Die amerikanische Kultur

Nationale Besonderheiten in der Abwicklung des täglichen Lebens, des privaten wie des öffentlichen, sind Konsequenzen der Art und Weise, wie die politische Herrschaft eines Landes ihren Bürgern gebietet und erlaubt, den Notwendigkeiten des von ihr verwalteten Produktionsverhältnisses zu genügen. Damit, daß kapitalistisch produziert und verteilt wird, ist noch nicht über den gewohnheitsmäßigen Umgang der Individuen mit den Zwängen von Lohnarbeit und Kapital entschieden — erst die staatliche Ausgestaltung der Konkurrenz, wie sie sich aus der Überwindung früherer Produktionsweisen, aus den Auseinandersetzungen der Klassen um ihre Konkurrenzmittel ergibt (wobei die Bewahrung oder Zerstörung überkommener Lebensweise recht unterschiedlich ausfällt), bewirkt jene Ausgestaltung der Sitten, die dann einem Volk als sein Charakter angedichtet werden. Die Ausbildung dieses ,, Volkscharakters", der zwar objektiv, aber alles andere als eine psychologisch zu fassende Natureigenschaft von in gewissen Landstrichen geborenen Individuen ist, erstreckt sich sogar auf den Inhalt von Gefühlen, auf die Tätigkeit ihrer Phantasie und auf ihre Weltanschauung; sie führt zu allgemein verbreiteten Vorurteilen, Betrachtungsweisen des gesellschaftlichen Lebens, der eigenen Stellung in der Hierarchie der Klassengesellschaft, zu "landläufigen" Interpretationen von Erfolg und Mißerfolg, Reichtum und Elend. Und auch dazu, daß sich die Angehörigen verschiedener Nationen ihre Lebensgewohnheiten und -auffassungen vorrechnen, wobei die eigenen Vorurteile als der sichere Maßstab fungieren, der die auswärtige Kultur der Minderwertigkeit überführt oder ihr Vorzüge bescheinigt.

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1979, 2024 | 104 Seiten | ab 8 € inkl. MwSt.
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Länder und Abkommen
Gliederung

Die amerikanische Kultur

I

Nationale Besonderheiten in der Abwicklung des täglichen Lebens, des privaten wie des öffentlichen, sind Konsequenzen der Art und Weise, wie die politische Herrschaft eines Landes ihren Bürgern gebietet und erlaubt, den Notwendigkeiten des von ihr verwalteten Produktionsverhältnisses zu genügen. Damit, daß kapitalistisch produziert und verteilt wird, ist noch nicht über den gewohnheitsmäßigen Umgang der Individuen mit den Zwängen von Lohnarbeit und Kapital entschieden — erst die staatliche Ausgestaltung der Konkurrenz, wie sie sich aus der Überwindung früherer Produktionsweisen, aus den Auseinandersetzungen der Klassen um ihre Konkurrenzmittel ergibt (wobei die Bewahrung oder Zerstörung überkommener Lebensweise recht unterschiedlich ausfällt), bewirkt jene Ausgestaltung der Sitten, die dann einem Volk als sein Charakter angedichtet werden. Die Ausbildung dieses ,, Volkscharakters", der zwar objektiv, aber alles andere als eine psychologisch zu fassende Natureigenschaft von in gewissen Landstrichen geborenen Individuen ist, erstreckt sich sogar auf den Inhalt von Gefühlen, auf die Tätigkeit ihrer Phantasie und auf ihre Weltanschauung; sie führt zu allgemein verbreiteten Vorurteilen, Betrachtungsweisen des gesellschaftlichen Lebens, der eigenen Stellung in der Hierarchie der Klassengesellschaft, zu "landläufigen" Interpretationen von Erfolg und Mißerfolg, Reichtum und Elend. Und auch dazu, daß sich die Angehörigen verschiedener Nationen ihre Lebensgewohnheiten und -auffassungen vorrechnen, wobei die eigenen Vorurteile als der sichere Maßstab fungieren, der die auswärtige Kultur der Minderwertigkeit überführt oder ihr Vorzüge bescheinigt.

Im Falle Amerikas kann sich zwar kaum ein europäischer Betrachter den Neid auf die Stärke und den Reichtum dieser Nation verkneifen, wozu eben ein gutes Maß an Anerkennung gehört. Doch wenn es um die US-Kultur geht, sind die abendländischen Liebhaber des Humanismus, des Klassischen, des savoir-vivre sowie des europäischen Anstands schnell zu recht abschätzigen Bemerkungen bereit. So hat schon mancher Bewunderer der ökonomischen Durchschlagskraft der USA mit "Kulturkritik" auf die Tatsache reagiert, daß an jeder Ecke der Welt Coca-Cola- und Kaugummi-Automaten stehen und McDonald's Siegeszug kaum zu bremsen ist. Als hätte man die Amis der Barbarei überführt, wenn man auf ihrem Speisezettel Hamburger entdeckt und das süße Gesöff selbst nicht mag!

Sicher haben die kleinen Schnellgerichte und die zu ihnen gehörige Gastronomie etwas mit dem american way of life zu tun — aber ein Sherry und bayerisches Bier sind noch lange kein Siegel vorzüglicher Gesinnung und Garanten für geistige Begegnungen höchster Klasse; auch verbürgt der Genuß französischer Küche keineswegs einen intakten Verstand der "connoisseurs". Der Vergleich der erwähnten Konsumartikel mit europäischen Eß-, Trink- und Sprechgewohnheiten bringt eben auch nur das Vorurteil zustande, zu dessen Inszenierung er angestellt wird — aber keine Kritik des amerikanischen Kulturimperialismus. Zudem läßt sich an derlei Veranstaltungen die Überheblichkeit kaum übersehen, die sich dem "Geschmack" verdankt, dem die Wahl offensteht, wie er seinen Konsum bestreitet. Ebenso aufdringlich macht sich der Standpunkt des Luxuriösen breit, wenn europäische Liebhaber des höheren Blödsinns ihre Maßstäbe an das amerikanische Kunst- und Geistesleben anlegen und kurzerhand jenseits des Atlantik einen Abgrund von Banausentum entdecken, also nicht einmal gewahren, wes Geistes Kind die amerikanischen Wissenschaftler und Künstler sind. Dabei kürzt sich die despektierliche Haltung gewöhnlich auf den Einwand zusammen, daß bei den Amis Bereiche, auf die es nicht ankommt, von ihnen auch nicht hochgespielt werden, als hinge die Welt von ihnen ab.

