Anschlag auf Nord Stream
Ein „verdeckter“ Kriegsakt und ein vorentschiedener Indizienprozess
Ende September werden drei der vier Röhren der Gaspipeline Nord Stream gesprengt. Eine beachtliche Leistung angesichts der Lage und Beschaffenheit der Objekte: „Die betroffenen Stellen liegen 80 bis 110 Meter unter der Meeresoberfläche. Beide Pipelines haben einen Innendurchmesser von 1,15 Metern, Stahlwände mit einer Dicke zwischen 26,8 und 41 Millimetern und einen mehrlagigen Korrosionsschutz. Zuletzt umhüllt die Pipeline ein Tonnen-schwerer Mantel aus Stahlbeton.“ Zur Erzielung einer solchen Zerstörungswirkung ist einiges verlangt: eine gewaltige Menge, „vermutlich eine Sprengladung von mehreren hundert Kilogramm“, die entsprechende Technologie für Operationen unter Wasser und einige Manövrierfreiheit, nachdem die Ostsee als eines der militärisch am besten observierten Gewässer gilt. Eine logistische Leistung, zu der freiberufliche Terroristen kaum imstande sein dürften, sondern nur Staaten, und unter denen eigentlich auch eher wenige.
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Systematischer Katalog
Anschlag auf Nord Stream
Ein „verdeckter“ Kriegsakt und ein vorentschiedener Indizienprozess
Ende September werden drei der vier Röhren der Gaspipeline Nord Stream gesprengt. Eine beachtliche Leistung angesichts der Lage und Beschaffenheit der Objekte: „Die betroffenen Stellen liegen 80 bis 110 Meter unter der Meeresoberfläche. Beide Pipelines haben einen Innendurchmesser von 1,15 Metern, Stahlwände mit einer Dicke zwischen 26,8 und 41 Millimetern und einen mehrlagigen Korrosionsschutz. Zuletzt umhüllt die Pipeline ein Tonnen-schwerer Mantel aus Stahlbeton.“ (nord-stream.com) Zur Erzielung einer solchen Zerstörungswirkung ist einiges verlangt: eine gewaltige Menge, „vermutlich eine Sprengladung von mehreren hundert Kilogramm“ (Tagesschau, 6.10.22), die entsprechende Technologie für Operationen unter Wasser und einige Manövrierfreiheit, nachdem die Ostsee als eines der militärisch am besten observierten Gewässer gilt. Eine logistische Leistung, zu der freiberufliche Terroristen kaum imstande sein dürften, sondern nur Staaten, und unter denen eigentlich auch eher wenige.
Der ehemalige polnische Außenminister und heutige EU-Abgeordnete Sikorski bedankt sich prompt per Twitter bei den USA. Er und andere Beobachter fühlen sich an Bidens prophetische Ankündigung der begrenzten Haltbarkeit von Nord Stream vom Februar erinnert: „‚Wenn Russland einmarschiert ... dann wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen.‘ Reporter: ‚Aber wie wollen Sie das genau machen, da ... das Projekt unter deutscher Kontrolle ist?‘ Biden: ‚Ich verspreche Ihnen, dass wir in der Lage sein werden, das zu tun.‘“ (Biden während des Besuchs von Bundeskanzler Olaf Scholz, DWN, 27.9.22) Nach der Explosion äußert sich der US-Außenminister mit tiefer Zufriedenheit, dass Bidens Voraussage so perfekt eingetroffen ist:
„Es ist eine enorme Chance, die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beenden und damit Wladimir Putin die Möglichkeit zu nehmen, Energie als Waffe zur Durchsetzung seiner imperialen Pläne einzusetzen. Das ist sehr bedeutsam und bietet eine enorme strategische Chance für die kommenden Jahre.“ (US-Außenminister Antony J. Blinken, 30.9.22)
Wozu Biden sich als seinem Interesse und als Fähigkeit seines Militärapparats bekannt hat und was Blinken als großartigen strategischen Fortschritt feiert, das ist jedenfalls das Ergebnis dieser Aktion: die Unterbindung des russischen Gasgeschäfts über die Ostsee-Leitungen und vice versa der Möglichkeit, dass Deutschland angesichts seiner nationalen Notlage in der Gasversorgung auf diese Quelle zurückkommen kann.
