„Zeitenwende“ – Was Deutschland dafür jetzt alles braucht
Die von der Regierung ausgerufene, von der großen Oppositionspartei prinzipiell begrüßte und von der professionellen Öffentlichkeit stets vermisste Zeitenwende ist erklärtermaßen ein auf Jahre angelegtes Projekt. Schon jetzt lassen die politischen Macher keinen Zweifel, dass der auf die Stärkung des deutschen Militärs gemünzte Imperativ darüber hinaus für sämtliche Abteilungen des nationalen Gemeinwesens Folgen hat: In den Tagesnachrichten machen sie das Volk damit bekannt, was Deutschland für seine Zeitenwende sonst noch alles braucht – sofort, auf Dauer, unbedingt.
Aus der Zeitschrift
Teilen
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- I. Ein kriegstauglicher Staatshaushalt als kapitalistischer Normalzustand
- II. Eine neue Rüstungsexportpolitik mit Zweigstellen im Fernen Osten
- III. Eine Beschaffungsinitiative zum Aufbau europäischer Abschreckungsmacht: „European Sky Shield Initiative“ (ESSI)
- IV. Eine militärische Machtdemonstration im und mit dem Bündnis: „Air Defender 2023“
- V. Eine Nationale Sicherheitsstrategie: „Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig.“
- VI. Eine ständige Vornepräsenz einer robusten Bundeswehrbrigade in Litauen: „Gelebte Zeitenwende“ (Pistorius)
„Zeitenwende“ – Was Deutschland dafür jetzt alles braucht
Die von der Regierung ausgerufene, von der großen Oppositionspartei prinzipiell begrüßte und von der professionellen Öffentlichkeit stets vermisste Zeitenwende ist erklärtermaßen ein auf Jahre angelegtes Projekt. Schon jetzt lassen die politischen Macher keinen Zweifel, dass der auf die Stärkung des deutschen Militärs gemünzte Imperativ darüber hinaus für sämtliche Abteilungen des nationalen Gemeinwesens Folgen hat: In den Tagesnachrichten machen sie das Volk damit bekannt, was Deutschland für seine Zeitenwende sonst noch alles braucht – sofort, auf Dauer, unbedingt.
I. Ein kriegstauglicher Staatshaushalt als kapitalistischer Normalzustand
Der neue Shootingstar der Regierung, Verteidigungsminister Pistorius, vermeldet, dass der Beschluss zur Aufrüstung und Ausweitung der Bundeswehr keine einmalige Angelegenheit, keine kurzfristige Behebung eines aktuellen Mangels ist, sondern ein dauerhaftes Projekt mit einer sehr bekannten Zielmarke:
„Es geht darum, das Zwei-Prozent-Ziel im Durchschnitt der nächsten Jahre zu erreichen. Außerdem werden wir das Sondervermögen in die Berechnung mit einbeziehen. Die zwei Prozent setzen sich also aus dem jährlichen Verteidigungsetat und den jeweiligen Ausgaben aus dem Sondervermögen zusammen.“ (Pistorius)
Was so defensiv als Widerruf vorheriger Zögerlichkeit und Erfüllung der eigentlich längst überfälligen Ausgabenverpflichtungen im NATO-Bündnis daherkommt, ist eine Ansage bezüglich Wille und Fähigkeit Deutschlands. Denn zwei Prozent Verteidigungsausgaben sind, weil in Form des BIP aufs nationale Wachstum bezogen, keine Kleinigkeit, sondern als gewaltige Investition in den eigenen Gewaltapparat der projektierte Aufstieg zur europäischen militärischen Führungsmacht. Durchaus sachgerecht ist im begleitenden Streit mit der Opposition und in der Öffentlichkeit das einzige Thema, ob die Verrechnung des Sondervermögens mit dem jährlichen Verteidigungsetat auch hinhaut oder nicht doch schöngerechnet ist; die nationale Notwendigkeit muss gar nicht erläutert werden, weil sie unterstellt und von allen Regierungsparteien inklusive CDU/CSU-Opposition geteilt ist. Fest steht ebenso, dass das problemlos geht. Alle Regierungsverantwortlichen verbuchen die zusätzliche Verschuldung für die Aufrüstung nicht als Belastung für die Kreditwürdigkeit des Staates, sondern gleich als gesichertes Guthaben, als Vermögen, über das sie frei verfügen, bei dem einzig die Frage ist, wann und wie es aufgebraucht wird. Alle Seiten sind sich sicher, dass Schulden, die explizit für den militärischen Aufstieg der Nation aufgenommen werden, grundsolide sind und die Verschuldungsfähigkeit des Staates in keiner Weise mindern. Wenn die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt in den Ausbau ihrer Gewaltmittel investiert mit dem Ziel, sich so unbestreitbare internationale ‚Handlungsfähigkeit‘ zu verschaffen, den Rest Europas militärisch in die eigenen Direktiven einzuordnen und sich so als wichtiges, mitbestimmendes NATO-Mitglied anerkannte Weltordnungskompetenz zu verschaffen: dann ist dieses sehr gehobene Niveau an Durchsetzungsmacht für Finanzkapitalisten ein unschlagbares Argument, auf ihre Schuldnerqualität und ihr Kreditgeld zu vertrauen.
Für Wachstum wird damit auch noch gesorgt: Den deutschen Rüstungsunternehmen wird mit der eigenen Aufrüstung, dem gestiegenen Bedarf der NATO-Partner und weiterer Nationen ein sicheres gigantisches Wachstumsfeld organisiert. Insgesamt gilt: Von dem entschiedenen Interesse der Finanzinvestoren an diesen Staatsanleihen – und der darin enthaltenen positiven Wirkung auf den Euro – will und kann die politische Klasse einfach ausgehen.
