Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Pfingsttreffen der Sudetendeutschen:
Deutsche Vertriebene entdecken historische Parallelen!
Sie berufen sich auf ihre Heimatliebe, um Rechtsansprüche gegenüber dem tschechischen Staat anzumelden.Die deutsche Regierung gesteht ihnen das Recht zu, Privatklagen gegen die Benesch-Dekrete zu erheben – diese Anerkennung tschechischen Vertreibungsunrechts hat sie der tschechischen Regierung abgerungen – macht aber nicht die formelle Aufhebung der Dekrete zur Bedingung für den EU-Beitritt.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Pfingsttreffen der
Sudetendeutschen:
Deutsche Vertriebene entdecken
historische Parallelen!
Zu Pfingsten feiern die Sudetendeutschen wieder ihren
Tag. Wie jedes Jahr bringen sie sich heuer zum
fünfzigstenmal als Opfer von Gewalt, Enteignung und
Zwangsarbeit
(CSU-Ministerin
Stamm, FAZ, 25.5.99) in Erinnerung.
Sie halten ihre Vertreibung, bzw. die ihrer Eltern oder Großeltern, aus ihrem angestammten Sudetenland vor 50 Jahren durch den tschechisch-bolschewistischen Slawen wieder und immer noch als schreiendes Unrecht für hochaktuell. Sie verstehen sich als „Vertriebene“ mindestens bis ins siebte Glied und haben aus diesem persönlichen Schicksal einen politischen Rechtsstandpunkt gemacht: In völliger Absehung von den Lebensumständen damals und heute, dort und hier, von völkerrechtlichen Rechts- und nationalen Interessenlagen, berufen sie sich auf ihr Menschenrecht auf Heimat, das sie gefälligst eingelöst sehen wollen. Sie dürfen nicht da sein, wo sie hingehören, und das ist ein fünfzig Jahre alter Skandal. Dort gehören sie ihrer Meinung nach hin, weil da ihre Vorväter schon hingehört haben, sich als Untertanen diverser Herrschaften recht und – in der Mehrzahl – schlecht durchgeschlagen, sich auf Sudetendeutsch in Prosa, Reim und Lied über die von der Obrigkeit bescherten wechselvollen Lebenslagen verständigt haben und damit Teil einer sudetendeutschen Kultur waren. Daß diese Unterabteilung deutschen Nationalwesens als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges ein gewaltsames Ende gefunden hat und nur mehr auf landsmannschaftlichen Treffen fern der Heimat zelebriert werden kann, ist aus der Sicht dieser Landsmänner eben der Skandal, über den sie auf keinen Fall Gras wachsen lassen wollen. Wer so sehr an Trachtenhut und Volkstanz aus einer Gegend festhält, mit der er bis auf die Herkunft seines Großvaters – was ja auch nicht so besonders viel ist – nichts zu schaffen hat, den könnte man mit gutem Grund für einen mehr oder minder harmlosen Trottel halten.
Wer sich auf seine bescheuerte Heimatliebe aber so berechnend beruft, wie es die deutschen Vertriebenen tun, und sich, um dieser Berufung politische Geltung zu verschaffen, in einflußreichen Verbänden organisiert, der will mehr als nur von der idyllischen Vergangenheit im Land seiner Vorväter schwärmen. Der Widerspruch, die eigene heimatselige Borniertheit so methodisch zu pflegen, löst sich auf in einen soliden Katalog von Rechtsansprüchen, und die alte Klage über das Vertreibungsunrecht von damals wird noch nach Jahrzehnten wachgehalten wegen der Forderungen von heute. Mit denen haben die Sudetendeutschen auch noch nie hinter dem Berg gehalten: Anerkennung der Vertreibung als Unrecht bedeutet Anerkennung ihrer Rechte auf Rückkehr, materielle Restitution oder Entschädigung. Sie wollen sich wieder als Eigentümer ihrer alten Habe und mindestens mit-bestimmende Bürgermannschaft des vormaligen Sudetenlandes eingesetzt sehen, gegen eine tschechische Obrigkeit, der sie die Nichtanerkennung ihrer Ansprüche als Aufrechterhaltung einer unhaltbaren Unrechtslage vorhalten.
Weil es darum geht, haben sich bislang alle
bundesrepublikanischen Nachkriegsregierungen je nach dem
Stand ihrer Vorhaben im Verhältnis zu ihren
tschechischen Nachbarn
das berechnende Leiden der
Vertriebenenverbände mehr oder minder eifrig zum Anliegen
gemacht.
