferstopp. Die ukrainische Regierung will vor ein internationales Schiedsgericht ziehen,[41] zahlt jedenfalls vorerst nicht, sondern setzt auch da auf die Internationalisierung ihres Wirtschaftskriegs, d.h. auf ihre auswärtigen Schutzmächte. Die Gasversorgung Europas hängt also inzwischen von ziemlich politischen Formen der Preisbildung ab.

*

Das europäisch-russische Gasgeschäft, das zwar immer schon von seiten der westlichen Staaten auch unter dem Gesichtspunkt der Energiesicherheit, also in seiner Bedeutung für ihren freien Machtgebrauch beurteilt worden ist, gerät im Konflikt um die Ukraine zunehmend zur puren Machtfrage, ebenso wie die Handhabung der ehernen Pflicht, Schulden zu begleichen, die die ukrainische Regierung in der Berechnung auf den Rückhalt der USA sehr freihändig interpretiert.

Dafür, dass solche Sitten im Umgang mit der Geschäftsordnung des weltweiten Kapitalismus einreißen, sind allerdings zuallererst die USA selber, die Protagonisten dieser Geschäftsordnung verantwortlich. Sie selbst greifen mit ihrer Sanktionspolitik in viel grundsätzlicherer Weise das an, was das Schutzgut der weltweiten Rechtsordnung ist, indem sie Eigentumstitel, Finanzmärkte, Währungen, die dem freien Verkehr und nicht eigenmächtigem politischem Missbrauch unterliegen sollen, zum politischen Erpressungshebel, zum Instrument machen, um Russland zu schädigen. Sie setzen sich ausdrücklich über den Widerspruch hinweg, dass das Russlandgeschäft eine der wesentlichen Quellen auch des europäischen Erfolgs ist. Im Namen ihrer neuen weltordnerischen Aufgabe, Russland zu erledigen, setzen sie ja nicht nur eine Enteignung des russischen Staats und seiner Konzerne auf die Tagesordnung, sondern zugleich die der europäischen Firmen und Staatshaushalte. Und mit der Bekanntgabe, dass sie sich beliebige weitere Sanktionen vorbehalten, versehen sie den gesamten Geschäftsverkehr mit dem zum Pariastaat deklarierten Russland mit negativen Vorzeichen und konfrontieren die darin engagierte Geschäftswelt sowie die anderen Staaten damit, dass deren Mittel den strategischen Entscheidungen der USA unterliegen.

Die USA destruieren damit nicht nur die Materie des Geschäfts – im Übrigen auch ein substantieller Beitrag zur Krise –, sondern untergraben gleichzeitig die Geltung der Regeln, denen sie den Weltmarkt unterstellt haben und auf deren Grundlage der Geschäftsverkehr überhaupt so eminent global geworden ist. Diese imperialistische Errungenschaft, der freie Weltmarkt, in den sich mittlerweile auch Russen und Chinesen eingeordnet haben, wird gezielt an bestimmten Störfällen, wie es die USA seit Bush schon öfter durchexerziert haben, außer Kraft gesetzt. Das Verfahren kommt nunmehr gegen die Ex-Weltmacht Russland zum Einsatz, in deren Ein- und Unterordnung immerhin der große Erfolg nach dem Kalten Krieg bestanden hat. Aus dieser Ordnung wird die Großmacht Russland jetzt ausgegrenzt und der Weltmarkt ganz anders beansprucht, nämlich als Instrument der Schädigung, also vom Standpunkt des Geschäfts aus, als Brachlegung von Kapital. Damit wird die in der bisherigen Weltmarktordnung verfügte Trennung der im Prinzip freien ökonomischen Konkurrenz von nationalstaatlichen Machtauseinandersetzungen durch die Macht der USA, den obersten Hüter dieser Ordnung, außer Kraft gesetzt. Im Kampf gegen den Störfall Russland gilt das Institut des freien Eigentums nicht länger als uneingeschränktes Prinzip, Vermögen ist da nicht mehr als Schutzgut der internationalen Rechtsordnung unantastbar, sondern wird angegriffen wegen seiner Nationalität. Indem die Sanktionspolitik Konten sperrt, russisches Eigentum konfisziert sowie Kapitalbewegungen auf westlichen Finanzplätzen kriminalisiert, stellt sie das Grundprinzip des Weltmarkts, die universelle Verwendbarkeit des Geldes in Frage. Die USA untergraben selber, wegen der Verteidigung ihrer Weltordnung gegen den Störfall Russland, die jetzt nach ihrer Auffassung einfach fällig ist, die Weltmarktordnung, indem sie sie ihrem nationalen Kampfprogramm unterstellen und renationalisieren. Sie fordern damit umgekehrt nicht nur Russland, sondern auch die anderen betroffenen Staaten dazu heraus, sich mit der Frage zu befassen, ob wiederum die eigene nationale Macht nicht ganz anders gefragt ist, um ihre ökonomischen Machtmittel zu schützen.

[1] FAZ, 24.2.14. Was kann man schon gegen „die Geschichte“ machen.