Auf der Basis der so beanspruchten Freiheit zu kreditfinanzierter Aufrüstung, zugleich getrennt davon, setzt der Finanzminister für den Haushalt, aus dem das Sondervermögen Bundeswehr ausgeklammert ist, die Einhaltung der Schuldenbremse auf die Tagesordnung:
„Was wir tun müssen, ist, wieder Einnahmen und Ausgaben dieses Staates in eine Balance zu bringen. Wir sind gefordert, Haushaltspolitik wieder aus den Augen der Kinder zu betreiben, die auch einen handlungsfähigen Staat erwarten dürfen. Was wir tun müssen, ist Kinder-Zukunftssicherung dadurch, dass wir nicht dauerhaft den Staat in seinen Finanzierungsmöglichkeiten überfordern.“ (Lindner)
Im Klartext: Ein finanziell handlungsfähiger Staat mit dauerhaft soliden Finanzierungsmöglichkeiten hängt an seiner Verschuldungsfähigkeit, also an der Kreditwürdigkeit, die der Staat im Urteil der ‚Finanzmärkte‘ hat. Und für diese Instanz sind viele Schulden per se kein Problem, solange der Staat mit ihnen ein kapitalistisches Wachstum herbeiregiert; die gelaufene und erwartete Ertragskraft der nationalen Reichtumsvermehrung rechtfertigt diese Schulden. Die Schuldenbremse selbst bezieht sich auf dieses Verhältnis, indem sie die erlaubte Neuverschuldung nicht in Beziehung zu irgendwelchen staatlichen Einnahmen, sondern zum nationalen BIP setzt. Indem der Staat so das Wachstum des BIP als Schranke seiner Freiheit zur Kreditaufnahme behandelt, macht er die Beförderung dieses Wachstums zu dem Zweck, dem die Ausgaben zu dienen haben, für die er sich verschuldet.
Der Imperativ „Wachstum“ ist die übergeordnete Prämisse für den Haushaltsplan, in dem alle Staatszwecke untereinander verrechenbar sind, aneinander relativiert und schließlich – materialisiert in wachsenden oder sinkenden Haushaltsanteilen – hierarchisiert werden. Ausgaben, die direkt das Wachstum fördern sollen, sind da erst einmal gut; die milliardenschwere Förderung einer „klimaneutralen“ Industrie und der nationalen Chipindustrie z.B. muss auf jeden Fall sein. Wo Zweifel am Beitrag zum Wachstum bestehen, vor allem bei Ausgaben sozialer Art, macht Lindner die Schuldenbremse als Schranke geltend: Hier ist „Sparen!“ angesagt, und mit der folgenden Debatte in Sachen „Wo?“ und „Was?“ landet Deutschland in einem Streit der Minister, in dem um Budgets und deren sinnvollen Einsatz gerechtet wird; also bei einer ganz selbstbezüglichen Auseinandersetzung über Recht und Unrecht von diversen Sonderinteressen und ihrer gesellschaftlichen Relevanz.
So arbeitet sich Deutschland auf die Erfüllung seiner finanziellen Selbstverpflichtung hin, und das ist dann gar nicht mehr selbstbezüglich, sondern gleich eine Vorgabe für die europäischen Partner.
„Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) dringt auf schärfere Regeln zum Schuldenabbau in Europa als bisher von der EU-Kommission geplant. Das geht aus einem Papier des Bundesfinanzministeriums an die Brüsseler Behörde [her]vor. Eine Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes könne ‚nicht akzeptiert werden‘, hieß es dazu am Donnerstag aus Ministeriumskreisen.“ (faz.net, 6.4.23)
Deutschland verordnet so das Ende der ‚Krisenlage‘, die seit Anfang der Corona-Pandemie andauert und in der die europäischen Staaten sich eine größere Verschuldung genehmigt haben, um ihre nationalen Ökonomien am Laufen zu halten. Die fällige Verschärfung der Regeln setzt Deutschland faktisch in Kraft, ganz ohne auf zwischenstaatliche Regelung oder Absprache angewiesen zu sein: dadurch, dass es mit der Aufnahme neuer Staatsanleihen für einen wachstumsorientierten Haushalt den Maßstab setzt, an dem alle anderen europäischen Staatsanleihen gemessen werden und mit dem sie in Form von Zinsaufschlägen zu kämpfen haben. Darüber hinaus unterstreicht Deutschland mit der Wiedereinhaltung der Schuldenbremse seinen Status als Garant für die Solidität der Gemeinschaftswährung und beansprucht als solcher die Rolle, die Verschuldung der restlichen europäischen Mächte unter Aufsicht zu nehmen. Die soll nämlich keine Schwächung, sondern muss ein Beitrag zur Stabilität und Stärkung des Euro sein.
Mit der Kombination von – erstens – Schuldenbremse einschließlich der in ihr steckenden Aufsicht über die Stabilität des Euro und – zweitens – dem Projekt „Zeitenwende“ stellt sich Deutschland doppelt auf: Der solide Haushalt und das milliardenschwere Projekt der Eroberung einer kontinentalen Ausnahmestellung seines Militärs unterstreichen Deutschlands neue Normalität als ökonomische und militärische Führungsmacht Europas.
II. Eine neue Rüstungsexportpolitik mit Zweigstellen im Fernen Osten
Der Verteidigungsminister reist nach Indonesien und Indien und kehrt mit „milliardenschweren Rüstungsprojekten“, vor allem der Aussicht auf ein „Abkommen über den Bau deutscher U-Boote in Mumbai“ zurück. Eine künftig „verstärkte sicherheitspolitische Kooperation mit neuen Partnerländern in Asien“ ist für den politischen Chef der Bundeswehr ein „logischer nächster Schritt“: Logisch, inwiefern?
