Die bürgerliche Öffentlichkeit und ihre modernen Wurmfortsätze
WikiLeaks und die anderen – Herrschaft einfach weginformiert

WikiLeaks hat das erklärte Ziel, „die unverhüllte Wahrheit in die Öffentlichkeit zu bringen“, die seiner Meinung nach Regierungen und Wirtschaftskreise verschleiern. Damit, so das kritische Selbstverständnis der Initiatoren der Enthüllungsplattform, entlarven sie das verschwörerische Treiben von Herrschaften, die sich demokratisch geben, aber mit der Unterdrückung von Informationen die Öffentlichkeit systematisch hinters Licht führen und manipulieren. Ein Anliegen, mit dem die Informationsfanatiker nicht nur der Wahrheit dienen, sondern aufklärungsbedürftigen Bürgern wie aufklärungsfeindlichen Politikern auch eine endlich wirksame öffentliche Kontrolle der Macht versprechen bzw. androhen wollen. Zwar ist die Welt bereits bestens ausgestattet mit publizistischen Organen, die alles, was Politik und Wirtschaft treiben, öffentlich kritisch berichten und kommentieren, mit deren Berichten über friedliche wie kriegerische staatlichen Taten gibt sich WikiLeaks aber nicht zufrieden. Den zahlreichen Verlautbarungen demokratischer Politiker oder auch den zugespielten Geheiminformationen die anerkannten politischen Zwecke und gültig gemachten staatlichen Interessen zu entnehmen und die zu kritisieren, halten die Aufklärer, bzw. Aufdecker aber auch nicht für nötig. Ihr Kampf gegen undemokratische Herrschaft ist das Veröffentlichen als solches. Anlass genug für einige sachdienliche Hinweise über die affirmativen Leistungen bürgerlicher Öffentlichkeit und wie WikiLeaks als Anwalt echter demokratischer Kontrolle deren kritisches Selbstverständnis als ‚Vierte Gewalt‘ im Staat radikalisiert.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Gliederung

Die bürgerliche Öffentlichkeit und ihre modernen Wurmfortsätze
WikiLeaks und die anderen – Herrschaft einfach weginformiert

Eine Internetseite und ihr Chef sorgen weltweit für öffentliches Aufsehen. Die Website „WikiLeaks“ hat erklärtermaßen das Ziel, wichtige Neuigkeiten und Informationen an die Öffentlichkeit zu bringen (WikiLeaks-Website). Sie stellt einen kryptographisch verschlüsselten elektronischen Briefkasten zur Verfügung, über den jedermann unter Wahrung seiner Anonymität der Website Informationen jeglicher Art und Herkunft zum Zwecke ihrer Veröffentlichung zukommen lassen kann. Angesichts ihres hohen Auftrags sind die Aktivisten von WikiLeaks nicht kleinmütig: Wir sind furchtlos in unseren Anstrengungen, die unverhüllte Wahrheit in die Öffentlichkeit zu bringen (ebd.), und versprechen nicht weniger, als mit ihrem neuen Angebot im Netz einen neuen Stern am Firmament der Menschheit zu platzieren. (Gründer Assange, Spiegel, 4/2011) Die Website präsentiert dann auch Geheimpapiere und bislang unveröffentlichte Bilder aus überwiegend amerikanischen Regierungs- und Armeearchiven über den Irak- und Afghanistankrieg, enthüllt allerlei bislang unveröffentlichtes Material über Korruption in Regierungen, großen Firmen oder über die Scientology-Sekte, das ihr zugespielt wird, und macht zuletzt Furore mit der Veröffentlichung unzähliger außenpolitischer Depeschen aus dem Bereich des diplomatischen Dienstes der USA.

Nun ist es gar nicht so, dass die Welt mitsamt ihrem Cyberspace nicht bereits bestens ausgestattet wäre mit publizistischen Organen, die die Menschheit rund um die Uhr in Bild und Ton, auf Papier und digital mit Informationen und meinungsstarken Kommentaren versorgen. WikiLeaks versteht sich ausdrücklich als Teil dieser journalistischen Öffentlichkeit (Assange, Spiegel 50/2010), will aber auch einen ganz „neuen Typus des wissenschaftlichen Journalismus geprägt“ haben, dessen Wissenschaftlichkeit darin besteht, dass der Leser nun die Story mit den Originaldokumenten im Netz vergleichen kann (Spiegel, ebd.). Ist das der zusätzliche, neue und noch kritischere Dienst an der Wahrheitsfindung, den die Macher von WikiLeaks der Menschheit angedeihen lassen? Und inwiefern sind sie tatsächlich Teil des alten Modells der Öffentlichkeit und deren Medien, mit denen WikiLeaks zusammenarbeitet, um den Menschen die Nachrichten zu bringen (Spiegel, ebd.)?

