100. Jahrestag der Oktoberrevolution
Stalin – wer war das?
Michail Gorbatschow: Der Totengräber des Realen Sozialismus

Das Jubiläum der bolschewistischen Machtergreifung lassen die klugen Köpfe der bürgerlichen Öffentlichkeit nicht unkommentiert verstreichen. Sie warten mit den Einsichten auf, zu denen sie im Zuge ihrer Befassung mit dem Kommunismus schon seit langem gelangt sind. Allgemein beklagt wird ein hohes Maß an Gewalt gegen Personen und Sachen beim Umsturz, noch mehr, dass er nicht der Auftakt war zur Einführung von zivilisierten Verhältnissen, wie wir sie schätzen, sondern zur Einführung einer Herrschaft, die spätestens mit dem Amtsantritt des Genossen Stalin zu einer reinen Schreckensherrschaft geriet. Der Name des Gründervaters des Sozialismus in Russland und der ‚-ismus‘, den sie an ihn dranhängen, steht für kundige Betrachter wie für alle guten Menschen für so ziemlich alle Scheußlichkeiten der politischen Weltgeschichte, und in dem Schlagwort haben sie den fertigen Begriff der politischen Ökonomie des Realen Sozialismus und damit auch gleich ihren Inbegriff von ‚Sozialismus‘ vorliegen.

Um einen anderen Großen Vorsitzenden des sozialistischen Systems ist es angelegentlich des 100. Geburtstags der Oktoberrevolution ganz still geblieben. In Sachen historischer Gerechtigkeit ist Gorbatschow die Abwrackprämie für die Stilllegung des Realen Sozialismus vollumfänglich in den Honneurs abgegolten worden, mit denen ihn die Freunde der Freiheit und der uniformierten westlichen Wertegemeinschaft schon zu Zeiten seines politischen Wirkens zugeschüttet hatten. Er hat seinen Dienst für die gute Sache getan.

Aus der Zeitschrift
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Konkordanz

Ende 1988 rief „Der Spiegel“ M. Gorbatschow zum „Mann des Jahres“ aus. – In diesem Jahr hatten die nationalistischen Streitigkeiten im Kaukasus größere Mengen von Toten sowie – ein bis dahin unbekanntes Phänomen – von innersowjetischen Bürgerkriegsflüchtlingen hervorgebracht. Die Versorgung der Sowjetmenschen war spürbar schlechter geworden.

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Über Stalin weiß jeder anständige Zeitgenosse, inzwi­schen auch "drüben", daß man ihn verachten muß und sein Name für etwa die Hälfte aller Scheußlichkeiten der Weltgeschichte steht. Aber hat irgendwer außer Ab­scheu vielleicht noch eine Kritik an dem Mann und sei­nem Lebenswerk?

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100. Jahrestag der Oktoberrevolution

Das Jubiläum der bolschewistischen Machtergreifung lassen bürgerliche Köpfe natürlich nicht unkommentiert verstreichen. In Feuilletons, Wirtschaftsteilen und Features in Funk und Fernsehen warten sie mit den Einsichten auf, zu denen sie im Zuge ihrer Befassung mit dem Kommunismus schon seit langem gelangt sind. Die fallen bei allem Verständnis für die Nöte der verarmten und durch Krieg gebeutelten russischen Massen im Jahr 1917 insgesamt eher wenig günstig aus. Allgemein beklagt wird ein hohes Maß an Gewalt gegen Personen und Sachen beim Umsturz, noch mehr, dass er nicht der Auftakt war zur Einführung von zivilisierten Verhältnissen, wie wir sie schätzen, sondern zur Einführung einer Herrschaft, die spätestens mit dem Amtsantritt des Genossen Stalin als Generalsekretär der KPdSU zu einer reinen Schreckensherrschaft geriet. Der Name des Gründervaters des Sozialismus in Russland und der -ismus, den sie an ihn dranhängen, steht für kundige Betrachter wie für alle guten Menschen für so ziemlich alle Scheußlichkeiten der politischen Weltgeschichte, und in dem Schlagwort haben sie den fertigen Begriff der politischen Ökonomie des Realen Sozialismus und damit auch gleich ihren Inbegriff von ‚Sozialismus‘ vorliegen: Ein System, das die Freiheit und Menschenrechte abgeschafft hat, um sie in Wirtschaft, Politik und Kultur durch Unterdrückung als Staatszweck zu ersetzen, ein permanenter Krieg der Kommunisten gegen das eigene Volk, der 1917 angefangen und erst mit der Befreiung der Völker aus ihren Gefängnissen im Ostblock sein Ende gefunden hat.

Mit Kritik an irgendetwas von dem, was die Revolutionäre einst auf den Weg gebracht und ihre Nachfolger an der Spitze der KPdSU fortgeführt haben, sind derartige Einlassungen nicht zu verwechseln. Die aber ist unerlässlich, will man mehr als mit dem Argument „GULAG!“ die millionste Verdammung des Kommunismus loswerden – und stattdessen einmal den Gegensatz begreifen, in den ausgerechnet eine kommunistische Bewegung zur „Befreiung“ der Werktätigen und Bauern vom „Joch des Kapitals“ zu denen geraten ist, die sie befreien wollte. Diese Kritik ist die der Fehler, die der Große Vorsitzende Zeit seines Lebens verbrochen hat, und zu der verhilft eine sachliche Antwort auf die Frage: [1]

Stalin – wer war das?

Er hat für einen „stürmischen industriellen Fortschritt“ im revolutionären Sowjetrussland gesorgt und dessen Landwirtschaft total umgekrempelt. Er hat die Rote Armee zum Sieg über den deutschen Imperialismus kommandiert und den sog. „Ostblock“ geschmiedet. Dabei hat er die Bauern schlecht behandelt, die Intelligenzler drangsaliert und mörderisch unter den Kadern seiner Partei gewütet. Das steht fest; da gibt es nichts zu bezweifeln und nichts mehr zu „entlarven“.

Richtige Urteile über den Mann und seine Leistung sind diese Feststellungen trotzdem nicht. „Industrialisierung“ ist ebenso wenig der Begriff des Stalinschen Aufbauwerks in Russland wie „Wirtschaftswunder“ der Erhardschen Wirtschaftspolitik in der BRD. Dass Stalins Truppen Berlin erobert haben, sagt noch gar nichts darüber, welche Sache da gesiegt hat – und ob überhaupt. Und der Vorwurf des Verbrechens an Stalins Regierungsstil erklärt diesen genauso wenig wie eine Kriegserklärung den Krieg.

I. Stalin, der Vater des sowjetischen Wirtschaftswunders – oder: Von der antikapitalistischen Revolution zur „sozialistischen Ökonomik“

Den Entschluss, die „Privatproduktion“ auf dem Lande zu bekämpfen und in kürzester Zeit den Aufbau einer umfangreichen Schwer- und Maschinenbauindustrie durchzuziehen, hat Stalin gegenüber seiner Partei und vor dem Volk mit der „Theorie“ verfochten, es gelte, den „Sozialismus in einem Lande“ – eben im revolutionären Sowjetland – aufzubauen. Wo auch sonst – nachdem kommunistische Umsturzversuche in Ungarn, Deutschland und anderen Staaten gescheitert waren. Warum auch nicht – wo doch die bolschewistische Partei nach Revolution und siegreich beendeten Bürger- und Interventionskriegen Land und Leute des früheren Zarenreiches unter Kontrolle hatte. Dort sozialistische Verhältnisse zu schaffen, war ja wohl der Zweck der revolutionären Kraftanstrengung!

Genau das war aber offenbar gar nicht so eindeutig. Dass Stalin dieses Programm grundsätzlich zu begründen für nötig fand und in seiner Partei gegen Widerstände von allen Seiten durchsetzen musste, spiegelt einen seltsamen Widerspruch im Selbstverständnis und in der Politik dieses siegreichen revolutionären Vereins wider. Die Bolschewiki hatten wahrhaftig nicht bloß „die Macht ergriffen“, sondern eine ganz neue Gewalt – die der von ihnen beherrschten Räte (= „Sowjets“) – an Stelle der alten Staatsmacht und der von dieser in Kraft gesetzten Macht des Eigentums errichtet; sie hatten die in Kapital und Grundbesitz realisierte Privatgewalt über die gesellschaftliche Arbeit gebrochen und die Freiheit geschaffen, die Produktion vernünftig zu planen. Diese Freiheit hatten sie sich auch weder durch Mitläufer und Gegner abkaufen lassen, die bloß im Rahmen bürgerlicher Verhältnisse ein bisschen Fortschritt herbeireformieren wollten, noch durch das Unverständnis der zahlenstärksten produktiven Klasse, der von ihnen erst zu selbständigen Privatbauern gemachten Landbevölkerung, gegenüber sozialistischen „Experimenten“. Ihren Willen zu einer Revolution ohne Kompromisse hatten sie jedoch nicht zuletzt aus der Vorstellung eines letztlich ohnehin nicht aufzuhaltenden Geschichtslaufs geschöpft, der jede Gesellschaft aus einem „Entwicklungsstadium“ ins nächstfolgende hinüberstieße. Und im Rahmen dieser Geschichtsteleologie war für Russland der Sozialismus noch gar nicht an der Reihe, weil der Kapitalismus, die Herrichtung von Land und Leuten zu Werkzeugen des Geschäfts, dort erst am Anfang stand. Allen Ernstes arbeiteten sie sich an der Frage ab, was für eine Revolution bei ihnen überhaupt „auf der Tagesordnung“ stände; und sie kamen zu dem Schluss, zu sehr viel mehr als einer „bürgerlichen“ wie 1789 in Frankreich reichte es nicht bzw. nur unter der Bedingung, dass die richtige proletarische Revolution in den Ländern, wo sie „fällig“ wäre, bald stattfände und das rückständige Russland gleich mit in den Sozialismus hinüberziehen würde. Dieser grundsätzliche Vorbehalt dem eigenen Vorhaben gegenüber wurde den Bolschewiki dann zwar doch nicht zum Problem, als sie sich entschieden hatten, die Revolution zu machen. Und als Geburtshelfer der bürgerlichen Freiheiten des großen Geldes wollten sie sich nie betätigen. Zum umstandslosen Aufbau sozialistischer Produktionsverhältnisse – „in einem Land“ – fühlten sie sich allerdings auch nicht so recht berufen.

Die erste Verlaufsform dieses Widerspruchs war die 1920 eingeführte „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP), die die Lebensmittelversorgung der Städte ebenso wie die Deckung des Bedarfs an industriellen Konsumgütern sowie der Landwirtschaft an Produktionsmitteln weitgehend privater Geschäftstätigkeit überantwortete. Diese Politik war einerseits aus Not geboren, die Ernährung der Leute zu sichern; und soweit das die Alternative ist, rechtfertigt die Rettung der Leute natürlich jede Vertagung politischer Programmpunkte. Freilich war die Not nicht einfach da, sondern durch die Weigerung der recht selbständigen Bauern geschaffen, ihr Getreide wie in Kriegszeiten abzuliefern – die Bolschewiki konnten das als Quittung für die gar nicht sozialistische „Bauernbefreiung“ verbuchen, die die Revolution dem Land gebracht hatte. Mangel herrschte auch auf Seiten der proletarischen Staatsgewalt, die den Bauern keine materiellen Angebote machen konnte, die den puren Ablieferungszwang hätten ablösen können; allerdings war auch das keine naturwüchsige Not: Immerhin stand eine ganze Klasse von gut ausgestatteten Nothelfern bereit, um sich am staatlich freigegebenen kapitalistischen Handel und Wandel zu bereichern.

Dass sie dieser Mannschaft ebenso wie einer geschäftstüchtigen Minderheit unter den Bauern Freiheiten gewähren mussten, bedauerten die Bolschewiki als Rückschritt und gegen das eigentliche Programm eingegangenen Kompromiss. Unter den höheren Gesichtspunkten des Geschichtsverlaufs fanden sie dieses Zurückweichen andererseits aber ganz in Ordnung. Sie interpretierten es als Einsicht in die Notwendigkeit, erst einmal mit kapitalistischen Mitteln die Nation „voranzubringen“. Durch diesen „Staatskapitalismus“ sollten die Kommunisten lernen, wie man Handel treibt, kaufmännisch rechnet, rentabel produziert, kurzum: „Wirtschaft macht“ – um darin die zu neuem Leben erweckten Geschäftemacher eines Tages überflüssig zu machen und zu „beerben“; das wäre dann des Sozialismus nächste „Entwicklungsstufe“.

Insofern war die „Neue Ökonomische Politik“ einerseits durchaus schon ein Programm für den Aufbau des „Sozialismus in einem Lande“. Und jenseits ihres Charakters bzw. ihrer Selbstdarstellung als Kompromiss- und Notprogramm gibt sie auch an, was die bolschewistische Partei unter dem „Sozialismus“ verstand, der den Übergang zu den idealeren Formen des Kommunismus ermöglichen sollte: einen Kapitalismus, in dem Staatsbetriebe die privaten Geschäftemacher in ihrer Versorgungsfunktion ersetzen sollten und die Preise staatlich so festgelegt wären, dass sie die Versorgung der Massen nicht gefährdeten. Sehr wenig „antagonistischer“ Gegensatz gegen die kapitalistische Produktionsweise steckte in diesem Projekt; stattdessen viel Hochachtung vor den Versorgungsleistungen, die unter dem Regime der Profitsucht zustande kämen, wenn man diese bloß richtig kontrollierte, sowie eine seltsame Sicherheit, dass der Profit sich durch solche Kontrolle proletarisch nützlich machen ließe – seltsam, weil diese Sicherheit der Einsicht in die Notwendigkeit einer revolutionären Abschaffung des kapitalistischen Eigentums und seiner ökonomischen „Sachzwänge“ schon ein wenig widersprach. Damit entsprach dieses Bild von „Sozialismus“ andererseits genau dem Selbstbewusstsein der Bolschewiki, eine noch gar nicht recht proletarische Revolution vollbracht zu haben, die nur als Auftakt zur Weltrevolution Bestand haben und ein unwiderruflicher Schritt in Richtung Kommunismus sein könne. Einen „Rückfall“ in die womöglich nicht mehr zu beschränkende Herrschaft des kapitalistischen Eigentums hielten sie nie für ausgeschlossen; um so weniger, je kräftiger sich auf dem Boden der „Neuen Ökonomischen Politik“ die lizenzierte Geschäftswelt tummelte.

Immerhin verwarf Stalin mit der Entscheidung, den „Sozialismus in einem Land“ zum politischen Vorhaben zu erklären, die geschichtsteleologische Parteidoktrin, der zufolge man bestenfalls einen geregelten Staatskapitalismus auf die „Tagesordnung“ setzen konnte. Die inhaltliche Bestimmung dieses „Übergangs“ verwarf er allerdings überhaupt nicht – was wiederum schlecht zur Freiheit passt, die er sich bei seinem Aufbaubeschluss schon nahm: Wenn schon „Blut, Schweiß und Tränen“ anstanden, wären sie auch gleich anders besser angewandt gewesen. So erklärte Stalin das, was Lenin seinen kommunistischen Haudegen als „Lehrzeit“ in Sachen „Ökonomik“ ans Herz gelegt hatte, nach acht Jahren für beendet; und zwar nicht deswegen, weil die sozialistischen Betriebe und der sozialistische Handel die kapitalistische Konkurrenz verdrängt hätten, sondern aus dem entgegengesetzten Grund: Die wachsende Abhängigkeit der elementaren Versorgung des Proletariats von Geschäftemachern und privatem Bauerntum wurde zur Gefahr für die städtischen Massen und für ihren Staat, die ebenfalls wachsende Abhängigkeit der dem Staat verfügbaren Finanzen vom Geschäftserfolg der „NÖP-Leute“ und den Überschüssen der Privatbauern hemmte den Fortschritt des Staatssektors im Wirtschaftsleben. Also begeisterte Stalin seine immerhin ja noch herrschende Partei dafür, sich auf ihre Gewalt über die Ökonomie zu besinnen und, ohne die allmählichen Konkurrenzerfolge der Staatswirtschaft abzuwarten, die Privatmacht des Geldes aufzuheben, das kapitalistische Geschäftsleben durch ein kommunistisches Kaufmannswesen zu ersetzen und den Aufbau der Staatsindustrie von den Schranken der staatlichen Steuereinnahmen zu befreien. Insofern machte er ernst mit der Befreiung der Gesellschaft von den ökonomischen Sachzwängen des Kapitals, welche die Oktoberrevolution eigentlich erkämpft hatte.