[2] Seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 haben die USA die Ukrainer dabei unterstützt, demokratische Kompetenzen und Institutionen aufzubauen, Bürgerbeteiligung und good governance zu fördern, allesamt Vorbedingungen für die Verwirklichung der europäischen Bestrebungen der Ukraine. Wir haben über fünf Mrd. $ an Hilfe in die Ukraine investiert, um ihr bei bei diesen und anderen Zielen zu helfen, die für eine sichere, wirtschaftlich prosperierende und demokratische Ukraine sorgen. (Nuland, Remarks at the U.S.-Ukraine Foundation Conference, state.gov 13.12.13)

 Die Investition hat sich gelohnt. Für den demokratischen Wandel in Kiew steht alles Nötige zur Verfügung, durchgesetzt wird er mit dem nötigen Terror, den es für einen Umsturz nun einmal braucht. Ein paar sachdienliche Erinnerungen an die Leistungen des Maidan:

Die Region und die Stadt Lemberg gehören zu den wichtigsten Rekrutierungsplätzen für die Majdan-Kämpfer. Wochenlang sind täglich in kleinen Bussen Hunderte von Männern, die älter als 18 Jahre alt sind, in die Hauptstadt gefahren. (FAZ, 22.2.14) Das Geld dafür war in der ansonsten bettelarmen Ukraine offensichtlich kein Problem.

 „19.2.2014: Im ganzen Land werden Regionalbüros aller Parteien in Brand gesteckt, in Lwiw wird ein Brandanschlag auf die örtliche Vertretung des Inlandsgeheimdienstes SBU verübt. Im ganzen Land werden Polizeistationen und Vertretungen des Inlandsgeheimdienstes SBU gestürmt.

20.2.2014: Der Chef des Inlandsgeheimdienstes SBU berichtet, dass Aufständische in den Gebieten Ternopil, Iwano-Frankiwsk und Lwiw etwa 1.500 Gewehre und ca. 100 000 Patronen in ihre Gewalt bringen konnten, indem sie Waffenlager des SBU und der Polizeidienststellen stürmten.

 21.2.2014: Sowohl die Protestierenden als auch die Polizei hatten in den vergangenen Tagen scharfe Munition eingesetzt, was zu einem dramatischen Anstieg der Todesopfer auf beiden Seiten geführt hatte.

 25.2.2014: Ein Haus des Chefs der Kommunistischen Partei Petro Simonenko wird in Brand gesteckt. Der ‚Rechte Sektor‘ ruft dazu auf, Drohungen gegen Familienmitglieder von Angehörigen der Sicherheitsbehörden einzustellen... Landesweites Phänomen der gewaltsamen Zerstörung von Denkmälern, insbesondere Leninstatuen.“ etc. etc. (Zitiert nach FAZ und Chronik der „Ukraine-Analysen“, Organe, die eher nicht als Russlandversteher verdächtigt werden)

[3] Der Nachweis der Rechtsförmlichkeit ist dann weiter keine Kunst: Janukowitsch kommt seiner Verhaftung zuvor, macht damit nicht nur seinen Arbeitsplatz frei für einen endlich frei wählbaren aufrechten Demokraten, sondern liefert mit seinem Abgang auch noch den Beweis, dass er seine Legitimität selbst beseitigt hat. So sieht man das jedenfalls in der US-Regierung:

„‚Das gewählte Parlament agiert, um das Machtvakuum auszufüllen, nachdem Janukowitsch und andere Top-Beamte Kiew verlassen haben‘ (J. Psaki, Sprecherin des US-Aussenministeriums). Der Parlamentsbeschluss über die Absetzung von Janukowitsch sowie die Ankündigung vorgezogener Präsidentenwahlen in der Ukraine seien darauf zurückzuführen, dass sich Janukowitsch selbst der Landesführung entledigt habe, fügte sie an.“ Wer sich vertreiben lässt, so Psaki, untergräbt seine Rechtmäßigkeit (RIA, 25.2.14), das ist sonnenklar.

 Legal, illegal, scheißegal; die FAZ macht es sich auch nicht viel schwerer: Die Absetzung Janukowitschs erfolgte, obwohl viele von dessen Leuten im Parlament das Lager wechselten, nicht mit der erforderlichen Dreiviertelmehrheit, welche die neue, alte Verfassung vorsieht. Solange Janukowitsch nicht von selbst abtritt, kann der Westen die neue Lage in Kiew also nicht anerkennen... Völkerrechtliche Anerkennungsfragen haben indes keine Priorität, eine Rückkehr von Janukowitsch wird ausgeschlossen – damit erledigt sich das Problem mit der Zeit von allein. (FAZ, 24.2.)