Das ganz normale Nachrichtengeschäft: Kritische Informationsvermittlung und Produktion von Verständnis

Dass journalistisch hergestellte Öffentlichkeit eine grundsätzlich kritische Stellung gegenüber den politisch Mächtigen im Land einschließt, die je nach dem Platz der jeweiligen Redaktion im Meinungsspektrum variiert, ist ein Standpunkt, den die professionellen Macher der alten Medien mit ihren neuen Web-Kollegen als das Ethos ihres Berufsstandes durchaus teilen. Das sehen sie in den verfassungsrechtlichen Geschäftsbedingungen des demokratischen Medienwesens gut aufgehoben: Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit, als Grund- und Menschenrechte in demokratischen Verfassungen und selbst in der UN-Deklaration der Menschenrechte statuiert, schützen die Abgabe und Rezeption von Informationen und die Freiheit der in der Massenkommunikation tätigen Personen im Hinblick auf deren massenkommunikative Vermittlungsleistungen. All den mehr oder minder kritischen Geistern, die sich an der Verwirklichung der Informationsfreiheit zu schaffen machen, erlaubt das freiheitlich verfasste Staatswesen ihre Aktivitäten und legt Wert auf die geistigen Wirkungen, die von diesen Freiheiten ausgehen (BVerfG, Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, Art. 5 RdNr. 1 und 23). Betraut mit dieser Vermittlungsleistung in der und für die demokratische Öffentlichkeit ist vornehmlich, und zwar im Rang eines verfassungsrechtlichen Rechtsguts, das Institut freie Presse, das in munterem meinungspluralistischem Wettbewerb gemeinsam eines der vornehmsten Grundrechte (BVerfG, ebd.) praktiziert.

Von den geistigen Wirkungen dieser Leistung legt die Medienwelt Tag für Tag beredtes Zeugnis ab, wenn sie den Diskurs zwischen regierten Bürgern und regierender Staatsmacht auf allen verfügbaren Kanälen und Druckseiten ins Werk setzt. Die in der Massenkommunikation tätigen Personen gehen ohne weiteres davon aus, dass es entsprechend dem Leitbild der Verfassung viel zu vermitteln gibt: Auf ihre Art nehmen sie täglich Kenntnis von Gegensätzen zwischen Volk und Führung, etwa wenn diese im Zuge ihrer Regierungsgeschäfte das Wachstum des nationalen Reichtums fördert und jenes dabei in Teilen von Politik und Kapital so gefordert wird, dass ihm mit scharf kalkulierten Löhnen und knappen Sozialleistungen das monatliche Überleben schwer wird. In den – der Sache nach – feindseligen Gegensätzen der sozialen und ökonomischen Interessen auf den Haupt- und Nebenschauplätzen der Gesellschaft und bei deren gewaltgestützter politischer Betreuung durch demokratische Regierungen wollen die Öffentlichkeitsarbeiter der Nation allerdings nichts anderes entdecken als ein andauerndes, großes Kommunikationsproblem, das immer wieder zu lösen die wichtige und schöne Aufgabe ihrer Profession ist. Die Behauptung unvereinbarer Klassengegensätze halten sie für eine falsche, schädliche und historisch überholte radikale Zuspitzung und sind dagegen der Auffassung, dass man sich in Demokratien grundsätzlich über alles einig werden kann, notfalls eben durch die Wahl einer neuen Regierung. Bedingung dafür, dass aus Interessengegensätzen ein zwar stets kritisches, aber gedeihliches Zusammenwirken von Volk und Führung werden kann, ist aber, dass das Volk über die Vorhaben seiner Regierung und die damit verbundenen nationalen Drangsale bestmöglich unterrichtet wird. Deswegen sind die Leute vom Fach so wichtig. Die gewählte und damit zur Wahrnehmung der Richtlinienkompetenzen freigesetzte Führungsmannschaft präsentieren sie als irgendwie dauerhaft weisungsgebundene Auftragnehmer der Stimmbürger, denen ihre politischen Herren jedenfalls Rechenschaft und Aufklärung auf Augenhöhe schulden, und stellen damit auf denkbar billigste Art das Herrschaftsverhältnis zwischen der Staatsmacht und deren wahlberechtigten Objekten auf den Kopf: Weil sich die befehlsgewohnten Chefs der demokratischen Nationen von ihrer Öffentlichkeit regelmäßig zu Aufklärungszwecken über ihre Sicht der Dinge aufsuchen oder einbestellen lassen, um sich hart aber fair befragen zu lassen – was nun, Frau Merkel?! –, sollen sie schon im Dienst des Publikums stehen. Seinen Ruf und sein Selbstbewusstsein als kritische Instanz, die die Erledigung dieses Dienstes ständig überwacht und ihre Kundschaft darüber auf dem Laufenden hält, stützt der Berufsstand der Journalisten auf diese kleine, aber feine Verwechslung. Auf Grundlage dieser gelungenen Vermittlungsleistung entfalten sie den Idealismus, für den Journalisten ihre Leser, Hörer und Zuschauer fortwährend zu vereinnahmen trachten: Danach dürfen die Anliegen der Führung auf das Verständnis, wenn auch vielleicht nicht gleich das Einverständnis der darüber Informierten hoffen, wenn sie sich durch Einhaltung ihrer Informationspflichten um eine Gesprächsbasis mit der Bevölkerung, vertreten durch die freien Medien, bemüht. Und so wird das wohlwollende Versprechen in die Welt gesetzt, dass die Herrschaft, legt sie nur ehrlich dar, was der Fall und was geplant ist, jedenfalls mit einem verantwortungsbewussten Urteil der gut unterrichteten Bürger rechnen kann. Unterlässt sie dies, dann vertraut sie offensichtlich nicht auf deren Einsichtsfähigkeit, und beweist, dass sie Misstrauen verdient und wohl Grund hat, nicht mit Verständnis zu rechnen.