Um so auffälliger ist, dass diese Freiheit andererseits überhaupt nicht der Standpunkt war, von dem aus Stalin an sein politisches Projekt heranging. Als treuer Schüler der in der „Neuen Ökonomischen Politik“ enthaltenen sozialistischen Programmatik hielt er es für ausgemacht, dass „Sozialismus“ für die revolutionäre Sowjetmacht nichts anderes bedeuten könne als die Aufgabe, von Staats wegen alle Leistungen des Kapitals in Sachen Versorgung und Entwicklung herzustellen – ohne Behinderung des Fortschritts durchs private Eigentum! Er definierte sein Vorhaben als Realisierung der historischen Aufgabe, nicht mehr und nicht weniger als die Akkumulation von Reichtum und Produktivkräften nach dem Beispiel der Kapitalisten, aber ohne diese Figuren zustande zu bringen.

So nutzte Stalin die Freiheit der revolutionären Gewalt, die sich alle gesellschaftlichen Verhältnisse verfügbar gemacht hatte, zur Enteignung der Geschäftemacher und der Bauern und zum Kommando über die Arbeiter, die unter den Bedingungen der „Neuen Ökonomischen Politik“ zum großen Teil gar keine Arbeit gefunden hatten. Der Aufbauplan jedoch, den das Kommando der Partei ins Werk setzte, beruhte nur ganz im Allgemeinen auf der Vorstellung, dass große landwirtschaftliche Güter produktiver sein müssten als viele kleine Höfe und dass ein fortschrittliches Land als Erstes eine Industrie zur Produktion von Industrieeinrichtungen brauche. Daraus einen schlüssigen Bedarfsplan zu entwickeln, die optimale Teilung und Verteilung der notwendigen Arbeit zu errechnen und darüber eine gesamtgesellschaftliche Kooperation aufzuziehen: Das war nicht die Aufgabe, die Stalin seiner obersten Planungsbehörde stellte. Gosplan hatte mit verfügbaren Finanzmitteln zu rechnen, versuchte sich in einer „Globalsteuerung“ per Anweisung von Finanzmitteln an die Betriebe und per Preisgestaltung und lud damit den einzelnen (Groß-)Betrieben die Aufgabe auf, mit den verfügbar gemachten Geldern ein Gewerbe aufzuziehen, in dem dann Technik und Bedienungsmannschaften, Rohstoffnachschub und Betriebsmittel sachlich zusammenstimmen mussten. Dass die Betriebe einander zuarbeiten sollten und für den Unterhalt der Arbeiter auch das Nötige bereitstand, war zwar im Prinzip auch vorgeschrieben und geplant, in der tatsächlichen Durchführung aber Sache der betrieblichen „Eigeninitiative“ und der Einteilung und Verwendung ihrer zugewiesenen bzw. aus dem Güterverkauf zu erlösenden Gelder. Dabei stand die Geldverwendung jedoch vor allem unter dem Diktat einer „wirtschaftlichen Rechnungsführung“, also der Vorschrift, aus der Produktion und dem Verkauf zu den staatlich administrierten Preisen einen laufenden Überschuss an abzuliefernden Finanzmitteln herauszuwirtschaften. Es wurde, erstmals im großen Stil, der Widerspruch wahrgemacht, mit Geld zu planen; gerade so, als wäre ein zugewiesener Fonds an schönen neuen „roten“ Rubeln schon dasselbe wie die Produktionsmittel, die ein Betrieb sich damit beschaffen sollte; als wären Produktionsmittel und Arbeitskräfte schon dasselbe wie Verkaufserlöse, aus denen sich betriebliche wie staatliche Fonds wie von selbst erneuern und ausweiten müssten; und als müsste sich der von Gosplan projektierte und staatlich befohlene arbeitsteilige Gesamtzusammenhang der gesellschaftlichen Produktion über Geldgrößen und den Zwang zu Gewinnerwirtschaftung ganz automatisch herstellen.

Das tatsächliche Ergebnis war eine gigantische Aufbauleistung, die durch die „Planung“ mit Finanzmassen statt mit den richtigen Gebrauchswerten an sämtlichen Nahtstellen zwischen Betrieben und Branchen durch Mangel behindert wurde und nur deswegen zustande kam, weil es einen kostenmäßig höchst flexiblen Produktionsfaktor gab, über den die vorgeschriebene „Rechnungsführung“ trotz allem immer wieder dazu gebracht werden konnte aufzugehen: die Arbeitskraft und ihre Entlohnung. Die dereinstigen Nutznießer des Aufbauwerks wurden zuerst einmal zu dessen Lückenbüßern, und das keineswegs auf freiwilliger Basis. Ein System von Prämien und Strafen – bis hin zu unbezahlter Zwangsarbeit – machte den sozialistischen Betrieben Arbeit in der Form verfügbar, wie sie das zur Erfüllung der vorgegebenen Finanz- und Produktionspläne brauchten: als Kompensationsmittel für fehlende Produktionsmittel einerseits, als flexible Restgröße in der „ökonomischen“ Kalkulation andererseits.

Es gehört zum eisernen Vorrat an antikommunistischen Beweisführungen, die Härten des von Stalin herbeikommandierten Wirtschaftsaufbaus als notwendige Folgen eines typisch planwirtschaftlichen „Voluntarismus“ zu geißeln, als Konsequenzen des verweigerten Respekts vor den ehernen Gesetzen des Wirtschaftens; wohlwollender volkswirtschaftlicher Sachverstand pflegt anschließend das Kompliment nachzureichen, immerhin hätte Russland so dann doch die „ursprüngliche Akkumulation“ mit ihren unumgänglichen Entbehrungen nachgeholt. Beides ist ein Hohn.

Die Brutalitäten der Stalinschen Kommandowirtschaft gehen restlos darauf zurück, dass die „Sprache“ des Kommandos das Geld war. Damit wurde an sämtlichen materiellen technischen Erfordernissen einer schlüssigen Arbeitsteilung entschlossen und unverrückbar vorbei „geplant“; damit war die Arbeitskraft von vornherein als diejenige Größe festgelegt, auf deren Kosten diese „Planung“ dann doch irgendwie im Sinne der Gewinnvorschriften aufging; damit wurde konsequenterweise das Maß an Terrorisierung der Arbeitskräfte nötig, das die heuchlerischen Freunde einer kapitalistischen Ausbeutung Stalin so freudig erregt vorwerfen. Der Musterfall antikommunistischer Hetze wg. Stalin, die Kollektivierung der Landwirtschaft unter dem Druck der Sowjetmacht, offenbart genau diesen „marktwirtschaftlichen“ Geburtsfehler des „Sozialismus in einem Lande“ sehr deutlich: Es wurde gerade keine Integration der Bauern in eine technisch und güterwirtschaftlich durchgeplante neue Arbeitsteilung – im Ganzen wie „vor Ort“ – organisiert; stattdessen herrschte das „Vertrauen“, die Konzentration der paar für die Landwirtschaft flüssiggemachten Finanzmittel auf die sozialistischen Großgüter würde dort schon ihr Werk tun. Natürlich geschah das nicht; ein extremeres Gegenteil zu einem technisch zweckmäßigen Aufbau agrarischer Großproduktion war kaum herzukriegen; da halfen auch die staatlichen Traktor-Stationen nur bedingt weiter. So blieb die rein negative Seite des sozialistischen Aufbaus, die Enteignung, als einziger „Hebel“ übrig – und unwirksam, weil Erpressung mit Not eine denkbar schlechte Produktivkraft ist und bei den hartgesottenen russischen Muschiks schon gleich nicht verfing.

Wenn also etwas an dem von Stalin befohlenen sozialistischen Aufbau den Vorwurf des „Voluntarismus“ verdient, dann ganz sicher nicht der Entschluss als solcher, eine Industrie und eine quasi-industrielle Landwirtschaft „aus dem Boden zu stampfen“; erst recht nicht die darin eingeschlossene Entscheidung, dafür nicht auf ausländische Kredit-„Hilfe“ zu warten; und auch nicht der Standpunkt „Kommunisten ist alles möglich!“, mit dem damals ganze Mannschaften von agitierten Arbeitern begeistert in die „Aufbauschlacht“ gezogen sind – das war allemal noch ein Echo des revolutionären Sieges über die „Sachzwänge“, denen Geld und Geschäft die produktive Arbeit unterwerfen. „Voluntaristisch“ im schlechtesten Sinn war Stalins stillschweigende Voraussetzung – an der seine Partei nie gezweifelt hat! –, das obrigkeitliche Herumwirtschaften mit Finanzmassen nach Kenngrößen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung – die, Ehre, wem Ehre gebührt, die Fachleute von Gosplan schon vor und detaillierter als Keynes zusammenkonstruiert hatten! – wäre der angemessene Weg, einen in sich zusammenhängenden Aufbau der Produktion herbeizuzaubern. „Voluntaristisch“ und kein bisschen marxistisch war das Setzen ausgerechnet auf den Tauschwert und seine „Gesetze“ als unfehlbare Wegbereiter einer Gebrauchswertproduktion und -versorgung, die keine Wünsche offen ließe. Die Ironie des fachkundigen bürgerlichen Vorwurfs liegt im übrigen darin, dass kein anderer als Stalin selbst den Vorwurf des „Voluntarismus“ aufgebracht und sein Projekt dagegen als ein Vorhaben gerechtfertigt hat, das nach sämtlichen Regeln der ökonomischen Kunst in Ordnung ginge; und zwar ausgerechnet wegen des darin gewahrten Respekts vor den vom Kapitalismus gelernten Kriterien der Rentabilität. Den Standpunkt der revolutionären Freiheit bei der Schaffung von Produktionsverhältnissen hat dieser seltsame Kommunist nach Kräften dementiert; und zwar so, wie er es gelernt hatte: in Form allgemeiner philosophischer Abwägungen zu dem Problem, ob sozialistisches Wirtschaften überhaupt und grundsätzlich als Vollzug vorgegebener objektiver Gesetzmäßigkeiten aufzufassen sei. Stalins Antwort ist ein uferloses Ja, und seine Begründungen sind danach.

„Die Gesetze der politischen Ökonomie im Sozialismus sind somit objektive Gesetze, die die Gesetzmäßigkeit der sich unabhängig von unserem Willen vollziehenden Prozesse des ökonomischen Lebens widerspiegeln. Wer diesen Leitsatz verneint, verneint im Grunde genommen die Wissenschaft, wer aber die Wissenschaft verneint, verneint damit auch die Möglichkeit jeglicher Voraussicht – verneint folglich die Möglichkeit, das wirtschaftliche Leben zu leiten.“ [2]

Was Marx und Engels am Kapitalismus kritisiert haben: die scheinbare Dinglichkeit der in der Produktion eingegangenen gesellschaftlichen Verhältnisse, die der Ausbeutung den Charakter eines sachlichen Erfordernisses verleiht – genau das erhebt Stalin zur letzten Wahrheit auch über die Produktionsweise, die er selbst mit seinem machtvollen Kommando über Arbeiter, Bauern und Eigentum ins Werk gesetzt hat. Welche Gesetze da „hinter dem Rücken“ sogar der revolutionären Partei walten sollen und ihrer „wissenschaftlichen“ Entschlüsselung harren, ist neben diesem „Leitsatz“ eher gleichgültig. Ein Hauptgesetz soll jedenfalls „die unbedingte Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit dem Charakter der Produktivkräfte“ zum Inhalt haben – was nun überhaupt keinen ökonomischen Inhalt hat, sondern in einer scholastischen Formel das Prinzip des bolschewistischen Glaubens zusammenfasst, mit dem eigenen umstürzlerischen Programm nur einen geschichtlichen Sachzwang zu exekutieren. Geradezu methodisch wird mit der Formulierung dieses Pseudogesetzes der Wille verlautbart, die eigene Kommandotätigkeit als Quasi-Naturnotwendigkeit auszugeben, und zwar gerade in all den Hinsichten, wo sie jedes Bemühen um eine zweckmäßige Systematik des Produzierens vermissen lässt. Unterhalb dieses „Grundgesetzes“ feiert dann insbesondere „das Wertgesetz“ des Kapitalismus samt einer Theorie, die den Wert der Ware Arbeitskraft in den Rang eines energetisch definierten Existenzminimums zurückstuft, seine Wiederauferstehung – fast so, als hätte da der Sachverstand bürgerlicher Volkswirte seine elementaren Dogmen über korrektes Wirtschaften zu Protokoll gegeben:

„Es ist so, dass die Konsumgüter, die für die Deckung des Aufwands an Arbeitskraft [steht so da!] im Produktionsprozess notwendig sind, bei uns als Waren erzeugt und realisiert werden, die der Wirkung des Wertgesetzes unterliegen. Hier gerade zeigt sich die Einwirkung des Wertgesetzes auf die Produktion. Im Zusammenhang damit haben in unseren Betrieben solche Fragen wie die wirtschaftliche Rechnungsführung und die Rentabilität, die Selbstkosten, die Preise und dergleichen aktuelle Bedeutung. Darum können und dürfen unsere Betriebe das Wertgesetz nicht außer acht lassen.
Ist das gut? Es ist nicht schlecht. Bei unseren gegenwärtigen Verhältnissen ist es tatsächlich nicht schlecht, da dieser Umstand unsere Wirtschaftler im Geiste der rationellen Betriebsführung erzieht und sie zur Disziplin anhält... Schlimm ist nicht, dass das Wertgesetz bei uns auf die Produktion einwirkt. Schlimm ist, dass unsere Wirtschaftler und Planer, mit wenigen Ausnahmen, die Wirkungen des Wertgesetzes schlecht kennen, sie nicht studieren, und es nicht verstehen, sie in ihren Berechnungen zu berücksichtigen. Daraus erklärt sich dann auch das Durcheinander, das bei uns immer noch in der Frage der Preispolitik herrscht.“ (Ebd.)

Lenin wollte seine Kader noch bei wirklichen Kapitalisten in die Lehre schicken. Stalin hatte die Kapitalisten abgeschafft – und wollte seine Planer gleich „das Wertgesetz“ höchstpersönlich studieren lassen; gerade so, als hätte dieser Zwangszusammenhang des Austauschs der Ergebnisse kapitalistischer Privatproduktion, Inbegriff gesellschaftlicher Arbeitsteilung ohne Plan, seine Gültigkeit nicht bloß behalten, sondern erst durch die Abschaffung der Konkurrenz die Chance zu voller Entfaltung erhalten. Der kleine Widerspruch zwischen „wirken“ und „berücksichtigen“ erweist „das Wertgesetz“ als einen programmatisch selbstgeschaffenen Fetisch der „sozialistischen Ökonomik“, und gerade so wollte Stalin es haben. So, „hinter dem Rücken“, wollte er die Rentabilität zum obersten Imperativ einer „rationellen Betriebsführung“ machen – und das bei staatlich festgelegten Preisen, die natürlich immer ein gewaltiges „Durcheinander“ im betrieblichen wie gesamtgesellschaftlichen Produktionswesen hervorrufen müssen. Im Geiste dieser „Rationalität“ polemisierte er Zeit seines Lebens gegen die letzten in dieser Frage noch bei Trost gebliebenen Genossen:

„Er [Genosse Jaroschenko] erklärt glattweg, dass in seiner politischen Ökonomie des Sozialismus die Streitereien über die Rolle dieser oder jener Kategorie der politischen Ökonomie des Sozialismus, wie Wert, Ware, Geld, Kredit usw., die bei uns häufig scholastischen Charakter annehmen, durch vernünftige Überlegungen über eine rationelle Organisation der Produktivkräfte in der gesellschaftlichen Produktion, durch die wissenschaftliche Begründung einer solchen Organisation ersetzt werden.“ [3]

Gegen solche erfrischenden Vorschläge, den Tauschwert als Pseudo-Planungsprinzip zum Teufel zu hauen, pflegte Stalin aus Marx und Engels den tiefsinnigen „Beweis“ zu führen, dass Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse zwei verschiedene Sachen sind, letzteren eine nicht aufhebbare Eigengesetzlichkeit zu unterstellen und mit Unsinn des folgenden Kalibers zu triumphieren:

„... Genosse Jaroschenko [hat] die Produktionsverhältnisse im Sozialismus als mehr oder weniger selbständiges Gebiet bereits liquidiert, indem er das wenige, was von ihnen übrig geblieben ist, als Bestandteil in die Organisation der Produktivkräfte einbezog. Es fragt sich: Besitzt die sozialistische Ordnung eine eigene ökonomische Basis? Offenbar hat die sozialistische Ordnung, da die Produktionsverhältnisse im Sozialismus als mehr oder weniger selbständige Kraft verschwunden sind, keine eigene ökonomische Basis... Eine heitere Geschichte ... [So] kommt beim Genossen Jaroschenko statt einer marxistischen politischen Ökonomie so etwas wie die Bogdanowsche ‚Allgemeine Organisationswissenschaft‘ heraus.“ (a.a.O., S. 226)

Und das ist schlimm, weil Stalin eben einen Sozialismus vertrat, in dem die Produzenten ihre gesellschaftlichen Beziehungen nicht selber einrichten, sondern wie im Kapitalismus als „selbständige Kraft“ wirken lassen sollten – eine eher konterrevolutionäre Geschichte. Unter dem Regime seiner Nachfolger wurden dann ganze Bibliotheken vollgeschrieben über die „Rolle“ jeder einzelnen „Kategorie der politischen Ökonomie des Sozialismus“, die die Fruchtbarkeit des Stalinschen Dogmas von der volkswirtschaftlichen Eigengesetzlichkeit des sozialistischen Planungsgeschäfts bezeugen. Diesem Überbau entsprach eine wirtschaftspolitische Basis im entstalinisierten Sowjetland, die Stalins Erfindung, die Steuerung einer Wirtschaft ohne Privateigentum durch Geld und Gewinn von Staats wegen, aus den rohen Anfangsformen – als die Leiter unrentabler Betriebe noch erschossen wurden und die „Lohndifferenzierung“ vom Arbeitslager bis zu Stachanow-Prämien reichte – zu einem wahrhaft „komplexen“ System der „Planung und Leitung“ fortentwickelt hat. Die sowjetische Industrie haben staatlich gelenkte Arbeiter und Ingenieure geschaffen; die seltsame Produktionsweise, die sie gelenkt und ihnen das Leben schwergemacht hat, ist Stalins Werk. Er hat mit aller Gewalt aus der bolschewistischen Kapitalismuskritik, die so wenig Absage an die kapitalistische Produktionsweise enthielt und ihr trotzdem die Basis entzog, einen „Sozialismus in einem Lande“ gemacht. Wie diese Umsetzung einer falschen Kritik in ein reales Wirtschaftssystem klappte, ärgert Kommunisten. Dass es so lange geklappt hat, ärgerte die bürgerlichen Gegner des Systems. Dass die Sache nicht besser klappte, ärgerte Stalins Nachfolger. Das sind die zwei Unterschiede.