Die öffentliche Bearbeitung
Dieses Ergebnis ist an Eindeutigkeit nicht zu überbieten ebenso wie die aus Amerika und Polen geäußerte große Freude über das Ende von Nord Stream. Aber so unseriös geht die westliche Öffentlichkeit selbstredend nicht vor, dass sie das einfach ungeprüft als Indizien verstehen und damit auf den Verursacher deuten würde. Das geht gar nicht, damit geriete man ja in die Nähe einer Verschwörungstheorie.
Alle Medien und Kanäle eröffnen stattdessen ein großes geheucheltes Rätselraten unter dem Titel „Täter unbekannt, wer mag das wohl gewesen sein?“, mit dem Ergebnis, dass in beeindruckender Einmütigkeit und Geschwindigkeit Schuldzuweisungen an Russland ergehen. Die Bild, wie immer vorneweg – „Wer steckt hinter der Sabotage? Wohl Putin. Auch wenn es noch nicht bewiesen ist. NOCH NICHT. Wahrheit wird bald ans Licht kommen.“ (Bild, 28.9.22) –, beginnt gleich mit dem Prinzip und folglich auch mit dem Resultat des Ermittlungsverfahrens: Wer, wenn nicht unser aktueller Hauptfeind, der Inbegriff des Bösen?!
An anderer Stelle gibt es dann allerdings schon einen gewissen Bedarf nach einem Beweis für eine russische Täterschaft, aber die in solchen Fällen übliche Ermittlungsmethode der Meinungsmacher entlang der Frage „Wem nützt das?“ führt erst einmal zu dem misslichen Umstand, dass weit und breit kein Nutzen für Russland abzusehen, sondern nur ein gigantischer Schaden festzustellen ist. In der Tagesschau äußern sich Experten entsprechend problembewusst. Peter Neumann: „Man könnte erstmal fragen: Warum sollte Russland diese Pipeline zerstören, es will uns ja Gas verkaufen?“; Sicherheitsexperte Johannes Peters vom Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel: „Das wirkt vordergründig [!] natürlich etwas widersinnig, die eigenen Pipelines zu zerstören.“ (Tagesschau, 29.9.22) Das Handelsblatt: „Gegen Russland als Urheber spricht indes, dass drei von vier Rohren auf unbestimmte Zeit erst einmal unbrauchbar sind und als möglicher Transportweg von Gas nach Europa ausscheiden ... bei einem Friedensschluss [hätte] der Export von Gas über Nord Stream wieder aufgenommen werden können.“ (29.9.22) Kleine Konzessionen an die Pflicht, Verdächtigungen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auszustatten, sind schon erforderlich, um die Skepsis zu erledigen, die sich diese Schuldzuweisungen wegen der Eindeutigkeit des Falls zu Recht einhandeln. Auf die steuern die genannten Experten aber genauso zu wie die Bild und begeben sich auf die Suche nach „Argumenten, die dafür“, nämlich für eine russische Verantwortung „sprächen“.
Sie und all die anderen Fachleute für die Klärung von Schuldfragen nach dem Muster „Wem nützt das?“ haben mit allem, was darüber berichtet wird, zwar einen Stoff ganz von der Art vor sich, wie sie ihn sonst immer zusammentragen, um auf Schuldige zu deuten. Einen Stoff, aus dem ihre investigativen Schwerarbeiter mühelos eine eindeutige Theorie über den Urheber irgendwo zwischen London und Washington herstellen könnten. Aber dass es der unmöglich sein kann und sein darf, das gilt es zu bewältigen. Deshalb muss dem, was eigentlich auf der Hand liegt, jede Wahrscheinlichkeit abgesprochen werden, indem man den Fall so konstruiert, dass er für das genau entgegengesetzte Resultat spricht.
„Jeder in Europa frage sich jetzt, was mit den anderen Pipelines passieren könne, durch die tatsächlich Öl oder Gas fließen. ‚Die Verunsicherung in Europa ist heute größer denn je‘, so Neumann. Das sei durchaus in Russlands Interesse und ‚die Ursache dafür ist dieser Anschlag‘.“ (Tagesschau, 29.9.22)
Peters:
„Ein Grund sei sicherlich, ein ‚starkes Signal‘ an Europa zu senden, vor allem an Deutschland und Polen, dass man dasselbe auch mit Pipelines machen könnte, die für unsere Versorgungssicherheit deutlich wichtiger seien, etwa die Pipelines aus Norwegen.“ (Ebd.)