 Man muss aber auch gar nicht erst abwarten, dass „die Zeit“ ihre Dienste tut. Denn, wenn ein demokratisch gewählter Präsident im Auftrag Amerikas verjagt wird, kann er einfach kein Demokrat gewesen sein:

Freie Wahlen führen nicht immer zu Demokratie, äußerte US-Außenminister John Kerry... Kerry verglich die Ereignisse in der Ukraine mit der Absetzung des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi im vergangenen Juli. Diese Beispiele beweisen, dass Wahlen alleine für die Herstellung eines demokratischen Regimes nicht ausreichend seien, so Kerry. ‚Demokratie wird nicht allein durch Wahlen bestimmt. Es mag sein, Sie haben eine demokratisch gewählte Regierung, wobei Sie keine Reformen vornehmen, welche sich auf demokratische Prozeduren stützen und eine vollwertig funktionierende Demokratie gewährleisten.‘ (RIA, 27.2.)

 Merke: Gewählt und demokratisch legitimiert hin oder her – was eine vollwertige Demokratie ist, bestimmen immer noch die USA.

[4] Unsere Partner schlagen offensichtlich vor, dass wir die durch den Staatsstreich geschaffene Lage zu unserem Ausgangspunkt nehmen und Maßnahmen ergreifen, die sie unter diesen Umständen für angebracht halten. (Foreign Minister Sergei Lavrov, March 10, 2014)

[5] Alle folgenden Zitate aus „Address by President of the Russian Federation“, March 18, 2014

[6] ‚Wir sehen keinen anderen Weg ... als Föderalisierung‘, sagte Lawrow am Wochenende. Jede Region der Ukraine würde dann über ihre Wirtschaft, über Finanzen, Kultur, Sprache, Erziehung sowie ‚äußere wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen mit Nachbarstaaten und -regionen‘ selbst entscheiden können. Um das zu erreichen, verlangt Russland nach den Worten seines Botschafters bei den Vereinten Nationen, Vitali Tschurkin, eine verfassunggebende Versammlung in der Ukraine einzuberufen und die für den 25. Mai geplante Präsidentenwahl zu verschieben. Eine neue ukrainische Verfassung müsste auch einen Beitritt zur Nato unmöglich machen. Sie müsse ‚den blockfreien Status der Ukraine unzweideutig festlegen‘, sagte Lawrow. (FAZ, 31.3.)

[7] Nachdem es üblich geworden ist, die entsprechenden russischen Vorwürfe als Zeugnis für Realitätsverlust abzubuchen – aus unerfindlichen Gründen soll sich Russland nur bedroht fühlen –, sei noch einmal das einschlägige Diktum des ehemaligen amerikanischen Sicherheitsberaters Brzezínski zitiert.

Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. (Zbigniew Brzezínski: Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft, 1999)

[8] Es erübrigt sich aufzuzählen, was die USA auf ihrer Seite mittlerweile alles an Kooperationen ausgesetzt und an Verträgen aufgekündigt haben. Die wenigen bezeichnenden Ausnahmen illustrieren zur Genüge die Gründlichkeit, mit der vorgegangen wird. Wert auf die russische Mitwirkung legen die USA gerade noch im Fall von Syrien und dem Iran, bei der Versorgung der internationalen Raumstation mit russischen Sojus-Raumschiffen. Fortgesetzt wird auch die Kooperation mit Russland im Rahmen des Nunn-Lugar-Programms zur Sicherung und Entsorgung russischen Kernwaffenmaterials, beim Abbau von atomwaffenfähigem Uran und bei der sicheren Lagerung von Atom-U-Booten. Genehmigt bleibt trotz anderslautender Anträge im Kongress schließlich auch noch der Verkauf russischer Hubschrauber an Afghanistan zur Bewältigung dieser Altlast. Im Pentagon wird der Standpunkt vertreten, dass Afghanistan die braucht, weil sie zuverlässig, einfach zu bedienen und afghanischen Piloten bereits bekannt sind. (RIA, 24.4.)

[9] Obama missbilligt den deutschen Fernsehkonsum, der sich wohl zu oft vom russischen Fernsehsender Russia Today beeindrucken lässt:

Was wir gesehen haben, ist, dass nonstop russische Propaganda gesendet wird, die darauf abzielt und sagt, dass die Regierung in der Ukraine an diesen Schwierigkeiten schuld sei... Für die deutsche Bevölkerung ist das russische Fernsehen ein Kanal, den sie sich vielleicht nicht unbedingt ansehen sollte. (Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Obama am 2. Mai 2014, bundeskanzlerin.de 02.05.14)

 Dass trotz der richtungsweisenden Anleitung aus Washington die Weltöffentlichkeit nicht einwandfrei hinter Amerika steht, kann sich nur der Manipulation durch russische Propaganda verdanken. Daher muss man sich in Washington auch noch eigenhändig um den Unterschied von Lüge und Wahrheit kümmern: Russland versucht, mit erfundenen Geschichten sein illegales Vorgehen in der Ukraine zu rechtfertigen – so erstaunliche Prosa hat die Welt nicht mehr gelesen, seit Dostojewski schrieb, die Formel ‚zwei plus zwei gleich fünf‘ habe auch ihren Reiz. (Fiktion und Wahrheit: Zehn falsche Behauptungen Präsident Putins über die Ukraine – Amerikadienst, 6.3.14)