Mehr Waffenexporte nach Asien sind demnach eine fällige, ja überfällige Antwort auf den Ukraine-Krieg. Pistorius zitiert Zahlen, denen zufolge Indien die Hälfte seiner Gewaltmittel in Moskau einkauft, erklärt das zu einer – offenbar unerträglichen – „Abhängigkeit Indiens von Russland“ und im selben Atemzug den eigenen Willen, sie „mit einer vertieften strategischen Partnerschaft im Rüstungsbereich zu reduzieren“. Dass der aktuelle Hauptfeind überhaupt noch diesen Markt hat, auf dem er seine Kriegskasse füllt, ist ein Skandal: Das Interesse Deutschlands, sämtliche (Geld-)Quellen russischer Macht auszutrocknen, ist der erste gute Grund, die Geschäfte mit Indien, dem zurzeit größten Rüstungsimporteur der Welt, zu intensivieren. Negativ gilt es, der russischen Industrie maximale Einbußen zu bescheren und der feindlichen Staatsmacht ihre bis dato bestehenden guten, auch strategisch wertvollen Außenbeziehungen kaputtzumachen; positiv folgt daraus der Auftrag, selber an die Stelle dieses Lieferanten zu treten. Gerade weil die Exporte gen Fernost im globalen Vergleich noch recht mager ausfallen, soll „Indiens gewachsener Sicherheitsanspruch und Bedarf an Diversifizierung“ der Bezugsadressen für Kriegsgerät jeden Kalibers das Einfallstor sein, sich selbst um die Stiftung von Abhängigkeit zu bemühen und die wuchtige Macht – inzwischen bevölkerungsreichstes Land und fünftgrößte Volkswirtschaft der Erde – ein Stück weit in das antirussische Lager einzureihen. Ähnliches gilt gegenüber Indonesien.
Als „geopolitische Kraftzentren im Indopazifik“ sind beide Nationen auch gegen China wichtig. Sie mit weiterer militärischer Potenz auszustatten, ist eine Ansage an den sog. „systemischen Rivalen“, der indopazifische Gewässer als seine Hemisphäre reklamiert. Den geplanten U-Boot-Deal lobt der Verteidigungsminister als Beitrag zur „Freiheit der Schifffahrt“ auf den Weltmeeren und als Baustein „regelbasierter Sicherheits-Architektur“, wie der westliche Imperialismus das eigene weltumspannende Aufsichtsinteresse zu nennen pflegt. Der Wille zur Eingliederung der Regionalmächte in unseren Indopazifik gebietet es, dass Deutschland seine Regeln ändert, und dafür drückt Pistorius aufs Tempo: Damit Indien „ohne aufwendige Genehmigungsverfahren bei uns einkaufen kann“, soll es zum „strategischen Partner“ aufsteigen und denselben Status wie Alliierte aus NATO und EU bzw. Japan und Australien erhalten; prinzipiell verlangt der Minister eine „weitreichende Erleichterung deutscher Waffenexporte“. Die als zu „restriktiv“ geltende Praxis politischer Ausfuhrkontrollen kritisiert er qua Amt als Fessel eines weiterreichenden deutschen Zugriffs auf die Gewaltaffären der Staatenwelt.
Kernstück des „Aufbaus sicherheitspolitischer Partnerschaften im Indopazifik-Raum“ ist der anvisierte Verkauf von sechs deutschen U-Booten aus dem Hause „ThyssenKrupp Marine Systems“ (TKMS) für 5,2 Milliarden US-Dollar, die in den indischen „Mazagon Dock Shipbuilder“-Werften produziert werden sollen. Wobei der Reiz des Geschäfts in der speziellen Natur der Ware liegt, die über den Ladentisch geht. Die Ausstattung Indiens mit höchsten Souveränitätsmitteln, die es selber nicht herstellen kann, soll Deutschlands materieller Hebel sein, politischen Einfluss auf den Empfängerstaat zu gewinnen. Beim sog. „Technologie-Transfer“ von Kriegsgerät, das laut Experten „selbst nuklearbetriebene U-Boote übertrifft und für den militärisch entscheidenden Vorsprung im Indopazifik sorgen kann“, setzt Deutschland auf seine exklusive Weltmarktstellung auf dem Feld der mit Brennstoffzellen angetriebenen U-Boote. Es nimmt in Gestalt von TKMS am Bieterwettbewerb um das Outsourcing der Produktion teil, die dann in indischen Fabriken mit indischen Lohnarbeitern stattfinden soll. Als Lieferant solch spitzenmäßiger Waffensysteme will sich Deutschland zum unverzichtbaren Bestandteil von Indiens Rüstungsproduktion auf- und in dessen Militärpolitik einbauen. Das Geschäft als Türöffner für Einfluss auf die strategischen Kalkulationen der Indopazifik-Staaten – das ist der Anspruch. Außer dem gepriesenen 5,2-Milliarden-Deal bringt der Bundesverteidigungsminister ein Abkommen über ein gemeinsames See-Manöver 2024 mit nach Hause.
Daran knüpft sich ein Kollateralnutzen sowohl für den deutschen Kapitalismus als auch für den Haushalt des Staates. Erstens ist die aktuell hervorragende Auftragslage für hiesige Rüstungsfirmen eine Gelegenheit, den Weltmarkt als ihre verlängerte Werkbank zu nutzen und anderswo fertigen zu lassen. Sie verwandeln damit Teile der „riesigen Vorschüsse für Forschung und Entwicklung“ in lohnendes Geschäft; und der Kapitalexport steigert ihre Finanzmacht für Investitionen in die Produktion neuer Premium-Gewaltmittel. Zweitens ist das nicht nur ein willkommenes Plus der deutschen Außenhandelsbilanz und darin ein fetter Beitrag zum nationalen Wachstum; der Technologietransfer senkt auch die notwendigen, aber immerzu unproduktiven Kosten für die Aufrüstung der Republik. Und er ist ein Beitrag zur Stabilität der eigenen Währung, in der sich der Staat verschuldet: Nicht zuletzt die Potenz in Sachen Gewalt macht das Geld der Nation attraktiv.
Zur Gründung solcher Partnerschaften wie mit Indien sagt Pistorius in der Tagesschau: „Dies könnte ein Leuchtturmprojekt werden.“ Für das deutsche Anliegen, die Potenz des militärisch-industriellen Komplexes zum Mittel einer strategischen Zuordnung der Staatenwelt zu machen, haben diese Milliardengeschäfte in der Tat Modell-Charakter.