Freilich wäre es verwunderlich, wenn europäische Geister, die sich höchst ethisch ein Menschenbild konstruieren, in dem stets beide Seiten des modernen Staatsbürgers, sein Materialismus der Konkurrenz und sein Idealismus des staatlichen Miteinanders zusammenwirken, den Witz amerikanischen Denkens und amerikanischer Moral erklären könnten. (Vgl. Der bürgerliche Staat §l) Warum sollten ihre Anstrengungen ausgerechnet hier, wo die Sitten einer Weltmacht ihrem Konstrukt all dessen, was sich ziemt, ins Gesicht schlagen, zur Aufgabe ihres Idealismus führen und auf Wissen gehen? Schließlich haben sie sich eine ganze Wissenschaftlerkarriere lang darum bemüht, aller Welt nachzuweisen, daß für ein "geordnetes Zusammenleben", für die "Selbstverwirklichung" des einzelnen, für den "Fortschritt" und anderes mehr der Mensch nicht nur einen Staat braucht, sondern denselben auch in Gestalt von allerlei Maximen und Reflexionen im Kopf haben muß, damit nicht seine Bedürfnisse und Interessen mit ihm durchgehen und alle Kultur zerstören. Da wäre es schon schade, wenn die Gepflogenheiten eines Volkes, das den erfolgreichsten aller Staaten unterhält, so mir nichts dir nichts als Widerlegung anerkannt werden müßten. Umgekehrt geht es einfacher: man kann ja dem amerikanischen Geist auch einige Unzulänglichkeiten zur Last legen. Wo er dann mit dem Erfolg einer Nation im Rücken mit neuen Ideen aufwartet und zeigt, wie sehr es ihm auf seine Nützlichkeit für die Welt wie sie i s t, ankommt, findet sich auch ein Wort der Anerkennung. Und in Sachen Moral bietet sich dasselbe Verfahren an: wo ein offenkundiges Fehlen von Gemeinsinn und Tugend sichtbar wird, sind Staat und Bürger der USA kritikabel, wo die Techniken der Moral bis zur erbärmlichsten, also kenntlichen Heuchelei ausgebaut sind, steht Respekt an, weil eine Menschenrechtskampagne und rücksichtsloser Nationalismus als Vorbild taugen. Diese Methode, den amerikanischen Freunden mit dem Maßstab europäischer Ideale gerecht zu werden, beweist an der Identität amerikanischer und europäischer Kultur die Triftigkeit des europäischen Weltbildes — und an jeder Differenz stellt sie heuchlerisch das Entsetzen zur Schau vor den überlegenen Praktiken der Konkurrenz.

Worüber ein europäischer Schöngeist erschrickt, statt sich ein objektives Urteil zu bilden, ist dabei gar nicht schwer auszumachen: in den USA hinterläßt eben das eigentümliche Verhältnis von Staat und Bürger seine Spuren im kulturellen Getriebe. Die Moralität tritt nicht als Zensur des "Egoismus" auf, sondern als Technik der Individuen, die der Durchsetzung dient; die Formen der öffentlichen Heuchelei sind keine der Verstellung und bedürfen nicht des Pathos der Mitmenschlichkeit und der Höflichkeit, sondern gehorchen dem Prinzip der zwanglosen und plumpen Vertraulichkeit. Der Geist ist wesentlich praktisch und hält sich darauf einiges zugute, daß er im nützlichen Umgang mit trivialsten Alltagsproblemen seine Bewährung findet; Wiesen wird in den USA prinzipiell gleichgesetzt mit "nützlicher Mitteilung", "Information" und "know how" - und ist insofern in den Naturwissenschaften gleichbedeutend mit brauchbaren technologischen Kenntnissen, in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine einzige Ansammlung von analog konstruierten Verfahrensweisen, mit Beschränkungen, welche einem in Institutionen, den lieben Mitmenschen und - nicht zuletzt - an einem selbst begegnen, erfolgreich fertig zu werden. So reduziert sich der ganze Wertehimmel und das Arsenal abendländischer Ideale, das europäische Geistesriesen als unerläßliches Gegenstück zur "schlechten Seite" des Menschen, zu seinem Materialismus, so aufblasen, ziemlich. Selbst die amerikanische Philosophie, die sich formell mit genau denselben "Grundfragen" unseres Dichtens und Trachtens auf Erden herumschlägt wie ihr europäisches Pendant, hat sich im Namen des american way of life von den metaphysischen Höhenflügen, die kein Ende nehmen wollen, emanzipiert. Sie liefert keine hochtrabenden idealistischen Begründungen bürgerlicher Moral, sondern deduziert das "Zusammenleben" der Menschheit per Konkurrenz schlicht durch lauter "praktische Argumente", also durch dem amerikanischen Alltag entnommene Beispiele des Erfolgs. Daß dabei kein richtiger Gedanke zu Papier gebracht wird, empfinden höchstens die europäischen Ethiker als störend — aber nicht wegen der idiotischen Argumente, sondern wegen des Mangels an Tiefgang. (Beflissene Neuerer an abendländischen Universitäten sind im übrigen längst dazu übergegangen, die einschlägigen amerikanischen Leistungen "kritisch" zu rezipieren, d.h. eine flotte Synthese aus US-Rollen-, Kommunikations- und Identitätstheorie, Max Weber und Hegels Geschichtsphilosophie zu erstellen. Habermas ist hier der "fruchtbarste" gewesen.) Auch in der Disziplin "Ethik für Wissenschaftler", also jenen wissenschaftstheoretischen Hinterfragereien nach Bedingung und Möglichkeit des Erkennens, die noch stets in Ge- und Verbote beim Geschäft des Geistes münden, tun sich die amerikanischen Kollegen einfacher. Die Philosophen des Pragmatismus reden über eine den traditionsbewußten Geistern so erhabene Sache wie den "Wahrheitsbegriff" etwa so daher:

"Der Besitz der Wahrheit ist hier kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Befriedigung irgendeines Lebensbedürfnisses...