II. Stalin, der Erfinder des Personenkults – oder: Vom Linienstreit zur blutigen Parteisäuberung

Stalin hat Lenin schon bald nach dessen Tod ein Mausoleum bauen lassen. Das sollten Demokraten besser nicht kritisieren, die plakatierte Visagen als Wahlargumente kennen und zu würdigen wissen. Seltsam ist das allerdings für eine Partei, die zusammen mit der Zarenherrschaft ja den ganzen religiös-moralischen Plunder abgeräumt hatte.

Dabei ist gar nichts daran auszusetzen, dass Stalin – wie die ganze bolschewistische Partei – Lenin als Autorität in politischen Fragen geschätzt hat. Es ist allerdings ein Unterschied, ob ein Verein von Revolutionären mit dem sicheren Urteilsvermögen eines Mitglieds genügend gute Erfahrungen gemacht hat, um ihm auch dort zu trauen, wo kein unwiderlegliches Argument die Sache entscheidet – oder ob ein balsamierter Leichnam in feierlicher Umgebung zur Schau gestellt wird. Letzteres kommt aus der Absicht, ein Verhältnis der Treue herzustellen, das den Standpunkt des gemeinsamen Beratens – immerhin der Wortsinn von „Sowjet“ – von vornherein durch Unterwerfung ersetzt. Dabei kann es gar nicht der Tote sein, dem diese Treue gilt; denn der ist ja tot. Es geht um die Sache, für die der aufbewahrte Leichnam sich zu Lebzeiten eingesetzt hatte. Zu der passt ein Autoritätsverhältnis- bzw. Unterwerfungsverhältnis aber schon gleich nicht: Schließlich handelt es sich da um den gemeinsamen revolutionären Zweck, den die Parteimitglieder allemal sich setzen müssen. Und dieser Zweck ist nun einmal so beschaffen, dass er nichts gewinnen kann durch die Erinnerung an Leute, die ihn auch schon geteilt haben: Die Kritik des Kapitalismus und die Methoden seiner Abschaffung begreift man dadurch kein bisschen besser. Stalin hat sicher selbst nicht gemeint, mit einem Mausoleum und Lenin-Denkmälern wäre irgendwer für den Kommunismus zu agitieren. Umgekehrt zeigt die Abzweigung von knappem Baumaterial für solche Standbilder, was für eine Sorte Eindruck der Generalsekretär dieser KP den Leuten im Allgemeinen und seinen Genossen im Besonderen machen wollte.

Vom Volk verlangte Stalin auf diesem Wege Respekt, und zwar für die herrschende Macht, die mit dermaßen luxuriösen Bauten ihren Gründer, also in dessen Feier sich selber ehrt. Zwar ist solcher Respekt allemal nur so wirksam wie die Macht, der der beeindruckte Untertan ohnehin gehorchen muss. Im Respekt vor der gestorbenen Größe wird der Gehorsam aber mit dem Trost versehen, nicht einfach der Macht, sondern den Idealen und der liebenswürdigen Persönlichkeit ihres Begründers zu gelten. Insoweit war Stalins Initiative für eine nationale Lenin-Verehrung eine nach Form und Inhalt antirevolutionäre Spekulation auf die Tradition einer antirevolutionären Untertanengesinnung.

Für die Partei bedeutete die Einführung eines ideologischen Treueverhältnisses zum Häuptling der Revolution ein Disziplinierungsmittel, wobei die Denkmäler eine weit weniger wichtige Rolle spielten als die Technik – die nicht bloß Stalin beherrschte –, die Berufung auf Lenin wie ein Argument zu handhaben. Dabei ging es nicht um Disziplin im Sinne der unerlässlichen funktionalen Tugend des – revolutionären – Kampfes, die auf dem Standpunkt der engagierten Mannschaft selbst beruht, dass sie ihren Erfolg nicht von den Launen ihrer Mitglieder abhängig machen darf. Auch dieser Standpunkt gewinnt nichts durch lebende oder tote Vorbilder; wo Vorbilder etwas bewirken (sollen), da geht es um etwas anderes, nämlich um eine Identifizierung mit der durchs Vorbild verkörperten Sache, die sich von deren Billigung aus Wissen und Willen gerade unabhängig macht.

Dass Stalin auf diese Weise unter den Bolschewiki Unterwürfigkeit als Parteitugend institutionalisiert hat, wird ihm rückblickend gern als Machenschaft eines berechnenden Machtstrebens angekreidet. Dieser hochanständige Vorwurf lässt bezeichnenderweise den Umstand außer acht, dass dazu immer auch eine Partei gehört, der eine solche Haltung als Tugend einleuchtet – womit übrigens die Stoßrichtung dieses Vorwurfs kenntlich wird: Im Grunde soll immer nur gesagt sein, dass der Falsche die Partei unter seine Kontrolle gebracht hätte. Dabei war es im Falle der bolschewistischen Partei immerhin ein Widerspruch – ganz anders als bei demokratischen Wahlvereinen oder bei einer faschistischen Bewegung, die je auf ihre Weise nichts als erfolgreiche Führung fordern –, wenn da blinde Gefolgschaft verlangt wird, um die aus Opportunismus und Moral ertragene Gewalt der Klassengesellschaft durch etwas Gescheites zu ersetzen. Diesen Widerspruch hätte Stalin nie in die Welt setzen können, wenn er nicht sowieso das Selbstbewusstsein der Partei – und auch das seine! – geprägt hätte.

Tatsächlich war im revolutionären Standpunkt der Bolschewiki eine Kündigung des bürgerlichen Moralismus, der die Hingebung an gar nicht selbst gesetzte, sondern „höhere“ Zwecke, an verpflichtende Werte idealisiert, nicht enthalten. Dem Inhalt nach nicht: So klar diese Partei die Verlogenheit der bürgerlichen Gleichheits-, Freiheits- und Brüderlichkeitsphrasen durchschaut hatte, so kompromisslos bekannte sie sich andererseits zu ebendiesen Idealen und verstand ihren Umsturz als das Unternehmen, diese wirklich und wahrhaftig zu verwirklichen. Und der Form nach schon gleich nicht: Die Vorstellung, einen historisch „fälligen“ Menschheitsfortschritt zu vollstrecken – dies der „materialistische“ Unterbau zu dem idealistischen Weltverbesserungsanliegen –, ist per se moralischer Natur, weil sie die Abschaffung kapitalistischer Verhältnisse vom Zweck, den die Partei sich setzt und verwirklicht, so gut es geht, zu einer Art Auftrag verklärt, dem diese Partei dient. Infolgedessen gingen dann auch die Diskussionen, die die Bolschewiki um politische und taktische Entscheidungen führten, nie darin auf, Hindernisse und Feinde zu identifizieren und die besten Methoden der Durchsetzung zu entwickeln. Sie waren auch dabei beseelt von dem Bewusstsein, einen gerechten Streit gegen Kräfte zu führen, die ebenso böse wie zum Untergang verurteilt wären. Ihren revolutionären Kampf führten sie, paradox genug, nach Maßgabe der Vorstellung, dass ihr Vorhaben unendlich gut, dabei aber in seiner praktischen Gültigkeit durch die geschichtliche Situation diktiert und gerechtfertigt, also auch von seinen Erfolgsbedingungen abhängig sei.

In dieser moralisch-geschichtsteleologischen Beleuchtung waren Siege und Niederlagen der Partei nie bloß Siege und Niederlagen – aus denen die Bolschewiki übrigens durchaus einiges für ihre Taktik gelernt haben –, sondern immer gleich Anlass zu ideologischen Fragen. Erfolge „bewiesen“ allen Ernstes die historische Gerechtigkeit der eigenen Sache und stellten den prognostischen Fähigkeiten der Partei und ihrer Leitung ein gutes Zeugnis aus. Misserfolge warfen Zweifel auf, ob die Verantwortlichen sich nicht in der geschichtlichen „Tagesordnung“ vergriffen hätten; das war entweder durch eine Revision der parteiamtlichen „Einschätzung“ der historischen Situation zu bereinigen – oder man musste folgern, dass da gegen die durchaus korrekte Parteilinie gesündigt worden war.

Nun hatte Lenin gewiss nicht deswegen Erfolg gehabt, weil er sich von der Einsicht in objektive Gesetze des Geschichtsverlaufs abhängig gemacht hätte – eher schon deswegen, weil solche Theorien ihm im entscheidenden Moment egal waren. Für die Partei machte die siegreiche Revolution deren Anführer aber zum Inbegriff der revolutionären Geschichtswissenschaft und der einzig korrekten Parteilinie; genau das hat Stalin sich gemerkt. Umgekehrt ging beim Aufbau der Parteiherrschaft über Russland vieles schief, aber ganz sicher nie deswegen, weil die Deduktionen der Partei über das historisch Gebotene missachtet worden wären – eher schon aus Respekt vor solchen imaginären Gesetzen. Für die Partei stellten sich Fehler oder Misserfolge jedoch allemal als Abweichungen vom objektiv vorgezeichneten Erfolgsweg dar; Abweichungen, denen man durchaus keine Gutwilligkeit zugute halten durfte, weil das Parteiwissen ums Unausweichliche ja vorhanden war. Das hat Stalin erst recht eingeleuchtet. Aus diesem guten bolschewistischen Geist heraus wollte er Lenins Partei weiterführen.

So hat Stalin sich zum einen alle Mühe gegeben, in die Rolle Lenins hineinzuwachsen. Er hat sich, obwohl alles andere als ein heller Kopf, redlich angestrengt, alles, was er für politisch notwendig hielt zur Rettung und Sicherung der Sowjetmacht, auch noch als geschichtlich geboten nachzuweisen. Statt einfach dafür zu werben, die Partei solle sich lieber heute als morgen zum sozialistischen Aufbau im eigenen Land entschließen, hat er unter lauter Leuten, denen das Eindruck gemacht hat, mit Lenin-Zitaten die Überzeugung durchsetzen wollen, „Sozialismus in einem Lande“ sei in Anbetracht aller ehernen Gesetze der Geschichte und ihres Stundenplans sogar 1926 in Russland möglich. Den Kulaken, also den „reichen Bauern“, ist er ab 1927 an den Kragen gegangen, weil er der Gefahr einer wiedererstarkenden Privatmacht des Grundeigentums und Lebensmittelhandelskapitals entgegenwirken wollte; aber er hat seine Partei nicht einfach für dieses Ziel mobilisiert, sondern für die „Theorie“ gewinnen wollen, eine „Verschärfung des Klassenkampfes“ gerade bei zunehmenden Erfolgen des sozialistischen Wirtschaftsaufbaus sei geschichtsgesetzlich notwendig, und dieser „einfachen und offenkundigen Wahrheit“ müsste die Partei sich stellen. Und so weiter.

Dass diesen „theoretischen Fortentwicklungen des Leninismus“ ihr Charakter als ad hoc konstruierte Ideologien zum politischen Beschluss deutlich anzumerken ist, stellt Stalins politischem Urteilsvermögen ein gutes Zeugnis aus: So wenig wie Lenin beim Machen der Revolution hat er sich in seinem Aufbauprogramm vom Fetischismus einer geschichtlichen „Tagesordnung“ abhängig gemacht. Das ist aber nur die eine Seite. Stalin hat zugleich diese Manier des Wahrheitsbeweises für seine Politik, hauptsächlich aus den entsprechend vergoldeten Worten des toten Lenin, sehr ernst genommen und sich darin mit seiner Partei ganz einig gewusst. Deswegen und nicht aus zynischer Berechnung hat er sie dermaßen perfektioniert, dass er die ZK- und Parteitagsdebatten über die wichtigsten Entscheidungen mehr noch als mit politischen Lagebestimmungen mit Hilfe atemberaubender Wortklaubereien und rechthaberischer Interpretationskunststücke bestritten hat. Wiederum lag es wohl kaum an der Überzeugungskraft seiner mühseligen Ableitungen, dass die Partei ihm in den wichtigsten Entscheidungen gefolgt ist; und erst recht nicht daran, dass sie sich in der eigenen Gesellschaft und gegen die angegriffenen „Klassen“ durchgesetzt hat. Im Lichte des Geschichtsbildes seiner Partei gerieten solche Erfolge Stalins aber automatisch zu dem Beweis, dass seine Ideologien ihn als intimen Kenner des von „der Wirklichkeit“ Gebotenen und Fälligen auswiesen, dass er die Übereinstimmung der Parteilinie mit ihren Erfolgsbedingungen und -garantien buchstäblich verkörperte, dass also die Partei in ihm ihren neuen Lenin, den „Lenin unserer Tage“ gefunden hatte.

Im gleichen Geist führte Stalin zum andern den Streit mit Vertretern einer abweichenden Parteilinie. Die Alternativen klarstellen; falschen Radikalismus und Kompromisslertum kritisieren; die zu überwindenden Hindernisse auf den Begriff bringen; gemeinsame Einsichten und Konsens über eine gewählte Vorgehensweise herstellen: Das war – oder besser: das wäre – dem Generalsekretär entschieden zu wenig gewesen. Den Kampf um eine Mehrheit für seine Linie hat Stalin immer mit den Waffen des Geschichtsmoralismus bestritten, der in seiner Partei als „Marxismus-Leninismus“ galt: Gegner wurden als Abweichler vom Revolutionsauftrag der Weltgeschichte in ihrem momentanen Stadium hingestellt – der Nachweis dafür wurde zunächst mit Vorliebe anhand wirklicher oder angeblicher Unstimmigkeiten zwischen ihren Auffassungen und Lenin-Zitaten geführt, was dann den Verdacht nahelegte, den guten Zweck der Partei in Wahrheit gar nicht zu teilen.

Ein beliebig herausgegriffenes Beispiel: Gegen den Zweifel Sinowjews, ob die Parole vom Aufbau des Sozialismus bloß in Russland „eine leninistische Fragestellung“ sei und „nicht nach nationaler Beschränktheit“ rieche, was nun sicher auch kein brillanter Diskussionsbeitrag war, polemisierte Stalin in der Schrift „Zu den Fragen des Leninismus“ von 1926 mit folgender Deduktion:

„Somit heißt es nach Sinowjew, auf dem Standpunkte der nationalen Beschränktheit stehen, wenn man die Möglichkeit der Errichtung des Sozialismus in einem Lande anerkennt, und auf dem Standpunkte des Internationalismus stehen, wenn man diese Möglichkeit verneint.
Wenn das aber stimmt, lohnt es sich dann überhaupt, den Kampf für den Sieg über die kapitalistischen Elemente unserer Wirtschaft zu führen? Folgt nicht daraus, dass ein solcher Sieg unmöglich ist?
Kapitulation vor den kapitalistischen Elementen unserer Wirtschaft – dahin führt die innere Logik der Argumentation Sinowjews. Und diese Ungereimtheit, die mit dem Leninismus nichts gemein hat, wird uns von Sinowjew als ‚Internationalismus‘ als ‚hundertprozentiger Leninismus‘ aufgetischt!
Ich behaupte, dass Sinowjew in der so wichtigen Frage des Aufbaus des Sozialismus sich vom Leninismus abkehrt und zum Standpunkte des Menschewiks Suchanow hin abgleitet.“ [4]

Mit der Entscheidung der Partei war ein solcher Streit nicht etwa beendet, sondern der unterlegene Gegner historisch ins Unrecht gesetzt und eines der Parteilinie widersprechenden, also parteischädlichen Standpunkts überführt. Das Vernichtende an diesem Verdikt lag darin, dass es in den allermeisten Fällen gar keinen wirklichen „bösen“ Willen zur Sabotage am sozialistischen Aufbau traf, sondern lauter gute Leninisten, die genauso wie Stalin nach der einzig korrekten Antwort auf die historische Auftragslage suchten – und sich durch Stalins Erfolg tatsächlich ins Unrecht gesetzt sahen. Dabei waren sie selbst, wiederum genau wie ihr Generalsekretär, nicht in der Lage, zwischen Irrtum – wenn es denn schon letztlich um eine falsche Geschichtsauffassung gehen sollte – und Verstoß – nämlich gegen die richtige Auffassung der Partei – zu unterscheiden. Dass sie sich unter Selbstbezichtigungen von ihrem parteiwidrigen Standpunkt lossagen mussten oder der Ächtung als Parteifeinde verfielen und ausgeschlossen wurden, gehörte somit zur moralischen Kultur des Bolschewismus, die kein Stalin-Kontrahent je kritisiert hat.