Russland hat sich also laut dieser Erkenntnisse erst einmal selbst ins Knie geschossen, um vorzuführen, was es demnächst mit fremden Knien machen könnte. Warum Russland dann aber nicht auch die anderen Pipelines flachgelegt hat, fragt sich wiederum ein Interviewer der SZ: „Wenn der Westen frieren soll, warum will Russland dann nicht noch mehr Pipelines zerstören?“ – und wird von Andrij Koboljew, dem ehemaligen Chef von Naftogas, dem nationalen ukrainischen Gaskonzern, über die wahren Hintergründe aufgeklärt:
„Man muss verstehen, dass Gazprom durch langfristige Verträge verpflichtet ist, Gas nach Europa zu liefern. Gazprom kann nicht einfach die Ventile schließen und den europäischen Vertragspartnern sagen: Sorry, Leute, es gibt kein Gas mehr. Dann würden die Käufer Gazprom verklagen, und dem russischen Konzern drohten enorme Geldstrafen. Das kann richtig teuer werden.“ (SZ, 3.10.22)
Der Ukrainer kann rechnen wie ein Weltmeister: Die in den Bau von Nord Stream versenkten Milliarden und die ebenso in Milliardenhöhe projektierten Geschäfte mit Deutschland für alle Zeit in den Wind zu schießen, lohnt sich laut seinem Einmaleins ungleich mehr als für nicht geliefertes Gas Strafen zahlen zu müssen. Auch wenn solche Strafzahlungen für Russland eher selten fällig werden dürften, da es ja Europa ist, das kein russisches Gas und Öl mehr beziehen will.
Um Ersatz für den nicht ersichtlichen russischen Nutzen zurechtzukonstruieren, ist überhaupt Phantasie gefragt. Der Stern verlegt sich auf angebliche Erfordernisse der Propaganda nach innen:
„Ebenfalls könne es ein Zeichen an die eigene Bevölkerung sein nach dem Motto: ‚Schaut mal, wir werden angegriffen, unsere Infrastruktur wird zerstört.‘“ (stern.de, 29.9.22)
Als ob sich die russische Regierung ausgerechnet in der Notlage befinden würde, dass sich die tumbe russische Bevölkerung trotz der gesammelten Schäden des Kriegs und des Wirtschaftskriegs immer noch nicht genügend „angegriffen“ fühlt, sodass sie selbst noch zusätzlich False-Flag-Schäden inszenieren müsste.
Der Befund, dass es Russland gewesen sein muss, ist natürlich auch viel einfacher zu haben. Ins feststehende Feindbild von der unendlichen Bösartigkeit des Feinds passt ohnehin alles rein, was man darin unterbringen möchte, siehe die Logik des polnischen Vize-Außenministers Marcin Przydacz, nach der da nichts „ausgeschlossen werden“ kann:
„Leider verfolgt unser östlicher Nachbar ständig eine aggressive Politik. Wenn er zu einer aggressiven militärischen Politik in der Ukraine fähig ist, ist es offensichtlich, dass keine Provokationen ausgeschlossen werden können, auch nicht in den Abschnitten, die in Westeuropa liegen.“ (Tagesschau, 27.9.22)
„Weil“ Russland schon in der Ukraine Krieg führt, haben Sabotage-Akte an ganz anderer Stelle die „Wahrscheinlichkeit“ an sich, dass Russland dort diesen Krieg eskalieren will:
„Mateusz Morawiecki hatte schon am Dienstag von einem ‚Sabotageakt‘ gesprochen, der wahrscheinlich eine weitere ‚Eskalationsstufe im Ukrainekonflikt sei‘.“ (FAZ, 29.9.22)
Einem geschulten Beobachter ist die Aufeinanderfolge gewisser Ereignisse im Umkreis des Sabotageakts aufgefallen, die auf den ersten Blick sehr disparat erscheinen mögen, bei näherer Betrachtung aber eine „bemerkenswerte Abfolge“ ergeben – ein etwas unscharfer Ausdruck für „irgendwie logisch“:
„Der Leiter des Bundeswehr-Landeskommandos Hamburg, Kapitän zur See Michael Giss, weist darauf hin, dass ‚die Aufeinanderfolge der Teilmobilmachung Russlands, der Referenden und jetzt die Geschichte mit der Pipeline eine sehr bemerkenswerte Abfolge der Ereignisse‘ sei.“ (stern.de, 29.9.22)
Anderen ist wiederum die Gleichzeitigkeit der Explosionen mit der Einweihung der norwegisch-polnischen Pipeline ins Auge gefallen, die ja wohl auch kein Zufall sein kann:
„War der Nord-Stream-Anschlag ein Hinweis darauf, dass einige oder alle der sieben großen Pipelines, die norwegisches Gas nach Großbritannien und Kontinentaleuropa liefern, von ähnlichen Unglücksfällen betroffen sein könnten? Die Explosionen fielen zeitlich mit der Einweihung der Baltic Pipe zusammen, die norwegisches Gas nach Polen transportiert, sodass dies kaum eine akademische Hypothese ist.“ (carnegieendowment.org, 30.9.22)
Und dann gibt es natürlich auch noch ganz schlichte und wagemutige „Indizien“:
- Weil Russland die Mittel hat für eine solche Aktion, kann man die Suche nach dem Motiv und Grund auch einfach vergessen: „Bei der russischen Marine gebe es Drohnen oder auch Kleinst-U-Boote, die man für solche Zwecke nutzen könnte.“ (stern.de, 29.9.22) Andere Staaten haben die zwar auch, aber das interessiert jetzt nicht.