Dass sie ihre Informations- und Kommunikationspflichten nicht wahrnähmen, lassen sich demokratische Regierungen nicht gerne nachsagen: Deshalb arbeiten sie im Verhältnis zu diesem Volk ausdauernd und zusammen mit allen Medien an der ideologischen Basis grundsätzlicher Gemeinsamkeit, bei aller offenkundigen Gegensätzlichkeit, die aber immer nur in einzelnen Sachfragen gelten soll, über die man eben reden muss: Die Öffentlichkeit übernimmt es, dafür gibt es sie, das Volk via Presse, www und Fernsehen fortwährend in die Nöte der Nation einzuweihen, mit den Erwägungen ihrer Führer vertraut zu machen und Tag und Nacht mit der Ansage zu traktieren, die Sorgen der Leute und die des Gemeinwesens wären sowieso grundsätzlich dieselben – eine verlogene Gleichung, die die Politik kraft ihrer Regierungsgewalt allerdings jeden Tag wahr macht: Sie macht die Probleme der Staatsmacht zu denen der Leute, die für deren Lösung in Haftung genommen werden, wenn sie mit der Kürzung ihrer Ansprüche und unverdrossenem Arbeitseinsatz Krisen meistern oder helfen sollen, den Etat zu sanieren, während ein Krieg am Hindukusch zu den Kosten ihrer Freiheit gehört.

Umgekehrt und aus demselben Grund sind die Medien fortwährend auch befasst mit dem Transport von Botschaften, die sie dem Volk ablauschen; nimmermüde artikulieren sie die Sorgen und Nöte von Steuerzahlern und Verbrauchern, Alleinerziehenden, Bahnfahrern und Missbrauchsopfern, damit sie als nicht zu übergehende Probleme gehört, öffentlich debattiert und schließlich in den Führungsetagen des Gemeinwesens nach pflichtgemäßem Ermessen irgendwie berücksichtigt werden. Publikumsbefragungen, Interviews mit Lesern oder – bei der Bild-Zeitung – von Lesern gelieferte Reportagen stiften unschlagbare Authentizität der Berichterstattung. Darin kann das Publikum sich wiederfinden und erfahren, was es selbst gerade an Stelle der Regierung Kreuzvernünftiges tun würde, hätte es auch was zu sagen: medial inszenierte Mitteilungen an die Adresse der Politik, die dem öffentlichen Organ, das so unverfälscht in Millionenauflage aus dem wirklichen Leben des Volkes zu berichten weiß, vielleicht sogar politischen Einfluss verschaffen kann. Mit diesem tagtäglich in Gang gehaltenen Fluss von Mitteilungen aller Art, der sich aus den Bereichen Politik, Kultur, Wirtschaft und menschlich Vermischtes speist und den kommunikativen Austausch zwischen oben und unten bewerkstelligt, werden die Bedürfnisse der Herrschaft nach Verständnis für ihre Maßnahmen ebenso bedient wie die des Volkes, von seinen Anführern bei der Bewältigung seiner Drangsale respektiert zu werden – und die Bedürfnisse der Medien als kritischer und selbstverantwortlicher Teil dieser freiheitlichen Herrschaft sowieso.

Wo das öffentliche Informationswesen mit aller kritischen Distanz und im vollen Selbstbewusstsein seiner systemischen Wichtigkeit dazu dient, die Herrschaft als unermüdlichen Auftragnehmer der Wählerschaft zu präsentieren, wo Transparenz des Regierungshandelns und Aufklärung über die Lage der Nation als hinreichende Voraussetzung dafür gelten, dass die Leute sich verständnisinnig den Erfolg ihrer Anführer angelegen sein lassen und sein Ausbleiben kritisch beklagen, da sind die berufsmäßigen Informanten der Medienwelt als mitentscheidende Koproduzenten des staatsbürgerlichen Verständnisses tätig. Das wird in allen Varianten der journalistischen Berufsausübung erzeugt und gepflegt, und stets wohnt ihm der Auftrag der gemeinsamen Zuständigkeit von Führern und Geführten für die Schicksale des Gemeinwesens inne.