[10] Text of Obama’s Statement on Ukraine, March 20, 2014 (AP). Zum besseren Verständnis, was mit dem inner circle gemeint ist – 20 Individuen aus der russischen Regierung sowie Personen aus deren Umfeld und ‚enge Vertraute‘ Putins (Spiegel, 20.3.) – liefert Amerika die Definition eines Putin-Clans, einer Datschen-Kooperative, die von der hiesigen Öffentlichkeit prompt nachgebetet wird. Das allseits beliebte Schema, mit dem Vorwurf von ‚Korruption‘ die Delegitimierung einer missliebigen Herrschaft zu betreiben, die als Seilschaft präsentiert wird, die sich auf Kosten ihres bzw. des ukrainischen Volks bereichert, darf bei der Kampagne nicht fehlen. In demselben Sinn erfolgt auf Antrag der USA die spektakuläre Verhaftung einer Zentralfigur des russisch-ukrainischen Gashandels in Wien.

[11] Die neuesten, ‚flexiblen‘ Sanktionen betreffen überdies ganze Wirtschaftzweige: Finanzen, Energie, Metalle und Bergbau, Ingenieurwesen und Verteidigung. Das US-Finanzministerium werde gemeinsam mit dem Außenministerium in Kürze entscheiden, welche Konzerne in diesen Sparten spezifisch ins Visier genommen würden. (Spiegel online, 20.3.)

[12] Die Forderung, dass Europa gefälligst die amerikanischen Anstrengungen, Russland einzudämmen, tatkäftig zu unterstützen hat, statt sie immerzu zu unterlaufen, hat in Amerika ohnehin Tradition. In der offenen und ehrlichen Art, wie sie unter Freunden üblich ist, äußert ein US-Senator seine Meinung, nach der nicht die USA Deutschland, sondern Deutschland den USA wegen der Verärgerung in der NSA-Affäre etwas schuldig ist und die Bereitschaft zur Reparatur der Beziehungen doch ganz gut auf dem Gebiet der Sanktionen unter Beweis stellen könnte:

Der demokratische Senator Chris Murphy forderte Deutschland und die anderen EU-Staaten vor einer Reise mit anderen Kongressmitgliedern nach Kiew auf, scharfe Sanktionen gegen Russland zu verhängen. In Anspielung auf die NSA-Affäre sagte Murphy, in jüngster Zeit habe es in Europa Sorgen um das transatlantische Verhältnis gegeben. Nun habe Europa Gelegenheit, die Bedeutung dieser Beziehungen zu beweisen. Deutschland müsse zur Not auch die wirtschaftlichen Nachteile eines russischen Gasboykotts in Kauf nehmen. (FAZ, 14.3.)

 Da Deutschland nicht so richtig zieht, ist die Identifizierung niederer Motive nicht schwer, und Merkel beleidigen schadet auch nicht:

US-Senator John McCain hat die Ukraine-Politik der deutschen Regierung in scharfen Worten verurteilt. Die fehlende Führungsstärke in Berlin sei ihm ‚peinlich‘. Der Senator erklärte, er werde Merkel am Rande ihres Besuchs in der US-Hauptstadt treffen und ihr dies dann auch so sagen. Mit Blick auf die engen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland beklagte der Senator und frühere Präsidentschaftskandidat der Republikaner den Einfluss der ‚Industrielobby‘ auf die Politik der Bundesregierung. ‚Wir könnten sie genauso gut in der Regierung sitzen haben, es ist eine Schande‘, sagte er. (Spiegel online, 1.5.)

[13] Brüssel unterstützt finanziell Reformen in der Ukraine. Dreistellige EUR-Millionenhilfe zu diesem Zweck lockergemacht. Die EU-Kommission hat 365 Millionen Euro zur Finanzierung benötigter Reformen in der Ukraine zur Verfügung gestellt. Es gehe darum, ‚Stabilisierung und Entwicklung in der Ukraine zu unterstützen‘, hieß es in einer Mitteilung der Kommission in Brüssel vom Dienstag. Der größte Teil des Geldes soll dazu dienen, die Regierungsführung der Ukraine zu verbessern, Korruption zu bekämpfen sowie die Justiz und die Verwaltung zu reformieren. Die ersten Zahlungen sollen unmittelbar nach der bisher noch nicht terminierten Unterzeichnung einer Vereinbarung erfolgen. (National radio company of Ukraine, im Folgenden nrcu, 29.4.14)

[14] Nach außen hin trägt die Bundesregierung die westliche Antwort auf die Krise in der Ukraine in vollem Umfang mit. Deutschland hat sämtlichen Beschlüssen, die EU und Nato dazu in den vergangenen Wochen getroffen haben, zugestimmt, einschließlich der Sanktionen gegen Russland... Hinter den Kulissen sieht es offenbar ein wenig anders aus. In der Nato wird derzeit über praktische Schritte zur militärischen Rückversicherung der Osteuropäer diskutiert, und Deutschland scheint da in eine Rolle zu schlüpfen, die man aus dem Libyen-Krieg und anderen Konflikten der jüngeren Vergangenheit kennt: In Brüssel ist zu hören, dass die Bundesregierung sich passiv und zögerlich verhalte und wieder als Bedenkenträger auftrete. (FAZ, 28.3.)