Der praktische Wert nützlicher Vorstellungen läßt sich somit ursprünglich von der Wichtigkeit ableiten, die die Gegenstände der Vorstellungen für uns haben...

Da jedoch fast jeder Gegenstand eines Tages bedeutungsvoll werden kann, so ist es offenbar von Vorteil, einen allgemeinen Vorrat von Wahrheiten zu besitzen, d.h. von Vorstellungen, die für bloß mögliche Situationen sich als wahr erweisen können. Wir speichern solche Wahrheiten in unserem Gedächtnis auf, und mit dem Überfluß derselben füllen wir unsere Nachschlagebücher. Wenn eine solche Wahrheit für eines unserer Erlebnisse bedeutsam wird, dann wird sie aus dem kalt gestellten Vorrat heraufgeholt, um in der Welt ihre Arbeit zu leisten, und dann wird unser Glaube an sie aktuell. Man kann daher sagen: "sie ist nützlich, weil sie wahr ist", oder "sie ist wahr, weil sie nützlich ist". Beide Sätze bedeuten dasselbe ...Wenn wir von der Wahrheit sprechen, so sprechen wir unserer Theorie gemäß von Wahrheiten in der Mehrzahl, von Führungen, die sich im Gebiete der Tatsachen abspielen und die nur die eine Eigenschaft gemeinsam haben, daß sie lohnen...

Das Lohnende, das unsere wahren Ideen enthalten, ist der einzige Grund, der uns verpflichtet, uns an sie zu halten. Genau dieselben Gründe gelten für die Begriffe Reichtum und Gesundheit..." (William James)

Man sieht, für diese Wissenschaftstheorie ist die Befassung mit der Wissenschaft immanenten Problemen, auch dem Scheine nach eine höchst überflüssige Sache. Die Gleichsetzung von wahr' und .nützlich' erspart ihr manches Getöse um Subjekt, Objekt, Logik und Transzendenz, Methode und anderes mehr; man fühlt sich in einen Hollywood-Film versetzt, in dem sich die Regierung einen ,professor' oder einen ,scientific counselor' hält, vielleicht auch eine Gangsterbande ihren ,doc' — einen Mann, der dann, wenn die anderen nicht mehr weiterwissen, noch einen Trick auf Lager hat. Wo Philosophen hierzulande beim Stichwort "Freiheit der Wissenschaft" gleich allerlei Vorbehalte anmelden und dem rechten, verantwortungsvollen und staatstreuen Gebrauch jener Freiheit ein Programm nach dem anderen schnitzen -— ethisch überhaupt und methodisch sowie pluralistisch verpflichtend im besonderen —,da ist einem Ami alles Gedachte recht: wer weiß, wann diese oder jene "idea" unter Umständen einmal brauchbar sein kann! Damit spricht er tatsächlich die Stellung der amerikanischen Gesellschaft zu den Herren Wissenschaftlern aus, die im übrigen dort drüben nicht dasselbe Ansehen genießen wie bei uns; auch ihr Verdienst hält sich in Grenzen und läßt das elitäre Gehabe, das man von deutschen Universitäten her gewöhnt ist, gar nicht erst zu. Wissenschaftler sind in den USA einerseits "eggheads", unpraktische Idioten, andererseits aber nützliche Figuren mit einem nicht zu verachtenden "Output" an hochspezialisierter "software", auf die man zurückgreifen kann. Statt moralischer Vorschriften kündet die amerikanische Haltung zur Wissenschaft von der Erwartung, daß aus jener Sphäre ein Berg "ideas" geliefert wird, wobei ein gewisser Ausschuß nicht zu vermeiden ist. Sämtliche Waffengattungen, Industrie und Kirche haben ihren "staff" in der Gewißheit, daß es die Masse — ausgefallener praktischer Ideen - schon bringt, und sie finanzieren die entsprechenden Institute so großzügig, daß jeder noch so hochnäsige Abendländler von einem Stipendium der Rockefeller-Foundation träumt.

Kein Wunder, daß auch dem Wiener Kreis und seinen esoterischen Konstruktionen "exakter Wissenschaft", seinem Streben nach einer "Einheitswissenschaft" (dies die Reaktion auf den Pluralismus, deren Wissenschaftstheoretiker fähig sind), seinen kunst"sprachlichen" Ambitionen und den dazugehörigen Vorschriften über "richtiges Denken" in den USA eine freundliche Auflösung beschieden war: einerseits wurde auch diese Tour, am Fortgang der Wissenschaft nicht teilzunehmen, dafür aber viel über Hypothese und Verifikation, Induktion und Allsätze, Zwielichtigkeit der Sprache etc. im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts zu reden, nicht bekämpft; die Ableger des Wiener Kreises erhielten ihr Auskommen und durften ihre Probleme jedes Jahr um zwanzig weitere vermehren. Andererseits wurde ihnen, und zwar durch einen der ihren (der sicher auch manche Anhänger hat) die amerikanische Fassung des Camap'schen "Toleranzprinzips" in der Wissenschaft serviert: ein Feyerabend hat dem hochtrabenden Getue mit einer Polemik "Wider den Methodenzwang" den Kampf angesagt; und er hat die alte pragmatische Parole der Gleichgültigkeit gegenüber den wissenschaftlichen Urteilen im Namen ihrer (eventuellen) Verwendbarkeit erneuert: "Anything goes". Lustig daran ist einzig, daß sich keiner der europäischen Methodologen traut, den Mann für verrückt zu erklären — sie diskutieren aufgeregt die "Thesen" jenes Feyerabends aller Wissenschaft, weil sie gegen Fehler in der Theoriebildung noch nie etwas hatten, ja sogar schon immer in gewisser Weise für die Relativität allen Wissens gestritten haben.

