Der Wirtschaftskrieg gegen Russland kommt in Deutschland an

Der Wirtschaftskrieg, den der Westen gegen Russland führt, zeigt Wirkung. Nicht bloß in Russland, sondern weltweit; auch bei den Protagonisten des gerechten Kampfes gegen das Böse; auch in Deutschland. Sie treten aber nicht einfach von selbst ein, die Wirkungen. Sondern stets, Punkt für Punkt, vom Staat gestaltet, zurechtgemacht, gerne in Form von Entlastungspaketen dem Volk verabreicht.

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Der Wirtschaftskrieg gegen Russland kommt in Deutschland an

Der Wirtschaftskrieg, den der Westen gegen Russland führt, zeigt Wirkung. Nicht bloß in Russland, sondern weltweit; auch bei den Protagonisten des gerechten Kampfes gegen das Böse; auch in Deutschland. Sie treten aber nicht einfach von selbst ein, die Wirkungen. Sondern stets, Punkt für Punkt, vom Staat gestaltet, zurechtgemacht, gerne in Form von Entlastungspaketen dem Volk verabreicht.

Der Auftakt: 100 neue Milliarden für die Bundeswehr

Der erste Akt, der dramatische Eröffnungszug, hat mit dem ökonomischen Kampf gegen den strategischen Partner von vorgestern unmittelbar nichts zu tun: 100 Milliarden Euro Sondervermögen auf Pump für die Bundeswehr stehen erst einmal für den Beschluss, die militärische Bekämpfung der russischen Macht in der Ukraine in ihre dauerhafte Bedrohung durch die NATO an der entsprechend aufgerüsteten europäischen Front zu überführen. Die forsche Ankündigung, dass dieser strategische Aufbau Deutschland mal auf alle Fälle 1011 € wert ist, die Ankündigung allein schon, tut zugleich an der anderen Front ihre Wirkung. Nämlich als entscheidende Maßgabe für alles, was dann wirtschaftspolitisch folgt. Mit der Ankündigung ergeht an alle Geldbesitzer und Kreditschöpfer, die mit Staatspapieren spekulieren, nicht bloß das schöne Versprechen, dass sie sich in beträchtlichem Umfang an den Kosten des deutschen Rüstungsbedarfs werden bereichern können. Die runde Summe kriegsbedingter zusätzlicher Schulden, bewusst locker und mit größter Selbstverständlichkeit virtuell in Umlauf gebracht, steht für die unbezweifelbare Macht der nationalen Standortverwaltung, überhaupt allen Anforderungen an ihre Zahlungsfähigkeit gewachsen zu sein, die mit der großen Zeitenwende auf sie zukommen dürften. Am Geld scheitert nichts, was die Regierung nötig findet, um mit Russland, inklusive der eigenen Abhängigkeit von dessen Rohstoffen und Märkten, fertigzuwerden. Kredit wird geschaffen, „whatever it takes“ – und er bleibt solide: Das ist die Botschaft. Deren Adressat sind nicht bloß die Spekulanten, die immerzu ihr Portfolio gewinnbringend und sicherheitsbewusst umsortieren. Das ist das Kreditgewerbe insgesamt, das mit seinem Geschäftsinteresse an Euro-Staatsschulden – vor allem solchen aus deutscher Quelle – Europas Staatshaushalte finanziert und dem Euro seinen Wert bestätigt. Die locker in die Welt gesetzten 100 Milliarden wirken für dieses Gewerbe als Rückversicherung, dass es mit der Schöpfung und Vermarktung von Euro-Kredit überhaupt nichts falsch machen kann.

Bei der kreditbedürftigen Geschäftswelt der Warenproduzenten und Händler kommt das an als eine Zusicherung, die allen absehbaren Konsequenzen des Wirtschaftskriegs für ihre Produktionskosten und ihre Warenpreise gewissermaßen vorausläuft: als die Zusage, dass die Wirtschaft in den schweren Zeiten, die unweigerlich auf sie zukommen, auf alle Fälle liquide bleiben wird. Im Klartext: Wer kreditwürdig ist, wird auch explodierende Preise, sofern sie sich für sein Geschäft lohnen, zahlen können und in seinesgleichen weiterhin auch dann zahlungsfähige Kunden finden, wenn er Preissteigerungen weiterwälzt; und das vermehrt verdiente Geld mag zwar quantitativ an Zahlungskraft verlieren, behält aber seine durchs Finanzgewerbe beglaubigte Premiumqualität.

Dass ein großer zahlungsunfähiger Rest übrig bleiben wird, ist nicht zu vermeiden und ein Schaden für die Wirtschaft. Den hat der Staat nun zu managen. Zuerst einmal hat die Regierung mit ihrer Kreditmacht die nötige Vorsorge dafür geschaffen, dass die mit dem Wirtschaftskrieg gegen Russland programmierten schweren Zeiten marktwirtschaftlich korrekt stattfinden können. Nämlich als spezielle und allgemeinere Teuerungswelle, die sich dann, wiederum mit den Mitteln des schuldenfinanzierten Staatshaushalts, sachgerecht und konstruktiv und Schritt für Schritt weiterverarbeiten lässt.

So kommt es dann auch.

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Eine mit Tankrabatt & 9-Euro-Ticket verabreichte Verteuerung der Mobilität

Unangenehm fühlbar für die Nation wird die Ansage der deutschen bzw. westlichen Führer, den bedeutenden Energielieferanten Russland vom Weltenergiemarkt auszuschließen, zuerst und unmittelbar am Ölpreis. Noch Monate bevor die EU überhaupt ein Ölembargo gegen Russland verhängt, machen die westlichen ‚Big Five‘ der europäischen Ölversorgung das Ihre aus dieser feindlichen Ansage. Sie nehmen sie beim Wort, als verbindlichen, unumstößlichen Beschluss ihrer politischen Führer, dass Geschäfte mit russischem Kapital in Zukunft Geschäfte mit dem Feind sind, und ziehen von sich aus und im Interesse ihres Weltgeschäfts mit dem Öl die Konsequenzen: Als bisherige Großabnehmer russischen Öls meiden sie jetzt Rosneft und Co, kappen ihre Kooperationen mit den russischen Konzernen und sorgen so für eine Verknappung des Rohölangebots im Verhältnis zur Nachfrage nach dem Schmierstoff der kapitalistischen Ökonomie, dem universalen Ausgangsstoff nicht nur, aber auch zum Betreiben von 40 bis 50 Millionen Kraftfahrzeugen in der Republik. Die von ihnen hergestellte neue Lage münzen die maßgeblichen Subjekte des Rohöl- und Raffineriemarktes marktwirtschaftlich sachgerecht um: Die Konzerne selbst und die Spekulanten an den Termin- und Spotmärkten nützen ihre monopolistische Macht über den Markt, um den Preis für Rohöl und seine raffinierten Endprodukte auf einen Schlag um etwa 40 % über die Rekordstände vom Herbst ’21 zu erhöhen. Der schöne Ertrag zu Beginn des Wirtschaftskriegs, jedenfalls für sie: Sie maximieren ihre Profite und den ‚value‘ ihrer ‚shareholder‘. Für den Rest der tankenden Nation macht sich das als ein unmittelbar wirksamer Kostenschub geltend, mit dem der auch nach amtlicher Auskunft nicht gut fertigwird: Ob an der Zapfsäule oder bei der Heizkostenabrechnung: Die steigenden Preise, vor allem im Energiebereich, treffen viele Menschen hart. (bundesregierung.de) Kein Wunder: Schließlich haben ganze Politikergenerationen der BRD mit dem kapitalistischen Geschäft mit der Individualmobilität Standortpolitik betrieben, sodass die Republik von der Nordsee bis zu den Alpen auf Produktion, Vermarktung und Gebrauch der Ware ‚Automobil‘ ausgerichtet, in die sprichwörtliche ‚Auto-Nation‘ verwandelt worden ist. Dabei haben sie ihrem Volk sehr erfolgreich beigebracht, dass die standortnützliche Erledigung seines Mobilitätsbedarfs – weniger prosaisch und mehr demokratiephilosophisch betrachtet – sein Recht auf „freie Fahrt für freie Bürger“ verwirklicht. Wie es um ihre Freiheit steht, lesen Autofahrer unter tatkräftiger Unterstützung ihres Clubs sehr akribisch am Stand der Spritpreise ab. Ein abrupter Anstieg auf einen Preis deutlich über zwei Euro ist da ein ziemlicher Anschlag aufs Gemüt. Die Notwendigkeiten des privaten Lebenskampfes in Millionen deutschen Haushalten – das Pendeln zwischen Arbeitsstätte, Kita & Schule, Supermarkt, Urlaub & Freizeit – können eben nur abgewickelt werden, wenn der Tank voll ist, sodass dieser Preis mit der notorischen 9 hinter dem Komma mehr als jeder andere die Kosten der Freiheit ausdrückt.