- Weil Russland als Bewohner eines Stücks Ostseeküste in der Ostsee präsent ist und war, folgert der Inspekteur der Deutschen Marine, Kaack: „Es hat einen Grund, wenn russische Unter- oder Überwassereinheiten sich über längere Zeit im Bereich dieser Kabel aufhalten.“ (FAZ, 29.9.22) Da halten sich zwar auch andere Staaten „über längere Zeit auf“, siehe die kürzlich dort zu einem Großmanöver versammelte NATO-Marine, aber auch das interessiert hier nicht.
Fazit: Die überaus aufgeklärte, ständig um Objektivität ringende Öffentlichkeit gibt sich die größte Mühe, sich in der Frage nach dem mutmaßlichen Urheber der Sabotage-Aktion mit Entschiedenheit dumm zu stellen, um zu ihrem „Schluss“ zu kommen:
Das Opfer der Sabotageaktion muss der Täter gewesen sein, logisch!
Ein Kunstwerk der Rabulistik, was da, ganz im Unterschied zu verwerflichen Verschwörungstheorien, als sachliche Beweisführung verstanden werden möchte; die Konstruktionen können offensichtlich nicht dumm genug sein für diesen Zweck, das Unplausibelste für plausibel zu erklären – schließlich befinden wir uns auch im „Kampf gegen russische Desinformationskampagnen“, nach der Devise der G7-Innenminister: „Wir halten den Lügen Fakten entgegen.“ (Tagesschau, 18.11.22)
So, nachdem die offenkundige Urheberschaft erst zu einer Frage stilisiert worden ist, sorgt die ausufernde Befassung mit ihrer Beantwortung auch dafür, dass die Bedeutung der Sprengung, der wirkliche Nutzen dieser Kriegsaktion, in den Hintergrund gerät, als unerheblich behandelt wird: Objekte mit einer enormen Bedeutung für die russische Politik sind vernichtet worden, ganz im Sinn der erklärten Ziele des von den NATO-Staaten gegen Russland erklärten Wirtschaftskriegs: Russland zu ruinieren, indem man seine Haupteinnahmequelle so weit zum Versiegen bringt wie irgend möglich.
Fortsetzung des Wirtschaftskriegs mit etwas anderen Mitteln
Durch die Sabotage an den Röhren sind jetzt alle russischen Berechnungen darauf, dass sich in Europa möglicherweise doch noch einmal der Gesichtspunkt einer gesicherten Energieversorgung per Russland politisch durchsetzen könnte – Putin rückblickend: „Es sieht so aus, als ob kaum jemand auf seine Interessen Rücksicht nimmt, sonst wären Nord Stream 1 und Nord Stream 2 nicht gesprengt worden. Obwohl sie nicht betriebsbereit waren, boten sie doch ein gewisses Maß an Sicherheit – sie konnten im schlimmsten Fall zugeschaltet werden“ (14.10.22) –, zu einem großen Teil praktisch erledigt. Und damit sind auch Berechnungen von europäischer Seite, wo ja trotz aller angelsächsischen Verwarnungen einige Unverbesserliche die Perspektive einer möglichen Rückkehr zum guten alten Gasgeschäft in Europa noch nicht aufgegeben haben, nachhaltig durchkreuzt. Anstelle der gefährlichen Abhängigkeit von Putins Gas ist Deutschland in eine für Amerika nützliche Abhängigkeit versetzt worden.