Noch ein Wort zur Naturwissenschaft, auf deren effektiver Anwendung ja auch die amerikanische Industrie, von der Cornflake-Erzeugung bis zur Raumfahrttechnik beruht: Die diesbezügliche Gelassenheit der Amerikaner gegenüber dem, was über die in der Natur geltenden Gesetze von wissenschaftlicher Seite vermeldet wird, beruht ganz einfach auf einem Vorteil, der ja schließlich das A & O der Wissenschaft zu sein hat. Die USA konnten leicht auf Theoretiker verzichten, da sie das Glück hatten, alle Erkenntnis der Naturgesetze, objektives Wissen also, aus Europa fertig geliefert zu kriegen. In Albert Einstein und einigen Atomphysikern importierten sie sich sogar die im 20. Jahrhundert noch notwendigen Theoretiker, also Leute, die erklären, warum etwas w i e läuft auf der Welt. Die Beschränkung ihrer Anstrengungen auf Technologie hat ihnen deswegen nicht geschadet, weil sich mit dem chemischen, physikalischen und biologischen Wissen aus dem Abendland einiges anstellen ließ — auch ohne die Mühsal derer, die es geschaffen haben. Die Nobelpreise werden sowieso seit geraumer Zeit für technische Neuerungen verteilt, was der Entwicklungsgeschichte der Naturwissenschaften Rechnung trägt und den USA so manchen Geehrten beschert. Was die Lösung noch theoretischer Unklarheiten angeht, so handelt es sich um Bereiche (Atomphysik und Elementarteilchen, Biochemie etc.), in denen der Erfolg von der Größe des Forschungslabors abhängt, womit die USA aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stärke sogar noch aus der Tatsache, daß das Experiment in der Naturwissenschaft eine wichtige Funktion für das Erkennen hat, ihrer nationalen Ehre einige Punkte hinzufügen können.

Ansonsten werden Generationen von Jugendlichen nach wie vor davon unterrichtet werden, daß Thomas A. Edison der Größte gewesen sein soll; in ihm hat sich jedermann das Ideal der "american ingenuity" vor Augen zu halten, weil es nämlich viel nützlicher ist, irgendein Gerät zu erfinden als ein Naturgesetz zu entdecken, das sowieso keiner versteht...

Wenn in den USA die konsequente Trennung von Forschung und Lehre, also die Zucht von technologischen Spezialisten zum Anliegen von Staat, Wirtschaft und dabei wiederum vor allem des Militärs geworden ist, so gibt der Erfolg diesem Verfahren recht - und so mancher europäische Bildungspolitiker und Hochschulverwalter kann sich auf absehbare Zeit über den Mangel an einem Vorbild nicht beklagen.

II

Das amerikanische Ideal, auch im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften das Höchstmaß an "nützlichen ideas" zu erzielen, kann sich ebenfalls auf europäische Vorarbeiten stützen. Freilich nicht wie das technologische Denken auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaft, sondern auf die Ideologien einer Reihe von Disziplinen, in denen das praktische Interesse an den Wirkungen und Bedingungen, Vor- und Nachteilen aller besprochenen Gegenstände keine Erklärung mehr zustande kommen läßt. Im instrumentellen Denken der europäischen Sozialwissenschaften fühlt sich der amerikanische Geist von vorneherein heimisch, weil er in der Betrachtung von Institutionen der Gewalt, ökonomischen Verhältnissen und Individuen daraufhin, was sich mit ihnen alles anstellen läßt, das Hilfsmittel für den Erfolg im Konkurrenzkampf, im individuellen wie dem der Nation erblickt.

Auch bei der Übernahme und der Perfektionierung der Vulgärwissenschaft bis hin zur allgemeinen Fassung im Behaviorismus ist den Amerikanern wieder einmal einiges erspart geblieben: ihre Theoretiker hatten sich nicht gegen so etwas wie einen "Wahrheitsanspruch" der Philosophie durchzusetzen, konnten sich also auch das Pathos der Legitimation gegenüber solchem Anspruch sparen, brauchten auch die Nützlichkeit ihrer Anstrengungen nie sonderlich zu betonen und zu ihrer moralischen Rechtfertigung darzulegen. Wo die Überwindung der Philosophie in Europa der Vulgärwissenschaft die Selbstdarstellung als höchst verantwortungsvolle, für die "Gemeinschaftsaufgaben" bedeutsame Weltanschauung auferlegte, hob in den USA an den Universitäten mit ihrer Gründung auch sofort ein hemmungsloses Produzieren von Theorien an, die sich nicht im Geringsten dem Verdacht ausgesetzt sahen, sich zum kritischen Richter der Realität aufzuspielen — ihre Legitimation bestand einfach darin, daß sie, bei aller Kompliziertheit ihrer Konstruktionen, den praktischen Standpunkt von vorn bis hinten raushängen ließen. Sie wollten und wollen nichts anderes sein als Theorien des know how, und als solche lassen sie sich auch überholen und abservieren, ebenso wie sie sich selbst klassifizieren: nach Graden der "Einfachheit", wobei die Anzahl der "Sätze", aus denen eine Theorie besteht, allen Ernstes in Betracht gezogen wird für ihre Bevorzugung. Auch so interessante Kriterien wie das ob eine Theorie "beschreiben" wolle oder auch eine explanative Kraft" für sich beanspruche, gelten in den USA (und inzwischen auch bei uns) als seriös.