Weil das auch in den heraufziehenden schweren Zeiten so bleiben soll und muss, nimmt sich die Regierung des ‚Problems‘ der Preise für Benzin und Heizöl an, die das Volk bezahlen muss, in beachtlichen Teilen aber nicht kann. Neben 300 Euro Energiegeld für Erwerbstätige gewährt sie ihrem Volk von Autofahrern eine Erhöhung der Fernpendlerpauschale und – auf Drängen der Freiheitspartei, die sich damit in Szene setzt – einen Tankrabatt für drei Monate.

Mit dem verzichtet der Staat den Sommer über auf einen Teil der Energiesteuer – mit der Zielsetzung, die Ölkonzerne, die diese Steuer abführen, möchten ihre Kostenersparnis an die tankenden Bürger weiterreichen und das Autofahren wieder billiger machen. Vom Standpunkt der FDP aus ist das der einzig richtige Weg zu ‚fairen Spritpreisen‘. Da es so der Entscheidung des privaten Energiekapitals überlassen wird, ob die drei bis vier Milliarden aus dem Staatshaushalt für die Pflege der Kundschaft und den guten Ruf der Konzerne ausgegeben oder lieber gleich zugunsten der eigenen Rendite einbehalten werden, entscheiden die sich natürlich im Sinne ihrer Pflicht gegenüber ihren Shareholdern. Letzteres ist zwar nicht im Sinne der Autofahrerpartei; als Freiheitspartei will sie das freilich nicht beanstanden.

Wirksame Kritik kommt aus der anderen, der grünen Ecke: Die Partei, die den Energienotstand durch den Wirtschaftskrieg als Booster ihrer Klimarettung schätzt und umgekehrt die Wende zu erneuerbaren Energien sowie alle Formen der Energieeinsparung als Befreiungsschläge der Republik aus ihrer Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen propagiert, kann der sozial schädlichen Preisexplosion beim Benzin immer auch das wünschenswerte marktwirtschaftliche „Preissignal“, nämlich den Geld-induzierten Zwang zum Sparen abgewinnen. Die subventionierte Verbilligung von Benzin gilt ihr als Anti-Anreiz, das Auto stehen zu lassen und von den dicken SUVs wegzukommen. Als Partei, die immerhin auch an der Macht ist, besteht sie darauf, dass, wenn der Koalitionspartner seine falsche Hilfs- und Anreizpolitik durchsetzen kann, sie ihre richtige für eine grüne Verkehrswende im Kabinett auch genehmigt bekommt. Dem Tankrabatt stellen die Grünen ihr 9-Euro-Ticket entgegen, das nicht nur den Leuten, die sich ein Auto nicht leisten können, sondern allen eine superbillige Alltagsmobilität spendiert. Mit den Milliarden, die der Bundeshaushalt dafür zur Verfügung stellt, sollen die Bürger einmal ohne Auto, dafür in überstrapazierten öffentlichen Verkehrsmitteln von A nach B kommen, jedenfalls einen Sommer lang. So können sie im Arbeitsalltag und in der Freizeit Geld sparen und dabei sowohl einen Beitrag zur Klimarettung als auch zum Kampf gegen Putin leisten. Eine so schöne Gelegenheit, die finanziellen Nöte des Volkes mit dem Wirtschaftskrieg dafür zu nutzen, es in Sachen klimafreundlicher Mobilität ein bisschen umzuerziehen, ohne von der politischen Konkurrenz gleich wieder den Vorwurf zu kassieren, den Menschen Verzicht zu predigen und sie zu bevormunden, lassen sich die Grünen nicht entgehen.

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Gasumlage, Energieknappheit und andere Gerechtigkeitsprobleme

Der Wirtschaftskrieg bringt das staatliche Management des Widerspruchs zwischen dem privaten Geschäft mit Gas und der Gasversorgung der Gesellschaft durcheinander. Deutschland steckt in einer Gaskrise

Der Beschluss, immer weniger russisches Gas einzukaufen, vor allem aber der russische Gegenschlag, selbst immer weniger davon nach Deutschland zu liefern, stellt die Kombination aus Marktwirtschaft und Planwirtschaft, die diesen Sektor der nationalen Ökonomie auszeichnet, vor einzigartige Herausforderungen. Immer schon greift der Staat in diesen Sektor mit einer doppelten Zielsetzung ein: Erstens muss die materielle Versorgung mit diesem Stoff sichergestellt werden – als Produktionsfaktor der Wirtschaft und als Konsumgut von Privatleuten fürs Heizen und Kochen. Die stoffliche Versorgung soll zweitens zu Preisen abgewickelt werden, die die Konkurrenzfähigkeit deutscher Kapitale im Weltvergleich sichern und dafür taugliche deutsche Löhne nicht überfordern. Das doppelte Ziel von materieller Versorgung des Standorts zu rentablen Preisen zu verwirklichen, überlässt der Staat privaten Energiehändlern und -importeuren, die damit drittens ihr Geschäft machen sollen. Für die ist die Versorgung der Gesellschaft mit Gas eine Gelegenheit, ihren Reichtum zu mehren, andererseits konfligiert das Gebot gesicherter Versorgung mit der freien Kalkulation von Mengen und Preisen, die ihr Geschäft braucht. Den Widerspruch zwischen dem privaten Geschäftssinn und seinem Versorgungsauftrag bearbeitet der Staat mit einer besonderen Aufsicht über diese Branche. Ein kompliziertes Geflecht von gesetzlichen Vorschriften und finanziellen Anreizen ringt der Gewinnmaximierung der beteiligten Firmen das Zusammenfallen von Versorgungssicherheit und Billigkeit des Grundstoffs ab.