[15] Vielleicht auch ein Wort zu der Frage der Sanktionen: Ich stimme dem amerikanischen Präsidenten zu. Sie sind kein Selbstzweck, sondern sie sind in der Kombination mit der Offerierung, dass wir diplomatische Lösungen erreichen wollen, eine notwendige zweite Maßnahme, um deutlich zu machen: Es ist uns ernst. (Merkel, 2.5.)

[16] Kaesers Putin-Besuch passt ins Konzept. Hinter vorgehaltener Hand gibt es auffällig viele positive Stimmen zum Treffen des Siemens-Vorstandschefs mit dem russischen Präsidenten. Denn der Industriemanager habe trotz des umstrittenen öffentlichen Auftritts aus Sicht der Wirtschaft ein Signal gegen Sanktionen als Folge der Krim-Krise gesetzt. (FAZ, 28.3.)

[17] Das Land gehört zu den grössten Empfängern von Brüsseler Finanzmitteln. 95 Prozent aller staatlichen und privaten Investitionsprojekte Ungarns kamen seit 2008 mit Beteiligung von EU-Mitteln zustande. (NZZ, 1.5.)

[18] Da trifft es sich gut, dass Orbán schon vor Jahr und Tag tausende Pässe an die Landsleute in der Ukraine verteilt hat. Für die Kameraden vom Rechten Sektor gibt es auch da viel zu tun – am Dienstag wurde bekannt, dass Aktivisten des ‚Rechten Sektors‘ am Montag mit Gewalt in die Stadtratssitzung im westukrainischen Berehowe / Beregszász eindrangen und diese beendeten (Pester Lloyd, 25.2.) – schöner Stoff für die Vertiefung der Völkerfreundschaft: Der ungarische Außenminister lässt die Regierung in Kiew wissen, dass die ungarische Minderheit gefährdet und neuen Bedrohungen ausgesetzt sei. Ungarn werde aber keinen Angriff auf Ungarn in der Ukraine unbeantwortet lassen. (Pester Lloyd, 3.3.)

[19] Dem Einfallsreichtum, was Janukowitsch alles an Verbrechen zur Last gelegt wird, sind keine Grenzen gesetzt. Der Generalstaatsanwal leitet ein Strafverfahren ein wegen illegaler Machtübernahme im Jahr 2010 (nrcu, 7.3.) und der Gründung einer Terrororganisation. (RIA, 14.4.14) Gleichzeitig werden Verfahren eröffnet gegen Verfassungsrichter, die 2010 die Verfassung von 2004 für gesetzwidrig erklärten (a.a.O), sowie gegen die Richter der ehemaligen Ministerpräsidentin Timoschenko wegen ungesetzlicher Entscheidung. (Ukraine-Analysen Nr. 130, 25.3.)

[20] Denjenigen, die den Fehler gemacht haben, sich von den Maidan-Kampfmannschaften anschießen oder krankenhausreif verprügeln zu lassen, verweigern die Sachwalter erhabener westlicher Werte in Kiew die nötige medizinische Behandlung und eine auch nur irgendwie menschenwürdige Ernährung. Ein schöner Fortschritt bei unserem östlichen Nachbarn.

[21] Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft hat gegen Kommandeure der Spezialeinheit Alfa Ermittlungsverfahren eingeleitet, weil sich diese beim ‚Anti-Terror-Einsatz‘ im Osten des Landes geweigert hatten, auf Protestierende zu schießen. Drei Strafverfahren seien eröffnet worden, bestätigte Sergej Paschinski, Chef der Präsidialverwaltung in Kiew, der Nachrichtenagentur Unian. Zuvor hatte Übergangspräsident Alexander Turtschinow mitgeteilt, dass in den Protestregionen Donezk und Lugansk neue Chefs des Geheimdienstes SBU ernannt und die Leitung der Spezialeinheit Alfa ausgewechselt worden seien. Der interimistische Staatschef warf den abgesetzten Chefs ‚Hilflosigkeit‘ und ‚verbrecherischen Verrat‘ vor. (RIA, 30.4.)

 Auch der Spiegel hat sich kundig gemacht und liefert Informationen über den bedenklichen Zustand der Sicherheitsapparate unseres neuen Partners:

 „Die regulären Polizeikräfte sind... nur begrenzt loyal gegenüber Kiew. Denn die Wut vieler Maidan-Revolutionäre hatte sich auch gegen Polizisten gerichtet, die in der Ukraine nicht ganz zu Unrecht als korrupt verschrien sind. Nach dem Sieg der Revolution wurden Polizisten zum Teil von Freiwilligentrupps bedrängt. Entsprechend begrenzt ist die Loyalität vieler Beamter jetzt gegenüber Kiew. Die Auflösung der Sondereinheit Berkut... erweist sich jetzt als Fehler: Viele der ehemaligen Elite-Polizisten kämpfen nun auf Seiten der Separatisten... Der Geheimdienst SBU verfügt über im Anti-Terror-Kampf geschulte Einheiten, die bekannteste ist die ‚Alfa‘-Gruppe. Der SBU ist die Nachfolgeorganisation des sowjetischen KGB und gilt als eng verflochten mit Putins Inlandsgeheimdienst FSB... Die Einheit wird auch nicht bis zum Letzten für die Führung in Kiew kämpfen. Die Regierung hält einige Männer der Truppe nämlich für jene Scharfschützen, die Maidan-Kämpfer niederschossen.