Wie powerful" ist eine Folge von Behauptungen über einen Gegenstand, welche "Reichweite" will sie erzielen? — als wären Theorien Raketen, wird da über Wissen a priori verhandelt nach dem wofür sie sich - eingebildeterweise - eignen oder nicht! Da gibt es "ideas", die ganz schön viel Fakten, manche aber nicht, "abdecken" — und das Studium eines college-boy oder girl sieht entsprechend aus. Originalschriften zu lesen ist ein ziemlich überflüssiger Luxus; effektives Studieren vollzieht sich am "text book", in dem die mehr oder minder plausiblen , ideas" leicht memorierbar aufgelistet sind, und niemand würde auf die Idee kommen, die dargebotenen Gedanken auf ihre Stimmigkeit hin zu prüfen. Für anspruchsvollere studies gibt es "reader", die jeden Autor mit 10-20 Seiten präsentieren. Unter dem Titel "social thought" tauchen da auch ziemlich abwegige Gedanken von Marx, Kant und Hegel auf, die man sich nichtsdestoweniger merken kann — wer weiß, wann sich ihr Nutzen mal zeigt. Mit dieser Stellung unterscheidet sich sogar der amerikanische Geist von seinen europäischen Ziehvätern: er ist wahrhaft frei, nimmt keine Lehre als tiefschürfende Weltanschauung mit moralischer Wucht fürs politische Leben ernst, durch die man sich auf die FDGO einstellt. "Anything goes", sofern nur noch bei der letzten Idiotie die praktische Absicht kenntlich ist. Wer studiert, kommt daher auch nicht in den Verdacht, etwas Besonderes zu sein und enormen Durchblick zu haben; das College-Studium ist eine Weise, in der Konkurrenz voranzukommen; und übermäßige Vorteile bringt es nicht einmal — ein Volksschullehrer ist kaum länger in der Ausbildung als ein KFZ-Mechaniker, und ob er einen höheren IQ besitzt, ist erst noch die Frage!

Apropos IQ! An den Leistungen amerikanischer Psychologen läßt sich ablesen, welcher Fortschritt in der Neuen Welt den europäischen Sozialwissenschaften samt ihren aufgeblasenen Ideologien blühte. Wo hierzulande die Konstruktionen eines Freud, aber auch anderer Psychologenschulen zur Diagnose staatsbürgerlicher Selbstbeherrschung, zur Interpretation von Leistungen und Fehltritten aller möglicher Figuren herhalten, darüber hinaus zu Deutungen des gesamten individuellen Energiehaushaltes u n d des in d e r Gesellschaft und ihrer Geschichte (Faschismus!) Vollbrachten herhalten, haben amerikanische Geister einerseits mitgemischt, andererseits zweckmäßige Anwendungsweisen im praktischen Leben, im Konkurrenzkampf beigesteuert. Daß ein Psychologe nichts erklärt in Sachen Seele, Bewußtsein und Intelligenz, ist ihnen dabei selbstverständlicher Ausgangspunkt gewesen. Daß dies kein Hindernis für die Anwendung ihrer Wissenschaft zu sein braucht, ebenfalls. In zig Abwandlungen des "black box "-Gedankens haben sie fröhlich ihr Desinteresse an Wissen über Intelligenz bekundet sowie ihr Interesse an ihrer Meßbarkeit, worunter sie den Vergleich des "Outputs" verstanden, den so eine Individualität bringt im Verhältnis zu einer anderen. Und damit sind die amerikanischen Psychologen zu hilfreichen Technikern des Leistungsvergleichs geworden, wie er sich an Schulen, vor allem aber bei der Aufnahme und Beförderung in den drei wichtigen Bildungsinstituten Army, Navy und Air Force gehört! Damit haben sie sogar den europäischen Bildungspolitikern imponieren können, die inzwischen auch den Geist der Humboldt'schen Universität mit multiple choice zu versöhnen wußten. Eine Absage an Freud & Co. mit ihren tiefgründigen Deutungen dessen, was ein Individuum so treibt — sexmäßig, lebensgeschichtlich und so —, haben die Männer der amerikanischen Psychologenzunft deswegen aber nicht vermeldet: dieses Zeug wird auch angewandt, aber weniger als Therapie von eingetretenen Schädigungen denn als positive Hilfe, als eine Form persönlicher Fitmache, wenn sich der Klient im Leben, das ein Kampf mit tausend Herausforderungen ist, bewähren muß. Das psychologische Dogma, daß der Mensch mit sich selber nicht im Reinen ist und deswegen mancherlei Ansprüchen gegenüber versagt dies der Kopfstand einer europäischen Theorie!), lautet amerikanisch abgewandelt so: man hat sich ständig als Mittel seines Erfolges zu traktieren, und damit dies gelingt, hält man sich wie einen Zahnarzt oder Friseur auch einen Psychologen als ständigen Trainer und Berater!

Aber auch in anderen Wissenschaften sind den Amerikanern schöpferische Weiterentwicklungen geglückt, die das weltanschauliche Getue hierzulande überflüssig machen. Während sich ein Student der Politologie bei uns mit Hilfe von Platon, Aristoteles, Locke, Hobbes und Macchiavelli mühsam die immergleiche Weisheit anzueignen hat, daß die Demokratie, in der er lebt und Sozialkunde unterrichtet, das Beste und Menschenwürdigste ist, lernt ein Ami-Student l. Government und 2. Comparative Government. Kombiniert mit juristischem know how, weiß er dann, wie erfolgreiche Politik geht - und etwas anderes will auch niemand wissen. Deshalb werden abgehalfterte Präsidenten und Außenminister, elder statesmen, kurzerhand Professoren lesen dem glücklichen Studenten alles Wissenswerte über die Techniken der Macht auf amerikanisch aus ihrem Tagebuch vor und stehen gegenüber "Theorien", die den Beweis ihrer Praktikabilität noch nie angetreten haben, gut da. Auch hier ersetzt das Interesse den Wissensdurst, weswegen niemandem die Wahrheit der Argumente zum Problem wird.