Stalins ganz eigene Leistung war es, die Dialektik des moralischen Verdachts bis zum Ende durchzuexerzieren. Denn darauf musste er als konsequenter Hüter der Parteilinie ja früher oder später verfallen, dass die innerparteilichen Streitigkeiten mit Unterwerfungserklärungen der Unterlegenen noch immer keinen befriedigenden Abschluss gefunden hatten. Wo einmal der Verdacht aufgekommen war, ein Genosse würde den Zweck der Partei gar nicht wirklich und ehrlich teilen, da musste seine nachträgliche Zustimmung zur durchgesetzten Politik auch den Zweifel auf sich ziehen, ob sie denn nun ehrlich war oder nur aus Opportunismus abgegeben, so dass die nächste Abweichung schon vorprogrammiert war, oder sogar in der Berechnung, der Partei weiterhin von innen her schaden zu können. Überall witterte der Chef Verrat. Nachdem einmal der Vorwurf „Doppelzüngler“ ins Parteileben eingeführt war, ließ sich überhaupt kein Unterwerfungsakt mehr moralisch halten: Je gründlicher er ausfiel, um so gewisser war der Verdacht der Heuchelei. Die Überprüfung der Zuverlässigkeit der Parteimitglieder trennte sich auf diese Weise völlig ab vom Streit um Alternativen des sozialistischen Aufbaus; Stalin als dem Inbegriff der korrekten Linie fiel die unangenehme Aufgabe zu, letztlich nach der Stellung der Genossen zu ihm darüber zu entscheiden, wo ein Verdacht auf Unzuverlässigkeit am Platz war. Der antirevolutionäre Drang, das Treiben der Partei an vorgestellten objektiven Gesetzmäßigkeiten der Geschichte zu messen, schlug so am Ende konsequenterweise um in die persönliche Willkür dessen, den die Folgsamkeit und die Erfolge seiner Partei als den „genialen“ Kenner besagter Gesetzmäßigkeit auswiesen. Sein moralisches Urteil wurde dann liebevoll zu ganzen Verschwörungstheorien ausgewalzt, in denen das imperialistische Ausland regelmäßig als Auftraggeber auftauchte. Mancher Angeklagte glaubte am Ende zum Teil selber daran. Bisweilen bekannten sie sich auch ohne Überzeugung öffentlich zu ihnen, um ihrer Partei einen (letzten) Dienst zu erweisen.

Dieser Fortschritt vom moralisch geführten Linienstreit zur immer haltloseren Parteisäuberung wurde dadurch entschieden gefördert, dass die praktischen Probleme des stürmischen sozialistischen Aufbaus „in einem Lande“ auch dann keineswegs aufhörten, sondern erst richtig schmerzlich wurden, als die Partei sich ansonsten vollständig und mit stehenden Ovationen um ihren Generalsekretär geschart hatte. Zweifel an der Absurdität, die sozialistische Planung unter das Diktat der Finanzen und ihrer Mehrung zu stellen, wurden nicht mehr laut; um so klarer schien der „Schluss“ auf Sabotage, wenn es mit dem Hand-in-Hand-Arbeiten der Betriebe und Branchen vorn und hinten nicht klappte. Als Häupter der aufbaufeindlichen Verschwörung standen je schon die Genossen fest, die irgendwann einmal am „Sozialismus in einem Lande“, der „notwendigen Verschärfung der Klassenkämpfe“ oder sonst einer Doktrin gezweifelt hatten und davon – „offenbar!“ – nie losgekommen waren. Da Unterwerfung kein Vertrauen mehr schaffen konnte, blieb, auch das moralisch konsequent gedacht, nur noch die Liquidierung der treulosen Genossen übrig – auch das wieder eine „historisch notwendige“ Fortentwicklung der Parteilinie, an der sich fortan die verlangte Parteitreue beweisen musste... Logischerweise blieben auch die Genossen nicht verschont, die überhaupt nie eine inhaltliche Abweichung hatten erkennen lassen: Von den 1966 Delegierten des XVII. Parteitags, die 1934 dem totalen Sieg der Linie Stalins einmütig zugejubelt hatten –

„Musste man auf dem XV. Parteitag noch die Richtigkeit der Linie der Partei beweisen und einen Kampf gegen bestimmte antileninistische Gruppierungen führen, auf dem XVI. Parteitag aber mit den letzten Anhängern dieser Gruppierungen aufräumen, so braucht man auf diesem Parteitag nichts zu beweisen, und es gibt wohl auch niemanden, der geschlagen werden müsste. Alle sehen, dass die Parteilinie gesiegt hat. (Donnernder Beifall.)“ (a.a.O., S. 196) –,

wurden nach Angaben Chruschtschows bis zum XVIII. Parteitag 1938 immerhin 1106 verhaftet, von den dort gewählten 139 Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees 98 liquidiert.

Die Kultur des Verdachts machte vor den parteilosen Massen nicht halt. Stalin leistete sich den Widerspruch, auch von Leuten, die seine Partei gar nicht für den Kommunismus gewonnen hatte, die bedingungslose Anerkennung der Partei und ihres Chefs als Garanten für ein sicheres Fortschreiten zum Kommunismus zu verlangen. Er folgte damit dem hochmoralischen, aber leider völlig antiagitatorischen Selbstbewusstsein seiner Partei, die ihre Sache für die objektiv höchste Pflicht aller anständigen Zeitgenossen hielt, auch ohne dass die Guten erst etwas davon begreifen mussten, einfach auf Grund der durch „die Geschichte“ verbürgten Fälligkeit des Übergangs zum Sozialismus. Jedermann wurde am Maßstab rückhaltloser Treue zur Partei Lenins und zum „Lenin unserer Tage“ gemessen, auch wenn er sich nie überlegt hatte, ob ihm deren Zweck überhaupt recht war; gerechterweise fiel die Messung immerhin weniger streng aus als bei Parteikadern, stets in Entsprechung zur persönlichen Verantwortung für den gesellschaftlichen Fortschritt. Die Chance, das Verhältnis zwischen Partei und Massen jemals in der Identität des von der Gesellschaft bewusst verfolgten Zwecks aufzulösen, wurde als in moralischer Hinsicht je schon gegebene Sachlage hingestellt – und damit gründlich begraben. So verhalf Stalin dem bolschewistischen Revolutionsmoralismus zu seiner Karriere als Ideologie einer Staatsgewalt, der dieser Kommunist am Ende gar kein „allmähliches Absterben“ mehr prophezeien mochte.

Stattdessen ging der Generalsekretär dazu über, die einzig korrekte Parteilinie auch noch in solchen vom sozialistischen Aufbau ein wenig abgelegenen Fragen wie der Vererbungslehre und einer dialektisch-materialistischen Sprachwissenschaft zu verkörpern. Auch nach dieser mehr lächerlichen Seite hin hat der Mann nur konsequent zu Ende geführt, was im Begriff des Vorbilds steckt: das erzbürgerliche Ideal einer durch den Verstand ohnehin nie zu rechtfertigenden „persönlichen Autorität“.

Die Entdeckung seiner Nachfolger, dass Stalins Beispiel doch nicht gut genug wäre, um seine Leiche neben der Lenins in jenem Mausoleum auszustellen, hat von diesem Fehler nur die Radikalität zurückgenommen, die zu der mittlerweile einigermaßen aufgebauten sozialistischen Weltmacht nicht mehr passte. Dank Stalins Erfolgen kam sein Wirtschaftswunder fortan ohne Zwangsarbeit aus und sein Geschichtsmoralismus ohne Schauprozesse – und das immerhin weit besser als die bürgerliche Hetze ohne stalinistisches Feindbild.

III. Stalin, der Großvater des Eurokommunismus – oder: Von der Kündigung des Nationalismus zur Politik der „Nationalen-Front“-Bildung

Stalin hat 1943 die III. Kommunistische Internationale, die „Komintern“, das von Lenin geschaffene Bündnis revolutionärer Parteien, aufgelöst. Damit hat er wenigstens einen der politischen Widersprüche gelöst, die er von dem ersten Parteichef geerbt und mit Konsequenz befolgt hat. Auch das in antikommunistischem Sinn – was ihm kein bürgerlicher Demokrat je geglaubt, geschweige denn gedankt hat. Dass seine ausdrückliche Absage an das Projekt einer Weltrevolution immer als taktische Finte galt – der unwirksamste Trick der Weltgeschichte, wenn es einer gewesen wäre! –; dass ausgerechnet die Gründung eines „Ostblocks“ aus Ländern, die die siegreiche Rote Armee besetzt hatte, bis heute als schlagender Beweis für einen „weltrevolutionären Expansionsdrang“ des russischen Kommunismus angesehen wird: Das ist, was Stalin betrifft, ein grandioses Missverständnis. Was dessen Urheber betrifft, war es Ausdruck eines ungebrochenen imperialistischen Willens, die Sowjetmacht trotz allem als Störung jeder „normalen“ Weltpolitik zu behandeln.

Dass der Nationalstaat, ob bürgerlich oder von den Parteien der II. Sozialistischen Internationale (mit-)regiert, der geborene Feind des Kommunismus ist, war der Gründungsgedanke der Komintern. Die Einsicht, dass der Imperialismus solcher Staaten nur von innen her, durch den Aufstand eines revolutionären Proletariats, das die außenpolitischen Interessen seiner Herrschaft als seinen Schaden begreift, zu brechen ist, war für die im eigenen Land siegreiche bolschewistische Partei ein Grund mehr, das Bündnis revolutionärer Parteien zu fördern; denn sie musste um den Bestand der Sowjetmacht fürchten, solange die wichtigsten imperialistischen Staaten intakt waren – das hatten die mit ihrer Unterstützung für die „weißgardistische“ Konterrevolution gerade erst nachdrücklich bewiesen. Die mit den Bolschewiki verbündeten Parteien ihrerseits erkannten an, dass es ihre eigene Sache war, die in der Oktoberrevolution einen ersten großen Sieg errungen hatte, und kümmerten sich dementsprechend mit um die Festigung dieses Erfolgs. Ihr gemeinsames Anliegen war die Weltrevolution, nicht mehr und nicht weniger.

Für diesen Zweck hätte es nichts weiter bedeuten müssen, dass es den Kommunisten zunächst einmal nicht gelang, ihren russischen Erfolg in anderen Ländern fortzusetzen. Scheitern ist für sich genommen kein Argument; und wenn das Scheitern notwendig war, weil Fehler gemacht wurden, dann beseitigt man diese und versucht es wieder, solange man am vorgenommenen Zweck festhält. Doch so „einfach“ sahen die Bolschewiki und ihr Generalsekretär die Sache nicht. Sie hielten ihren Erfolg für vorbildlich, und zwar keineswegs bloß im Hinblick auf praktische Fragen der Art, wie man am besten verelendete, kriegsmüde Kleinbauern agitiert oder einen Zaren schlechtmacht, sondern in einem prinzipielleren Sinn. Ihrem Lenin rechneten sie es als „Genialität“ an, dass er haargenau den richtigen Zeitpunkt fürs Umstürzen getroffen, nämlich die einzigartige Konstellation von Bedingungen erwischt hätte, die eine erfolgreiche Revolution, möglich machte. Und genau das sollten die ausländischen Genossen aus den russischen Revolutionserfahrungen lernen; denn wie ihr Misserfolg „bewies“, fehlte es ihnen „offenbar“ an eben diesem „Gespür fürs Machbare“.

In dieser Art, Erfolg und Misserfolg zu „erklären“, steckt ein seltsames Spiel mit der logischen Kategorie der Möglichkeit. Nur zum Schein oder nebenher geht es darum, eine vorgefundene politische Lage zu analysieren und die Ansatzpunkte für wirksames Eingreifen zu finden. Die Reflexion aufs „Mögliche“ und „Machbare“ besteht in einem ganz leeren Abhängigkeitsgedanken: Genau die Lage, die eine revolutionäre Partei umstürzen will, wird zur Bedingung ernannt, von der die Möglichkeit eines Erfolgs abhängen soll. Am Ende erscheint „die Situation“, in der die Revolution gelingt, als Ursache dafür, dass sie gelingt. Dieser Denkfehler kann harmlos sein, wenn Kommunisten im Verlauf ihres Kampfes „die Situation“ für eine „revolutionäre“ halten und dann – so wie Lenin – das für den Durchbruch Nötige machen. Da kürzt sich nämlich die Vorstellung, in Abhängigkeit von vorgegebenen Erfolgsbedingungen zu handeln, praktisch heraus. Als „Erklärung“ für einen Misserfolg ist dieser Gedanke aber allemal fatal; denn dann bleibt als letzte Weisheit die Auskunft übrig: Es ging ja auch nicht. Diese Botschaft ist mit beliebigen „Belegen“ zu füllen, denn sie legt ja jeder namhaft zu machenden Schwierigkeit den kleinen Bedeutungswandel zur Unmöglichkeit bei. Das mag Trost stiften – was schon blöd genug ist für gescheiterte Kommunisten. Vor allem aber steckt in einer solchen „Lehre der Geschichte“ allemal der dezente Hinweis, dass man sich überhaupt das Falsche vorgenommen hätte. Am Ende kommt nichts als eine Kritik der Absicht heraus, und zwar eine der pur opportunistischen Art: Wenn ein Umsturz scheitert, dann liegt das, so betrachtet, nicht an dieser und jener eigenen Schwäche und feindlichen Stärke, sondern daran, dass das ganze Unterfangen für „die Situation“ überhaupt und insgesamt zu umstürzlerisch war.

Die Bolschewiki waren Meister dieses Unterordnungs- und Anpassungsgedankens – auch wenn sie sich selbst gar nicht den Bedingungen untergeordnet hatten; aber bei ihnen war die Rechnung ja gut aufgegangen, und so konnte ihre Theorie von der genial erfassten „revolutionären Situation“ ihrem Erfolg nur das stolze Bewusstsein hinzufügen, im Sinne aller angeblichen „Prognosen“ von Marx und Engels eine „geschichtliche Mission“ vollbracht zu haben. Dass solcher „Empirismus“ andersherum auf nichts als eine gigantische Rechtfertigung des politischen Opportunismus, des antirevolutionären Standpunkts schlechthin, hinausläuft, das kam in ihrer Komintern-Politik je länger, je mehr zum Tragen – auch wenn Lenin noch im Namen dieser Geisteshaltung einiges Richtige vertreten, z.B. die leicht spleenigen Revolutionshoffnungen einiger westeuropäischer Linksradikaler mit richtigen Hinweisen auf die Notwendigkeit kritisiert hatte, den Kampf, den man gewinnen will, erst einmal gescheit zu führen und nicht bloß voller Begeisterung für im Prinzip schon gewonnen zu erklären. Stalin jedenfalls hat seinen ausländischen Genossen nur und nachdrücklich die „Lehre aus der Geschichte“ nahegelegt, die in dieser Denkungsart per se enthalten ist: Ihr Misserfolg beim Umstürzen wäre der Beweis, dass sie ihre Politik nicht aufs Mögliche gerichtet und ihre Aufgaben nicht richtig erkannt hätten; für sie stände eben die Revolution nicht auf der „Tagesordnung“.