III. Eine Beschaffungsinitiative zum Aufbau europäischer Abschreckungsmacht: „European Sky Shield Initiative“ (ESSI)
Deutschland vermeldet einen weiteren Erfolg seiner Zeitenwende: Die beiden neutralen Staaten Österreich und die Schweiz treten dem deutschen Projekt European Sky Shield Initiative (ESSI) bei und erhöhen die Mitgliederzahl auf mittlerweile neunzehn. Mit dieser Initiative will Deutschland den eigenen Aufrüstungsbedarf mit seiner in Europa einzigartigen Finanzmacht kombinieren und zum Hebel für „politische, finanzielle und auch technologische Synergieeffekte“ (die ehemalige Verteidigungsministerin Lambrecht) machen. Es stellt klar, dass ein europäischer Raketenabwehrschirm gegen Russlands Raketen dringend nötig ist, identifiziert gewisse „Fähigkeitslücken“ im Bereich der bodengestützten Raketenabwehr und präsentiert eine Einkaufsliste von entsprechenden Abwehrsystemen. Für Lang- und Mittelstreckenraketen besorgt es sich das knapp vier Milliarden Euro teure israelisch-amerikanische System Arrow 3; für kleinere Reichweiten sollen es modernisierte amerikanische Patriot- bzw. deutsche IRIS-T-Systeme sein. Zur europäischen Sache wird das Ganze dadurch, dass Deutschland seine Aufrüstung zu einer europäischen Beschaffungsinitiative erweitert. Die europäischen Nachbarn sind eingeladen, ihren eigenen Bedarf mit einzubringen und über eine organisierte Massenbestellung günstiger zu bedienen, d.h. sich auf die Weise mit Systemen für eine effektive Luftraumverteidigung einzudecken, die sie sich sonst nicht hätten leisten können. So ökonomisiert Deutschland erstens seine eigene Bestellung und stellt zweitens sicher, dass deutsche Systeme für die kleineren Reichweiten entsprechend Absatz bekommen. Die Kritik aus Frankreich und Italien ist nicht nur deswegen heftig, weil ihre bereits verfügbaren und die in Entwicklung begriffenen Raketenabwehrsysteme (Sam/T, Aster 30 2 und Twister) kein Bestandteil der kollektiven Investition sind. Gerade Frankreich bemerkt sofort, dass Deutschland sich mit diesem Vorstoß – drittens – perspektivisch zum Subjekt einer übernationalen europäischen Abschreckung machen will – die gemeinsam beschafften Systeme entfalten schließlich erst in einem koordinierten Einsatz ihr wahres Potenzial. Deutschland unterläuft damit das Projekt einer unter dem militärischen Schutz Frankreichs versammelten europäischen Staatenwelt. Seine Initiative will es im Unterschied zu Frankreich explizit als Bestandteil eines europäischen NATO-Pfeilers verstanden wissen; und wenn sich dafür unter den 19 ESSI-Mitgliedern auch zwei Nicht-NATO-Staaten einbinden lassen, unterstreicht das nur umso mehr die Fähigkeit Deutschlands, eine militärpolitische Führungsrolle für alle Staaten des Kontinents zu übernehmen und auch auf diese Weise das eigene Gewicht in der NATO zu stärken.
IV. Eine militärische Machtdemonstration im und mit dem Bündnis: „Air Defender 2023“
Mit der Zeitenwende ist die nationale Selbstkritik üblich geworden, dass die Bundeswehr aus Gründen „prorussischer Naivität“ in Sachen militärischer Destruktivkraft heruntergewirtschaftet wurde und nun „blank“ dasteht. In dieser maßlosen Untertreibung zeigt sich der hohe Anspruch des neuen Standpunkts, der seine tiefe Unzufriedenheit mit der deutschen Kriegsfähigkeit ausdrückt. An der Bereitschaft, mit dem vorhandenen Kriegsgerät zu üben, um es bei Bedarf gegen Russland einzusetzen, hat es jedenfalls nie gefehlt. Als ein bedeutender Alliierter der USA in der NATO ist die BRD in deren dichten Terminkalender, Abteilung Abschreckung Russlands per Manöver, seit jeher eingebunden; in denen wurden und werden umfassende Bedrohungslagen inszeniert und spezielle Kriegslagen geübt, um sie im Ernstfall besser als der Feind zu beherrschen. [1] Denn die politische Handlungsfreiheit von Amerika und Europa, ihre Interessen bis an Russlands Westgrenze auszudehnen, beruht unter anderem auch auf diesem Zusammenwirken. Seit Präsident Putin entschieden hat, sich die militant-antirussisch gewendete, von der NATO aufgerüstete Ukraine nicht mehr bieten zu lassen, sondern einzumarschieren, haben die USA und die Verbündeten entschieden, „Sicherheit nicht mehr mit Russland“ – so der verlogene Rückblick –, „sondern vor und gegen Russland zu organisieren“. An den dafür fälligen Manövern nimmt die Bundeswehr mit allen Waffengattungen an der Frontlinie der NATO teil, vom hohen Norden Finnlands bei Arctic Challenge Exercise, im Ostseeraum bei BALTOPS, in Litauen bei Griffin Storm und vor der Küste Kroatiens bei Neptun Strike; immer gedeckt durch bzw. im Verbund mit dem modernsten und größten US-Flugzeugträger Gerald R. Ford auf seiner ersten monatelangen „Kampf-Einsatzfahrt“ in Europa.