Idem in der Soziologie. Unbekümmert — wie stets bei der Amerikanisierung von europäischen Vorarbeiten — über deren tatsächliche Tauglichkeit als Hilfsmittel für die Lösung praktischer Probleme ging hier Parsons ganz forsch zu Werk. Er importierte Max Weber, machte den letzten Wissenselementen in dessen Werk den Garaus und reklamierte das Selbstbewußtsein der Disziplin als neue Methode: ein Funktionalist müsse man sein, so seine großartige Entdeckung, die ungeachtet der Tatsache, daß noch kein Staatsmensch, geschweige denn sonst wer aus dem Karussell von Normen-Rollen-Werten-Schichten-Wandel usw. je eine Anleitung zum Handeln, dem sozialen nämlich drechseln konnte, eine enorme Diskussion heraufbeschworen hat. Während diese soziologische Debatte in den USA bis zu Rechnereien gediehen ist, wie viele soziologische Theorien mit wie vielen funktionalistischen Patterns wohl möglich sind, hat ihr Export nach Europa die dortigen Kollegen recht froh gestimmt: jetzt widerlegen sie Marx noch dümmer als seinerzeit Max Weber, und darauf kommt's ja im Kampf der Ideologien an.

Was den Menschen gemäß den Erfindungen aller amerikanischen Fortschritte in der Wissenschaft auszeichnet, ist, daß er sich verhält, und zwar manchmal mehr oder weniger günstig. D i e s e r Auffassung entgeht rein gar nichts von dem, was so angestellt wird von, zwischen und auf Kosten irgendwelcher Leute. Noam Chomsky hat die Sprachwissenschaft damit voran gebracht, daß er für "any investigation of language and (!) linguistic behavior" der Sprache die Eigenart zuschrieb, daß ein "native Speaker" ganz neue und andere und damit viel mehr Sätze produzieren kann und versteht als die, die er zuvor geäußert oder mitbekommen hat. So hat er einen europäischen Fehlschluß, die Erklärung der Sprache a l s "Fähigkeit", welche sich im Sprechen äußert, produktiv gemacht und drei "basic questions" deduziert, die "eine" Sprachtheorie beantworten muß;

"1. What is the precise nature of this ability?

2. How is it put to use?

3. How does it arise in the individual?"

Seine Antwort hat ihn zu der Auffassung gebracht, daß es mit dem "linguistic behavior" ungefähr dasselbe auf sich hat wie mit dem Verhalten von "devices", die, von findigen Mathematikern konstruiert, "Botschaften", ,,Zeichenreihen" und dergleichen outputten. Nur viel komplizierter, was der gute Mann mit Hilfe seiner mathematischen bzw. computerwissenschaftlichen Kompetenz eindrucksvoll demonstrieren konnte. Bis heute (und in Ewigkeit) gibt es keine Anwendung dieser Theorie für die Erlernung von Sprachen, weswegen ihm aber seine Stipendiengeber nicht böse sind. Immerhin hat sein atemberaubender Gedanke, Sätze seien weniger Werke des Verstandes als Resultate eines "rekursiven Mechanismus", die Linguisten aller Welt einige Zeit in Atem gehalten und ihnen die Einbildung gestattet, ab sofort zu den ,,exakten Wissenschaftlern" zu zählen.

Die Exaktheit, die da zustandekam, beschränkt sich auf den Gebrauch von Lineal und Zirkel bei der Erstellung von allerlei Pfeilen und Kästchen — wobei einem Mathematiker im Unterschied zu Linguisten hätte auffallen können, daß die Vorstellung der "black box" im Bild des "kompetenten Sprechers" mehr zu Ehren gelangt als die Logik des mathematischen Denkens. Die Betrachtung der Individualität, gelte sie nun als "box" mit Bewußtsein, Sprache, Intelligenz oder sonst was drinnen, nach dem "Output", den sie bringt oder auch nicht, ist ein wissenschaftlicher Fehler und insofern das Gegenteil von "exaktem Denken" — mag es sich mit allerlei Formelkram auch noch so aufblasen. Diese praktisch motivierte, deswegen aber noch lange nicht nützliche Methode ist sogar der Fehler des amerikanischen Fortschritts in den Geisteswissenschaften, und er hat sich auch in der alles übergreifenden und bereichernden Verhaltenswissenschaft eines Skinner seine Souveränität gegenüber allen Einzeldisziplinen erkämpft: die erwünschte Fiktion eines manipulierten und manipulierbaren Willens, eines gesteuerten und steuerbaren Bewußtseins spricht das Geheimnis der "humanities " made in USA aus: jedermann möge sich nicht nur selbst das Mittel seines Erfolgs sein - was immer die von der Gesellschaft bereitgestellten Mittel an "Herausforderung" an den Pioniergeist darbieten —, er soll sich auch für andere und überhaupt für Amerika als ein brauchbarer Individualist bereithalten, auf dessen Erfolg es ankommt.