So werden über eine Regulierungsbehörde die Preise kontrolliert, die die Netzbetreiber den Netzbenutzern berechnen; die natürlichen Monopole der Netze dürfen nicht missbraucht werden. In diesem Sinn geht das Kartellamt auch gegen Verträge vor, die lokale oder regionale Gasverteiler langfristig und vollständig an einen Großlieferanten binden. Die Konkurrenz, die auch in diesem Sektor herrschen soll, wird staatlich erzwungen, damit sie, marktwirtschaftlichem Sachverstand zufolge, selbsttätig zu niedrigen Preisen führt. Außerdem wird eine Börse für Termin- und Spotmarktgeschäfte eingerichtet, auf der der Handel mit freien Gasmengen zusätzlichen Preisdruck erzeugen soll. Weil sich ferner vieles energiepolitisch Notwendige vom Unternehmerstandpunkt aus nicht rechnet, sondern als überflüssiger Kostenaufwand erscheint, werden Netzbetreibern und Versorgungsunternehmen bezüglich Sicherungssysteme, Umweltschutzmaßnahmen, alternativer Technologien zur Gasgewinnung usw. jede Menge Auflagen gemacht. Und damit die das unternehmerische Streben nach Wachstum nicht beschränken, reizt der Staat ihre Erfüllung mit Steuernachlässen und Zuschüssen an. So werden mit viel finanziellem und bürokratischem Aufwand in normalen Zeiten Staatsauftrag und Geschäftsinteresse in ihrem Widerspruch zusammengebracht. Beides geht sogar widerspruchslos zusammen, wo es darum geht, dass Unternehmen aus dem Ausland Gas beschaffen. Hier steht der Staat bedingungslos hinter seinen „Energieriesen“, weil die gerade mit ihrer Marktmacht den ausländischen Lieferanten billige Preise und Sicherheiten abverlangen oder sich selbst in die Förderung und Anlieferung der benötigten Energieträger einkaufen. Dabei erhalten sie die politische Unterstützung, die sie brauchen.

In diesem Sinn haben wechselnde deutsche Regierungen in produktiver Zusammenarbeit mit dem russischen Staatschef dafür gesorgt, dass über Nord Stream 1 – die größte Unterseepipeline der Welt und weitere Röhren Deutschlands Gasbedarf gesichert und seine Kapitalisten für ihren Konkurrenzkampf auf den Weltmärkten bestens gerüstet waren.

Damit ist nun Schluss. Jetzt geht es um die umfassende Schädigung des ehemals ‚strategischen Partners‘. Russlands wichtigste Einnahmequelle in Europa soll zum Versiegen gebracht werden – und das ziemlich prompt: Deutschland reduziert Energieabhängigkeit von Russland in hohem Tempo, sodass am Ende des 1. Quartals 2022 der Anteil russischen Gases von 55 % am Gesamtverbrauch auf 40 % gesunken ist. Bis Ende des Jahres will man bei 30 % gelandet sein. Für 2027 ist das endgültige Ende deutscher ‚Abhängigkeit‘ – so heißt der Nutzen, den man gehabt hat, wenn man den Nutzen auf der anderen Seite zerstören will – ins Auge gefasst.

Bis dahin ist es allerdings Putins Pflicht und Schuldigkeit, sich passgenau in die fortschreitend abnehmende Nachfrage einzufügen und uns vor dem Absturz ganzer Produktionsketten, Arbeitslosigkeit usw. zu bewahren. Die Akteure des Wirtschaftskriegs führen mit ihrer Kampfmaßnahme selbst die Mangellage in der Energieversorgung herbei und gestehen das auch ein, wenn sie sich dafür loben, „unmittelbar nach Kriegsbeginn Aktivitäten aufgenommen zu haben, um die Energieversorgung in Deutschland zu sichern und gleichzeitig [!] die Abhängigkeit von Russland zu reduzieren“. [1] Putin soll sich glatt als Erfüllungsgehilfe des Wirtschaftskriegs gegen ihn bewähren und so viel Gas und so lange liefern, wie es zu Deutschlands Kriegsleitfaden passt:

„Wir müssen uns Schritt für Schritt aus der Abhängigkeit von russischem Gas befreien. Nur so können wir sicherstellen, dass die Sanktionen Russland mehr schaden als uns selbst.“ (Habeck)

Wenn Gazprom der zugedachten Rolle nicht ganz entspricht und die Durchleitungsmenge in Nord Stream 1 stufenweise drosselt, gibt sich die Regierung empört. Jetzt ist es Russland, das einen hybriden Krieg (Baerbock) entfacht und Gas als Waffe einsetzt. Die Deutschen verlangen nicht nur die Respektierung ihres einseitigen Rechts auf Wirtschaftskriegsführung, sondern ignorieren auch offensiv die Botschaft, die in der dosierten russischen Vergeltung steckt: Das Drosseln und Wiederhochfahren der Gaszufuhr mit Verweis auf technische Probleme und das sanktionsbedingte Fehlen einer Turbine signalisieren nämlich den Willen, weiterhin ein im Prinzip verlässlicher Lieferant zu sein und die gedeihlichen Energiebeziehungen zu den Deutschen nicht auf unabsehbare Zeit zu kappen. Diese auf Deeskalation zielende Heuchelei der Russen wird von Wirtschaftsminister Habeck als leicht zu durchschauende Politisierung einer technischen Frage zurückgewiesen, ja als Feigheit vor dem Feind verhöhnt: Und dann haben sie noch nicht einmal den Mumm zu sagen: Wir sind in einer wirtschaftskriegerischen Auseinandersetzung mit Euch und haben da auch unsere Möglichkeiten (Habeck in den Tagesthemen am 25.7.22). So wird jeder Versuch der russischen Seite, Deutschland zur Mäßigung zu bewegen, lächerlich gemacht. Von ihrem Radikalismus im Wirtschaftskrieg lässt sich die Regierung durch nichts abbringen – weder durch den stofflichen Versorgungsnotstand noch durch die Gefahr seiner weiteren Verschärfung und erst recht nicht durch die Preisexplosion, die schon die Ankündigung des Wirtschaftskriegs losgetreten hat. In Antizipation zukünftiger Versorgungsnöte haben die Gashändler nämlich ihre Freiheit zur Preisgestaltung genutzt und spekulativ die Gaspreise in die Höhe getrieben.

Die Wirkungen, die die Sanktionen gegen Russland im eigenen Land entfalten, werden nicht kleingeredet. Der Wirtschaftsminister spricht von der Gefahr des Zusammenbruchs des ganzen Energiemarkts (Habeck), der Kanzler erkennt die starke Belastung seines Volkes durch die steigenden Gaspreise an. Aber weil die Sanktionen gegen Putin unhinterfragbar sind, sind es nicht die Sanktionierer, sondern ist es Putin, der Deutschland in diese „Gaskrise“ stürzt.

Der Staat nimmt die Wirtschaft in die Pflicht – mit Fördern und Fordern

Die Regierung schaltet sich in die Ersatzbeschaffung des Grundstoffs ein. Flankiert durch politische Gespräche und Absicherung werden die privaten Gasimporteure ermuntert, überall auf dem Weltmarkt, wo sie fündig werden, Flüssiggas zusammenzukaufen. Damit werden die durch die Spekulationen der Gashändler bereits erhöhten Preise weiter in die Höhe getrieben.

Vom Erfolg der privaten Einkaufstour macht der Wirtschaftsminister sich aber nicht abhängig. Er lässt den sog. Marktgebietsverantwortlichen Trading Hub Europe (THE) – ein Zusammenschluss von Gasnetzbetreibern, den die Bundesregierung jetzt mit weiteren hoheitlichen Funktionen betraut – mit Einräumung einer Kreditlinie von 15 Mrd. € auf dem Weltmarkt Gas aufkaufen und Deutschlands Gasspeicher befüllen. Mit einem Gasspeichergesetz verschafft er sich zudem eine neue Handhabe, das Geschäft der Gasimporteure an den Zweck der Versorgungssicherheit zu binden, der diesem äußerlich ist: Sie werden verpflichtet, zu bestimmten Stichtagen eine vorgeschriebene Füllmenge ihrer Gasspeicher zu garantieren. So greift der Staat in das Geschäft der Versorgungsunternehmen ein, die sonst die Speicher als Zwischenlager für ihre Preiskalkulationen benutzen. Zwar waren sie auch bisher schon zur Gewährleistung einer sicheren Gasversorgung verpflichtet, [2] konnten dies aber allein durch die Vorlage von Importverträgen nachweisen. Angesichts der drohenden Engpässe will man sich jetzt nicht mehr auf den Geschäftssinn der Privaten verlassen.