 Die Nationalgarde... wurde erst vor wenigen Wochen neu geschaffen, ... rekrutiert sich aus den Kämpfern des Maidan, darunter sind auch militante Nationalisten, die darauf brennen, prorussische Kräfte oder Russlands Soldaten mit der Waffe in der Hand zu bekämpfen... Die Bewaffnung ist schlecht... ‚Ihre Manöver erinnern eher an Exkursionen auf eine Militärbasis als an reale Gefechtsübungen‘, spottet sogar Dmytro Jarosch, Chef der Nationalisten des Rechten Sektors.

 Die Armee: Panzer ohne Sprit... Als die Sowjetunion zusammenbrach, fiel der Ukraine eine der größten Streitmächte der Welt zu, rund 700 000 Soldaten und viel schwere Technik. Die Streitkräfte sind seitdem natürlich geschrumpft (heute ca. 150 000 Mann). Kiew machte 20 Jahre lang gute Geschäfte mit dem Verscherbeln sowjetischer Waffensysteme an Länder in der Dritten Welt. Nur flossen die Einnahmen nie in die dringend nötige Modernisierung der eigenen Armee. Als russische Soldaten im März die Luftwaffenbasis Belbek auf der Krim übernahmen, waren von 25 ukrainischen Kampfflugzeugen gerade einmal vier einsatzfähig.“ (Spiegel online, 16.4.)

[22] Vor dem Hintergrund der andauernden Proteste im Osten des Landes hat der ukrainische Übergangspräsident Alexander Turtschinow die Aufstellung mobiler ‚Verteidigungsbataillone‘ in jeder Region angeordnet... Turtschinow räumte ein, dass die neuen Einheiten nicht nur aus Berufssoldaten, sondern auch aus ‚Patrioten‘ bestehen werden. Davor hatte bereits der ukrainische Nationalistenchef und Präsidentschaftskandidat Dmitri Jarosch angekündigt, seine Kämpfer in diese Bataillone zu schicken. Die von Jarosch geleitete Nationalistenbewegung ‚Rechter Sektor‘ stellt zudem selber ein Sonderbataillon für Einsätze gegen Anhänger einer Föderalisierung in der Ost-Ukraine auf. (RIA, 30.4.)

[23] Nach offiziellen Angaben, wurden in Charkiw binnen den letzten Tagen insgesamt 180 Organisatoren unsanktionierter separatistischer Massenkundgebungen von Polizisten in Gewahrsam gesetzt, was aktiv zur Senkung von separatistischen Aktivitäten in der Stadt beitrug. (nrcu, 8.5.14)

Der Oberste Rat der Ukraine nahm am heutigen Dienstag mehrheitlich das Gesetz über Verschärfung strafrechtlicher Konsequenzen für Verbrechen gegen die nationale Sicherheit der Ukraine an. Das verabschiedete Gesetz sieht Haftstrafen für Verbrechen gegen die nationale Sicherheit der Ukraine von drei Jahren bis sogar lebenslange Haft vor. (RIA, 8.4.)

[24] Die Werchowna Rada der Ukraine nahm ein Gesetz über Benutzung ukrainischer Testgelände für ausländische Streitkräfte und einen komplett freien Zugang für ausländische Streitkräfte zu ukrainischen Testgeländen zur Durchführung von Übungen im laufenden Jahr an. Im laufenden Jahr plant man die Durchführung von acht multinationalen Übungen, während derer fast 2.500 ukrainische Soldaten und Offiziere sowie die gleiche Zahl ausländischer Militärs diverse Einsätze simulieren werden. Als Hauptthema gilt die Vorbereitung zur Teilnahme an unterschiedlichen internationalen Friedenseinsätzen und an Rettungseinsätzen sowohl auf dem Festland als auch auf hoher See sowie zum Schutz der Staatsgrenzen. (nrcu, 1.4.14)

Wir, die Außenminister der NATO, sind uns einig in der Verurteilung der illegalen Militärintervention Russlands in die Ukraine und der Verletzung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine durch Russland. Wir werden unsere Zusammenarbeit im Rahmen unserer ‚Ausgeprägten Partnerschaft NATO-Ukraine‘ intensivieren. Heute haben die NATO und Ukraine – wie in der Erklärung durch die NATO-Ukraine-Kommission dargelegt – vereinbart, unmittelbare und langfristige Maßnahmen umzusetzen, die die Fähigkeit der Ukraine, für die eigene Sicherheit sorgen zu können, stärken sollen. (www.nato.int/cps/en/natolive/news, 1.4.14)