Darüber hinaus will die Bundesregierung als ein potentes Bündnismitglied deutlicher wahrnehmbar „Verantwortung übernehmen“, „auf die die Bündnispartner dies- und jenseits des Atlantik bauen können“. Sie erklärt sich zuständig „für unsere gemeinsame Sicherheit in Europa und der NATO“. Den Alliierten und ganz besonders der Bündnisvormacht führt sie vor, dass „wir verteidigungsfähig und bereit sind, dass wir übungsfähig sind, dass wir die Streitkräfte zusammenführen können und dass Deutschland als Host Nation oder in diesem Fall als Leading Nation eine zentrale Rolle dabei spielt“ (Verteidigungsminister Pistorius). Dass Deutschland über die Entschlusskraft verfügt sowie über die sachliche und personelle Ausstattung, die es braucht, um als eine Führungsnation mit abschreckender Gewalt innerhalb der westlichen Kriegsallianz zu beeindrucken, demonstriert es mit dem Großmanöver
AIR DEFENDER 23 – ‚Stronger together‘ [2]
Das Manöverszenario ist fiktiv-überdeutlich: Der Feind ist entlang des NATO-Narrativs konstruiert, wonach der staatsverbrecherische Eroberungswille Putins der einzig wahre Leitfaden seiner Außenpolitik ist und schwache Staaten für ihn die Gelegenheit zur Beute darstellen:
„Ein östliches Militärbündnis namens Occasus greift nach jahrelanger Konfrontation das Bündnisgebiet der NATO an. Occasus hatte zunächst seine Energielieferungen verknappt und über Sympathisanten in Deutschland die öffentliche Debatte manipuliert. Dann überfiel Occasus das Land Otso, das nicht zur NATO gehört. Nun greifen die regulären Truppen von Occasus zusammen mit der Organisation Brückner Deutschland an. Ein Viertel des Landes ist bereits besetzt, im Ostseeraum um Rostock rückt der Feind vor, um Flug- und Seehäfen einzunehmen.“
Die „kollektive Selbstverteidigung“ gemäß NATO-Vertrags-Artikel 5 rollt an.
Die Bundeswehr organisiert die größte Verlegeübung von Luftstreitkräften seit Bestehen der NATO. Im Rückgriff auf die hochentwickelte militärische Infrastruktur von etlichen Fliegerhorsten und dem Heimatstandort des Hauptquartiers der NATO-Luftstreitkräfte sowie einem der beiden Hauptgefechtsstände zur NATO-Luftverteidigung versammeln sich um die 250 Flugzeuge aus 25 Ländern, rund 100 amerikanische und etwa 60 deutsche, die im deutschen, polnischen und tschechischen Luftraum sowie über internationalem Gewässer entlang Russlands Grenzraum in Nord- und Ostsee und dem Schwarzen Meer in Aktion treten.
Die Medien bereiten für das mit militärischen Notwendigkeiten der Zeitenwende vertraut zu machende Volk das Manöver als Großspektakel mit interessanten organisatorischen, technischen und menschlichen Details auf. So wird der staunende Zivilist ausführlich und ohne Angst vor Wiederholungen mit der schieren Dimension dieser militärischen Unternehmung vertraut gemacht, Informationen werden ausgebreitet über die Anzahl der beteiligten Militärs und Gerätschaften, über den Spritverbrauch, über die sich aus der Größe des Manövers ergebenden Anforderungen an die Logistik und Abstimmung usw. Mit nichts kann der Laie wirklich etwas anfangen, aber was deutlich werden soll, wird deutlich genug: „Sein“ westliches Bündnis kleckert nicht, sondern klotzt. Auch in die taktisch-technischen Details darf man sich einführen lassen: darüber, wie professionell Jäger und Bomber – unterschiedliche Kategorien von Militärflugzeugen, über die man auch gleich noch belehrt wird – „Jet-Fights“ untereinander trainieren, außerdem darüber, dass Fallschirmspringer bei Rostock „kritische Infrastruktur“ zurückerobern, und darüber, wie gekonnt die Piloten ihre Maschinen ganz weit oben oder auch ganz tief unten fliegen lassen. Bei allen diesbezüglichen Rekord- und Erfolgsmeldungen – das geplante Quantum der 2 000 Einsätze ist zu 90 Prozent absolviert worden, was dem Publikum sogleich als „ein Spitzenwert“ eingeordnet wird – kommt auch die menschliche Komponente nicht zu kurz: Der deutsche Manöverchef wird zum Star stilisiert – „Unser deutscher Top-Gun-General!“ (Bild) –, der nicht nur die Bewunderung des Publikums verdient, sondern auch die Zuneigung der seinem Befehl unterworfenen Mannschaften, weil er eines der ganz seltenen Exemplare eines Dreisterne-Generals ist, der sein tödliches Waffensystem noch selber beherrscht: „Seine 28 000 eigenen Soldatinnen und Soldaten lieben ihn, wird oft betont.“ (Focus) Der Spiegel sieht in dem Luftwaffeninspekteur das aktuell nötige Vorbild, den „Mister Zeitenwende“. Wer sich weniger an den Größenordnungen der militärtechnischen Potenzen und den Tugenden des eingesetzten Personals erfreut, sondern wissen will, was die Manöversituation für den Gang der zivilen Dinge bedeutet, kommt gleichfalls auf seine Kosten: „Der zivile Luftverkehr ist in nur geringem Maße gestört worden“, sogar die „Nacht- und Wochenendruhe“ haben die Militärmaschinen eingehalten. Und der Teil des Publikums, der sich fragen könnte, ob so ein Manöver dieser Größenordnung in dieser Zeit nicht ein wenig nach Eskalation aussieht, der bekommt gleichfalls, was er an Aufklärung braucht: „Diese Übung ist nicht auf Aggression oder Eskalation angelegt, wir machen keinerlei Flüge in Richtung Kaliningrad.“ Unterm Strich: Auch dieses Großmanöver zeigt uns, was zur neuen Normalität des Lebens der Bürger der die berühmten „zwei Flugstunden von Kiew“ entfernten Macht Deutschland gehört.