Die von der Regierung im Zusammenspiel mit den Spekulanten verursachte Preistreiberei tut ihre Wirkung, und zwar so, dass die eigentlich angestrebte Sicherstellung der Energieversorgung auf neue Weise infrage gestellt wird. Gasimporteuren, die für den Ausfall billigen russischen Gases auf dem Weltmarkt Ersatz beschaffen müssen, drohen wegen der explodierenden Marktpreise und gleichzeitiger Bindung an Verträge mit ihren Kunden Verluste in einem ruinösen Umfang. Mit dem marktwirtschaftlichen Aus dieser Unternehmen entfällt auch ihre Funktion für die Bereitstellung der notwendigen Gasmenge. Die Regierung sieht sich deshalb zu weiteren Eingriffen genötigt. Weil mit Uniper eines der größten europäischen Gasunternehmen, das mit russischem Gas in gesicherter Menge den Energiebedarf eines Großteils der deutschen Wirtschaft und kommunaler Energieversorger bedient hat, vor der Pleite steht, fängt der Staat, entgegen der marktwirtschaftlichen Rechnung – der finnische Eigner des Unternehmens will den unrentablen Geschäftszweig abstoßen – das Unternehmen auf:

„Wir lassen nicht zu, dass ein systemrelevantes Unternehmen wie Uniper fällt und damit die Versorgungssicherheit in Deutschland gefährdet wird.“ (Habeck am 22.7.22, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Staatskredit soll die Geschäftsfähigkeit des Unternehmens retten, sodass sich die Energieversorgung der Gesellschaft als Wirkung des kapitalistischen Geschäfts wieder einstellt, das in dieser Funktion gerade gescheitert ist. Das geht freilich nicht ohne erheblichen finanziellen Aufwand. Mit schon wieder 15 Mrd. Euro Schulden steigt der Staat bei Uniper ein und finanziert erst einmal dessen aufgelaufene Verluste. Das laufende Geschäft, das dem Konzern und einer Reihe anderer Gasimporteure weitere Milliardenverluste einträgt, ist damit allerdings nicht gesichert, was den nächsten Akt staatlicher Versorgungssicherung hervorruft: Eine Gaspreisanpassungsverordnung verspricht den Importeuren einen Anspruch auf finanziellen Ausgleich ihrer Verluste, [3] finanziert über eine Gasbeschaffungsumlage, die alle industriellen und privaten Gasverbraucher durch einen Aufschlag auf den Preis pro Kilowattstunde aufbringen müssen. Die zu erwartenden Ersatzkosten der Gasimporteure werden ermittelt, hoheitlich überprüft und mit 2,419 Cent plus Mehrwertsteuer pro kWh festgesetzt. Jetzt wird die Steuer von 0,23 Cent/kWh auf die Umlage zum groß herausgestellten Gerechtigkeitsproblem: Angesichts der Belastungen vor allem der weniger reichen Bürger will der Staat auf einmal nicht mehr, was sonst normal ist: An der von ihm selbst beschlossenen Verteuerung des Gases will er ausnahmsweise nicht mitverdienen wie sonst an jeder Transaktion. Weil er aber nach EU-Rechtslage auf die Mehrwertsteuer auch in diesem Fall nicht verzichten darf, halbiert die Scholz-Regierung den Steuersatz auf den gesamten Gaspreis, sodass auf Kosten des Staatshaushalts die Bürger von dem Umlagebetrag nur noch weniger als die Hälfte berappen müssen.

Dann ist aber auch Schluss mit der als Übergangslösung gedachten Fürsorge des Staates für das Geschäft der Gasunternehmen. Für neue Verträge dürfen die Importeure schon ab 1.5.22 keinen Verlustausgleich mehr beantragen, und wenn die alten Verträge ausgelaufen sind, gilt wieder, was außerhalb solcher Notlagen immer gilt: Im Hinblick auf künftige Lieferverträge läge es in der Verantwortung der Gaslieferanten, die bestehenden Risiken ausreichend vertraglich abzubilden (Referentenentwurf einer Verordnung zur Gasumlage, rgc-manager.de, 29.7.22), das heißt mit ihrer Erpressungsmacht dafür zu sorgen, dass ihre Risiken von den Kunden getragen, also bezahlt werden.

Mit der Rettung der Versorgungsunternehmen durch die Belastung der Endverbraucher ist die materielle Versorgung aber immer noch nicht gesichert. Der staatlich produzierte Energienotstand geht nämlich gar nicht in der Preisfrage auf: Eine stoffliche Knappheit wird für den Herbst prognostiziert, wenn der Gasverbrauch saisonbedingt wieder steigt und zu erwarten ist, dass Putin uns weiterhin die gewünschte Mitarbeit verweigert. Für diesen Fall hat die Regierung weitere Maßnahmen in petto: neben der Befüllung der Gasspeicher das Gassparen. Dafür hat sie einen Instrumentenkasten an marktlichen Instrumenten, die helfen können, den industriellen Gasverbrauch zu reduzieren (Bundesnetzagentur, 20.6.22). Die Regierung rechnet damit, dass industrielle Großverbraucher ihre in Gaslieferverträgen vereinbarten Bezugsmengen im kommenden Winter nicht benötigen werden – was nicht unrealistisch ist: Die gerissenen Lieferketten von vielerlei Vorprodukten und der vervielfältigte Gaspreis selbst machen an manchen Stellen das Produzieren teils unmöglich, teils unrentabel. Um das damit überflüssig gewordene Gas für die Sicherung der Gasversorgung zu nutzen, macht der deutsche Staat, der weiß, wofür ein Markt nur gut ist, aus dem allgemeinen Versorgungsproblem eine Geschäftsgelegenheit für die industriellen Gasverbraucher: Sie können aus ihren nicht benötigten Gasmengen ein ‚Regelenergieprodukt‘ machen, das auf dem ‚Regelenergiemarkt‘ in einer Auktion an die THE verkauft werden kann, von der es dann zur Lösung von Versorgungsengpässen im Winter eingespeichert werden kann. Das nennt man bei dieser Klientel dann ‚sparen‘. So verrückt geht es zu, wenn noch in der höchsten Versorgungsnotlage der Markt seine sagenhafte Effizienz entfalten soll.

Die Bundesagentur rät dringend zur Annahme dieses Modells, da hier das freie Unternehmertum noch regiert; denn wenn das Regelenergiepotential insgesamt ausgeschöpft ist und die Bundesnetzagentur Reduzierungen des Verbrauchs anordnet, wird dies nicht mehr möglich sein. So warnt der Staat seine Wirtschaftsakteure vor einem ‚Instrument‘, das er als Liebhaber der freien Konkurrenz unbedingt vermeiden will und dennoch als Ultima Ratio in Anschlag bringt, wenn die Kapitalisten nicht die Leistung erbringen, die der Staat für das Funktionieren seines Kapitalismus braucht.