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Information ist in diesem Metier nicht einfach die Bekanntmachung von Fakten. Der Blick auf die Welt der berichtenswerten Tatsachen erfolgt von Anfang an im Lichte der Verantwortung für die Sache, über die man informiert, sodass der Transport von Interpretationen und parteilichen Deutungen funktioniert, ohne dass der Modus der Berichterstattung verlassen wird: Wie es an sich unschuldige strenge Winter hinbekommen, saisonbedingt die Arbeitslosenzahlen in die Höhe zu treiben und manchmal auch die Ölpreise, wird Zeitungslesern so oft berichtet, bis auch dem letzten dieser Sachverhalt so geläufig ist, dass er ihn denken kann, ohne sich dabei eine ungute Idee über die Kalkulationen der entlassenden Unternehmen leisten zu müssen, die eben auch das Wetter als Geschäftsbedingung berücksichtigen. Deutsche Landesbanken erleben ein Finanzdesaster nach dem anderen, was erkennen lässt, dass die Berichterstattung sich für das nationale Finanzkapital, das eigentlich ein Recht auf und die Pflicht zum Erfolg hat, durchaus ein glücklicheres Schicksal hätte vorstellen können. In der weiten Welt sorgt der Anstieg der Lebensmittelpreise für noch mehr Hunger, als ob es nicht daran läge, dass unter dem weltweiten Regime des Eigentums ohne Bares niemand satt wird; die Chinesen machen die seltenen Erden knapp, die für uns so wichtig sind und deswegen auch uns zustehen; bis neulich befreundete Regierungen nordafrikanischer Folterstaaten werden – kaum überdenkt die heimische Diplomatie ihre Unterstützung im Zug ihrer Destabilisierung durch allerlei Volksaufstände – zu Regimes, verlässliche Präsidenten zu Autokraten und in atemberaubendem Tempo zu Diktatoren; und die Medien lassen ihre User teilhaben an den Überlegungen von Korrespondenten, Orientalisten und Politikern, wie man den aufgewühlten Völkern zu Demokratien verhelfen könnte, die noch stabiler sind als ihre alten Terrorsysteme. Die Statements der Sozial-, Wirtschafts- und Außenminister, die sich um all das von Amts wegen zu kümmern haben, werden in Bild und Ton wiedergegeben, und in Interviews erhalten sie Gelegenheit, Hunger und Elend, Spekulation, Folter und Umstürze als Gegenstände ihrer Verantwortung zu besprechen, die sie im Umgang mit der Welt, wie sie nun einmal ausweislich der neuesten Nachrichten ist, stellvertretend für uns alle wahrnehmen. Wenn sie sich darum zur Zufriedenheit der aufmerksamen Öffentlichkeit bemühen und bei der Bewältigung der großen und kleinen Katastrophen glaubwürdig wirken, dann ist die mangelhafte Welt, wie sie uns aus dem öffentlichen Berichtswesen entgegentritt, jedenfalls insoweit in Ordnung, als zumindest ihre Probleme in guten Händen sind.

Offenkundig ist dem Nachrichtenstrom, den die Akteure der Informationsfreiheit laufend erzeugen, eine Art methodischer Begleittext eigen, der ihnen so selbstverständlich ist, dass sie ihn sich nicht eigens ins Bewusstsein rücken müssen: Das Publikum wird von einem seriösen Standpunkt nationaler Interessiertheit und Zuständigkeit informiert, von dem aus die Härten und Verrücktheiten einer kapitalistisch bewirtschafteten und imperialistisch geordneten Welt einfach als die faktische Nachrichtenlage aufscheinen. Aus der ergeben sich fortlaufend die Objekte politischen Problem- und Verantwortungsbewusstseins, die von der zuständigen Politik zu bearbeiten sind. So klar diese Botschaft auch aus den ausgewählten und aufbereiteten Informationen hervorgehen mag, kommentierende Belehrung über das rechte Verständnis und die richtige Einordnung der Nachrichtenseiten wird dadurch keineswegs überflüssig: Der Drang nach parteilicher Interpretation der Lage der Nation ist so groß, und die Kommentarseiten der Zeitungen zeugen davon, dass nach der Auffassung der Herausgeber dort die Meinungsfreiheit einen ganz eigenen Auftritt haben soll, und zwar als ausdrückliches Bekenntnis zum Standpunkt der Sorge um und der Verantwortung für das Gemeinwesen, und sauber getrennt von der verantwortungsvollen Berichterstattung über Fakten, Fakten, Fakten ...