[25] Der Einsatz amerikanischer Spezialkräfte ist ein offenes Geheimnis. Weil er unter der Rubrik „Hilfe“ für die ukrainische Regierung verbucht wird, kann von Einmischung keine Rede sein. Laut ‚Bild am Sonntag‘ sind auch westliche Geheimdienste in der Krise aktiv. Der US-Geheimdienst CIA und die US-Bundespolizei FBI beraten demnach die ukrainische Übergangsregierung in Kiew. Die Spezialisten sollten helfen, die Rebellion im Osten des Landes zu beenden und eine funktionsfähige Sicherheitsstruktur aufzubauen, berichtete die Zeitung unter Berufung auf deutsche Sicherheitskreise. Die Agenten seien aber nicht direkt an den Kämpfen beteiligt, sondern nur in Kiew tätig. Die Aufgabe der FBI-Agenten bestehe etwa darin, bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität im Lande zu helfen. (Spiegel online, 4.5.)

Laut ‚Bild am Sonntag‘ werden die ukrainischen Sicherheitskräfte von 400 Academi-Elitesoldaten unterstützt. Sie sollen Einsätze gegen prorussische Rebellen rund um die ostukrainische Stadt Slowjansk geführt haben. Demnach setzte der Bundesnachrichtendienst (BND) die Bundesregierung am 29. April darüber in Kenntnis. Wer die Söldner beauftragt habe, sei noch unklar. (Spiegel online, 11.05.2014)

[26] Chuck Hagel on NATO Expansion and European Security, defense.gov 02.05.14

[27] „Unterstützung im Bereich der Sicherheit: Zusätzlich zu dem Maßnahmenpaket im Wert von 50 Millionen US-Dollar kündigen wir heute nichtletale militärische Unterstützung im Wert von acht Millionen US-Dollar an, um es den ukrainischen Streitkräften und den Grenzschutzbeamten zu ermöglichen, ihre Kernaufgaben im Bereich der Sicherheit zu erfüllen. Diese zusätzliche Ausstattung beinhaltet:

– Instrumente für die Kampfmittelräumung sowie Handfunkgeräte für die ukrainischen Streitkräfte.

– Technische Ausrüstung, Kommunikationstechnik, Fahrzeuge und nichtletale Kampfausrüstungen für die ukrainischen Grenzschutzbeamten.

– Diese Unterstützung wird zusätzlich zu den Fertiggerichten im Wert von drei Millionen US-Dollar und den knapp sieben Millionen US-Dollar für Gesundheitsversorgung und soziale Hilfe geleistet, die die Vereinigten Staaten bereits für die Ukraine bereitstellen. Die Vereinigten Staaten werden weitere Hilfegesuche aktiv prüfen, die infolge der Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte durch die Regierung und infolge der Bewältigung aufkommender Bedrohungen entstehen.“ (U.S. Crisis Support Package for Ukraine, 21.4. 14, Herausgeber: US-Botschaft Berlin, Abteilung für öffentliche Angelegenheiten; http://blogs.usembassy.gov/amerikadienst)

[28] a.a.O.

[29] Für das Projekt, sich mitten in einem Bürgerkrieg durch Wahlen ermächtigen zu lassen, ist natürlich gesetzgeberische Flexibilität gefragt. Der Durchbruch in dieser Frage ist irgendeinem US-Berater in Kiew mit dem Einfall gelungen, dass die Wahl auch gültig ist, wenn nicht in jedem Wahlkreis eine Abstimmung stattgefunden hat. (SZ, 21.5.) Großartig. Da können die einen wählen und die anderen schießen, und am Abend wird zusammengezählt.

[30] Wall Street Journal, 29.4.14

[31] Laut dem ukrainischen Generalstaatsanwalt haben Viktor Janukowitsch und Personen aus seiner nächsten Umgebung mindestens 32 Milliarden US-Dollar nach Russland geschafft, wie die Webseite der Hauptanklagebehörde am Dienstag mitteilt. (RIA, 29.4.) Die britische Innenministerin und der US-Justizminister wollen sich bei der Summe noch nicht so genau festlegen, aber Mr. Holder sagte, es könne mit Sicherheit gesagt werden, dass ‚wir über Milliarden von amerikanischen Dollars reden. Das zeigt die Größe des Problems... Und wenn man an die Probleme denkt, mit denen die Ukraine zu kämpfen hat, kann die Rückführung dieser Geldbeträge viel zur Lösung der Probleme beitragen, mit denen das ukrainische Volk gegenwärtig konfrontiert ist. (Wall Street Journal, 29.4.)