III

Sowenig der "social thought" sich je in die Tat umsetzen läßt als Kopie des Ideals, das sich der amerikanische Geist aus dem Erfolg der Technologie geschaffen hat, so praktikabel ist die Haltung, welche den Ideologien als Motor dient, im Alltagsleben der US-Bürger. Diesem nationalen Menschenschlag ist in der Tat nichts mehr heilig, er exekutiert in vorbildlicher Weise den Spruch von Marx im Kommunistischen Manifest, wonach die bürgerliche Gesellschaft auf dem Wege der Bezahlung ihren Pfaffen und Huren ihre Brauchbarkeit und deren Grenzen bescheinigt. Seine Sorte Moral hat sich im Gebrauch aller Formen der Heuchelei zugleich von der Verstellung losgesagt, niemand braucht drüben über den Zweck freundlicher Gesten zu täuschen oder zu rätseln. Da für die erfolgreichen Amerikaner die Konkurrenz nicht nur die Welt ist, in der sie sich bewähren müssen, sondern auch die Verkehrsform, die sie wollen, gilt ihnen noch jedes Anliegen ihrer Individualität als Recht und Argument. Am Arbeitsplatz, auf der Party, in der Familie und am Swimmingpool weiß ein US-Bürger, daß er den anderen mit Beschlag belegen darf, und er tut dies in aller Freundlichkeit. Das Prinzip "Eine Hand wäscht die andere" hat von den öffentlichen Verkehrsformen Besitz ergriffen, so sehr, daß Techniken des Entzugs, der Distanz einen Menschen zum Sonderling stempeln, ihm Vertrauensverluste eintragen und ihm mit den albernsten Formen der Geselligkeit auch das Wohlwollen seiner Umgebung entziehen. Wo die Individualität, die sich durchsetzen will, äo zum Höchstwert geworden ist, gilt die Privatsphäre nicht mehr allzu viel. Ihre Pflege ist ein Bestandteil der wechselseitigen Benützung der Individuen, von daher überhaupt keine Nebensache, vielmehr die unerläßliche Anstrengung, sich des anderen zu versichern, auf ihn zurückzugreifen. Vertrauen wird sich nicht erworben dadurch, daß man gemeinschaftliche Zwecke ermittelt, deshalb Freundschaften schließt und zusammenhält — in Amerika geht es umgekehrt: Mit einem forschen "Hello!" fällt man über den anderen her, und dem steht nicht einmal wie dem rhetorisch nach seiner Gesprächsbereitschaft Befragten — "Stör ich?" — ein Arsenal höflicher Floskeln zur Verfügung, mit denen er ja oder nein sagen könnte. Die Manieren entbehren in solchen Fällen der Abwehrmittel, die den ungebetenen Gast darauf hinweisen, daß man ihn los sein will, ohne etwas gegen ihn zu haben. Den Amis ist das offenbar recht.

Dergleichen bewirkt jedoch unter Amerikanern nicht die Illusion, daß alle Menschen gleich gälten. Als Fanatiker der Gleichheit beherrschen sie bestens den Vergleich zwischen sich und anderen, und über den entscheidet, wie überhaupt über den Wert eines Menschen, der Erfolg. Sich allein, aus eigener Kraft, ehrlich, aber auch unehrlich, dafür clever durchgeboxt zu haben, ist das Kriterium aller Anerkennung, daher auch der Freundschaft und der Zuneigung — kein Wunder, daß Amerikaner mit ihren Konkurrenz- und Kampftugenden, mit ihrer harten Faust und dem Gewehr im Schrank prahlen, die Insignien des Erfolgs zur Schau stellen, um Punkte zu machen. Diese Techniken des Wettbewerbs, die keiner höheren Moral gehorchen, haben in Europa nicht nur eingeschlagen, sondern sich neben dem idiotischen Lob als überlegene Tugenden (offen, geradeheraus, allein dem Fairplay verpflichtet) auch die Bedenklichkeiten einer 2000jährigen Geschichte des Anstands eingehandelt. Zumal die europäischen Sittenwächter in der Subsumtion solch erhabener Dinge wie des Geschlechtlichen unter die Wettbewerbsmoral einen Anschlag auf den Humanismus schlechthin erblicken. Dabei ist für das moralische Urteil weniger die Tatsache ausschlaggebend, daß die Amerikaner auch in der Sexualität kein anderes Kriterium kennen als das des Erfolgs (für Feministen: nicht nur der Männer, sondern auch der Weiber), als die Ideologie der Familie als enorm sinnstiftende Beziehung, ganz als ob die Amis in Sachen Funktionalisierung der Geschlechter nicht Bahnbrechendes geleistet hätten. Immerhin haben sie allerlei Veranstaltungen erfunden, um den Kampf um den richtigen Partner auch zu einer echten Prüfung qua Vergleich mit der Konkurrenz werden zu lassen. "Dates" dienen beiden Parteien als Gelegenheit zur Urteilsfindung, die auf jeder Seite ausgiebig besprochen und hierarchisch geregelt wird. Sie verlaufen trostlos und langweilig bis zu dem Punkt, an dem sich entscheidet, ob sie einen läßt. Der Übergang vom Desinteresse zur Vergewaltigung ist an der Tagesordnung, und die Ehe ist in Amerika schon fast das Muster der Verliebtheit - der einmal gefaßte Entschluß nimmt den Beteiligten bis zur Scheidung die Belastung, Gegenstand der Konkurrenz zu sein. Daß dabei der Sex als eine Disziplin mit fest umschriebenen technischen Regeln etabliert worden ist, hat auf europäischer Seite wenig Einwände hervorgerufen. Wie so oft haben die Amis auch hier zur Beseitigung manchen Ballastes beigetragen, der in Gestalt von moralischen Hemmnissen die Funktionalität einer nützlichen Sache beeinträchtigt hat.

Nicht anders in der Religion. Funktioneller wird der Glaube und seine Präsentation nirgends gehandhabt als in den USA. Während es in Europa noch vorkommen mag, daß der Staat den Glauben seiner Bürger dazu hernimmt, sie als nützliche Idioten zu "sozialen Opfern" anzuhalten (in den Mutterländern des Faschismus waren die C-Gruppen die tragenden Kräfte des Wiederaufbaus), stellt in Amerika jeder Gläubige seinen Glauben zur Schau, damit niemandem entgehe, wie gemeinnützig er selbst und deswegen die Verfolgung seiner individuellen Anliegen je schön ist. Nicht einmal der Präsident, der ja wahrlich mit Weltwirtschaftsgipfeln, dem Kommando von drei Waffengattungen und seiner Familie alle Hände voll zu tun hat, mag darauf verzichten, ab und zu mal öffentlich zu beten. Die Vervollkommnung religiöser Heuchelei zur professionellen Bigotterie ist im Lande der Laienprediger kein Privileg der staatlich subventionierten Pfaffen. Deswegen hat der liebe Gott, dem hierzulande immer wieder der nötige Respekt verschafft werden muß, in den USA dauernd Hochkonjunktur. Blöd kommt sich dabei deswegen keiner vor, weil letztlich auch der Glaube ein privates Volksbegehren ist und die Religion eine große Bürgerinitiative von lauter amerikanischen Gotteskindern.