Auf diese Weise erbringen Journalisten ihre gesetzlich geschützte Vermittlungsleistung zwischen der Herrschaft und ihrem Volk, auf das sie sich als ihre Basis und ihr Mittel bezieht: Indem sie die Politik kritisch beobachtend begleiten, ihre Kundschaft mit den Sorgen der Regierenden befassen und sie, ohne dass es für diese Berufsausübung einer parteipolitischen Absicht bedürfte, mit parteilicher Information über die Welt versorgen. Sie pflegen mit Zustimmung und Dissens zur laufenden Politik den Standpunkt der staatsbürgerlichen Anteilnahme und wirken als entschieden demokratischer Nachrichtendienst nach Kräften daran mit, die Gegensätze zwischen Regierung und Regierten ideell aufzuheben, die informierten Bürger für die Drangsale der Obrigkeit zu vereinnahmen und den Zusammenhang und Zusammenhalt zwischen dem Vorstand des Gemeinwesens und seinen gewöhnlichen Mitgliedern dergestalt zu stärken, dass erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit den Herrschaftscharakter demokratischen Regierens glatt zum Verschwinden bringt.

Enthüllungsjournalismus der alten Art – der gemeinschaftsbildende Nutzen von Skandalen

Von der demokratischen Systemrelevanz des öffentlichen Informationswesens wollen die rücksichtslosen Enthüller von WikiLeaks nichts wissen. Sie sind der Auffassung, das Wesentliche am staatlichen Regieren finde im Verborgenen statt, davon ausgehend, dass rückhaltlose Information darüber nicht zur Vermittlung zwischen Regierung und Volk, sondern zu seiner Entzweiung führen würde, weshalb die Öffentlichkeit von den Regierenden stets nur mit dem lügenhaften Schein des Eigentlichen befasst werde.