Das Ergebnis der Sprengung steht jedenfalls fest, und das passt durchaus in den derzeitigen „Stand der Beziehungen“: Mittlerweile steht russischem Eigentum in der Welt ja offensichtlich keine Rechtssicherheit mehr zu. Die Hüter der regelbasierten Weltordnung haben sich in ihrem Wirtschaftskrieg schon einiges genehmigt – angefangen von Handelssanktionen bis zur Beschlagnahme russischen Eigentums, auch von Eigentum der eigentlich völkerrechtlich sakrosankten Nationalbank in Milliardenhöhe. Nachdem Russland auf diese Weise gewissermaßen für vogelfrei erklärt worden ist, ist es offensichtlich kein großer Schritt mehr dahin, Eigentum dieses Parias auch mit Sprengstoff zu traktieren und einen Hauptbestandteil seiner Infrastruktur in Europa kurzerhand in die Luft zu blasen.
So wird eindrucksvoll dokumentiert, mit welcher Gegenmacht Russland es zu tun hat, womit es neuerdings rechnen muss, wo überall es ungehindert und äußerst wirkungsvoll geschädigt werden kann. Mit einer Aktion, die die Potenz von individuellen Terroristen bei Weitem übersteigt, wird ihm nicht bloß die Benützung des Ostseeraums bestritten, sondern ihm werden Bereitschaft und Fähigkeit demonstriert, es dort massiv zu treffen. Mit dieser in ihrer Unmissverständlichkeit demonstrativen Kriegsaktion ist eine drastische Warnung an die russische Seite in die Welt gesetzt worden, die zugleich in ihrer Machart, Absender unbekannt, im Fachjargon „covert operation“, [1] zur Strategie der NATO-Partner passt, sich nach wie vor trotz ihrer überragenden Rolle im Ukraine-Krieg nicht zur Kriegspartei zu erklären.
Die US-Führung, die sich in ihrer „National Defense Strategy“ offenherzig auch zu solchen Kriegsmitteln bekennt, verzichtet natürlich nicht darauf, bei dieser Aktion, deren politische Stoßrichtung eindeutig ist, die eigene Täterschaft „aktiv zu dementieren“. Präsident Biden erklärt sein Land zum berufenen Aufklärer in diesem Fall offensichtlicher Sabotage und stellt allein dadurch schon klar, dass die USA unmöglich auf der Anklagebank landen können. [2] Sie sind schließlich Fahnder und Richter in der Sache, allein zuständig, zwischen erlaubter und unerlaubter Gewalt zu unterscheiden – eine Kompetenz, die ihnen auch kaum jemand in der westlichen Welt bestreitet, wo fast die gesamte Öffentlichkeit um die Schuldzuweisung an Russland bemüht ist. [3]
Bei allem schwindelhaften Offenhalten der Frage nach der Urheberschaft – die Eindeutigkeit der Stoßrichtung stellt die NATO jedenfalls faktisch und deklaratorisch klar:
Die militärische Okkupation des Ostseeraums als NATO-Meer
Das Bündnis erklärt den Fall zum letzten Grund dafür, sich als Aufsichtsinstanz über die ganze Ostsee in Position zu bringen. Es nimmt den Fall her, um eine militärische Notwendigkeit zu deklarieren und sich damit eine weitere Ermächtigung zu erteilen, für das, was es in der Region praktisch unternimmt: Die Militärpräsenz in diesen Meeren wird verdoppelt, also außerhalb des aktuellen Schlachtfelds in der Ukraine ein neuer Abschnitt in der Aufstellung gegen Russland präpariert, indem die dortigen Militärkräfte aufgestockt und Kontrollen verdichtet werden:
„Die verbündeten Länder haben auch die Unterwasser- und Überflugüberwachung der Ost- und Nordsee mit U-Boot-Patrouillen und Flügen von Aufklärungsflugzeugen ausgeweitet.“ (Foreign Policy, NATO Doubles Naval Presence in Baltic, North Seas After Pipeline Sabotage, 11.10.22; daraus auch die folgenden Zitate)
Lange genug ist ja die Gefahr der hybriden Kriegsführung, die von Russland ausgeht, zur Erzeugung einer allgemeinen Bedrohungswahrnehmung beschworen worden, sodass der Umstand, dass in dem Fall umgekehrt Russland Opfer einer solchen Aktion geworden ist, bei der Begründung des eigenen Vorgehens nicht im Geringsten stört. Man verfügt ja schon über den ständig gegen Russland geäußerten Verdacht als allgemeinen Rechtstitel:
„Westliche Länder haben ihre Militärpräsenz in der Ost- und Nordsee als Reaktion auf die mutmaßliche russische Sabotage von unterseeischen Gaspipelines verstärkt, während hochrangige NATO-Beamte Moskau erneut davor warnten, kritische Infrastrukturen in Europa anzugreifen. Dies ist das jüngste Anzeichen für die zunehmenden Spannungen zwischen dem Westen und Russland wegen des Krieges in der Ukraine.“
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg generalisiert den Anlass zu einer überhauptigen Gefährdung, und damit ist das Vorrücken der NATO in der Ostsee in der Rubrik der überaus notwendigen und gerechtfertigten Verteidigung „unserer [!] kritischen Infrastruktur“ untergebracht, kombiniert mit Drohungen an die Adresse Russlands:
„Wir werden weitere Schritte unternehmen, um unsere Widerstandsfähigkeit zu stärken und unsere kritischen Infrastrukturen zu schützen. Jeder vorsätzliche Angriff auf die kritischen Infrastrukturen der Verbündeten würde gemeinsam und entschlossen beantwortet werden.“ [4]
Auf kommende Zusammenstöße in der Ostsee darf laut NATO also gewartet werden; dort lassen sich ja immer noch russische Kräfte blicken, obwohl das Bündnis die Gegend inzwischen, vor allem nach dem Beitritt der bislang noch fehlenden Skandinavier, als seinen Besitzstand definiert und behandelt:
„Es wird erwartet, dass sich das Kräfteverhältnis in der Ostseeregion entscheidend zu Gunsten der NATO verschiebt, wenn Finnland und Schweden dem Bündnis offiziell beitreten... Die Verteidigungsplaner der NATO haben seitdem begonnen, die Ostsee als ‚NATO-Binnenmeer‘ zu bezeichnen, obwohl Verteidigungsanalysten sagen, dass die Allianz weitere Bedrohungen durch Russlands Marine in der Region nicht ausschließen kann.“
Auch der Ostseeraum ist ein Mare Nostrum, ist unser Aufmarschgebiet.
*
So passen Anfang und Ende dieser Affäre in geradezu erstaunlicher Weise zusammen: Auf eine russische Pipeline wird ein Anschlag ausgeübt, der russische Geschäfts-, politische und Sicherheitsinteressen massiv schädigt – und das ergibt zusammengenommen einen guten Grund für die Steigerung des NATO-Aufmarsches gegen Russland in der Ostsee – immerhin noch zu Teilen ein internationales Gewässer und vor allem eines, das für Russland von allergrößter strategischer Bedeutung ist für seine maritime Bewegungsfreiheit, den Zugang zu den Weltmeeren etc. So kommt die Auseinandersetzung mit Russland voran, ein Fortschritt außerhalb des eigentlichen Schlachtfelds in der Ukraine, aber mit derselben Sinngebung wie die dort stattfindende Mission des Westens.
In der Serie ‚sensationelle Sprengstoffereignisse‘ folgt dann ein nächstes:
Anschlag auf die Brücke von Kertsch
Auch hier geht es um ein Prestigeprojekt der russischen Führung, das Mittel der Anbindung der Krim an das russische Festland, und um ein Kernstück der russischen Kriegsführung in der Ukraine: Eine zentrale Nachschublinie für die Truppen im Süden, denen nach wie vor die Einkesselung droht, ist massiv gestört, ebenso wie die Versorgung der Krim, da die Kapazität der Brücke für die nötigen Transporte fürs Erste stark vermindert ist. Der Anschlag richtet sich darüber hinaus gegen den bisherigen Status der Krim als gesichertes Hinterland des Kriegs, weitab von bewaffneten Auseinandersetzungen. Nach den vorhergegangenen kleineren Anschlägen hat die ukrainische Seite mit diesem Eskalationsschritt nun ihre Fähigkeit zu einer dauerhaften Bedrohung des Gebiets vorgeführt, was Russland dazu zwingt, dort große militärische Kräfte zur Sicherung aufzubieten.