Für das nicht unrealistische Horrorszenario (Habeck), Gas staatlich rationieren zu müssen, kündigt der Wirtschaftsminister eine Änderung der für solche Fälle gesetzlich vorgeschriebenen Priorisierung an. Für den länger andauernden Fall eines Gasausfalls sieht er keinen Sinn darin, die Privatkunden mit ihrem Heizbedarf vorrangig zu bedienen. Der Sinn seiner Krisenpolitik ist eben die Verhinderung einer Rezession der deutschen Wirtschaft, von deren Erfolg die Privathaushalte längst abhängig gemacht sind. Die Gasversorgung der Bevölkerung konkurriert mit der der Wirtschaft; in Zeiten des Energiemangels wird gegen das Volk geltend gemacht, wovon es abhängt.

Der Endverbraucher wird für den Wirtschaftskrieg in die Pflicht genommen: Zahlen und Sparen

Für einige Wochen steht die Gaspreisumlage mit ihren Korrekturen und Nachbesserungen im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. An ihr wird bemerkt, problematisiert und gerechtfertigt, dass die Normalbürger, die Gas zum Heizen und Kochen brauchen, mit ihrem Geldbeutel für die Rettung der Gasimporteure geradestehen müssen. Ausgerechnet diese 2,4 Cent – bzw. das, was von dieser Übergangsfinanzierung an den Verbrauchern hängen bleibt – sind der Aufreger; die viel größeren Belastungen aus den Preiserhöhungen, die bei Jahresverträgen den Endverbrauchern fortlaufend in Rechnung gestellt und die für Dauerverträge nächstens rechtlich ermöglicht werden, sind zwar als Härten anerkannt, müssen aber halt gezahlt werden. Die Normalität, dass der Lebensunterhalt der gewöhnlichen Leute immer das Reservoir an Zahlungsfähigkeit ist, die die Unternehmer für den gewinnträchtigen Absatz ihrer Waren in Anspruch nehmen, wird in demokratischen Gesellschaften eben als Notwendigkeit des Marktes respektiert. An der gibt es – anders als an den freien Entscheidungen der Politik – nichts zu deuteln.

Dass die politisch beschlossene Preiserhöhung auch notwendig und gerecht – und gerecht, weil notwendig – ist, begründet Begründungsminister Habeck gleich mehrfach: Erstens wird damit die Versorgungssicherheit gesichert, dazu gibt es keine Alternative (Pressekonferenz, 15.8.22), wenn diese nun einmal am Erfolg privater Unternehmen hängt. Zweitens achtet der Minister darauf, dass die begünstigten Firmen, die beim Abgreifen von (Staats-)Geld natürlich ihr Möglichstes tun, einer strengen Prüfung ihrer jeweiligen Ansprüche unterliegen, so dass da keine Doppelung passiert, dass für das Durchleiten des Gases nicht noch einmal Extrakosten in Anschlag gebracht werden (Pressekonferenz). Dass die Trennung legitimer Ansprüche auf Rettung vor dem Konkurs und illegitimer Aneignung staatlich eingesammelter Gelder durch gar nicht gefährdete Firmen juristisch nicht oder kaum möglich ist, eröffnet die nächste Runde der Gerechtigkeitsdebatte. Drittens ist es definitiv ungerecht, dass der Staat mit der Umlage alle Gaskunden gleich belastet, unabhängig davon, ob ihr Versorger viel russisches Gas bezogen hat und nun teuren Ersatz beschaffen muss oder ob sein Gas aus anderen Quellen kommt und Zusatzkosten gar nicht anfallen. Die gesellschaftliche Solidarität, die der Staat da organisiert, rechtfertigt die Opfer, die er verlangt.

Allerdings weiß der Minister, dass sein gerechtmöglichstes Modell höchst ungleiche Wirkungen hat, die sein Gerechtigkeitssinn auch nicht ignorieren kann, sodass sich hier die nächste Aufgabe stellt: Ich weiß, dass die Umlage auf sehr verschiedene Lebenslagen trifft. Für viele sind 400 € mehr im Jahr der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Die Armut, die in seinem schönen Land grassiert, kennt der Minister; über deren Verschärfung durch die staatliche Zusatzbelastung macht er sich auch nichts vor. Auch diese Not will staatlich verwaltet und geregelt sein: Deswegen ist ein drittes Entlastungspaket notwendig, das gezielt entlastet. Einen Vorschlag hat er schon: Für die Armen soll es ein – natürlich befristetes – Moratorium für Energierechnungen geben. Normalerweise werden Leuten, die nicht rechtzeitig zahlen, Gas, Strom und Wasser abgestellt. Das soll den vielen, die jetzt dafür infrage kommen, nicht gleich blühen, sie sollen die Bedienung ihrer Zahlungspflichten aufschieben dürfen. Dafür möchte der grüne Minister die Energieversorger durch ein staatliches Machtwort in die Pflicht nehmen. Die Zahlungen müssen die Versorger natürlich nicht erlassen. Die eiserne Regel des ‚do ut des‘ hört auch dann nicht auf, wenn der Kunde vor dem Ruin steht.

Des Weiteren müssen auch die Privatkunden ihren Beitrag zur Senkung des Gasverbrauchs leisten. Neben ein paar Verboten wie das Heizen von Pools und patriotischen Appellen zum Kurzduschen will und kann sich die Regierung auf den heilsamen Zwang der hohen Preise verlassen, die allen ins Haus stehen. Der Staat setzt auf die Alltagserfahrung, dass alle Bedürfnisse, die notwendigen und die selbstgewählten, durch das Geld, das sie kosten, gegeneinander stehen. Weil die enorme Verteuerung eines Postens alle anderen in Mitleidenschaft zieht, wird das Herunterstellen der Heizung zur Existenznotwendigkeit, ganz ohne dass von oben – vorerst – durch Zuteilung des knappen Stoffs die ‚Freiheit des Einzelnen‘ vergewaltigt wird.

So leistet bei den Endverbrauchern die marktwirtschaftliche ‚Vernunft‘ ihren guten Dienst zur Aufrechterhaltung der Energieversorgung. Dumm nur, da sind sich Ökonomen einig, dass gerade die Ärmsten, bei denen diese Logik die größte Wirkung entfaltet, die Adressaten der zielgerichteten Hilfen zum Überleben sind und sein müssen. Am Ende machen Hilfen den (Energie-)Sparzwang wieder kaputt. Im Sinne des marktwirtschaftlichen Zynismus kommen Vorschläge ins Spiel, die beides verbinden, finanzielle ‚Abfederung‘ der hohen Kosten und die Nötigung zum Sparen: Zum Beispiel könnte, wer weniger verbraucht als bisher, mit einer Prämie ‚belohnt‘ werden.

Dieser Idee kann nun der grüne Wirtschaftsminister nichts abgewinnen. Dass auch bei armen Hilfeempfängern auf verstärktes Sparen zu achten ist, sieht er natürlich genauso, hält ausgerechnet in ihrem Fall materielle Anreize aber für eine Erziehung zur Verantwortungslosigkeit: Die kriegst du nicht, Alter. Ich möchte auch nicht in einem Land leben, wo man sich nur für Geld bewegt. Bei normalen Konsumenten fällt ihm der Geldmaterialismus glatt als Untugend auf, der er den Wert der Solidarität entgegensetzt.