Der Gedanke, zuviel Geheimhaltung könnte ein Hinweis auf demokratisch nicht einwandfreies Regieren sein, war auch den Vertretern der klassischen Medien nie fremd. Sie halten dafür, dass die Entzweiung zwischen Staat und Bürgern zu vermeiden ist durch verantwortliche Information über den Stand der Dinge, für die die Bürger sich mitzuständig fühlen sollen. Diese Dinge heißen deswegen auch öffentliche Angelegenheiten, oder bei den gebildeten Ständen res publica, als Verweis auf die historische Ehrwürdigkeit des Ideals der Einigkeit von Volk und Führung vermittels des offenen und öffentlichen Diskurses mit gut unterrichteten Bürgern. Dass das die unverzichtbare Grundlage sei für die Erzeugung von Verständnis gegenüber notwendigen Regierungsmaßnahmen und die Verständigung zwischen Gesellschaft und Staat über den Weg der Nation, ist eine Auffassung, die politischer Geheimniskrämerei folgerichtig schon lange vor den Zeiten des Internet eine schlechte Presse eingebracht hat. Weil Politiker ihre Ansagen, Sichtweisen und Sprachregelungen zwar gerne von den freien Medien kommunizieren lassen, andererseits aber aus verschiedensten politischen, privaten oder kriminellen Gründen einen umfangreichen Bedarf an Geheimhaltung haben, hat der aufklärerische Kampf gegen Vertuschung und Mauschelei eine eigene Subspezies des Journalismus hervorgetrieben: Den investigativen oder Enthüllungsjournalismus, der stolz auf eine ruhmreiche Vergangenheit und zahlreiche aufgedeckte Skandale aller Größenordnungen zurückblickt. Der munitioniert sich einerseits mit dem gängigen Ethos der journalistischen Berufe, das die Spitzen von Staat und Gesellschaft als Verantwortungsträger sieht, deren korrekte Geschäftsführung zu kontrollieren ihre vornehme Aufgabe sei. Der noble Zweck heiligt niedrige Mittel. Deshalb ist die miese Logik des Verdachts und ihre investigative Umsetzung abgebrühten Nachrichtenmännern und -frauen ganz geläufig. Im Prinzip hat im politischen Geschäft und in den höheren Etagen der Wirtschaft jeder Dreck am Stecken, weshalb es nur darauf ankommt, einen bei einem Fehler zu erwischen, der den Nachweis und die publikumswirksame Denunziation möglich macht. Die Allgegenwart von Gemeinheiten verschiedenster Art zur Erzielung von materiellen oder politischen Vorteilen, die Gegensätze der politischen und geschäftlichen Konkurrenz, die eben auch mit diskreten Zahlungen geglättet werden, wissen Journalisten allerdings als menschliche Verfehlungen säuberlich vom politischen oder ökonomischen System zu trennen, das sie vielmehr beständig gegen die Verfehlungen einzelner schützen müssen, die es mit ihren geheimen Machenschaften bedrohen. So gehen die großen Woodwards und kleinen Leyendeckers tagein, tagaus dem Verdacht auf klandestine Verstöße gegen das Gemeininteresse im Sinne verwerflicher Sonderinteressen nach, und wenn die Aufdeckung eines Skandals gelingt, so schlagen Erfolg und journalistische Leistung gleich doppelt zu Buche: In sachlicher Hinsicht werden unordentliche Verhältnisse bereinigt, eine Täuschung der Öffentlichkeit beendet, vielleicht eine Bestechungsaffäre aufgedeckt, und Staatsanwälte und Gerichte können zur Wiederherstellung rechtmäßiger Amtsführung schreiten. In ideeller Hinsicht ist ein schöner Skandal, je saftiger desto besser, ein Beitrag zur politmoralischen Ertüchtigung des Gemeinwesens. Das Verantwortungsgefühl der Bürger wird wachgekitzelt, mit der Empörung über Machenschaften der Wunsch nach republikanischer Hygiene bedient und überhaupt die gültige Verfremdung der Politiker zu verantwortlichen Auftragnehmern des gesellschaftlichen Nutzens und Anstandes bekräftigt. In der Skandalisierung eines aufgedeckten Missstandes schwingen sich die Enthüller mit ihren Touren der Verdächtigung und Denunziation zu hochmoralischen Generalvertretern der Allgemeinheit auf, die ihrem Publikum Gelegenheit geben, sich dieser Sichtweise anzuschließen und so das Gemeinwesen in wertvollen sittlichen Aufwallungen ganz zur eigenen Sache zu machen. Die Wichtigkeit allseitiger Informiertheit und politischer Transparenz ist mit jedem Skandal aufs neue bewiesen – sie verhindern gemeinwohlschädliches Verhalten, sorgen für saubere Verhältnisse und damit Akzeptanz demokratischer Politik in Bürgerkreisen. Ist eine verheimlichte Tat erst einmal öffentlich geworden, dann kann auch mit der Bewältigung des Skandals begonnen werden, was in der Regel bald dafür sorgt, dass der Sachverhalt nach und nach den Charakter des Skandalösen verliert. Überhaupt, so lautet die Lehre, gibt es in Politik oder Wirtschaft kaum eine Unverschämtheit oder Zumutung, über die man nicht öffentlich debattieren könnte – sind fünf Euro mehr für Hartz-IV-Empfänger korrekt? Oder sollten es besser acht sein?Der Berechnungsmodus muss offengelegt werden! –, wenn nur ihre Präsentation hinreichend transparent erfolgt, sie also den Schein nachvollziehbarer sachlicher Begründetheit erhält, und nichts verheimlicht wird, sondern im öffentlichen demokratischen Diskurs jedes kritische Wider gegen ein bedenkenswertes Für abgewogen wird. So endet am Ende jede aufgedeckte Heimlichkeit dabei, dass das Skandalöse daran letztlich in der Täuschung der Öffentlichkeit besteht, im Bruch des Vertrauensverhältnisses zwischen oben und unten. Wer also die Öffentlichkeit scheut, ist zu Recht dem Verdacht unlauterer Machenschaften und den investigativen Bemühungen einschlägiger Journalisten ausgesetzt, verweigert er sich doch dem verständnisvollen, herrschaftsfreien Vermittlungszusammenhang mit den Bürgern der Zivilgesellschaft und ist mit seinem Streben nach geheimem Herrschaftswissen dann – was sonst! – wohl auf Herrschaft aus, was wir alle uns keinesfalls gefallen lassen.