Seitdem die Osterweiterung der EU beschlossene Sache ist
und damit aus deutscher Sicht nicht mehr nur die
Wiedereingemeindung ehemals deutscher „Siedlungsräume“ in
den östlichen Nachbarstaaten als deutsche Rechtsposition
offenzuhalten ist, sondern die Eingliederung dieser
Staatswesen in ihrer Gesamtheit in den
deutsch-europäischen Nutzungs- und Machtbereich ansteht,
sind die Rechte der Vertriebenen
für Deutschlands
Regierungen als Druckmittel gegenüber den
Vertreiberstaaten
und als Berufungstitel für
politische Einmischung in Tschechien, Polen, Rußland oder
sonstwo erstmals praktisch brauchbar, deswegen
aber auch berechnend geltend zu machen. Im
Vordergrund steht das übergreifende Europa-Projekt, das
keine nicht bestellten Störungen brauchen kann.
Da sind auch schon einmal beschwichtigende
„Zugeständnisse“ gefragt, um „Irritationen“ der
Gegenseite auszuräumen. So jüngst der neue Bundeskanzler:
„Bei einem Treffen mit dem tschechischen Ministerpräsidenten Milos Zeman hatte der Bundeskanzler einen ‚Schlußstrich unter offene Vermögensfragen‘ gezogen und einen ‚Entschädigungsverzicht‘ angekündigt.“ (FR, 25.5.99)
Auf dem Jubiläums-Sudetentag in Nürnberg spricht deshalb
auch erstmals kein Vertreter der Bundesregierung, und die
Vertriebenen sind beleidigt. Schröder wird in Abwesenheit
als Verbrecher
und Dreckschwein
(ebd.) tituliert und der
Regierung eine Verfassungsklage wegen verweigerten
diplomatischen Schutzes
angedroht. Im übrigen
„müsse die Regierung zur Kenntnis nehmen, daß
Eigentum die Grundlage der europäischen Rechtsordnung
bilde (eine bemerkenswert wirklichkeitsnahe
Mitteilung über die Fundamente der
christlich-abendländischen Kultur!) und daß über den
Verzicht auf ihr privates Vermögen einzig und allein die
Sudetendeutschen befinden könnten.“ (FAZ, 25.5.99)
Tatsächlich sieht der Kanzler das genauso. Eben deshalb hat er sich beim Besuch des tschechischen Premiers Zeman im März so großzügig gegenüber den Tschechen gegeben und anschließend ausdrücklich erklären lassen,
„der Kanzler habe mit seinen Äußerungen keinesfalls auf individuelle Rechtsansprüche von Sudetendeutschen verzichtet. Es gehe darum, daß die jetzige Regierung wie auch schon die Regierung Kohl keine Ansprüche stelle… Es bleibe jedem Sudetendeutschen unbenommen vor einem tschechischen Gericht zu klagen“ auf der Grundlage der Tatsache, daß „die neue Regierung die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg genauso als Unrecht betrachte wie die Verbrechen der Nazis in Lidice oder Theresienstadt.“ (SZ, 10.3.99)
Ganz eines Sinnes mit den empörten Landsmannschaften
führt das Kanzleramt mit dieser Klarstellung vor, wozu
eine moralisierende Geschichtsbetrachtung gut sein kann.
Wenn die Macht eines hinreichend bedeutenden
Staates dahintersteht, eröffnet sie den Nutznießern
dieser Macht glatt einen Rechtsweg, von dem
weniger gut betreute „Opfer der Geschichte“ nur träumen
können. Dennoch – oder gerade deswegen – halten es die
organisierten Vertriebenen für eine Schwächung
ihrer Position, daß man Tschechien zuerst in die
EU lassen will, um dann den Sudetendeutschen
Gelegenheit zu geben, die tschechischen Gerichte unter
dem Dach der „gesamteuropäischen Rechtskultur“ mit
massenhaften Privatklagen gegen die Benesch-Dekrete zu
überziehen, auf die sich die Enteignung der Vertriebenen
stützt (und die von Zeman immerhin schon als nicht
mehr wirksam
bezeichnet wurden), anstatt die
formelle Aufhebung der Dekrete zur Voraussetzung des
Prager EU-Beitritts
zu machen, wie es die CSU
vorschlägt. (HB, 8.3.99)
Und die Vertriebenen können neue Hoffnung schöpfen! Um
ihre Sache steht es trotz ihrer Vernachlässigung durch
die Regierenden so schlecht nicht. Anlaß zur Zuversicht
gibt ihnen die Tendenz der Geschichte, die derzeit
prinzipiell schwer in Ordnung ist: ‚Vertreibung steht
wieder auf der Tagesordnung der Weltpolitik‘, rief
(der Vorsitzende der „Landsmannschaft“) Neubauer
seinen jubelnden Landsleuten zu.
(FR, 25.5)
Weil die NATO gerade dabei ist, die menschenrechtswidrige
Vertreibung von Albanern aus ihrem angestammten
Kosovo zu beenden bzw. rückgängig zu machen, und dafür
Serbien kurz und klein bombt, fallen den deutschen
Vertriebenen starke Argumente für ihr Anliegen ein. Sie
entdecken nämlich eine absolute Parallelität zwischen
den Kosovo-Vertriebenen und den Sudetendeutschen
.