In dem Fall wird zwar auch irgendwie „aktiv dementiert“ – aber auch erst nachdem vollmundige Bekenntnisse seitens der ukrainischen Führung zu dem Anschlag abgeliefert worden sind. Erst einmal wird die eigene Leistungsfähigkeit (bzw. die der unterstützenden NATO-Staaten) gefeiert und der eigene Mut, die von Russland als Staatsgebiet deklarierte Krim anzugreifen, um der nationalen Moral Auftrieb zu verschaffen. Danach veröffentlicht die ukrainische Führung eine Agententheorie, die Brücke sei einem Personalgerangel zwischen russischem Geheimdienst und Militär zum Opfer gefallen:
„Die Ukraine änderte im Laufe des Wochenendes ihre Darstellung um 180 Grad. Am Sonnabend hatte Präsidentenberater Michailo Podoljak noch gepostet, die Explosion sei ‚erst der Anfang‘ gewesen, und ‚alles Gestohlene‘ müsse zurückgeholt sowie ‚alles Illegale zerstört‘ werden. Andrij Melnyk, Kiews scheidender Botschafter in der BRD, feierte auf Twitter unverhohlen und schrieb ‚Shaka laka boom boom. Die Befreiung der Krim beginnt. JETZT‘. Später erklärte Podoljaks Kollege Oleksij Arestowytsch, die Explosion sei vom russischen Geheimdienst FSB selbst inszeniert worden. Ziel sei es gewesen, die russische Militärführung unter Druck zu setzen, um Leute des Geheimdienstes an die Spitze des Militärs zu setzen.“ (junge Welt, 10.10.22)
Eine Lesart, die denn auch mehr den Charakter einer Pflichtübung auf dem Gebiet der kriegsüblichen Fake-News-Produktion an sich hat, als ein halbwegs glaubwürdiges Dementi zu liefern. Was einen US-Militär, den ehemaligen Kommandeur der US Army Europe, aber nicht daran hindert, der Veranstaltung das Kompliment „clever“ zu spendieren:
„Herr Hodges, wer hat die Krimbrücke über die Straße von Kertsch gesprengt? ... Das kann ich nicht sagen. Aber es ist interessant, wie die ukrainische Regierung damit umgeht und sich nicht selbst bezichtigt oder mit dem Anschlag rühmt. Das ist clever und sorgt dafür, dass die Russen im Unklaren darüber bleiben, welche Möglichkeiten ihr Gegner hat.“ (faz.net, 16.10.22)
Wenn dank der Kriegsmoral die generelle Schuldfrage entschieden ist, dann gilt das auch für einzelne spektakuläre Gewalttaten im Krieg, auch jenseits von bzw. in grober Verletzung jeder Logik, weil wir ja die Wahrheit gepachtet haben. Dann lässt sich auch umgekehrt die Zweckmäßigkeit von Lügen als Kriegslist loben, selbst wenn sich eine solche denkbar fadenscheinige Konstruktion nur noch mit Mühe als List qualifizieren lässt.