Aber natürlich wird das Manöver nicht wegen dieser Botschaften ans zivile Publikum veranstaltet, sondern hat seine eigenen Zwecke. Zum einen ist es eben dies: ein Training der Fertigkeiten einer kollektiven Kriegsführung, wie die Bundesregierung betont:
„Die taktische und technische Interoperabilität ist ebenso wie die glaubhafte Demonstration von kriegstauglichen, durchsetzungsfähigen und schlagkräftigen Luftstreitkräften ein zentrales Element einer wirksamen Abschreckung.“
Geübt wird die Organisation und Versorgung, um innerhalb kürzester Zeit eine transatlantische Luftbrücke mit deutschem Brückenkopf für die entscheidenden amerikanischen Fliegerstaffeln zustande zu bringen; und geübt wird der vielfältige Zusammenschluss der Verbündeten zu einer arbeitsteiligen operativen Einheit für die Wechselfälle in einem Luftkrieg; und das unter den realen geographischen Gegebenheiten westlich von Russland und – für den ambitionierten Veranstalter besonders wichtig – mit der dafür prädestinierten Macht Deutschland als Dreh- und Angelpunkt in einem komplexen Kriegsszenario mit dem Inhalt, eine etwaige Offensive Russlands überlegen abzuwehren.
Mit diesem Großtraining wird zum anderen die Bereitschaft zu einer direkten Konfrontation mit Russland demonstriert und bekräftigt, wie der Kanzler mit warnenden Worten betont:
„Es geht darum, dass die Aussage auch ernst genommen wird von allen, dass wir bereit sind, jeden Zentimeter unseres Territoriums zu verteidigen.“
Termin und Umfang von AD23, vor längerer Zeit beschlossen und ursprünglich deutlich kleiner angelegt, haben in Zeiten des Ukraine-Kriegs einen neuen Stellenwert bekommen. Das Manöver ist die Gelegenheit, dass die NATO als Partei machtvoll auf dem europäischen Schauplatz in Erscheinung tritt und entschlossene Kriegsbereitschaft zeigt. Dass mit Deutschlands Hilfe die NATO gleichsam aus dem Stand ihren Einsatz im „Ernstfall“ organisieren kann, ist die demonstrative Klarstellung, was Russland erwartet, wenn es wagen sollte, die Grenzen der Ukraine auch nur einen Zentimeter zu überschreiten.
Angesichts des laufenden, gigantisch dimensionierten Abnutzungskrieges zwischen der vom Westen bewaffneten Ukraine und Russland mag es als schlechter Witz erscheinen, wenn der Chef der NATO anlässlich des Luftkriegsmanövers jeden Willen zu irgendeinem ‚Konflikt‘ dementiert:
„Wir machen das nicht, um einen Konflikt zu provozieren, sondern um einen Konflikt zu verhindern. Solange jeder mögliche Gegner weiß, dass die NATO insgesamt da ist und schnell mit Luftstreitkräften verstärken kann, wird es keinen Angriff geben.“ (Stoltenberg) [3]
Tatsächlich ist eine solche Zurückweisung jedes Verdachts eines Willens zum Konflikt kein Witz, sondern der zur forcierten Kriegsvorbereitung passende diplomatische Verweis auf die natürlich nur guten, friedenssichernden Absichten; und dem Inhalt nach eine einzige Drohung mit der überlegenen Macht einer Kriegsallianz, die unter ihrer amerikanischen Führungsmacht schon während des noch laufenden Krieges gegen Russland eine weitere Front im Blick hat:
„Das Wargame hat Russland, hat China im Blick... Alliierte Befehlshaber zum Beispiel gewinnen wertvolle Lehren für die Abschreckung potenzieller russischer und chinesischer Aggressionen... Die gewonnenen Erkenntnisse werden nicht nur für die Verteidigung Europas genutzt, sondern auch für den Schutz von Verbündeten wie Südkorea und Japan vor Gegnern wie China, sagte Generalleutnant Michael A. Loh, Direktor der U.S. Air National Guard, die 100 Flugzeuge, darunter strategische B-1-Bomber und F-35-Kampfjets, für die Übungen zur Verfügung stellte.“ (The Wall Street Journal, 20.6.23)
V. Eine Nationale Sicherheitsstrategie: „Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig.“
Deutschland feiert Premiere: Stolz präsentiert die Bundesregierung ihrer Nation nicht nur ein sicherheitspolitisches Weißbuch, sondern eine ganze Strategie der „Integrierten Sicherheit für Deutschland“. [4] Der Kanzler und seine zuständigen Minister erklären bei der dafür einberufenen Pressekonferenz, wie nötig Deutschland eine solche Strategie hat, wie vortrefflich sie als Ampel-„Fortschrittskoalition“ den Bedarf identifiziert haben und wie zufrieden das Land nun mit ihrer Leistung sein kann. Denn die Regierung hat erkannt, dass die „Welt im Umbruch“ ist und das nationale ‚Wir‘ es deswegen mit „neuen“ und „komplexen“ Bedrohungslagen zu tun bekommt, die „alle Bereiche von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft treffen“ – insgesamt also eher schlechte Nachrichten für „uns“. Die gute Nachricht ist aber, dass die Regierung auf die Gefahr, die die „Welt“ darstellt, auch eine Antwort hat: „Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig.“
Auf 76 Seiten erklärt die Regierung ganz nüchtern und unaufgeregt, wie die heutige Welt aussieht, was das alles für Deutschland heißt und was ‚wir‘ deswegen ganz dringend brauchen; und da steht alles für das Eine: Die Welt bedroht „uns“! Zum einen Russland, das mit seiner „imperialen Politik Einflusssphären“ (S. 22) einzurichten versucht, damit „Frieden und Stabilität“ in Europa zerstört und sich dafür auch nuklear neu aufrüstet. Die Regierung braucht die einschlägigen Bezeichnungen „Einflusssphären“ und „Aufrüstung“ versus „Frieden und Sicherheit“ bloß aufzurufen, und schon ist alles klar: Lauter Angriffe auf unsere schöne Ordnung und unser Recht, die Nachbarschaft bis an die russische Grenze heran in den friedlichen Teil Europas einzugemeinden! So ein Staat kennt nur die Sprache der Gewalt, die man deswegen besser als Russland beherrschen muss, um den Störenfried überall da unschädlich zu machen, wo er seine „Einflusssphären“ sieht. Passend also, dass die Bundesregierung in ihrem Strategiepapier nicht nur ankündigt, die Bundeswehr massiv „zu einer der leistungsfähigsten, konventionellen Streitkräfte“ (S. 33) Europas aufzurüsten, sondern auch die restlichen Anrainerstaaten Russlands ins europäische, also antirussische Lager aufzunehmen. Angriff ist auch hier die beste Verteidigung.