Die Helden der Vierten Gewalt und ihr Selbstbewusstsein

Für Öffentlichkeit zu sorgen ist der Beruf von Berichterstattern und Reportern, Kommentatoren und Korrespondenten aller Art. In der Freiheit und Ungehindertheit ihrer Arbeit haben sie ein einfaches und untrügliches Mittel der Unterscheidung von gutem und schlechtem Regieren, von Freiheit und Herrschaft. Dass sie mit ihrer Berufsausübung als leibhaftige Teststreifen für den ausreichenden Demokratiegehalt eines Gemeinwesens durch die Welt laufen, ist nicht folgenlos für das Selbstbewusstsein des Berufsstandes geblieben: Ein Journalist muss nicht viel wissen von der Welt, den in ihr waltenden Interessen und den Bestimmungen all der Verhältnisse, die er interessant oder spannend findet, weil er gut und böse in ihr schon ziemlich gut danach unterscheiden kann, wie er selbst von den zuständigen Stellen behandelt wird. Er beansprucht ganz selbstverständlich Zugang zu jedem Geheimnis, dazu die Unantastbarkeit seiner professionellen Persönlichkeit, und kennt nicht viele größere Verbrechen als die Behinderung der freien Berichterstattung und Übergriffe auf sich und seine Kollegen. Sie repräsentieren schließlich zu Hause und weltweit das Ethos freier, durch ungehinderte Information transparenter Gesellschaften und fordern dafür eine Art weltlicher Heiligkeit ein. Sie fühlen sich als Sachwalter eines Menschenrechts auf Information, dessen Beitrag zum Gelingen der demokratischen als der besten aller Welten und zur Destruktion aller abweichenden Modelle sie gewürdigt sehen wollen: Ganz getrennt davon, worum es in mehr oder weniger freiheitlichen Staaten und Gesellschaften sonst noch geht, von Interessenlagen, die Armut und Ohnmacht ebenso wie Reichtum und Macht hervorbringen, kennen sie die Teilhabe am gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang als ein abstraktes, aber unverzichtbares Lebensmittel für Individuum und Gemeinwesen. Erst das Bescheidwissen – was nicht zu verwechseln ist mit dem dafür ganz überflüssigen Begreifen dessen, was da mitgeteilt wird – über das, was demokratische Öffentlichkeitsarbeit für berichtenswert hält, klinkt den Menschen in seine politische Umgebung ein, und wo es daran fehlt, ist er ausgegrenzt, von seinem Lebenszusammenhang abgeschnitten. Journalisten sehen sich deshalb, indem sie den Mitgliedern der Gesellschaft fortwährend die von ihnen verantwortungsvoll verfremdeten Fakten – worüber auch immer – zur Verfügung stellen, als die Vermittler zwischen dem Menschen und seinen Verhältnissen, was sie schon für einen Wert an sich halten. Wer diesen Prozess behindert – siehe oben –, will den Leuten nicht auf Augenhöhe gegenübertreten, hat autoritäre Ambitionen und schadet der Freiheit des Gemeinwesens: In Demokratien, so die affirmative Botschaft dieser kritischen Profession, geschehen bisweilen auch unerfreuliche Dinge, Journalisten als Personifizierung der freien Öffentlichkeit bringen aber alles ans Licht und heilen damit alle Schäden, während Diktaturen eben dieser heilsame Prozess abgeht. Fehlende Öffentlichkeit schadet also nicht nur dem Volk, sondern auch der Stabilität des Gemeinwesens. Journalisten sind also, auch wenn manche Regierungen das nicht einsehen, eigentlich die Sachwalter des recht verstandenen Interesses der Herrschenden, die, wenn gut regiert wird – siehe oben – auch die des Volkes sind. Sie verbürgen damit, dass die Obrigkeit gar keine Chance auf schlechtes Regieren hat, wenn sie sich nur ohne Heimlichkeiten der journalistisch vermittelten öffentlichen Debatte stellt.

Das virtuelle Gemeinwesen und die Freiheit der Communities

Ein großer Teil der kapitalistisch zivilisierten Menschheit hat inzwischen auf Grundlage der technischen Gelegenheiten, die das Internet bietet, das Informationswesen, an dem sich die Journalisten so verdienstvoll zu schaffen machen, selbst in die Hände genommen. Viele Nutzer des weltweiten Netzes sehen ihren Bedarf nach allseitiger und jederzeitiger Information durch deren Verfügbarkeit über leistungsfähige Online-Verbindungen befriedigt und konsumieren Zeitungen, Radio und Fernsehen – wenn überhaupt noch – nur mehr als Ergänzung ihrer digitalen Nachrichtenquellen. Für die Anlieferung von Nachrichten brauchen sie die alten Medien jedenfalls nicht mehr unbedingt, weshalb diese inzwischen ausnahmslos ihre bisherigen Erscheinungsformen um einen Netzauftritt ergänzt haben, mit dem sie ihre alten Dienste der deutenden Information über den Lauf der Welt und die Weckung und Pflege staatsbürgerlichen Verständnisses mit erneuerter Technik anbieten.