Was stattdessen? Die Frage war nicht schwer zu beantworten; um die Antwort war es Stalin ja überhaupt nur zu tun. In Russland war sie losgegangen, die Revolution, die alle Kommunisten wünschen. Also lag da auch ihre Aufgabe, und zwar eine, die bislang erfolglose kommunistische Parteien nicht überfordern musste. Gefordert war antiimperialistischer Kampf, und zwar unter einer bescheideneren Zielsetzung als der einer Weltrevolution, die mit den Klassenstaaten auch deren imperialistische Interessen zerschlagen würde: „Kampf“ gegen den Antisowjetismus der bürgerlichen Staatenwelt. Der Grund, aus dem den siegreichen Bolschewiki ganz speziell an kommunistischen Erfolgen in anderen Staaten gelegen war, nämlich ihr Interesse an mehr Sicherheit für ihr Werk, wurde so zum Zweck, den die auswärtigen Revolutionäre sich vornehmen sollten. Um sich dieser Aufgabe anzunehmen, war in der Tat keine „revolutionäre Situation“ vonnöten. Denn das Revolution-Machen kürzte sich damit aus dem kommunistischen Aufgabenkatalog heraus: Um eine imperialistische Regierung von antisowjetischen Abenteuern abzuhalten, wäre ein Umsturz wirklich nicht das Mittel der Wahl.

Das wurde als erstes den Parteien beigebracht, die sich in ihren Ländern durchaus noch Chancen für eine Revolution ausrechneten. Die Pläne der deutschen Kommunisten wurden auf Komintern-Ebene so kräftig problematisiert und verwirrt, dass 1923 überhaupt nichts Gescheites zustande kam. Den chinesischen Kommunisten wurde die Unterordnung unter Chiang Kai-shek befohlen, bis dieser gegen sie in die Offensive gehen konnte; die Aufstände, die auf Stalins Rat dann angezettelt wurden, hatten tatsächlich keine Chance mehr. Erklärte Feinde hätten kaum wirksamer vorgehen können. Für Stalin und seine Partei bestätigte sich so die „Einschätzung“, die sie von den Erfolgsaussichten des Sozialismus außerhalb ihres eigenen Landes hatten.

Die von Stalin diktierte „bescheidenere“ antiimperialistische Zielsetzung, für gute Beziehungen zur Sowjetunion zu werben, wurde von den Komintern-Parteien allerdings auch nicht viel erfolgreicher erledigt; und das lag nun überhaupt nicht an den Umständen, mit und unter denen sie zu kämpfen hatten, sondern an der Widersprüchlichkeit dieser Aufgabe selbst. Diese Parteien hatten sich von der II. Internationale getrennt und gegen die Sozialdemokratie gestellt, weil sie den Standpunkt des „proletarischen Internationalismus“ gegen den einer nationalen Außenpolitik verfochten, weil sie das Mitmachen unter dem „Dach“ des Nationalstaats ablehnten, weil sie den demokratischen Reformismus bekämpften usw. Nun sollten sie für friedliche Beziehungen ihrer Regierung zur Sowjetunion eintreten und sich in diesem Sinne und überhaupt ohne revolutionäre Ambitionen ins nationale Politikgewerbe einmischen, auch mit der Sozialdemokratie Bündnisse schließen und dergleichen mehr. Das wunderte die Basis und machte den bürgerlichen und sozialdemokratischen Gegnern noch lange keinen Eindruck; ihre Maskierung machte sie noch nicht zu Partnern. Dabei maskierten diese moskautreuen Seelen sich gar nicht bloß, sondern sie erbrachten Spitzenleistungen an Selbstverleugnung. Mit ihren Einmischungs- und Bündnisangeboten stellten sie ja ganz ausdrücklich die Parteigegensätze, die es innerhalb des antikommunistischen Lagers gab, über den Gegensatz, den sie zu den anderen Parteien überhaupt noch eröffnen wollten – und überließen es denen, ihrerseits ihren Antikommunismus zu betonen. Sie wollten Opportunisten sein und weckten damit doch immer wieder bloß Argwohn gegen die Echtheit ihres Opportunismus. Das um so mehr, weil sie nicht einmal eine Linie der Anpassung durchhalten konnten, sondern zwischendurch auch wieder dazu angehalten wurden, die Sozialdemokratie als Hauptfeind anzugreifen, so als hätten sie mitten im Kapitalismus kein größeres Problem, als so ähnlich wie Stalin in Russland mit falschen Freunden und „Verrätern“ abzurechnen. Anschließend war dann wieder der gemeinsame Gegensatz der Demokraten gegen die Faschisten der höchste Wert der Komintern; und pflichtschuldigst retteten kommunistische Volksfrontminister die bürgerlichen Verhältnisse z.B. in Frankreich vor streikenden Arbeitern, die die kommunistische Regierungsbeteiligung als Anfang vom Ende des Klassenstaats missverstanden hatten. Für die Revolution sollte „die Zeit“ nicht „reif“ sein; aber um in Spanien für den Unterschied zwischen dem Faschismus und einer linksliberalen Republik zu bluten, für die auch noch nicht einmal ein kommunistischer Übergang erlaubt war, dafür waren Stalin die kommunistischen Kämpfer gut genug – und die sich nicht zu schade.

Derweil erledigte Stalin die Aufgabe, die er für die verbündeten kommunistischen Parteien vorgesehen hatte, auf ganz anderer Ebene selber: Er trieb Außenpolitik. Von Regierung zu Regierung warb er um Anerkennung – die 1924 von wichtigen Staaten ausgesprochen wurde –, um Handelsbeziehungen, um Nicht-Angriffs-Pakte und überhaupt um Frieden. Den Chefs imperialistischer Nationen suchte er klarzumachen, dass mit dem revolutionären Russland bestens auszukommen wäre. Dass dieses Mitmischen im diplomatischen Konkurrenzkampf der Existenz einer von Moskau gelenkten Komintern widersprach, die immer noch als Agentur der Subversion galt und eine internationale Solidarität der Staatsfeinde im Programm stehen hatte, wurde Stalin von seinen regierenden Gesprächspartnern klargemacht: Die ließen schon mal eine offizielle sowjetische Vertretung wegen ungehöriger Umtriebe abräumen.

Für eine kleine Weile sorgte der 2. Weltkrieg für klare Verhältnisse. Dass sein Staat zum Hauptopfer des unbefriedigten deutschen Imperialismus wurde, registrierte der Generalsekretär nicht als glanzvolles Scheitern seiner allseitigen außenpolitischen Anbiederei – zuletzt bekanntlich noch bei den Nazis –, geschweige denn als Quittung für gewisse „Versäumnisse“ bei der Beförderung der Weltrevolution, die den Gründern der III. Internationale noch als einzige wirkliche Überlebensversicherung für den „Sozialismus in einem Lande“ eingeleuchtet hatte. Stalin nutzte das antifaschistische Kriegsbündnis zum Einstand als voll eingemeindetes Mitglied der Staatenwelt des demokratischen Imperialismus. An die verbündeten Parteien erging der Auftrag, sich ebenso in jede beliebige antifaschistische Einheit einzufügen und keine andere Rolle mehr spielen zu wollen als die des besten Demokraten. Die Komintern wurde darüber gleich in doppelter Weise zum Anachronismus: Als Internationale von Oppositionsparteien störte sie die Demokratien, zu denen Stalin keinen politischen Gegensatz mehr pflegen wollte. Und andersherum: Als voll integrierte – oder jedenfalls bedingungslos integrationswillige – Stützen nationaler Einheitsfronten wurde den auswärtigen Kommunisten selbst der Rest von Internationalismus und die Pflicht zur Sowjettreue, die ihr Verein noch symbolisierte, zur Last. Die Auflösung der Komintern war nur konsequent und der Sieg des bürgerlichen Patriotismus in den übriggebliebenen Hammer- und Sichel-Parteien auch. Der konnte nur noch radikaler werden, als die bürgerlichen Partner sich die Freiheit nahmen, den Kommunisten die nationale Einheit wieder zu kündigen.

Diese Kündigung war nämlich fällig, als die durch den Weltkrieg erzwungene Einigkeit zwischen der Sowjetunion und den imperialistischen Demokratien ihr Ende nahm. Die Initiative dazu war einmal mehr bei den Gegnern des Kommunismus geblieben. Was Stalin blieb, war die Defensive, und zwar die einer Militär-Großmacht: Ostblock statt Weltrevolution. Das war Stalins letztes Wort in dieser Angelegenheit.

Michail Gorbatschow: Der Totengräber des Realen Sozialismus

Um diesen Großen Vorsitzenden des sozialistischen Systems ist es angelegentlich des 100. Geburtstags der Oktoberrevolution ganz still geblieben. In Sachen historischer Gerechtigkeit ist Michail Sergejewitsch Gorbatschow die Abwrackprämie für die Stilllegung des Realen Sozialismus vollumfänglich in den Honneurs abgegolten worden, mit denen ihn die Freunde der Freiheit und der uniformierten westlichen Wertegemeinschaft schon zu Zeiten seines politischen Wirkens zugeschüttet hatten. In ihren Augen hat der letzte Führer der KPdSU ja nur endlich eingesehen, was sie schon immer wussten, dass nämlich der Kommunismus ein Ding der Unmöglichkeit ist. Und dass er sein System auch noch eigenhändig abgewickelt hat und auch der Eingemeindung der DDR ins kapitalistisch verfasste Deutschland kein ‚Njet‘ entgegensetzen wollte, ist für sie nur konsequent und mit einem Friedensnobelpreis angemessen gewürdigt – und heute, ein Vierteljahrhundert nach dem Ende dieses Systems, auch keiner Rede mehr wert: Er hat seinen Dienst für die gute Sache getan, Respekt, und damit sind sie mit dem Mann fertig.

Ein Urteil über den Mann und sein politisches Werk ist das freilich nicht. Immerhin ist der ja mit dem Vorhaben angetreten und hat daran bis zum bitteren Ende festgehalten, das System zu verbessern, das in seinem Land herrschte. Wie seine Vorgänger im Amt, wollte er den Sozialismus auf Vordermann bringen – freilich nicht im Wege einer soliden Kritik dessen, was er in seinem Land an sozialistischen Errungenschaften vor sich hatte, sondern der unseligen Tradition seiner Partei folgend in der schöpferischen Fortentwicklung aller Fehler einer Ökonomie, in der mit Geld geplant wird. Diese Fehler hat er um seine eigenen bereichert und sich politische Dummheiten erlaubt, derentwegen dann nicht nur der ‚Sozialismus‘, sondern damit zusammen auch das ‚eine Land‘ sein Ende fand, in dem dieses ‚System‘ vor 100 Jahren an die Macht gelangte. Post mortem der UdSSR hat Gorbatschow dann doch bemerkt, dass die Kapitulation vor den westlichen Werten und ihren Hütern keine so gute Idee war. Statt friedlichem Zusammenleben der Völker und Wohlstand der Werktätigen ist als Werk seiner großen Reformanstrengungen nur die Degradierung der Staatsmacht und die Verarmung der Massen herausgekommen – und seitdem steht er vor dem Rätsel, wie es dazu hat kommen können.[5]

I. Relativ neues ökonomisches Denken

In seiner Eigenschaft als oberster Begutachter der Sowjetwirtschaft ist ihm irgendwann schlagartig klar geworden, dass deren Erträge einfach nicht reichen. Weder für die Kassen, die der Staat verwaltet, noch für die Betriebe, kassenmäßig und in Bezug auf den Nachschub an Produktionsmitteln – und schon gleich gar nicht für den Sowjetmenschen in seiner Eigenschaft als Konsument. Seitdem ruft er Land und Leute zur Effizienz auf, klagt über Stagnation und sagt seinem im Grunde guten Volk einen ausgeprägten Mangel an Verantwortung nach.

Einen alten Brauch knickt der neue Denker also erst einmal nicht. Die Ökonomie ist für ihn wie für seine Vorgänger eine moralische Anstalt, an deren Ergebnissen man sieht, ob sie funktioniert oder nicht. Wenn Gorbatschow bei seiner Mannschaft ein „schwaches Interesse an den Endergebnissen“ feststellt, so ist ihm zu bescheinigen, dass sein Interesse am Grund dafür noch viel schwächer ausfällt. Seine zutiefst pauschale üble Nachrede, die Kader wie Massen der Gleichgültigkeit zeiht, hat mit der Kritik von Fehlern noch nicht einmal Ähnlichkeit. Noch weniger handelt es sich um Selbstkritik, wenn er sich und andere vorgesetzte Genossen mit dem Vorwurf bedenkt, sie hätten durch ihre Vorschriften und Leitungsgewohnheiten die Lust an der Verantwortung erstickt. Die der Ökonomie gewidmeten Thesen von Gorbatschow ernst genommen, ist das Produzieren, Verteilen und Konsumieren in der Sowjetunion ein einziges riesiges Motivationsproblem. Die sinnige Kombination seiner Diagnose „je Kommando, desto verantwortungslos“ verlängert er in keiner denkbaren Weise konsequent. Und auch seine Russen, geschweige denn die anderen Vielvölker, stellen ihm nie die entsprechenden Fragen: Waren es falsche Kommandos? Haben die Befehlsempfänger sie befolgt oder übergangen? Gehen die Sowjetmenschen täglich und an Samstagen nun in die Fabrik und aufs Feld oder halten sie sich nur beim Schlangestehen an die Plankennziffern? Für welche Ergebnisse sollten sie sich sonst interessieren außer für die, die das sozialistische Rechnungswesen heiligt und zur Grundlage für die Abrechnung macht? Von welchen Anreizen sollten sie sich stimulieren lassen außer von denen, die es gibt?

Kurz, die Sowjetmenschen sind von ihrem neuen Agitator begeistert und verpassen darüber, wie er selbst, wieder einmal das Wichtigste. Vor lauter Verantwortung unterlassen sie die Kritik der politischen Ökonomie und pflichten Michail bei, wenn er sagt, dass Besserung nottut. Damit demnächst verantwortungsvoll produziert wird, geht es zunächst unter Anleitung der Partei um

Die Schaffung von Verantwortung

Dieses Programm kümmert sich erklärtermaßen nicht um Produktionsverhältnisse und die ihnen entsprechende Organisierung der Produktivkräfte. Vielmehr um die als entscheidend angesehene Produktivkraft Interessiertheit. Um sie nach gut psychologischer Manier anzureizen, braucht es – einen Anreiz. Das neue Denken, erpicht auf „eine Revidierung der Einstellung zum sozialistischen Eigentum“, sieht seit neuestem im Eigentum selbst einen brauchbaren Anreiz. Auf der Suche nach dem Sinn für Interesse revidiert man in der Sowjetunion durchaus etwas an den Produktionsverhältnissen, wie gesagt, wegen der „Einschaltung des persönlichen Interesses“, nur so zur „Erneuerung des Hausherrengefühls“. Diese Neuerung hat dem Neuerer im Westen, wo nach einer alten Legende Eigentum, Initiative und Verantwortung dasselbe sind und mit Kapital nichts zu tun haben, manch gutes Wort eingebracht. Nach dem Motto „Wer sagt es denn schon seit ’33 und endlich sieht’s der Iwan auch ein“. Im Osten hat die Idee zwar nicht die volkseigenen Betriebe in die Hände von tüchtigen Millionären gelegt, immerhin aber der Landwirtschaft ein Pachtsystem beschert, in dessen Rahmen auf eigenem Boden, auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung gearbeitet wird. Offenbar angeregt durch die katastrophale Lebensmittelversorgung ist dem Wendepolitiker vor allem die fehlende Interessiertheit des Bauernstandes zu Herzen gegangen. So sehr, dass er auf den Sow- und Kolchosen des Landes „Entfremdung“ ausmacht, aus der die Ineffizienz rührt:

„Der Sinn der wirtschaftlichen Umgestaltungen auf dem Land muss darin bestehen, den Bauern umfassende Möglichkeiten zu bieten, Selbständigkeit, Unternehmungsgeist und Initiative zu zeigen. Wir müssen die Entfremdung der Werktätigen des Dorfes (wie übrigens auch aller Werktätigen) vom Eigentum entschieden überwinden, das ihnen einstweilen nur formell gehört.“

Dass sich Entfremdung, die Trennung vom Eigentum anderer und der dazugehörige Zwang zur Arbeit, ganz gut mit Effizienz vertragen, weiß dieser Bewunderer westlicher Produktivität auch nicht so recht. Umso besser kennt er sich in der Seele des Bauern aus, die aufgrund der Kombination von eigenem Boden und eigener Arbeit ganz vortrefflich gerät:

„... der Arbeiter war aber nicht so eingestellt, wie es ein echter Bauer auf dem Land sein müsste. Das ist doch eine lebende Welt – Erde, Natur, in denen ständig etwas vor sich geht. Man muss wissen, wie die Natur lebt, wie sie atmet, man muss sie erfühlen. Wenn man auf einer Farm arbeitet, so muss man die lebendigen Organismen genau kennen.“

Lohn, Preis, Profit als Verantwortungsstifter

Wozu das Eigentum gut ist, das bringen ökonomische Größen schon lange. Nämlich seit der systematischen Einführung der Hebelökonomie. Getreu der Devise:

„Auf administrative Methoden kann man nur verzichten, wenn man über ökonomische Hebel verfügt“,

lässt sich die Administration des sowjetischen Vaterlandes schon immer gern zu Vorschriften über neue ökonomische Hebel herbei. Die Neuerung Gorbatschows auf diesem Felde besteht darin, dass er das Kommandieren, die Vorschriften von ihrem Inhalt trennt, den Hebeln nämlich – und letzteren andichtet, sie würden ihr Werk von selbst tun. Im Zuge dieses genialen Gedankens ist er aber auch auf die Idee verfallen, per Dekret den Betrieben hie und da die Preisfestsetzung selbst zu überlassen. Seitdem wundern sich manche Russen, wie teuer Kartoffeln werden können; andere darüber, dass sie fehlen.