Aber nicht nur Russland rüttelt an den Grundfesten der „internationalen Ordnung“:
„Geprägt von ihrer Auffassung von systemischer Rivalität streben einige Staaten an, diese Ordnung zu untergraben und so ihre Vorstellung von systemischer Rivalität durchzusetzen.“ (S. 23)
Aus deutscher Sicht gibt es lauter Staaten auf der Welt – allen voran China –, die zu viel Macht haben und diese auch noch dafür einsetzen, die Welt in ihrem Sinn zu verändern. Egal, was diese Mächte im Speziellen vorhaben – ob sie Teile der Welt mit Krediten ausstatten, ihre Völker für das nationale Wachstum einspannen, mit Militäreinsätzen oder Entwicklungshilfe anderen Ländern zu „Hilfe“ eilen, die natürlichen Lebensgrundlagen ausbeuten ... – entscheidend ist für die Regierung daran nur eines: Wie betrifft das „uns“? Gefährden diese Mächte „die regelbasierte, internationale Ordnung, die unsere Werte und Interessen schützt“ (S. 49)? Wer macht dann in Zukunft wem die Ansagen? Und noch wichtiger: Was müssen „wir“ deswegen gegen diese Bestrebungen tun? Die Antworten gibt die Regierung auf derselben abstrakten, aber elementaren Ebene: Deutschland braucht mehr Macht, muss mehr für die Durchsetzung einer für die Nation nützlichen Ordnung sorgen, seine eigenen ökonomischen, diplomatischen und menschlichen Machtquellen schützen und überall da entschieden tätig werden, wo China und Co mit ihren bedrohlichen Machenschaften schon aktiv sind.
Dieser anspruchsvolle Blick, die ganze Welt als das Feld der eigenen Zuständigkeit zu betrachten und deswegen überall da Bedrohungen festzumachen, wo andere Staaten mit ihren Interessen sich nicht einfach ein- und unterordnen, sieht auch auf der anderen Seite der Staatenhierarchie lauter Probleme:
„Kriege, Krisen und Konflikte in Europas Nachbarschaft beeinträchtigen auch die Sicherheit Deutschlands und Europas. In Syrien und Irak, in Libyen, am Horn von Afrika und im Sahel etwa dauern Konflikte oft schon seit vielen Jahren an. Fragile Staaten werden so zu einem Entstehungs- und Rückzugsort für nichtstaatliche, auch extremistische Gewaltakteure, die eine direkte Bedrohung für diese Staaten und deren Nachbarn sind.“ (S. 23)
Hier führt zu wenig staatliche Macht, zu wenig herrschaftliche Souveränität demnach zu „Krisen und Konflikten“, zu Tod und Zerstörung in ganzen Weltgegenden und machen das Leben von Millionen von Menschen dauerhaft zunichte. Sicherheitsrelevant für Deutschland werden diese menschlichen Tragödien, wenn die Stabilität der Region darunter leidet oder (noch schlimmer!) der daraus entstehende „Terrorismus und Extremismus“ oder die sich bahnbrechenden Flüchtlingswellen ihren Weg nach Europa – also zu „uns“! – finden. So sieht dann das Verhältnis Deutschlands zur Welt und ihrer schönen internationalen Ordnung aus: In der einen oder anderen Art ist Deutschland auf der ganzen Welt aktiv, hat überall Interessen, ist zugleich über jeden Verdacht erhaben, dass „Kriege, Krisen und Konflikte“ dort mit den eigenen Machenschaften etwas zu tun haben könnten, besteht vielmehr auf weiterem reibungslosen Funktionieren der Verhältnisse vor Ort und will von Konsequenzen um Himmelswillen verschont werden. Sich das Elend der Welt vom Leib zu halten, dazu ermuntert sich die Regierung noch mal explizit selbst, wenn sie Flüchtlingsabwehr – oder in ihrer Diktion: Flüchtlingsverteilung –, Entwicklungshilfe und sonstige Maßnahmen zur Abschreckung des weltweit mobilen menschlichen Elends in den Rang von Beiträgen zu deutscher Sicherheit erhebt.
Damit nicht genug. Ebenso sicherheitsrelevant stellt sich von dieser Warte aus der Klimawandel mit seinen vielfältigen Auswirkungen dar. Egal worum es sich dabei handelt, ob um zunehmende Dürre- und Hitzeperioden in Europa, Hunger und Elend in Afrika, Verwüstungen ganzer Länder oder um die Zerstörung von immer mehr Ökosystemen, bis Kipppunkte erreicht sind, die keine Erholung der Erde als Lebensgrundlage mehr zulassen: Wichtig ist der Regierung, was das unterm Strich für Deutschland heißt. Gibt es deswegen mehr Flüchtlinge und wenn ja, wohin wollen die dann? Trägt das zur Destabilisierung von Weltregionen bei, die wir nicht bestellt haben? Was heißt das für unsere kritische Infrastruktur? Nutzen wir die Chancen, die „in einer nachhaltigen, grünen und sozial gerecht ausgestalteten Transformation“ (S. 27) liegen, auch richtig? Die Sicherheitsstrategie übersetzt die prognostizierten Umweltkatastrophen ganz locker in die eigene Zuständigkeit für die zukünftige Regelung all der Abteilungen des Weltmarktes, die vom Klimawandel auch nur im entferntesten betroffen sind. Ansonsten gilt es, so etwas wie eine totale Quarantäne gegen die diversen grenzüberschreitenden Pandemien dieser Staatenwelt zu errichten.
Mit ihrer sehr umfassenden Problemdiagnose und ihren nichts auslassenden Lösungsansätzen verrät die Regierung sehr viel über ihren Standpunkt: Alles auf der Welt geht uns erstens etwas an, macht uns zweitens Probleme, weswegen wir drittens alles unter Kontrolle haben müssen. Insofern fällt deutsche Sicherheit für die Ampel-Regierung nahtlos zusammen mit dem Status einer Aufsichts- und Ordnungsmacht über die Staatenwelt.