Die Entfaltung der Individualität ist in Amerika also eine sehr einfältige Angelegenheit. Sie macht zwar nicht alle Individuen gleich erfolgreich, nivelliert sie aber in der Art ihrer Borniertheit. Die Befolgung, ja der Genuß der nationalen Verkehrsformen bewirkt, daß die Unterschiede, wenn überhaupt, nur noch graduell sind. Das non plus ultra eines besonderen Charakters ist für die Amerikaner ein besonders amerikanischer Charakter; er ist Gegenstand künstlerischer Phantasie, wird kultiviert und dient als Gegenstand der Verehrung der nationalen Unterhaltung. Doris Day, Clark Gable, Jerry Lewis und John Wayne verkörpern allesamt abwechselnd und gemeinsam amerikanischen Materialismus und amerikanische Tugenden — und dabei bleibt auch kein europäisches Auge trocken. Hollywood macht gute Filme, insofern sich seine künstlerischen Ambitionen ganz darauf beschränken, amerikanische Formen der Dummheit und Liebenswürdigkeit, der Größe und des Scheiterns der Illusion und der Enttäuschung in Charakteren zu bebildern, die unabhängig vom Ausgang der Story moralische Lehren sind. Genauso ist es, sagt das Volk, wenngleich nicht so übertrieben. Das hat die Macher von Hollywood schon fast zu Kritikern der amerikanischen Kultur werden lassen (und in der McCarthy-Ära wurden sie sogar als Intellektuelle mit unamerikanischen Umtrieben behandelt), nur weil sie von Doris Day die gespreizten, exaltierten, idiotischen und doch verständnisheischenden Verrenkungen amerikanischer Weiber darstellen ließen; weil sie an den männlichen Stars die tragischen Geschichten gutwilliger, leistungsfähiger, verkannter und schließlich doch noch erkannter Helden des american way of life vorführten; weil sie auch das Verbrechen als Handwerk, als individuelles Geschick und Leistung des Verbrechers vorstellig gemacht haben; weil sie in Jerry Lewis und Woody Allen das positive und das negative Ideal des Tolpatschs herausgebracht haben, an dem sich Amerikaner belächeln können, zumal die Intellektuellen, die das liebenswürdige Denkmal eines unpraktischen Trottels gerne goutieren; kurzum: weil sie Meister der, amerikanischen Psychologie sind — im Unterschied zu einem Charlie Chaplin, der auch in Amerika vom europäischen Mitleid nicht lassen wollte. In den Cartoons schließlich erlebt die ironische Selbstbeweihräucherung ihre Höhepunkte. Unschuldige Tierfiguren repräsentieren die Charaktermasken des Business, jede Gestalt ist unverbesserlich und stellt sich doch mit ihrem Charakter immer wieder ein Bein. Charlie Brown mit seinem Zickzackhemd liefert als bemitleidenswerter Idiot, als Dummer, den Gescheiten den Stoff zum Lachen. In den USA hat also der Marxismus — zumindest kulturell gesehen — keine Chance, schon eher der Feminismus und die Zeitschrift Ebony, Bewegungen also, die sich gegen die Diskriminierung in der Konkurrenz wenden und sich dabei schwer tun, ein anerkanntes Geschäft aus sich zu machen, überhaupt ist eine Bewegung in den USA nichts Anständiges, solange kein professioneller Darsteller der amerikanischen Individualität an ihrer Spitze steht. Jane Fonda führt mit ihrer Person die nötigen Beweise gegen Atomkraftwerke und Vietnamkrieg, Marlon Brando diejenigen für unterdrückte Indianer, und Ronald Reagan steht wie einst John Wayne für Rechtsradikalismus gerade.

Die amerikanische Massenkultur liefert also den besten Beweis dafür daß eine erfolgreiche Nation ihr Volk nicht zu gängeln braucht. Die Kulturproduzenten sind sich mit den Konsumenten ziemlich einig, worum es geht. Daß die einen ein Geschäft aus der Produktion machen, kommt der Konsumtion überhaupt nicht in die Quere. In den USA kann und soll ein jeder, dem der Erfolg als Lohnarbeiter oder Geschäftsmann Recht gegeben hat (die anderen zählen dort nicht), die Welt so sehen, wie er sie sieht, danach handeln, dadurch die Wohlfahrt der Nation befördern und sich eine neue Chance verschaffen. So sehen alle Amerikaner, auf die es ankommt, die Welt auch gleich.

Kein Problem besteht in einem solchen Land für die Behörden darin, daß sie zügelloser Kritik, die auch noch gefährlich werden könnte, Schranken setzen müssen. Ohne Zügel gerade sind die Instrumente der öffentlichen Meinung konstruktiv, und ein öffentlich-rechtliches Fernsehen, in welchem Parteifiguren Redakteure betreuen, bemuttern und von wegen Unausgewogenheit bejammern, wäre in den Vereinigten Staaten lächerlich. Die öffentliche Meinung funktioniert nämlich so, wie sie soll, solange sie ein Geschäft bleibt — von Unterhaltungsprofis, Meinungsmachern und Konkurrenten um die Macht betrieben. Daß ein Sender samt Personal käuflich ist, und zwar für einen Präsidentschaftskandidaten ebenso wie für Coca Cola, gereicht ihm zur Ehre — zu was denn sonst. Und sooft die Konkurrenz sich durchsetzt, so ist das ein Beweis für die Lebendigkeit und Freiheit des kritischen Geistes.

Die Weltmacht Nr. l duldet eben nur ihre e i g e n e n Alternativen als kritische Instanz.