Mehr Verantwortung tragen manche Betriebe jetzt auch bei der Erwirtschaftung und Verbuchung ihrer Gewinne. Sie sind nicht länger das kalkulatorische Resultat von staatlich festgesetzten Preissummen, und der Umgang mit ihnen soll – gemäß der Trennungslogik von Kommando und Verantwortung – ein ziemlich eigener sein. Zwar garantieren die Bedingungen der ökonomischen Umwelt, dass aus der Selbsterwirtschaftung von Betriebsmitteln, aus der Effizienz durch kalkulatorische Freiheit wenig wird. Immerhin aber kommt bei Gorbatschow und den Seinen Genugtuung darüber auf, dass ohne die früher übliche Zuteilung von Mitteln durch den Staat mancher erneuerte Betrieb den Staatshaushalt schont.

Die Erlaubnis von Konkurrenzpraktiken inmitten der überkommenen Hebelwirtschaft zeugt von der Ignoranz des neuen Denkers. Ausgehend vom Bedürfnis nach Effizienz will er – darin ganz hebelwirtschaftlich wie eh und je – Betriebe und Volk zum lohnenden – das ist das Kriterium des staatlichen Rechnungswesens – und versorgungstauglichen Produzieren anhalten. Die dazu erforderliche Verantwortung will er durch neue Zwänge zum Einteilen herbeiführen, in der festen Überzeugung, dass die allemal auf mehr Leistung hinauslaufen. Dass er dabei dem Kapitalismus ein Ideal abgelauscht hat, spricht er bei jeder unpassenden Gelegenheit aus. Mit der Realität hat dieses Ideal ebenso wenig zu tun, wie seine Anwendung im hebelökonomischen Laden zu Effizienz führt:

„Es liegt auf der Hand, dass Kolchose, Sowchose und Pachtkollektive, wenn sie von den erarbeiteten Mitteln leben, gezwungen sein werden, Produkte in größeren Mengen, besserer Qualität und mit geringeren Ausgaben zu erzeugen.“

Diese auch auf Industriebetriebe angewandte Technik, die sich „volle wirtschaftliche Rechnungsführung“ schimpft, hat bislang den alten Mängeln nur neue Störungen hinzugefügt. Einerseits trennt sich wie eh und je der finanzielle Erfolg von Staat und Betrieben vom materiellen Produktionsergebnis. Deshalb berichtet die Prawda über ein wunderbares Jahr der Perestroika:

„Den Plan vom vergangenen Jahr für die Produktion hat unser Gebiet erfüllt und sogar übererfüllt. Gewinnmäßig freilich ist der Plan nicht erfüllt worden.“

Und Gorbatschow, offenbar über einen statistisch verbürgten Aufschwung in der Produktion unterrichtet, vermeldet:

„Folglich haben wir jetzt von allem mehr als früher“

– um dann empört und verwundert, ziemlich rhetorisch zu fragen:

„Aber wo bleibt das alles? Warum gibt es in den Geschäften nach wie vor Schlangen, und die Knappheit an vielen unentbehrlichen Dingen verringert sich nicht?“

Da es ihm keiner sagt, gibt er die Antwort selbst. Als gelehriger Schüler westlicher politischer Sitten holt er zu einem Doppelschlag aus. Einerseits renommiert er mit einem uralten Sockenauszieher aus der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre: mit dem Bild vom Waren- und Geldberg, die ins Ungleichgewicht geraten sind und noch dazu den Staatshaushalt belasten. Andererseits bedient er sich nach drei Jahren heftigster Perestroika der Legende von der Erblast, wie sie einem radikalen Sozialsparpolitiker des kapitalistischen Lagers nicht besser gelingen könnte:

„Ebenda, Genossen, kommen wir zu der Kernfrage der gegenwärtigen Lage in der Wirtschaft: zum Zustand der Finanzen, zum Geldumlauf, zum bilanzierten Verhältnis zwischen Waren und Geldmitteln. Diese Situation ist nicht von ungefähr entstanden. Das schwerste Erbe, das wir von der Vergangenheit übernommen haben, ist wohl das Haushaltsdefizit... Natürlich übt das Defizit auf die ganze Volkswirtschaft einen verderblichen Einfluss aus. Auf den Geldumlauf im Lande wirkte sich die untaugliche Praxis schädlich aus, bei der in vielen Volkswirtschaftszweigen unverdientes Geld ausgegeben wurde. Dadurch wurde aber auf dem Verbrauchermarkt ungeheure Spannung erzeugt.“

Wenn der Mann schon einmal in die ökonomische Ursachenforschung einsteigt, kommt garantiert eine bürgerliche Ideologie heraus. Und nicht einmal bloß eine von der Sorte, die man getrost unter der Abteilung Dummheit abbuchen kann. Die Entdeckung des Missstands Inflation führt ihn schnurstracks zu der Frage nach der Herkunft des zu vielen Geldes und von da zu der Antwort, die den Verantwortungshebel Lohn einer eindeutigen Verwendung zuführt. Da

„bringen es viele fertig, Kanäle für die Erzielung von Einnahmen unabhängig von den realen Ergebnissen der Produktion der Waren hoher Qualität und der Dienstleistungen zu erhalten. Auch im vorigen Jahr wuchs die Entlohnung schneller als die Arbeitsproduktivität. Folglich zahlen wir weiter in vielen Fällen nichterarbeitete Gelder aus.“

Leider fragt ihn auch in diesem Zusammenhang kein Russe, ob die Läden dann nicht vielleicht bloß deswegen so leer sind, weil sie die Russen leergekauft, das Zeug in sozialistischem Überschwang konsumiert haben – und im übrigen mit dem übrigen Geld zuversichtlich auf neue Produkte warten. Jedenfalls offenbart das neue Denken so langsam auch seinen reaktionären Charakter. Die Arbeiter haben die Einkommensquelle der Verantwortungslosigkeit schamlos ausgenützt. Heiliger Stimulus!

II. Absolut verkehrte Politik

Der Überlegung, dass die Verantwortung landauf, landab zu wenig angestachelt worden sei, stellt Gorbatschow eine zweite zur Seite: Sie ist auch ein bisschen verhindert worden, und zwar durch Staat, Partei, Bürokratie.

„Wir werden die dringlichen ökonomischen Probleme nicht lösen, wenn bei uns der Überbau nicht funktioniert, wenn wir das bürokratische Weisungssystem nicht zerstören.“

Dieses eher selbstkritische Rezept ist freilich nicht besser als die Fortsetzung des Hebelwesens zur Steigerung der Initiative. Wäre es den Sowjetmenschen statt um das Zurechtkommen im überkommenen System um ein Ding namens Verantwortung gegangen, das sie für wichtiger und richtiger als die geltenden Regeln gehalten hätten, so hätte das „bürokratische Weisungssystem“ längst seinen Abschied einreichen können. Dass man sich gegen Weisungssysteme kritisch wenden und durchsetzen kann, vermag sich auch Gorbatschow nicht vorzustellen. Die moralische Kategorie der Verantwortung denkt er – auch wenn sie oder ihr Fehlen für nichts den Grund abgeben – ausnahmsweise sehr konsequent. Es geht ihm schlicht um die Verpflichtung der Sowjetbürger, ihre Bereitschaft, die Beiträge zum Funktionieren der Sowjetökonomie zu leisten, die Michail vermisst. In der Gewissheit, dass letztendlich in der Hauptsache tüchtige Leute, dem Aufschwung des sozialistischen Vaterlandes gewogene Bürger sein Land bevölkern, sind ihm die Techniken des staatlichen Umgangs mit den Genossen verdächtig geworden. Sind sie nicht bei jedem Versuch, Mängel zu beheben, abweichende Meinungen vorzubringen, Verbesserungsvorschläge einzureichen, säumige Kollegen und Vorgesetzte zur Rechenschaft zu ziehen ... – aufgelaufen? Haben sie nicht immer gegen den „Apparat“, gegen Polizei und Justiz den kürzeren gezogen?

„Wir müssen Mechanismen schaffen, die sich selbst regeln würden, und zwar durch die Einbeziehung der handelnden Hauptperson – des Volkes – in all diese Prozesse.“

Michail Gorbatschow findet mit seiner „zweiten Revolution“, die von oben kommt, den goldenen Mittelweg. Weder will er mit seiner Geschichte von den eingeschüchterten, drangsalierten und an ihrer Initiative gehinderten Massen diesen eine schlechte Betragensnote ausstellen. Denn ein bisschen Opportunismus muss ja im Spiel gewesen sein, wenn sie bislang aufgrund fehlender Erlaubnis die Knebelung durch die Bürokratie hingenommen und, auf ihre eigenen und des sozialistischen Fortschritts Kosten, den passiven Schlendrian dem aktiven Widerstand vorgezogen haben. Noch will er jetzt, den Massen zuliebe, den Apparat zum Teufel jagen und das Volk einfach schalten und walten lassen. Mit dem Stichwort „Demokratisierung“ hat er sein politisches Ideal aufgemacht. Es umschreibt einen Tausch: Die Sowjetbürger erfreuen sich dank Perestroika und Glasnost ab sofort politischer Freiheiten, Kontrolle und Unterdrückung entfallen weitgehend, „Aktivität“ ist genehmigt und gefragt dazu. Dafür liefern sie jede Menge Verantwortung ab, deren Inhalt sich Gorbatschow allemal als Beitrag zur Effizienz vorstellt. Genauso wie er an das abstrakte Ideal erfolgreicher Ökonomie glaubt, vertraut er auf die Produktivkraft fördernde Wirkung gewährter Rechte – aufs Meinen, Kritisieren, Vorschlagen von Ideen zur Verbesserung...

Verändert hat sich dadurch manches. Die „Hauptperson“ Volk ist „einbezogen“ – mit Verlaub: ein bisschen war sie das schon immer, einerseits beim Arbeiten, Kaufen, Sparen, andererseits im regen Parteileben –, darf also zusätzlich zu jeder Tages- und Nachtzeit politisieren. Und die neuen Rechte werden wahrgenommen, was die Vermehrung der ohnehin schon zahlreichen Komitees, Vereine, Organisationen im Namen des Volkes nach sich zieht. Kompetenzen und Gewaltbefugnisse gehen von alten auf neue Instanzen über, und letztere tragen den Stempel „Volk, echt“.

Mehr Rechte für alle

Für die Betriebe, die ab sofort ja „selbst“ wirtschaften sollen; für die Sowjets, weil „echte Organe der Volksmacht“; für die Republiken, weil irgendwie dasselbe; für die Nationalitäten, weil jede Nation, die ihre eigene Intelligenz hat, ihre eigene Kultur entwickelt und ihre Leistungen gedanklich verarbeitet, sich den Wurzeln ihres Volkes zuwendet.

Wenn die nun alle ihre Rechte haben, hat sich zwar an der Zielsetzung der Politik im Lande noch gar nichts geändert. Weder Gorbatschow noch eine dieser Instanzen, weder seine Mitstreiter noch die Bremser der Perestroika haben je – und die Sache währt schon ein paar Jährchen – vorgeschlagen, zu planen statt zu stimulieren. Jedoch ist mit der Delegierung von Rechten auch in die Sowjetgesellschaft ein gründlich abgetrennter Bereich eingezogen. Jetzt widersprechen sich nicht hie und da die Interessen von Betrieb, Sowjet, Republik und Bürger. Jetzt sind sie alle befugt, diese Interessen auf Kosten der anderen geltend zu machen. Wovon sie früher betroffen waren, worüber sie bei der Partei oder in Moskau, im Parlament, Klage führten – all das ist jetzt offizielles Kampfprogramm, verfügt über seine Amtswege und Verfahren. Und das belebt die russische Szene so ungemein, ohne je Gorbatschow seinem Ideal der Effizienz näherzubringen. Im Gegenteil. Jetzt pocht jeder auf den Nutzen einer Effizienz, die es nicht gibt – für sich.

Ein Betrieb nützt sein Recht zur Sortimentsfestlegung, das Ministerium darf nicht mehr „bevormunden“, schreibt stattdessen Bittbriefe.

„Die Leitung des Ministeriums für medizinischen Gerätebau wendet sich noch einmal an die gesamte Belegschaft des Werks mit der Bitte, die Elimination verschiedener Instrumentengattungen aus dem Produktionsplan noch einmal zu überdenken. Der geringfügige augenblickliche Gewinn Eures Unternehmens, der sich aus der Elimination dieser Geräte aus dem Produktionsplan ergibt, wird durch das Leid der Menschen dieses Landes bezahlt. Wir rufen Euch zur Barmherzigkeit auf. Gezeichnet: Stellvertretender Minister für Gerätebau.“

Die Öffentlichkeit darf über Hartherzigkeit Beschwerde führen:

„Aus verschiedenen Orten erhalten wir Informationen, nach denen auf Selbstfinanzierung umgestellte Unternehmen drastisch ihre Patenschaftshilfe für Schulen reduzierten und sich weigern, ihren Anteil an städtischen Kindergärten zu errichten. Häuserbau verringert ... mit der Begründung, dass der Betrieb nun seine Mittel selbst erwirtschafte und es mit der früheren Methode des ‚Durchfütterns‘ heute vorbei sei...“ –

und Gorbatschow fällt auch an solchen Erfolgen seiner Demokratisierung nichts auf, genauso wenig wie bei den Leserbriefen an die Zeitungen. In denen steht das einfältige Echo seines Programms der politisch-moralischen Ertüchtigung, manche Klage über Mitmenschen, die Verantwortung vermissen lassen, und der Zusatz, wie sehr die Schreiber als Angehörige eines Betriebs, einer Region, einer Republik, eines Kollektivs, einer Schule ... vom Ausbleiben der Perestroika – „bei uns noch nicht angekommen“ – betroffen sind. Der Generalsekretär betätigt sich wie ein ideeller Gesamtschiedsrichter und wie eine politische Gouvernante dazu:

„Es gibt Fragen, die Diskussionen auslösen. Sie betreffen die Wechselbeziehungen zwischen der Union und den Republiken, zwischen den Republiken und den Gebieten, die Frage, wie sich der Staatsauftrag und die Selbständigkeit der Kolchose, Sowchose und Betrieb zueinander verhalten.“

Natürlich will er es weiterhin jedem recht machen und leiert angesichts der Kompetenzstreitigkeiten und Konkurrenz, die er in sein System eingeführt hat, immer nur seinen Katalog herunter: Einerseits „Selbständigkeit der Betriebe“, andererseits „volle Machtfülle der Sowjets“; die sollen sich nicht in die „Rechte der Betriebe“ „einmischen“, dafür aber „die volle Verantwortung tragen für eine bessere Gewährleistung materieller und geistiger Bedürfnisse der Bevölkerung“. „Einmischen“ in die betriebliche Selbständigkeit sollen sich auch die Republiken mit ihrer erweiterten eigenen wirtschaftlichen Rechnungsführung nicht. Wenn sie die gegeneinander geltend machen und der Streit darüber ausbricht, wie viel sie abführen müssen / behalten dürfen; wenn Sowjetrepubliken neuerdings Ausfuhrsperren für Defizitwaren gegeneinander verhängen und lauter lokale Rechnungen gegeneinander aufmachen, dann widmet sich Gorbatschow der Ökonomie, von der er keine Ahnung hat:

„Offensichtlich darf eine solche Umgestaltung nicht zur Autarkie, zum Naturalwirtschaften führen, weil das der Gesellschaft mehr Schaden als Nutzen bringt.“

Im Übrigen ist er mehrmals pro Woche der Ansicht, dass friedliches Miteinander doch besser ist als Streit. Insbesondere im Blick auf die

Nationalitätenkonflikte

Wenn sich die baltischen Republiken zielsicher auf die Austrittserklärung hinarbeiten, andere Nationalitäten den Freibrief von oben als Auftakt dazu begreifen, im vollen Bewusstsein ihrer Rechte aufeinander loszugehen, dann orgelt der neue Denker die ältesten Fehler seiner Partei zur „Frage der Nation“ herunter:

„Es zeigt sich, dass manchmal selbst die gebildetsten Leute weder das Nationale vom Nationalistischen unterscheiden, noch die Dialektik des Internationalen und des Nationalen begreifen.“

Manchmal will dieser Mann auch partout etwas unterscheiden, was nicht zu unterscheiden geht, bzw. nur im grundverkehrten moralischen Weltbild von der großen Völkerfamilie Sowjetunion: guten und berechtigten Nationalstolz von schlechtem Nationalismus. Dann beweisen ihm ganze, im Sinne des Sozialismus über Jahrzehnte hinweg erzogene Völker und ihre Führung nur eines: Dass „das Nationale“ keine Eigenart, Tradition und Kultur ist, dass der Weg vom Volksliedgut zum Kampf um das nationale Wir so weit auch wieder nicht ist; da wollen regionale Staatsorgane und ihre Gefolgschaft keine wichtigeren Fragen mehr kennen, als die Rechte und Ansprüche ihrer Nation – Gorbatschow ficht das nicht an. Sein bestes Argument vermutet er im Hinweis an die Völker, dass es die Union war, die ihren Nationalismus zur Blüte gebracht hat.