Der niedersächsische Ministerpräsident hat die geniale Idee, ‚Entlastung‘ und Sparzwang in einer Maßnahme zu verpacken und dabei die Armut noch für die gute Sache produktiv zu machen, die überhaupt durch den Wirtschaftskrieg und seine Folgen entscheidend vorankommt:

„Ich finde die Idee interessant, insbesondere Menschen mit geringem Einkommen ein subventioniertes Energie-Grundbudget zu einem gedeckelten Preis anzubieten. Was darüber hinausgeht, müsste dann mit einem höheren Preis bezahlt werden. Das wäre ein intelligenter Weg, finanzielle Entlastungen mit dem Kampf gegen den Klimawandel zu verbinden.“ (Weil, Interview, greenpeace-magazin.de, 9.7.22)

Der Kollateralnutzen des Wirtschaftskriegs für Klimaschutz und Energiewende

Im Lichte der Energiewende haben die Anstrengungen, von „Putins Gas“ unabhängig zu werden, und das politische Management der dadurch erzeugten Schäden einen höheren Sinn und Nutzen: Sie wirken wie ein Booster der Klimarettung und machen die einschlägigen Instrumente umso dringlicher. Der Krieg, das Sterben, das Morden, die Brutalität in der Ukraine halten für den Wirtschaftsminister insofern eine Lehre bereit, als sie uns noch einmal deutlich vor Augen geführt haben, wie Energiepolitik auch Geopolitik ist. [4] Habecks starkes Argument für die Energiewende kehrt das Verhältnis um: Dem Umstieg auf erneuerbare Energien attestiert er Wert und Gewicht durch seine geopolitische Leistung, was den rechten Kritikern der Energiewende jegliches Argument aus der Hand schlagen sollte. So stellt er nebenbei klar, was bei diesem großen Projekt Zweck und was bloßes Abfallprodukt ist: Der Kampf gegen das ‚Menschheitsproblem Klimakatastrophe‘ fällt an dieser Stelle zusammen mit dem Projekt, sich aus der Abhängigkeit von russischen Energierohstoffen zu befreien, um die wirtschaftliche und politische Funktionsfähigkeit des russischen Staates zu zerstören. Die Wiederbelebung aller klima- und umweltschädlichen Energieformen von Braun- und Steinkohle bis zum Frackinggas und der Atomkraft im Kampf gegen das Böse ist deswegen auch kein Widerspruch zur angestrebten Energiewende, sondern Mittel zum eigentlichen Zweck: zur Energieautonomie als Basis außenpolitischer Machtentfaltung.

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Allgemeine Teuerung und die längst entschiedene Frage, wen sie wie trifft

Gestiegene Preise für Energie haben nicht nur Privathaushalte zu bezahlen, sondern auch Geschäftsbetriebe aller Art. Sie geben, wenn es ihre Konkurrenzposition erlaubt, die höheren Gestehungspreise, die sie bezahlen, über die Verkaufspreise, die sie verlangen, aneinander und an ihre Endkunden weiter und überführen so die explodierenden Energiepreise in eine Verteuerung von allem und jedem, in eine allgemeine Inflation. Indem sie ihre Gewinnrechnung auf diese Weise verteidigen, entwerten sie das Geld, von dem sie immer höhere Summen für gleichbleibende Leistungen fordern. Selbstverständlich warten Unternehmen im inflationären Umfeld nicht erst darauf, dass ihre Bilanzen von höheren Einkaufspreisen beschädigt werden, sondern antizipieren das Übel und kompensieren prophylaktisch eventuelle Gewinneinbußen, indem sie nach Möglichkeit höhere Preise durchsetzen. Möglich ist da viel – dafür hat der Staat mit seiner Verschuldung ja einiges geleistet: nicht erst mit einem ‚Sondervermögen‘ für die ‚Zeitenwende‘, sondern schon mit der jahrzehntelangen Rettung der Finanzbranche und der Bewältigung der Corona-Krise.

So mündet und verschwindet der Wirtschaftskrieg, den Deutschland und Europa gegen Russland führen, in einem allgemeineren Phänomen, das als solches gar nicht neu ist im friedlichen kapitalistischen Alltag. Die besondere Wucht, mit der die gewohnte Erfahrung einer allgemeinen Teuerung jetzt auftritt, und das Zurechtkommen des Volkes mit deren besonders einschneidenden Wirkungen werden nun zum großen Thema und Streitobjekt der Politik. Die Machthaber versuchen gar nicht erst, die soziale Katastrophe kleinzureden, denn sie nehmen sie überhaupt nicht als Anklage an ihre Politik, vielmehr als Ruf nach ihrer Macht, die Schäden abzumildern und die Bürger über den Winter zu bringen. Unter der Hand sprechen sie dabei aus, wie geläufig ihnen die schon vorher verbreitete Armut in der Bevölkerung ist: Da rechnen Auskenner vor, ein wie großer Volksteil weit über die offiziell anerkannten Armen und Niedriglohnempfänger hinaus keinerlei finanzielle Reserven besitzt, mit denen er die neuen Belastungen abfedern könnte; andere gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass die Budgets vieler Familien so knapp gestrickt sind, dass sie eine Verteuerung der Lebenshaltung von rund 10 % unmöglich stemmen können. Die Leute sparen jetzt schon, wo sie können. Auch das lassen sie nicht als Kritik an ihrem freiheitlichen System und ihrem segensreichen Regieren gelten, sondern als Ansporn, Hilfestellung bei der Bewältigung der Lage zu geben. Hilfen von oben, in Form immer neuer Entlastungspakete müssen sein. Dabei ist eines klar: Wirkliche Abhilfe, die sich die Betroffenen selbst beschaffen, kommt nicht infrage: Wenn die lohnabhängige Mehrheit tun würde, was sonst alle als ihr gutes Recht handhaben, die etwas zu verkaufen haben, nämlich gestiegene Einkaufspreise in Form gestiegener Verkaufspreise weiterreichen; wenn sie also Lohnerhöhungen durchsetzen würde, die die Verteuerung der Lebenshaltung wirklich ausgleichen, dann geriete die Inflation erst so richtig zu einer Gefahr für die nationale Wirtschafts- und Geldmacht.

Der Kanzler lädt Arbeitgeber und Gewerkschaften zu einer Konzertierten Aktion

Im Bundestag zählt er noch einmal auf, was die Bundesregierung alles auf den Weg gebracht hat, um die Bürger zu entlasten, aber:

„‚Natürlich ist damit das Problem steigender Preise noch nicht gelöst.‘ Deshalb holt er nochmal Luft und kündigt an, er wolle Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ‚zu einer konzertierten Aktion zusammenrufen... Wir brauchen eine gezielte Kraftanstrengung in einer ganz außergewöhnlichen Situation... Alle werden dazu beitragen müssen.‘“ (bundestag.de)

Um welchen Beitrag es im Speziellen geht, ist sonnenklar. Der Kanzler geht davon aus, dass steigende Preise die Gewerkschaften auf den Plan rufen, und kümmert sich darum, wie ihre Reaktion auszusehen hat bzw. wie nicht. Keinesfalls sollen sie ihre Macht für Tarifabschlüsse mit dem Ziel der Reallohnsicherung zum Einsatz bringen.

„Scholz nennt die Tarifabschlüsse in der Chemieindustrie als Vorbild: spürbare Einmalzahlungen anstelle großer Tarifanhebungen. Unternehmen sollen so nicht dauerhaft mehrbelastet und die Inflation zusätzlich befeuert werden – in der Annahme, dass hinter dem bisherigen Geldwertverfall vorübergehende Effekte stecken.“ (Ebd.)