[1] Wikipedia zur ehrwürdigen Tradition dieses Kriegsmittels:
„Verdeckte Operationen (englisch covert operation) sind politische, nachrichtendienstliche oder militärische Aktivitäten, die sowohl heimlich (zur Verschleierung der Identität des Urhebers) als auch verdeckt ablaufen, das heißt, ihre Existenz wird vom Urheber bei Bedarf aktiv dementiert (= verleugnet)... Sie bilden in vielen Staaten ein etabliertes und regelmäßiges Mittel der inoffiziellen Außenpolitik. So ist mittlerweile eine Vielzahl von Operationen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekannt geworden, die vor allem von den beiden Supermächten USA und Sowjetunion und deren jeweiligen Verbündeten im Zuge ihrer Auseinandersetzung im Kalten Krieg betrieben wurden... Der Urheber muss in der Lage sein, einen Zusammenhang zu ihm selbst glaubhaft abzustreiten.“
Und auch die aktuelle Fassung der amerikanischen Verteidigungsstrategie führt die Abteilung „irregular warfare“, entgegen dem Gerücht, Russland hätte die Methoden der hybriden Kriegsführung erfunden, in der langen Liste amerikanischer Kriegsmittel auf:
„Irregular Warfare bevorzugt indirekte Ansätze, obwohl sie die gesamte Bandbreite militärischer und anderer Fähigkeiten einsetzen kann, um asymmetrische Ansätze zu suchen, um die Macht, den Einfluss und den Willen eines Gegners zu untergraben.“ (National Defense Strategy 2022, S. 26)
[2] „US-Präsident Joe Biden hat die Lecks an den Erdgas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 als Folge von Sabotage bezeichnet und Untersuchungen an den beschädigten Leitungen angekündigt. Zum gegebenen Zeitpunkt ‚werden wir Taucher runterschicken, um herauszufinden, was passiert ist‘, sagte Biden... ‚Es war ein Akt vorsätzlicher Sabotage‘, betonte er. Biden warf Russland vor, jetzt ‚Falschinformationen und Lügen‘ zu den Schäden zu verbreiten. Kremlchef Wladimir Putin hatte zuvor den Westen für die Lecks verantwortlich gemacht. Biden rief auf, nicht auf Putin zu hören: ‚Wir wissen, dass das, was er sagt, nicht wahr ist.‘ ‚Wir glauben nicht, dass es das Werk eines NATO-Verbündeten war‘, sagte der Nationale Sicherheitsberater im Weissen Haus, Jake Sullivan.“ (NZZ, 1.10.22)
[3] Natürlich wird dem lautstarken Bedürfnis nach Aufklärung, lückenloser natürlich, auch Genüge getan. Die ansässigen NATO-Staaten, in dem Fall Schweden und Dänemark, sichern sich die Hoheit über das Verfahren und lassen die russische Staatsanwaltschaft zu den Ermittlungen fürs Erste jedenfalls nicht zu. Immerhin haben sie mittlerweile die erstaunliche Erkenntnis zu Tage gefördert, dass es sich wirklich um einen Sabotageakt gehandelt haben muss. Wer hätte das gedacht.
Aus dem Imperativ aus Brüssel: „es müsse schnell aufgeklärt werden, wer hinter dem Vorfall stecke“ (von der Leyen in FAZ, 29.9.22) – so viel ist sich die EU als Leuchtturm in Sachen Rechtsstaatlichkeit einfach schuldig – wird dann auch nichts, weil erst Schweden befindet, „dass die Sicherheitseinstufung seiner Ermittlungsergebnisse zu hoch sei, um diese mit anderen Staaten zu teilen“ (Spiegel Online, 14.10.22). Im Folgenden bescheidet dann die Bundesregierung, nachdem auch die deutsche Marine in der Ostsee nachgeschaut hat, die Anfrage der üblichen penetranten Abgeordneten der Linken mit der erschöpfenden Auskunft, dass deren Forderung nach Transparenz ein „Staatswohl“ entgegenstehe:
„Die erbetenen Informationen berühren somit derart schutzbedürftige Geheimhaltungsinteressen, dass das Staatswohl gegenüber dem parlamentarischen Informationsrecht überwiegt und das Fragerecht der Abgeordneten ausnahmsweise gegenüber dem Geheimhaltungsinteresse der Bundesregierung zurückstehen muss.“ (Aus der Antwort der Bundesregierung, Berliner Zeitung, zitiert nach Telepolis, 17.10.22)
Das genannte Staatswohl buchstabiert sich in dem Fall als Vermeidung „möglicher Konflikte mit den Interessen verbündeter Staaten bzw. deren Geheimdiensten, die so genannte Third-Party-Rule“ (ebd.), sodass die groß angekündigte Aufklärungsoffensive von der Leyens vor dem höheren Rechtsgut der atlantischen Solidarität im Sand verläuft.
[4] Das Stichwort wird gerne aufgenommen und dem Publikum als Gefährdung jedweder Infrastruktur, zu Wasser und zu Lande und überhaupt, vor Augen gestellt, damit es die Bilder aus der Ukraine auch richtig auf sich bezieht:
„‚Jede Umspannstation, jedes Kraftwerk, jede Pipeline kann attackiert werden, kann ein mögliches Ziel sein‘, sagte General Carsten Breuer, Befehlshaber des Territorialen Führungskommandos. Mit drastischen Worten: ‚Krieg in Europa ist wieder möglich‘ untermalte er seine Befürchtungen.“ (Telepolis, 15.10.22)