 Die ukrainische Regierung bemüht sich ihrerseits um Wahlhilfen, indem sie die zur Verfügung stehenden Alternativen beschränkt und unerwünschtes Personal aus dem Osten abräumt:

 „Oleg Zarjow muss wegen Aufrufen zu Separatismus mit Strafverfahren rechnen. Generalstaatsanwalt Machnizkyj zufolge, werde die Strafverfolgungsbehörde auch auf Entzug des Abgeordnetenmandates von Zarjow bestehen, das ihm eine völlige strafrechtliche Immunität verleiht. Er könnte somit auch den Status des Präsidentschaftsbewerbers verlieren, führte der Chef der Generalstaatsanwaltschaft aus. (nrcu, 16.4.14)

Oleg Zarjow, Chef der Bewegung ‚Süd-Ost‘, ist aus dem Präsidentenrennen in der Ukraine ausgestiegen. Zarjow zufolge hatten die Machthaber in Kiew ihm eine Teilnahme an Fernsehdebatten mit anderen Präsidentenkandidaten verweigert. Bei seinen Wahlreisen durch das Land wurde der Kandidat mehrmals angegriffen, mit Eiern beworfen und brutal niedergeschlagen. (RIA, 29.4.)

[32] Wall Street Journal, 29.4.

[33] Eines der Finanzinstitute hatte z.B. Verbindungen zum Ex-Innenminister Vitali Sachartschenko, nach dem jetzt außerdem gefahndet wird. Allein durch diese einzige Bank wurden über 17 Mio. UAH (über 1 Mio. EUR umgerechnet) an Haushaltsgeldern entwendet.(nrcu, 25.3.) Die Nationalbank der Ukraine deckte im Zuge einer umfassenden Prüfkampagne bei den 12 Geldhäusern Geldwäsche bzw. Finanzverbrechen im Gesamtbetrag von 142 Mrd. UAH (ca. 10 Mrd. EUR umgerechnet) auf. (nrcu, 26.3.)

[34] Das Wirtschaftsleben in der Ostukraine stellt sich ohnehin angesichts des „Anti-Terror-Kriegs“ um, nach der Unterbrechung des Grenzverkehrs mit Russland bleiben Lieferungen aus. Nachdem sich Überfälle auf Überlandstraßen, Raub bzw. ‚Beschlagnahme‘ von Autos und gelegentliche Plünderungen mehren, sehen sich auch ehrbare Geschäftsleute zur Gründung von Selbstverteidigungseinheiten berufen, die ihr Eigentum vor möglichen Einbrechern und Terroristen schützen sollen. (nrcu, 8.5.14)

[35] Der Internationale Währungsfonds (IWF) plant eine genaue Auseinandersetzung mit Monats- und Quartalberichten ukrainischer Behörden, und zwar Steuer- und Zollämter, teilt die IWF-Internetseite mit. Ein besonderes Augenmerk plant man auf die Mehrwertsteuer-Rückerstattungen für Exporteure zu richten, wird in dem Pressebericht des Fonds hervorgehoben. Auf solche Weise will man Korruption und Untreue in Staatsfinanzen der Ukraine effizienter bekämpfen. (nrcu, 6.5.14)

[36] U.S. Crisis Support Package for Ukraine, 21.4.

[37] ‚Die US-Botschaft in Kiew hat Kraftstoffpumpen, Drahtsperren, Akkumulatoren, Ersatzteile für Kraftfahrzeuge, Feldstecher und Verbindungsmittel gekauft und an ukrainische Grenzer übergeben, damit sie all das für die Beobachtung und die Grenzsicherung nutzen können‘, sagte Pentagon-Sprecher Steven Warren. (RIA, 7.5.)

[38] FACT SHEET: U.S. Crisis Support Package for Ukraine, 21.4., Herausgeber: US-Botschaft Berlin, Abteilung für öffentliche Angelegenheiten; http://blogs.usembassy.gov/amerikadienst

[39] FAZ, 16.5.

[40] Das Fonds-Programm soll finanziell sicherstellen, dass die Ukraine neben Rückständen von 2,2 Milliarden Dollar ihre künftigen Zahlungen an Russland begleichen kann. Der Fonds dringt dabei auf eine schnelle Einigung zwischen Russland und der Ukraine über den Preis für Gaslieferungen. Russland verlangt einen Preis von 485 Dollar je 1000 Kubikmeter Gas. Das IWF-Programm basiert auf der Annahme eines mittleren Preises zwischen den ukrainischen und russischen Vorstellungen. (FAZ, 30.4.)

[41]‚Vor dem Stockholmer Arbitragegericht werden die Bedingungen des Vertrages überprüft und, wie wir hoffen, auch die unbegründeten Preise revidiert, die Gazprom seit dem Jahr 2010 von der ukrainischen Seite verlangt hat. Dementsprechend soll sich auch die Schuldhöhe verändern‘, so Prodan.“ (RIA, 2.5.)

Die Ukraine hat das im April bezogene russische Gas nach Angaben des Monopolisten Gazprom nicht bezahlt. Somit seien die Schulden des ukrainischen Versorgers Naftogaz gegenüber Gazprom auf 3,508 Milliarden US-Dollar gewachsen, teilte Gazprom-Sprecher Sergej Kuprijanow am Mittwoch mit. (RIA, 7.5.)