Der Auftrag an die Gewerkschaften, sich mit Lohnzurückhaltung in den Dienst der bedrohten Konjunktur und der Inflationsbekämpfung zu stellen, ergeht nicht als Ordnungsruf, sondern in Form des Lobs. Vorbildlich ist die IG BCE darin, dass sie in der letzten Tarifrunde das Kunststück vorgemacht hat, etwas Spürbares zu erreichen, aber eben gar nicht gemessen am eigentlichen Problem – der Bedrohung des Lebensunterhalts durch drastisch gestiegene Preise, bei denen niemand ernsthaft davon ausgeht, dass sie wieder zurückgehen. Sie hat vielmehr Einmalzahlungen durchgesetzt, die an dem Bedarf der Unternehmen Maß nehmen, dauerhafte Kostenbelastungen zu vermeiden. Die IG BCE behandelt die Inflation so, als wäre sie eine vorübergehende Sache, und kontrahiert damit de facto ein in kürzester Zeit real um 8 % gesunkenes Lohnniveau. So, jedenfalls in diesem konstruktiven Geist, soll es weitergehen.

Bild, Tagesschau, FAZ, Spiegel et al. machen Leser und Hörer derweil – vorzugsweise, indem sie Experten zu Wort kommen lassen – mit einem Mechanismus vom Rang eines ökonomischen Sachgesetzes vertraut, den es unbedingt abzuwenden gilt, der Lohn-Preis-Spirale. Auch wenn die jetzige Teuerung anerkanntermaßen nichts mit Lohnzuwächsen zu tun hat, kommt es umso mehr darauf an, auf Preissteigerungen nicht mit Lohnforderungen zu reagieren. Denn das – die Reihenfolge ist entscheidend – wäre der Einstieg in die Spirale, die die Inflation erst so richtig schlimm macht. Die schlichte Botschaft lautet, dass die Gewerkschaften die gestiegenen Preise der Lebenshaltung auf den Preis der Arbeit nicht aufschlagen dürfen, weil die Arbeitgeber ebendas sonst tun müssten. Um zu verhindern, dass der Lohn diesen Inflations-GAU verursacht, muss eine Konzertierte Aktion allgemein sicherstellen, was die IG BCE so vorbildlich vorgemacht hat: Die Lohnabhängigen müssen im Dienst am Geldwert möglichst viel von der Inflation, die es gibt, als ihre Verarmung schlucken.

Um die sozialen Härten, die damit an der Tagesordnung sind, wird sich dabei gleich gekümmert. Die schweren Zeiten, die den Leuten angeschafft werden, sind ein anerkanntes Problem, dessen Ausmaß der Kanzler mit der Rede von drohenden sozialen Verwerfungen unterstreicht, um darauf hinzuweisen, worin das wirkliche Problem besteht: Der Umgang der Betroffenen damit darf nicht zum Problem für Staat und Wirtschaft werden. Diese Sorge ist bei der Politik in besten Händen: Sie höchstselbst kümmert sich mit diversen Entlastungspaketen darum, jegliche Verwerfung in den eingespielten Verhältnissen abzuwenden. Und die Lösung, die sie in der entscheidenden Tariffrage den Parteien vorgezeichnet hat, versüßt sie mit der Ankündigung einer möglichen weiteren Nachhilfe: Unternehmens- und inflationsfreundliche Einmalzahlungen würden für die Beschäftigten noch spürbarer, wenn der Staat sie von der Steuer befreit.

Den Vorschlag können die Gewerkschaften zwar im Prinzip nur gutheißen, er nährt aber ihren Verdacht, der Kanzler wolle sie mit steuerlichen Anreizen dann doch auf den Weg der Einmalzahlung festlegen. Dieser Verdacht befeuert den einzigen Einwand, [5] den die Gewerkschaften im Vorfeld der Veranstaltung – allen Ernstes – geltend machen: kein Eingriff in die Tarifautonomie! So ein Schritt wäre undemokratisch, vor allem aber unnötig, weil sie sich ganz autonom als verantwortliche Kraft bewähren, die auch die aktuelle Lage im Rahmen der Tarifpartnerschaft und mit den gewohnten Instrumenten bewältigt. Exemplarisch IG-Metall-Chef Hofmann im SZ-Interview:

„Wir lösen keine Lohn-Preis-Spirale aus. Die IG Metall handelt vernünftig. Wir haben das Wohl des ganzen Landes im Blick. Das sehen Sie schon daran, dass wir die zwei Prozent EZB-Zielinflation zum Maßstab nehmen und nicht die aktuelle Inflation von fast acht Prozent. Denn dann wäre unsere Forderung zweistellig. Uns geht es nur darum, angesichts der Inflation mit einer Lohnerhöhung plus staatlicher Entlastung die Kaufkraft der Haushalte zu erhalten. Das ist wichtig, weil die Bürger sonst weniger konsumieren und deshalb und auch wegen der zahlreichen Risiken die Konjunktur einbrechen könnte.“

Dass Interessenvertretung mit Blick auf das Allgemeinwohl Lohnverzicht bedeutet, muss der IG Metall niemand erklären, es ist ihre gängige Praxis. Die aktuell fällige Verarmung soll freilich – wegen der störenden Konsequenz der Armut für die Hauptsache: ohne Kaufkraft keine Konjunktur! – der Staat kompensieren: Wir können nicht alles über die Tarifpolitik lösen. Mit Hilfe dieser bewährten Arbeitsteilung sollte sich die Tauglichkeit des Lohns für die Rechnungen der Kapitalisten schon sichern lassen. Insofern liegt man beim DGB ganz auf der Linie der Konzertierten Aktion und folgt der Einladung gern, nachdem der Kanzler angesichts des demonstrativen gewerkschaftlichen Verantwortungsbewusstseins jeden Verdacht, er wolle die Tarifautonomie relativieren, als fake news einer Sonntagszeitung zurückgewiesen hat.

Das erste Treffen geht ziemlich geräuschlos vonstatten. Die DGB-Vorsitzende Fahimi gibt schon am Vortag in der BamS die Wächterin darüber, ob die Politik ihrer Aufgabe ausreichend nachkommt, die Schäden zu begrenzen, und bringt konstruktiv einen Energiepreisdeckel ins Spiel. Ansonsten geht es ihr allem voran darum, jetzt alles zu unternehmen, um eine Rezession zu verhindern, denn davon ist ja Beschäftigung abhängig. Das Auffälligste ist noch, dass der BDA-Chef Dulger noch einmal demonstrativ auf der Tarifautonomie besteht: Er kann das Resümee der Gewerkschafterin zwar nur unterschreiben, hat allerdings anzumerken, dass die Arbeitgeber mit der Herkules-Aufgabe, ihre Geschäfte in Gang zu halten, vollständig ausgelastet sind und ihnen nicht auch noch irgendwelche andere soziale Aufgaben aufgebürdet werden dürfen. Aber das will ja ohnehin niemand. Die öffentlichen Berichterstatter würdigen das Ganze mit dem Tenor Noch nichts groß bei ’rausgekommen und geben damit zu Protokoll, wie selbstverständlich sie davon ausgehen, dass Deutschland auch die Folgen seines Wirtschaftskriegs mit den bewährten Mitteln und im Konsens angeht und bewältigt. Wie gründlich das Land daran gewöhnt ist, dass die dauerhafte Verschlechterung der Löhne das Mittel ist, schweren Zeiten zu begegnen, zeigt die kurze Aufregung darüber, dass die IG Metall im Herbst dann doch die erste Lohnerhöhung seit April 2018 durchsetzen will.

Wenn Verarmung, dann bitte gerecht!

Weil klar ist, dass die Teuerung nicht durch Einkommenssteigerungen kompensiert werden darf, dass die Folgen und Lasten des Wirtschaftskriegs also an den Beziehern fixer Einkommen hängen bleiben, kommt es – nicht zum ersten Mal, nun aber erst recht – auf die gerechte Verteilung der Lasten, das heißt auf die Ausgestaltung der „Entlastungen“ an, die den Anstieg der Lasten begleiten. Sie müssen „tragbar“ und damit zur neuen Normalität gemacht werden.