Wenn die NATO für die Menschenrechte einen Schurkenstaat
in Trümmer legt und Kanzler Schröder mit Blick auf
Kosovo erkläre, Vertreibung und Völkermord seien nicht zu
dulden, dann darf sich das nicht nur auf die Gegenwart
beziehen, forderte Neubauer am Freitag in Nürnberg.
(FR, 22.5.99) Man darf also sehr darauf gespannt sein,
wann Beckstein anfängt, die deutschen Pässe der
Vertriebenen einzusammeln (kein Doppelpaß für Zugereiste,
auch nicht in der fünften Generation!) und die NATO die
Sudetendeutschen in ihr gelobtes Land zurückführt, um sie
dort wieder ihre alten Äcker in Besitz nehmen zu lassen.
Oder ist die „Parallele“ so „absolut“ dann doch wieder nicht gemeint?! Der Standpunkt von entrechteten Opfern ist es jedenfalls nicht, in dem die Sudetendeutschen sich den Kosovaren so herzlich verbunden fühlen. Wenn sie sich auf deren Vorbild berufen, dann tun sie das in der Gewissheit, auf der Seite der Mächtigen zu stehen und Forderungen stellen zu können – also gerade nicht die trostlose Manövriermasse einer ordnungspolitischen Gewaltaktion der NATO zu sein, sondern eine beachtenswerte Lobby in einem Staat, der zu den Auftraggebern NATO-bewehrter Europa-Ordnungspolitik zählt. Als längst bestens eingehauste und respektierte innenpolitische Kraft in der BRD reklamieren sie dementsprechend alles andere als ihre gewaltsame „Rückführung“ unter tschechische Oberhoheit: Zusätzlich zu ihrer Rolle im bundesdeutschen Getriebe verlangen sie mehr Einsatz der Staatsmacht für die Bedienung ihrer Ansprüche auf Reichtum und Einfluß in Tschechien durch die Regierung. Und sind empört, weil es damit nicht genügend vorangeht.
Nur wenige Tage nach den Mißklängen des Pfingsttreffens
wächst aber wieder ein Stück weit zusammen, was eben doch
zusammengehört: Die Vorsitzende der Vertriebenenverbände
Erika Steinbach teilt mit, daß sich das zuletzt
angespannte Verhältnis zwischen der SPD und den deutschen
Heimatvertriebenen deutlich verbessert
habe.
Steinbach stellt fest, daß die Sozialdemokraten wieder
Anteil nehmen am Schicksal der Vertriebenen
(SZ,
29.5.99), und Innenminister Schily führt den Nachweis
dafür mit einer Rede auf dem Berliner Tag der
Vertriebenen, in der er ein korrigiertes
Geschichtsbild ausbreitet
(FR, 31.5.99):
„Die politische Linke, leider muß es gesagt werden, habe in der Vergangenheit über die ‚Vertreibungsverbrechen‘ hinweggesehen, sagte Schily. Sei es aus Desinteresse, sei es aus Angst, sich dem Revanchismus-Vorwurf auszusetzen, sei es aufgrund falscher Rücksichtnahmen in der Außenpolitik. Die Linke habe sich, so Schily, in ‚Zaghaftigkeit‘ verloren und müsse nun, da der Kosovo-Krieg das alte Unrecht von 1945 wieder aufscheinen lasse, den Mut zu klarer Sprache aufbringen.“ (ebd.)
Der Minister, der mit seiner Rede die Revanchisten der
Vertriebenenverbände samt ihrer verlogenen
Kosovo-Parallele ins Recht setzt und ganz ohne falsche
Rücksichtnahmen in der Außenpolitik die
Vertreibungsverbrechen zu Lasten des deutschen Volkes
endlich wieder beim Namen nennt, tritt hier als
Repräsentant einer linken Vergangenheitsbewältigung neuen
Typs auf. Davon, daß Linke vielleicht einmal eine Ahnung
davon hatten, daß Heimat ein ziemlich übles
Sortierkriterium für die Verteilung der Menschheit auf
der Erdoberfläche ist, weil es die Ansprüche von
Nationen auf eine ganz bestimmte und exklusive
Verteilung von Land und Leuten, die Gewalttätigkeit von
Staaten zur Wahrung dieser Ansprüche und die
Gewaltbereitschaft von Völkern im Dienste dieser
Heimat-Staaten unterstellt, will Schily nichts wissen.
Das hält er für eine unzeitgemäße Zaghaftigkeit
und falsche Furcht vor ‚Revanchismus‘-Vorwürfen. Ihm
liegt genau umgekehrt viel daran, allen möglichen
reaktionären Volkstums- und Heimat-Mist, den die Nazis
einmal eine Zeitlang in Verruf gebracht haben, zu
rehabilitieren und die zeitweilige Außerkurssetzung
völkischer Rechtspositionen im linken Lager öffentlich
und stellvertretend zu bereuen. Damit auch der „linke“
Zeitgeist mitkommt mit den Fortschritten des deutschen
Imperialismus in Sachen ordnungspolitischer Tatkraft.