Vergangenheitsbewältigung auf neu-russisch

Auch Jahrzehnte vor dem Amtsantritt des Neuerers war man im Kreml auf die moralische Intaktheit und die Treue des Volkes scharf. In Gefahr schien dieser Bestandteil des sozialistischen Menschentums – eher eingebildet statt wirklich – den alten Führern durch objektive Darstellung dessen, was Partei und Volk so alles getan und unterlassen haben. Sie hielten es für notwendig zur Beförderung des Einsatzes für den Sozialismus, das Vertrauen zur Führung zu kultivieren. Deshalb gerieten die Taten sämtlicher Führungen in der öffentlichen Darstellung und in der erzieherischen Betreuung stets in rosarotes Licht.

„Ehrlichkeit“ hat der neue Chef verlangt anstelle von Lügen, Tilgung der „weißen Flecken in der Geschichte“, Kritik statt Lobhudelei. Alle drei Aufträge gehen nur in Ordnung, wenn Wissen vorhanden ist über das, was aufgedeckt, kritisiert gehört. Das scheint in der Sowjetunion in großem Maßstab nicht vorhanden zu sein, und der Initiator dieser Selbstläuterung fühlt sich am wenigsten dazu bemüßigt, dem Mangel abzuhelfen. Folglich hat er bloß einen Riesenzinnober in Gang gesetzt, bei dem das moralische Volksgemüt an allen Ecken und Enden entdeckt, dass sich seine Wertungen auch gut umwerten lassen. Wenn Stalin jahrelang der Held des großen Vaterländischen Kriegs war und der Persönlichkeitskult seine politischen Fehler nach der Methode: „gute und schlechte Seiten“ abgetrennt oder einfach ignoriert hat, darf jetzt der negative Personenkult Orgien feiern. Das sowjetische Fernsehen wartet unter dem Titel „Spießgesellen“ mit „Enthüllungen“ über den Hitler-Stalin-Pakt auf, die weder den politischen Fehler dieser Sorte Diplomatie mit dem Feind kennzeichnen, noch ihr überhaupt den Rang einer politischen Kalkulation zuerkennen wollen. Wie im Lehrbuch des Antikommunisten wird die Gemeinsamkeit von Hitler und Stalin als die zweier abgrundtief schlechter Charaktere breitgewalzt. Jetzt wird schlechtgemacht statt gelobhudelt, Stalin mit Argumenten, die aus westdeutschen Boulevardblättern stammen könnten, zum Komplizen der Faschisten gestempelt – und ein neuer Volkssport ist in Mode.

Im Sinne dieses Fortschritts haben die Russen an ihrer Vergangenheit noch einiges „aufzuarbeiten“. Unter dem saublöden Titel ‚Kommandowirtschaft‘ lassen sich locker sämtliche bisherigen „Errungenschaften“ der Oktoberrevolution in Frage stellen: Ab wann ist die „bürokratische Entartung“ losgegangen? Ist nicht überhaupt die Kollektivierung auf dem Land schon ein Fehler der Kommandowirtschaft gewesen? Hätte Lenin die Revolution nicht besser gelassen und sich in friedlicher Konkurrenz mit den bourgeoisen und anderen gegnerischen Parteien auf die Herbeiführung des Sozialismus geeinigt? Klarheit über Fehler wird dadurch garantiert nicht gestiftet, wohl aber etliches an Opposition im Namen der neuen Ideale: Opposition heißt erstens, keine aus dem Westen kommende Ideologie mehr kritisieren, auch nicht mehr mit falschen Argumenten; zweitens, zweifeln daran, ob es die Anleierer der Perestroika ehrlich meinen und auch weit genug gehen; drittens, fragen, ob die Perestroika nicht doch womöglich Errungenschaften und bewährte Regeln des Sozialismus vor Gorbatschow kaputtmacht. Die letzte Abteilung Opposition kann sich kaum behaupten. Aber nicht, weil sie im Unrecht wäre, weil sie für die Verteidigung all dessen, worin sich Bürger und Funktionäre, Völker und Kommissionen eingehaust haben, nichts Gescheites vorzubringen weiß. Vielmehr deswegen, weil sich auch und gerade mit den hinzugewonnenen Techniken des Umbaus die alten Methoden des Absägens, Denunzierens, Ausbootens prächtig bewähren.

Überhaupt – die Öffentlichkeit mit Glasnost

„Pluralismus“, lehrt der Genosse Generalsekretär wie im Grundkurs Wissenschaftstheorie, „schafft die besten Voraussetzungen für die Suche nach der Wahrheit. Denn nur in der Konfrontation der Meinungen, in der Gegenüberstellung der Ansichten, lässt sich die Wahrheit finden.“

Es mag ja stimmen, dass die Unterdrückung von freier Meinungsäußerung verrät, dass eine Staatsmacht nichts auf Kritik gibt und auch an keiner Wahrheit interessiert ist. Die Umkehrung, dass die Gewährung öffentlicher Auseinandersetzung den passenden Weg zur Wahrheitsfindung darstellt, gar deswegen erfolgt, stimmt garantiert nicht. Im Westen, wo man sich so viel auf die pluralistische Öffentlichkeit zugute hält, gilt das Dogma, dass viele Meinungen unterschiedliche Interessen zum Ausdruck bringen, die sich alle letztlich zu relativieren haben, weil keine die Wahrheit für sich in Anspruch nehmen kann. Und zwar theoretisch wie praktisch, so dass sich sinnigerweise die „mächtigste“ Meinung, die sich an die Staatsnotwendigkeiten hält, durchsetzt. Dass das Hin und Her von Wahlkampfparolen ein Ringen um Wahrheit darstellt, ist eine von jedermann durchschaute lächerliche Lüge. Und dasselbe gilt für den Wahlkampf zwischen den Wahlen, wo Minister und Opposition ihre Varianten der „Sachzwänge“ austauschen. Wenn gar der Regierungssprecher höchst offiziell eine „Sprachregelung“ zum besten gibt und die Regierungspolitik „verkauft“, weiß jedes kleine Kind, worauf die „Konfrontation von Meinungen“ berechnet ist.

Aber auch unabhängig vom praktischen Umgang mit Meinungen, wie er in der Demokratie üblich ist, liegt Gorbatschow mit der Deutung, die er seiner Erlaubnis zur „Freiheit der Kritik“ gibt, reichlich schief: Damit ein bisschen Wahrheit herauskommt aus der Gegenüberstellung von Ansichten, muss es den Beteiligten schon auch darum gehen! Und so anständig und staatsmännisch er sich auch vorkommen mag, weil er im Unterschied zu seinen Vorgängern die Sowjetbürger jetzt die Überlegungen, die sie immer schon hatten, sagen lässt und erklärtermaßen respektieren will, ist eines nicht zu übersehen: Auch diese Neuerung ist nach dem Prinzip des Hebels konstruiert. Denn das Dürfen, mit dem er seine Landsleute beglückt, soll schließlich dazu taugen, dem Sozialismus zum fälligen Aufschwung zu verhelfen.Und das vermag die herrliche Methode des Umgangs zwischen Staat und Bürgern nur dann, wenn die einlaufenden Meinungen ihrem Inhalt nach etwas taugen.

In dieser Hinsicht ist Michail Gorbatschow erst einmal mit schlechtem Beispiel vorangegangen. Zu mehr als dem Befund, unter seiner Anleitung hätte die Produktivkraft der Moral einen endlich zufriedenstellenden Aufschwung zu nehmen, hat er es nämlich gar nicht gebracht. Und dergleichen dient in keiner noch so lebhaften Diskussion der Wahrheitsfindung. Umgekehrt hat er mit der Respektierung von veröffentlichten Meinungen entschieden zu viel im Sinn. Sein Versprechen, das er offenbar hält, erstreckt sich eindeutig nicht nur auf die Praxis, aufmüpfige Sowjetbürger wegen abweichender Wortmeldungen nicht mehr zu drangsalieren und einzusperren. Der Neuerer verzichtet gleich auch noch darauf, die ihm und seinen Parteiorganen zu Gehör gebrachten Anschauungen zu prüfen und im Ernstfall zurückzuweisen.

Verstehen, aber nicht billigen, kann man den Meister der inhaltslosen Selbstkritik in den Fällen, wo ihm Akklamation zuteil wird. Diese Nutzung der frisch eroberten Freiheit der Meinung ist recht verbreitet. Man fordert die konsequente Fortsetzung der Perestroika, den Aufbruch zu vielen neuen Ufern und begründet selbiges mit der längst feststehenden Diagnose: Stagnation muss weg, Moral und in ihrem Gefolge „Effizienz“ sollen wieder Einzug halten.

Genau so prinzipienlos verfährt Gorbatschow mit den Stimmen, die sich an fremden Herren orientieren – und das nicht einmal kaschieren. Zu einer begründeten Zurückweisung verkehrter Weltanschauungen will sich seine Partei einfach nicht herbeilassen. Die perverse Lektion, die im Kreml gelernt worden ist, lautet: Weil die Monopolisierung der Weltanschauung der Partei zu Stagnation geführt hat, gilt jetzt jeder Mist gleich viel. Und darin unterscheidet sich Gorbatschow sowohl von Wahrheitssuchern als auch von demokratischen Öffentlichkeitsgestaltern. Letztere pflegen ja nicht nur jede Meinung als höchst relative, also unmaßgebliche stehen zu lassen; sie haben es auch dahin gebracht, dass die Meinungen gleich nur in Anlehnung an gültige Interessen, Maßstäbe & Werte formuliert werden. Und zwar mit dem opportunistischen Drang, Gehör zu finden und die Erfolgsaussichten zu erhöhen – wodurch gleich nur noch staatstreue Alternativen zur Debatte stehen, bei denen jedes Interesse baden geht. Die Ansprüche von regierenden Demokraten an das veröffentlichte politische Gedankengut scheiden allemal das Polizeiwidrige und dem Gemeinwesen nicht Zuträgliche von den Einfällen, die sich als konstruktive Beiträge zur Bewältigung der nationalen kapitalistischen Tagesordnung präsentieren. Und Demokraten verstehen sich von der Denunziation des naivsten Grünen als „fünfte Kolonne“ bis zur Organisation des Zutritts zu den Medien enorm gut aufs Ausgrenzen und Handverlesen.

Dass Gorbatschow diese Praktiken nicht imitiert, in dieser Hinsicht mit alten Bräuchen seiner Partei bricht, mag ihm mancher als Ehre anrechnen. Zur Schande gereicht ihm aber, dass er ausdrückliche Gegner nicht widerlegt, dass er die dümmsten Meinungen kritiklos durchgehen lässt – als wollte er beweisen, dass sich sein Sozialismus mit allem verträgt, was das internationale Geistes- und Gesellschaftsleben so hervorbringt. Er lässt die kritik- und kriterienlose Aneignung und praktische Pflege des letzten Mists durchgehen, als wäre das alles nicht nur „interessant“, sondern auch noch ein Beitrag zur neuen Blüte des Sozialismus. Von Misswahlen über ‚heavy metal‘ zu religiösen Riten – alles ist „interessant“. Am Glauben hat er die Verwandtschaft mit dem menschelnden Moralismus des verantwortungsvollen guten Willens entdeckt, mit der er Staat machen will, und gutgeheißen. Alles, was im Westen an Verwaltungs- und Regierungseinrichtungen üblich ist, Wahlverfahren und Sozialversicherungen, was in Wirtschaftsteilen als die höheren Künste des erfolgreichen Geschäfts angepriesen werden, Marketing, Leasing, Währungsmanipulationen, von denen nicht einmal ein westlicher Banker sagen kann, wozu sie gut sind, muss besichtigt werden, ob sich davon nicht nützliche Praktiken abschauen lassen.

Insofern aber auch der alte Wertekanon lange genug eingeübt worden ist, um genügend irritierte Anhänger auf seiner Seite zu haben, führt die Veranstaltung zu einer Sorte „Gegenüberstellung von Ansichten“, aus der weniger die Wahrheit als lauter Gehässigkeiten folgen. Daran will dem Initiator dieses Unfugs allerdings immer nur das Ausbleiben der erwünschten konstruktiven Wirkung auffallen. Die Gegensätze, die er nicht austragen will, entdeckt er in den Konfrontationen zwischen alter Moral und neuem Mut zum Blödsinn, der sich Freiheit nennt. Und wie reagiert er darauf? Er mahnt zur Einheit, vermutet so etwas wie Unreife im Gebrauch der neuen Befugnisse, eben wieder einmal ein Defizit an Moral – und bleibt deren Apostel.

Demokratischer Dilettantismus

Nichts Schlechteres, aber auch nichts Besseres ist dem politischen Genie im Kreml zu bescheinigen. Die wirkliche Demokratie versieht Interessen mit Rechten, mit staatlicher Gewalt, wenn und insoweit sie der Nation nützen. Dieser Volksdemokrat geht vom guten Glauben an die Nützlichkeit so gut wie jeden Interesses in seiner Gesellschaft aus, wenn er Befugnisse verteilt. Wenn die ermächtigten Interessen dann aufeinander losgehen, will er weder von den Gründen in der politischen Ökonomie seines Ladens etwas wissen, noch ist er dazu imstande, die nationalistischen, religiösen und sonstigen Unsitten im politischen Überbau seiner Nation anders zu kritisieren, als dass sie doch bitte der Nation dienlich sein sollten. Auch eine Weise, von Planwirtschaft endgültig nichts mehr wissen zu wollen. Von der Gelegenheit, das ihm zustehende Gehör dafür zu nutzen, per „Wahrheit“ gesellschaftliche Interessen gültig zu machen, die lohnend bedient werden, hält er offenbar nicht viel.

III. Total verrückte Außenpolitik

Schluss mit der Imperialismuskritik

Der moderne Führer der kommunistischen Welt hat Marx entschieden verbessert. Der hat von einem Subjekt namens „Menschheit“ wenig gehalten, die Berufung darauf als eine Technik der Heuchelei kritisiert, die nur denen etwas nützt, deren Interessen qua Gewalt als die allgemeinen, gültigen gesichert sind. Diesen Standpunkt hat Gorbatschow von den Füßen auf den Kopf gestellt und der „Menschheit“ Werte abgelauscht, die „über den Klasseninteressen“ stehen sollen, hauptsächlich den „Wert“, dass die Menschheit „überleben“ will.

Wenn der Chef einer der beiden Supermächte, die dazu in der Lage sind, diese Überlebensfrage aufzumachen, so plötzlich sein Herz für die Menschheit entdeckt, stiftet er ein gewisses Durcheinander hinsichtlich von Subjekt und Objekt dieser Gefahr. Es war ja nicht eigentlich „die Menschheit“, die bislang in den Zielplanungen von NATO und Warschauer Pakt vorkam, sondern jeweils der andere Block. Mit seinem gefühlvollen Durcheinander möchte der Kremlchef aber auch bloß, per Appell an ein fiktives allgemeines Interesse, gesagt haben, dass ihm der Bestand seiner Nation so lieb und teuer ist, dass er sie nicht länger durch die Gegnerschaft gefährdet sehen möchte, und dass er deshalb ganz gut vom Gegensatz beider Systeme absehen könnte. Damit hat er sich bei Friedensfreunden aller Couleur seinen guten Ruf erworben; dass damit auch schon „die Kriegsgefahr“ ein Stück weit gebändigt worden sein soll, wie er etwas überschwänglich mit den Erfolgen seiner Politik angibt, ist nicht ganz zutreffend. Immerhin ist ja die Gegnerschaft beider Systeme, für die Waffen aufgestellt und die „Politik der Stärke“ betrieben worden ist, nicht ausschließlich und schon gar nicht ursprünglich das Werk der Sowjetunion. Weder hat das Bekenntnis der Sowjetunion, jetzt im Sinne der friedlichen Koexistenz selbstkritisch werden zu wollen, die Gründe auf Seiten der NATO beseitigt, warum diese gerade eine Koexistenz mit dem anderen System für unerträglich hält. Noch hat der Imperialismus allein deshalb aufgehört, einer zu sein, weil die Sowjetunion aus nationalem Interesse Klasseninteressen für reichlich überlebt erklärt und das andere System als besserungsfähig betrachten will. Aber zu einem Kurswechsel der sowjetischen Außenpolitik hat Gorbatschows Fehlschluss durchaus getaugt.