Auf ihre förmliche, öffentlichkeitswirksam präsentierte Selbstbeauftragung bekommt die Regierung das einhellige Echo „Na endlich!“. Die deutsche Öffentlichkeit teilt den Maßstab einer über der Staatenwelt stehenden Ordnungsmacht und begegnet der Ampel-Regierung gemäß dieser Prämisse mit zwei ganz sachgerechten Kritiken. Die eine Hälfte reagiert mit einem allgemeinen Unverständnis, was genau an den 76 Seiten neu sein soll:
„Man versteht die Idee: Sicherheit in einer vernetzten und verflochtenen Welt darf nicht auf Waffen und Streitkräfte reduziert werden. Der Zugang zu Nahrung, die Widerstandsfähigkeit demokratischer Institutionen, die Verfügung über persönliche Daten, die Lieferketten der Industrie, die Biodiversität – alles das berührt die Sicherheit unserer Lebensweise. Aber dies ist weiß Gott kein ganz frischer Gedanke, den die deutsche Bundesregierung jetzt unbedingt einmal in einem offiziellen Statement festhalten musste.“ (Zeit, 14.6.23)
Wenn man die Gleichung zwischen totaler Betroffenheit und daraus folgender Notwendigkeit eines Regimes über die Staatenwelt und Sicherung „unserer Lebensweise“ nicht nur für die selbstverständlichste Sache der Welt, sondern sogar für die Norm hält, an der sich die Welt messen lassen muss: dann kann ein kritischer Geist überhaupt nicht verstehen, warum „uns“ die Politik das noch einmal sagt. Die anderen, prominent vertreten in Gestalt des christdemokratischen Oppositionsführers Merz, bügeln die Strategie der Bundesregierung als „inhaltlich blutleer, strategisch irrelevant, operativ folgenlos und außenpolitisch unabgestimmt“ ab. Wenn es nach ihm ginge, wäre eine deutsche Sicherheitsstrategie das Gegenteil – also echt blutvoll, relevant, folgenreich und abgestimmt –, also genau das, was die Regierung anstrebt, nur besser.
VI. Eine ständige Vornepräsenz einer robusten Bundeswehrbrigade in Litauen: „Gelebte Zeitenwende“ (Pistorius)
Der Verteidigungsminister kündigt nach einem NATO-Manöver in Litauen an, dass Deutschland bis 2027 eine bestens ausgestattete und ausgebildete Brigade dauerhaft in Litauen stationieren wird. Deutschland baut sich damit in der polnisch-litauischen Grenzregion auf, durch die der einzige Landweg Russlands zu seiner Exklave Kaliningrad führt und die von der NATO unter den Schlagwörtern „Suwalki-Lücke“ und „Ostflanke“ als strategische Schwachstelle definiert wird:
„Gerade Polen und das Baltikum sind in besonderer Weise exponiert durch ihre geographische Lage und wir als Bundesrepublik Deutschland bekennen uns ausdrücklich zu unserer Verantwortung, zu unserer Pflicht als NATO-Mitgliedsland, als größte Volkswirtschaft in Europa für den Schutz der Ostflanke einzutreten.“ (Pistorius in Vilnius, 26.6.23)
Zeitenwende bedeutet für Deutschland, dass es sein Bekenntnis zum Bündnisfall der NATO – jeder Quadratzentimeter des Bündnisgebiets wird kollektiv verteidigt – mit einer „dauerhaften Vornepräsenz“ materiell unterlegt. Entsprechende Forderungen seiner amerikanischen und baltischen Partner macht es damit zu seiner Sache. Es schickt gleich 4 000 statt der geforderten 1 200 Mann und betätigt sich als Mitorganisator und ‑garant des langfristig angelegten militärischen Aufbaus der NATO vor der Haustür Russlands und seines Verbündeten Belarus. Die langjährig von Berlin geäußerten Bedenken, mit einer solchen Maßnahme die NATO-Russland-Grundakte endgültig zu brechen, in der Russland konzediert wird, keine substanziellen Kampftruppen in ehemaligen Ostblockstaaten dauerhaft zu stationieren, sind keiner Rede mehr wert. Solche Bedenklichkeiten passen einfach nicht in die „neue Zeit“, i.e. zu dem Deutschland, das fest gewillt ist, mit seinem Engagement das strategische Kräfteverhältnis zwischen dem transatlantischen Kriegsbündnis und Russland weiter zu verschieben.
[1] Siehe dazu GegenStandpunkt 3-19: „Manöver als Dauereinrichtung“, S. 31 ff. in: Die amerikanische Weltmacht treibt die Entmachtung ihres russischen Rivalen voran.
[2] Zitate aus den Bundestags-Drucksachen 20/6293 und 20/7213, dem Netzauftritt der Bundeswehr und der NATO sowie den öffentlich-rechtlichen Sendern und diversen Printmedien rund um den Manöver-Zeitraum 12.–23. Juni
[3] Gerade der Erfolg der Luftkriegsübung erzeugt allerdings auch Sorgen über eine transatlantische Naivität der Macher der Zeitenwende.
„Die Bruchstellen im Wunschbild von der mächtigen NATO“ ... „die NATO lobt Deutschland für die ‚Rekordübung‘. Doch das stimmt nur eingeschränkt. Denn die riesige Übung offenbart eine ‚brutale‘ militärische Abhängigkeit von den USA – und gravierende Fähigkeitslücken.“ (Die Welt, 15.6.23)
Die Botschaft: Kein Zweifel an der Dringlichkeit der Zeitenwende, sondern der Aufruf zu deren Forcierung; es gibt extrem viel zu tun für eine echte deutsch-europäische Kriegsfähigkeit; und das extrem schnell, angesichts der Gefahr eines unberechenbaren nächsten US-Präsidenten...
[4] „Integrierte Sicherheit für Deutschland – Nationale Sicherheitsstrategie“, 21.6.23, bundesregierung.de