Politik und öffentliches Interesse bewältigen die neue Normalität mit ihren alten Routinen: Gefragt sind und diskutiert werden alle Optionen des Staatshaushalts, der die Hilfen finanzieren muss. Soll der Finanzminister unbegrenzt neue Schulden machen und die vereinbarte Schuldenbremse nach Finanz- und Corona-Krise nun aus dem nächsten guten Grund aussetzen? Oder soll er neue Einkünfte kreieren, das heißt neue Steuerlasten verordnen, um die Bürger zu entlasten? Natürlich fällt manchem wirklichen oder ideellen Haushaltspolitiker angesichts dieses Widerspruchs die große Verschiedenheit der Einkommen und Vermögen im Land der Freiheit und Gleichheit ein, und er deutet auf die „starken Schultern“, die in der nationalen Notlage zu mehr Solidarität herangezogen werden sollten.

Die linke Hälfte des Bundestags richtet den Fokus darauf, dass der Vervielfachung der Energiepreise für die Verbraucher ja Unternehmen gegenüberstehen, die diese Preise machen und ohne eigene Leistung, nur durch Ausnutzung der Mangellage eine entsprechende Explosion ihrer Gewinne verbuchen. Eine diese Gewinne abschöpfende „Übergewinnsteuer“ lehnt der Finanzminister als systemwidrig ab: In der freiheitlichen Ordnung ist das Streben nach höchstem Gewinn gewollt und das gute Recht der Unternehmen; diese Ordnung kennt keinen Maßstab, an dem der legitime Gewinn von einem „Über“ zu scheiden wäre. Überhaupt würden Gewinne ja schon, aber eben alle zu gleichen Sätzen besteuert. Die ausgleichende Gerechtigkeit eines Schröpfens der Kriegsgewinnler fällt so dem Einigungszwang in der Koalition zum Opfer.

Zur Entlastung der Bürger bietet Minister Lindner dafür eine Korrektur der „kalten Progression“ an: Der Staat soll an einer durch die Geldentwertung bloß nominellen Erhöhung der Einkommen nicht real verdienen, indem Steuerzahler in eine höhere Besteuerungsstufe rutschen. Das ist eine schöne Idee angesichts des längst feststehenden Beschlusses, dass es Lohn- und Gehaltssteigerungen, schon gleich solche, die die Inflation ausgleichen, für die lohnabhängige Mehrheit nicht geben darf. Prompt entdeckt Arbeits- und Sozialminister Heil, diese Steuerkorrektur würde ihm selbst und ihrem Erfinder Lindner weit mehr „Entlastung“ gewähren als den Leuten, deren problematische Lage sein Ministerium verwaltet. Beim jetzt anstehenden dritten Entlastungspaket seien jedenfalls Rentner, Studenten und Soloselbständige, also die wirklich Armen an der Reihe, die bisher ganz vergessen wurden. Auf diese Leute zielt die Gerechtigkeit, die der Finanzminister vertritt, freilich weniger: Er hat „die arbeitende Mitte“ im Auge, die das Gros der Steuern bezahlt und die viel eher Entlastung verdient hätte und für ihre Funktion auch braucht. So spricht Lindner Leute an, die sich zu den Leistungsträgern der Gesellschaft rechnen und sich den Transferempfängern gegenübersehen. Um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, will er von der Reihe der Entlastungspakete wieder wegkommen. Der Ruf nach einer Nachfolgeregelung für das 9-Euro-Ticket zeigt ihm eine ungute „Gratis-Mentalität“, die zu unserem Wirtschaftssystem so wenig passt wie zum Staat. Dass für solche Bedürfnisse die „Schuldenbremse“ im kommenden Jahr noch einmal ausgesetzt werden könnte, lehnt er rundweg ab. Mit dem Pochen auf die Aufgaben seines Amtes, Staatsausgaben zu begrenzen, Einnahmen sicherzustellen und stets auf die Solidität der Staatsfinanzen zu achten, erinnert er implizit an die kapitalistische Wahrheit, dass immer noch der Staat vom Volk lebt und nicht umgekehrt. Und eben auch daran, dass alle Freiheiten, die der heutige deutsche Staat bei der Schuldenfinanzierung seiner Aktivitäten hat, darauf beruhen, dass die Finanzminister vor ihm auch schon immer so gerechnet haben.

Und so fort...

Die nicht endende Diskussion über die Gerechtigkeit der Be- und Entlastungen der verschiedenen Bürgerkategorien ist schon die halbe Miete, nicht weniger wichtig jedenfalls als die materiellen Hilfen selbst zum Durchstehen der „schweren Zeiten“, die über uns gekommen sind. Dem hohen Wert der nationalen Solidarität, die der Kanzler mal in einer Schlagerversion You’ll never walk alone, mal mit einem ganz eigenen Bild Wir müssen uns unterhaken verspricht, fügt die freche Ehrlichkeit seines Wirtschaftsministers den realistischen Unterbau hinzu: Solidarität und Gerechtigkeit sind kein Selbstzweck, sondern nötig; sie erfüllen eine Funktion: Wir müssen über einen harten Winter den demokratischen Konsens aufrechterhalten, damit Extremisten von links und rechts keine Chance zur Spaltung der Gesellschaft haben. Der Eindruck einer fairen Verteilung der Verarmung ist unverzichtbar, damit die Betroffenen sie sich gefallen lassen und nicht aus dem Ruder laufen.

Politische Unzufriedenheit droht nämlich. Ein „heißer Herbst“ und neue Montagsdemonstrationen sind schon angekündigt. Angesichts der Dimension der angesagten und schon eingetretenen Verarmung und ihrer von der Staatsführung selbst beschlossenen Verursachung verschwindet der Wirtschaftskrieg gegen Russland dann doch nicht ganz hinter dem Streit um die Bewältigung seiner sozialen Folgen. Es braucht die Einsicht der Massen in seine Notwendigkeit und Legitimität. Der Streit der Parteien und seine Verarbeitung durch die Medien liefern dazu Argumente und Gesichtspunkte.

[1] BMWK, Fortschrittsbericht Energiesicherheit (25.3.22)

[2] EU-Verordnung über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung (2017/1938)

[3] Insgesamt haben kurz nach Einführung der Verordnung zwölf Unternehmen bis dato ca. 34 Mrd. Euro an Ausgleichsanspruch geltend gemacht.

[4] Energiepolitik dient auch der Sicherheit. (FAZ, 7.4.22)

[5] Natürlich verstehen die Gewerkschaften, was in der Konzertierten Aktion von ihnen verlangt ist. Nur zu moderat darf die konzertierte Lohnpolitik nicht ausfallen, damit sie ihre Funktion des befriedenden Flankenschutzes erfüllen kann:

Ende der 1960er Jahre gab es die Konzertierte Aktion von SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller, bei der sich die IG Metall und andere Gewerkschaften auf sehr moderate Lohnabschlüsse einließen. Weil sich die Arbeitnehmer angesichts der hohen Inflation von den Gewerkschaften nicht mehr ausreichend vertreten fühlten, kam es ab 1969 zu wilden Streiks. Als Reaktion forderten die IG Metall und andere Gewerkschaften zweistellige Lohnerhöhungen. Daran sehen Sie: Eine zu moderate Lohnpolitik ist falsch, weil das Pendel danach in die andere Richtung ausschlägt. (Hofmann, SZ-Interview)