Der Fanatiker des Dialogs mit dem Feind

macht sich zum Anwalt der dümmsten Ideologien über den Segen der Diplomatie. Er entfaltet eine Reisetätigkeit ungefähr so lebhaft wie der Papst, wirbt überall für mehr Kennenlernen und Beziehungen. Als ob im Verkehr zwischen Staaten nicht Interessen von Nationen, von unterschiedlichen Systemen aufeinanderstoßen, also pure Gewaltfragen verhandelt würden, macht er Propaganda für „Verständigung“. Als wäre es ziemlich gleichgültig, woher denn eigentlich die vielen „Konflikte“ in die Welt gekommen sind, agitiert er für ein Zusammenspiel der Supermächte als Verein zur allseitigen Konfliktlösung, zum Ausräumen von Gegensätzen durch beiderseitigen guten Willen, zur Herstellung von gutem Willen durch Verständigung, zum Aufbau von Vertrauen durch Abbau von Misstrauen etc. etc. Und zur Unterstreichung, wie „real“ die „Möglichkeiten“ sind, die die Sowjetunion da wahrhaben möchte, betreibt er seine Politik der einseitigen Vorleistungen, was die Waffen betrifft, und Regionalkonflikte will er schlichten. Darunter versteht er die gleichberechtigte Betreuung der Krisenherde, welche die andere Weltmacht als ihre Einflusssphäre ausdrücklich gegen die Sowjetunion zu solchen gemacht hat.

Der neue Denker scheint sich nur noch dafür zu interessieren, wie sehr die Sowjetunion an all solchen „Lösungen“ beteiligt ist; er versteht sich darauf, davon abzusehen, woran sie da beteiligt ist, und auch davon, dass den Imperialismus genau dies stört, nämlich die Notwendigkeit, immer noch auf die Russen Rücksicht nehmen zu müssen. Seine Außenpolitik will noch mehr als die seiner Vorgänger vom einzigen Weg nichts mehr wissen, der einen kapitalistischen Feind „zur Vernunft bringt“. Eher glaubt er an den „Zwang zur Vernunft“, der von seinen Atomwaffen ausgeht und im Pentagon die Überzeugung von der Notwendigkeit des Friedens ausbrechen lässt.

Es hätte wenig Sinn, mit Michail Gorbatschow über theoretische und praktizierte Kritik am Kapitalismus zu reden. Er hat schließlich den Gegensatz, auf dem seine Feinde in der Staatenwelt bestehen, in einen Unterschied der „Gesellschaftsordnungen“ übersetzt; sein Kampf gilt nur noch der Bestätigung dieser Übersetzung beim Chefdolmetscher der Weltordnung. So führt er laufend den Beweis, dass es wirklich bloß Unterschiede sind, die niemanden ernstlich zu beunruhigen brauchen. Einen Beweis hält er dabei für extrem glaubwürdig: den Willen und die Fähigkeit seines Systems, außer in Gewaltdingen auch auf dem Feld des Schachers mit dem Westen kompatibel zu sein.

Der Ideologe des Westhandels – oder: Was kümmert mich mein skeptisches Geschwätz von gestern

Der Chef der KPdSU hat schon einmal gewusst, dass der Handel mit dem Westen Abhängigkeiten schafft, dass er zu politischen Erpressungen eingesetzt wird. Er hat die „Importgeißel“ kritisiert, das Vertrauen auf Technologieimporte anstelle eigener Anstrengungen. Das sieht er jetzt im Lichte seiner Politik der Verständigung auch anders. Keine internationale Agentur des Imperialismus, in die die Sowjetunion nicht hinein will. IWF, Internationale Währungsbank, GATT, das ist alles ungefähr dasselbe wie eine „internationale Arbeitsteilung“, an der sich jede Nation, die vorwärtskommen und sich anderweitig beliebt machen will, beteiligen muss. Gorbatschow sagt nicht einmal, wahrscheinlich weiß er es auch gar nicht, worin denn der ökonomische Nutzen für die Sowjetunion bestehen soll, wenn sie beim Streit um die wechselseitigen Erpressungen der Konkurrenten auf dem Weltmarkt um Währungsmanöver und Kreditmachenschaften dabeisitzt: Dabeisein ist für ihn alles, schließlich stiften gerade diese „Beziehungen“, in denen ja kein Krieg, sondern nur Konkurrenz stattfindet, Frieden. Die Not der Selbstbehauptung, der einzige Grund für die sowjetischen Waffen, hat in diesem Hirn dazu geführt, dass Imperialismuskritik nicht mehr notwendig ist.

Bedenken gegen Importe und Verschuldung sind offensichtlich total passé, wenn die Emissäre der SU jede Kreditaufnahme mit dem Bekenntnis feiern, wie „normal“ ihre Nation sich in den internationalen Schacher integrieren will und wie schädlich „Autarkiedenken“ wäre. Es soll angeblich auch enorm viel vom Westen zu „lernen“ geben, was „erfolgreiches Wirtschaften“ angeht, das im Lichte des neuen Denkens eine ziemlich systemneutrale Angelegenheit zu sein scheint. Dass das ganze Geheimnis der bewunderten kapitalistischen „Effizienz“ in der effizientesten Ausbeutung besteht und in der effizientesten Gewalt dazu, ist diesem modernisierten Kommunisten ziemlich unbekannt. Er begeistert sich auch noch als „Demokratisierer“ für die effiziente Staatsraison und ihre Techniken resp. für das, wofür er sie hält. Zweifel kommen den Regisseuren der zweiten Revolution auch nicht daran, was die Herren Kapitalisten, wenn sie sie in ihr Land bitten, um zu dessen Produktivkräften beizutragen, alles an dem auszusetzen haben und sich an Voraussetzungen für ihr Geschäft ausbedingen.

Die Gorbatschow-Doktrin vom Fortschritt durch Aufweichung – im Ostblock

Mit der Breschnew-Doktrin [6] ist vorläufig Schluss im Kreml. Gorbatschow wüsste auch gar keinen Grund mehr dafür, Nationen des Warschauer Pakts zur Loyalität zu zwingen. Leonid, obwohl der Sozialisten größter nicht, hat da noch anders gedacht und gehandelt. Ihm war die Überlegung geläufig, dass ein verbündeter Staat, der sein wirtschaftliches Potential und dementsprechend seine politischen Zielsetzungen auf Beziehungen zum Westen orientiert, nicht mehr der eigenen, sondern „der anderen“ Sache nützt. Von der war ihm klar, dass sie eine feindliche ist. Ganz anders in diesem Punkte Gorbatschow. Die unter seinen Augen stattfindende Auflösung des überkommenen realsozialistischen Wirtschaftens in den Bruderländern hält er schon deswegen für weiter nicht schlimm, weil er in seinen wirtschaftlichen Studien zu gewissen Überzeugungen gelangt ist. Sozialismus ist für ihn so etwas wie ein intakter Staatshaushalt, der neben der Herstellung des allseitig entwickelten sozialistischen Menschen die Verpflegung und Unterhaltung der Bürger abzuwickeln gestattet. Wenn die Aufbesserung dieses Haushalts über Geschäfte mit dem Westen versucht wird, so ist das normal und friedensfördernd dazu. Wenn es schiefgeht und der Haushalt leidet, sind mehr und bessere Reformen nötig; wenn sich die Zuständigen darum kümmern und die Reformen unter dem Gesichtspunkt abwickeln, dass die Pflichten gegenüber dem Ausland erfüllt und künftige Chancen eröffnet werden, so ist das logisch und nicht tragisch. Die Beiträge der sozialistischen Bruderländer zum Bündnis – in Gestalt des RGW oder des Pakts – ergeben sich daraus, was ihr nationales Wirtschaften hergibt, was sie ihren eigenen Interessen entsprechend wollen. Der nationale Fortschritt ist, solange der Staat nicht aus dem Bündnis ausgetreten ist, schließlich allemal dasselbe wie ein erhöhter Nutzen der sozialistischen Staatengemeinschaft – und wenn die Führungsmacht gelegentlich vorbeikommt, werden die interessanten Experimente bestaunt. Der moralische Ertrag dieser Lesart der Gleichung Nationalismus = Sozialismus, nicht zu vergessen, ist ein ungeheurer: In Sachen Liberalismus können sich die westlichen Aufseher von Hinterhöfen, von quasi-natürlichen Hemi- und Interessensphären noch allemal eine Scheibe abschneiden.

Der Fortschritt ist unaufhaltsam

Die kommunistische Partei Polens sucht das nationale Heil darin, ein Bündnis von Pfaffen und Antikommunisten an der Regierung zu beteiligen; die polnische und die ungarische Partei entschuldigen sich coram publico für ihre sozialistische Vergangenheit, lauter stalinistische Fehler; sie stellen ihr Bündnis zunehmend in Frage, greifen das östliche Handelssystem als Belastung ihrer nationalen Rechnungen an und schließen jedes Geschäft in der anderen Himmelsrichtung ab, das nur irgend geht; politisch geben sie lauter Antisowjetismen Raum, den Warschauer Pakt erklären sie für ziemlich belastend und fast auch überflüssig; in der ungarischen Politik wird laufend die Frage der Neutralität aufgeworfen und mit lauter Anschlussprojekten kokettiert, an Österreich, an die Efta, am liebsten gleich an den europäischen Großverein. Kaum abzusehen, wie ein solches „vielfältiges Vorankommen zum grundsätzlich gemeinsamen Ziel ein Quell der Lebensfähigkeit und Kraft des Sozialismus“ sein oder „das Vorankommen des Weltsozialismus und des gesamten Fortschritts der Menschheit“ bedeuten soll.

Dass ein Einmarsch wie 1968 in Prag die passende Korrektur einer Linie wäre, in der „Sozialismus“ zum Stichwort für den Wert herabgesunken ist, der die Sache der Nation ziert, lässt sich nicht behaupten. Wer würde denn da mit welchem Ziel einmarschieren? Ein Glückwunsch ist aber auch nicht angebracht, wenn die östliche Führungsmacht ihren Block durch den Westen auflösen lässt und das auch noch mit aufmunternden Komplimenten von ihrer Seite aus begleitet: „Eigene Wege“ – je mehr davon, desto besser! Der leitende Genosse in Moskau kennt noch nicht einmal die Zwischenstufe; er warnt nicht einmal vor gewissen Experimenten, die ziemlich eindeutig und brutal die paar sozialen Errungenschaften in Frage stellen, die die Arbeiterklasse im Ostblock wirklich genießt; er weiß ja endgültig keinen Grund mehr für eine Bündnistreue, die sich aus gewussten und gewollten Systemunterschieden, d.h. gegensätzlichen Zielsetzungen, ergibt.

IV. Methodenkult, den (Miss-)Erfolg der Perestroika betreffend

Von wegen Effizienz!

Ideologien bewähren sich selten als Produktivkräfte; auch wenn sich sowjetische Führung und Volk ziemlich einig sind, dass „der Mensch im Mittelpunkt“ steht und ökonomischer Erfolg und Misserfolg mit dessen Einsatzfreude stehen und fallen, entscheiden auch in der Sowjetunion immer noch die Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte darüber, was an Reichtum zustande kommt und was sich damit (nicht) anstellen lässt. Deshalb kommt der Erfinder und Beförderer der Perestroika auch nicht darum herum, sich mit dem Erfolg seines Werks zu beschäftigen, der sich nicht einstellt. Das tut er zunehmend bei jedem öffentlichen Auftritt und beweist nur einmal mehr, wie es um seine Geistesgaben bestellt ist.

Der Kampf um die Tauglichkeit der Perestroika: Gequatsche über Tempolimits, Bremsen und Sand im Getriebe

Außer der Idee, dass die Perestroika an der Erblast der vergangenen Haushaltsdefizite noch viel mehr leidet, als er sich das zu Beginn gedacht hätte, hat er nicht viel mitzuteilen, was die Gründe ihres schlechten „Vorankommens“ betrifft. Er sieht seine Aufgabe aber auch woanders, nämlich darin, seine Massen bei der Stange zu halten, ihren Glauben an die Perestroika zu stärken und ihnen Mut zuzusprechen. Wie ein christlicher Wanderprediger betreut er das Seelenleben seiner Nation, z.B. mit erbaulichen Betrachtungen über die Zeit. Selbige braucht die Perestroika nun einmal; ihre Anhänger können da zwei Fehler machen, die sie besser lassen sollten: Sie können zu schnell vorgehen wollen, das ist nicht gut. Aber sich zu viel Zeit lassen, ist auch nicht gut. Damit weiß das Volk immerhin schon einmal, dass es sich sowohl vor „Hitzköpfen“ wie vor „Bremsern“ hüten muss, und hat ein paar Anhaltspunkte zur Bearbeitung der Schuldfrage.

Was es selbst angeht, erhält es vor allem immer wieder den Auftrag, „Initiative zu zeigen“, „konkret zu handeln.“ Abstraktes Handeln dürfte zwar auch ein Sowjetmensch nicht hinbekommen, aber der Generalsekretär und sein Volk verstehen sich da schon:

„In Donezk, bei einem Treffen mit Bergarbeitern, sagte einer von ihnen: ‚Jetzt haben wir schon genug geredet, es ist an der Zeit zu handeln.‘ Das ist unumwunden und klar gesagt. Und ich reagiere so: ‚Mehr konkrete Taten – das ist die Losung des Tages.‘“

Seinerseits geht er mit konkreten Taten voran. Mit ellenlangen Reden, die die konkreten Eigenschaften der Perestroika, ihre Geschwindigkeit, ihre Schwierigkeit, aber auch ihre Erfolgsaussichten, ihre Tiefe, Reichweite und Dimensionen, ihre Neuartigkeit und Verbundenheit mit den sozialistischen Idealen, ihre Lebhaftigkeit und Verankerung im lebendigen Gefühl der Massen in jeder Hinsicht ausleuchten, dass kein Auge trocken bleibt. Und bis zum bitteren Ende seines Sozialismus hält er an der Idee fest, dass dessen erfolgreiche Zukunft über ‚mehr konkrete Taten‘ zu bewerkstelligen ist.

Anstelle eines Epilogs

‚Die Geschichte‘ hält auch im Fall des Realen Sozialismus keine Lehren parat, eine Wahrheit freilich lässt sich der Kritik seines Gründervaters wie der seines Totengräbers schon entnehmen: Die Verfügung über Macht ändert nichts an der Unbrauchbarkeit tauber Nüsse für den Kommunismus. Dies ist der Unterschied zum Kapitalismus.

[1] Der folgende Text ist die geringfügige Überarbeitung des gleichnamigen Aufsatzes in: Peter Decker/Karl Held, Abweichende Meinungen zur „deutschen Frage“. DDR kaputt – Deutschland ganz. Eine Abrechnung mit dem „Realen Sozialismus“ und dem Imperialismus deutscher Nation, München 1989, S. 254 ff.

[2] J. W. Stalin, Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, in: Werke Bd. 15, Dortmund 1979, S. 198

[3] J. W. Stalin, Über die Fehler des Genossen L. D. Jaroschenko, a.a.O., S. 223

[4] J. W. Stalin, Zu den Fragen des Leninismus, in: Werke Bd. 8, Berlin 1952, S. 41

[5] Der folgende Text gibt darauf die Antwort. Er ist eine leicht überarbeitete Fassung des in Peter Decker/Karl Held, Abweichende Meinungen zur „deutschen Frage“. DDR kaputt – Deutschland ganz. Eine Abrechnung mit dem „Realen Sozialismus“ und dem Imperialismus deutscher Nation, München 1989, S. 288 ff. abgedruckten Aufsatzes mit dem Titel „Michail Gorbatschow: Warum dieser Mann keinen Respekt verdient“.

[6] Ob dieser Generalsekretär der KPdSU den so betitelten „Grundsatz von der beschränkten Souveränität sozialistischer Staaten“ in aller Form so aufgestellt hat, ist egal. Tatsache ist, dass Kommunisten, wie der Name schon sagt, von Nationalismus nichts halten. Tatsache ist freilich auch, dass die in Moskau regierenden Sozialisten der Ära vor Gorbatschow nur von einem solchen Nationalismus nichts hielten, der sich gegen den Zusammenhalt ihres Bündnisses richtete. Bei dem war ihnen immerhin noch klar, dass der nur das westliche Kriegsbündnis stärken konnte, das nie an einer ‚nationalen Unabhängigkeit‘ irgendeines dieser sozialistischen Staaten, sondern ausschließlich an der Zersetzung des ‚sowjetischen Machtblocks‘ interessiert war, und an der Tilgung dieses Restpostens an vernünftiger politischer Beurteilung der Lage macht Gorbatschow sich auf seine Weise zu schaffen.