Eine weltweit mehrere hundert Millionen Menschen starke Minderheit hat allerdings inzwischen auch ihren Bedarf nach Vermittlung mit dem Gemeinwesen radikal personalisiert, d.h. dem eigenen Bedarf angepasst und sich dabei von professionellen journalistischen Diensten abgekoppelt. Das ist insofern folgerichtig, als viele von ihnen den staatsbürgerlich-konstruktiven Zwecken des journalistischen Informationswesens desinteressiert bis ablehnend gegenüber stehen, weil sie sich davon bei ihrem Bemühen, sich in den ihnen von Staat und kapitalistischer Konkurrenz aufgemachten Verhältnissen häuslich einzurichten, nicht gut genug bedient finden. Als Mitglieder ihrer jeweiligen Community und aktive Freunde eines umfassenden Kommunikationswesens, in dem sie mit dem, was ihnen wichtig ist, ganz selbstbewusst auch vorkommen wollen, sorgen sie einfach selbst für die Herstellung ihres virtuellen sozialen Zusammenhangs: Sie wollen nicht mehr nur einfach Empfänger von Informationen, passive Rezipienten angelieferter Neuigkeiten sein und nicht darauf warten, dass sie vielleicht irgendwann auch einmal zu Wort kommen. Vielmehr räumt ihnen die Technik des Internet die Gelegenheit ein, sich selber ohne weiteres als interaktive Quellen von Nachrichten zu etablieren, die sie gemeinsam mit anderen für wirklich interessant halten. So entwickeln sie einen umfänglichen Binnenverkehr innerhalb internetbasierter Gemeinschaften, die den Inhalt ihres Nachrichtenwesens selbst kreieren. In Millionen von Diskussionsforen debattieren Internetnutzer die Qualität von Gebrauchsgegenständen, informieren sich gegenseitig über Computerprobleme, billige Urlaubsorte und bewerten die neuesten Filme oder das Benehmen von Prominenten. Als Blogger kommentieren sie die Welt und lassen ihre Kommentare kommentieren, und vernetzen ihren vielfältigen und disparaten Sachverstand zu einer Wiki-Enzyklopädie, die sie, weil so viele dazu beigetragen haben, jeder das darf und jeder jeden korrigieren kann, für die angemessene und optimale Quelle modernen Wissens über die Welt halten. Aus dem Diskurs der User die lexikalische Wahrheit herauszuarbeiten, halten sie für die Verwirklichung des Ideals der freien Information, das durch jederzeitige Korrigiermöglichkeit gegen den Dogmatismus anonymer Bescheidwisser gefeit ist. Der Durchblick der vielen lässt keine Intransparenz mehr zu, jedenfalls soweit man sie per Internet aufhellen kann, was der unechte Doktor im Verteidigungsministerium nach der spontanen Gründung der Entlarvungsseite GuttenPlag Wiki schmerzlich erfahren musste: So gründlich wie die gefälschten Seiten seiner Dissertation wurde ihm noch keine seiner politischen Gemeinheiten vorgezählt.

Das Problem, an dem sich politische und andere Journalisten berufsmäßig so gerne abarbeiten, die Vermittlung zwischen den Mitgliedern des Gemeinwesens und seiner machtvollen Führung so hinzubekommen, dass sich Differenzen und Gegensätze zwischen ihnen in ein kritisch-verständnisvolles Miteinander auflösen, existiert in den Freundeskreisen des Internets naturgemäß nicht. Das interaktive Kommunikationsverhältnis selbst und die dort in aller Unverbindlichkeit aufgeworfenen Gegenstände der Erörterung machen ja den ganzen Inhalt dieser Gemeinschaften aus, in denen sich jeder, wie er mag, einbringen kann und nicht mehr als eine Website oder ein Profil benötigt, um gleichberechtigte Zugehörigkeit zu praktizieren, von wem auch immer gehört zu werden und in facebook oder anderen social networks unzählige Freunde zu erwerben. Die veranstaltenden Firmen, die mit Werbung und den Daten ihrer Nutzer viel Geld verdienen, haben den Mitgliedern ihrer Netzwerke eine zwar nur eingebildete, aber dafür um so freiere Gemeinschaftlichkeit geschenkt: Die kennen das Ethos der demokratischen Öffentlichkeit, mittels eines allseitigen Kommunikationszusammenhangs aus Gegensätzen ein auf Einsicht und Freiwilligkeit gegründetes Gemeinwesen zu schaffen, nur als die Realität ihres fiktiven Internet-Lebens. Das Netz liefert die Garantie der gegensatzfreien Gemeinschaft, in der Herrschaft echt kein Thema ist, und gibt damit viel Gelegenheit für die kleine Verschiebung im Bewusstsein mancher User, das von ihnen selbst so frei gepflegte virtuelle Gemeinwesen sei ihr eigentlicher Lebensumkreis und –inhalt, und von durchaus höherem Rang als die staatlichen Zwangsverhältnisse, denen man ja auch noch angehört.

Einerseits, und darüber räsonieren seriöse Feuilletons, ist diese Sorte moderner Eskapismus irgendwie verdächtig; und die Niveaulosigkeit dieser neuen Freiheit, die es erlaubt, sich noch mit dem blühendsten Unsinn und dem banalsten Inhalt einer Mitteilung, ganz eigenverantwortlich ins Netz gestellt, in seiner selbstgewählten Community einzubringen, mag ihnen auch nicht recht gefallen. Andererseits repräsentieren für sie die social networks auf höchst authentische Weise den Stand des öffentlichen Informationsideals mit den neuen Mitteln der Technik: Wenn dergestalt der Geisteszustand ganzer Volksteile digital unterwegs ist, ist er als Gegenstand öffentlicher Betrachtung und als Quelle authentischer Information auch wieder wichtig und interessant, zumal dann, wenn die Internetgemeinde sich jenseits der virtuellen Beziehungswirtschaft auch im wirklichen Leben einmal als politische Kraft bemerkbar macht: Begegnet ihr nämlich in der Welt der frei flottierenden Daten unversehens der Staat, etwa in Form von rechtlichen Regelungen, die den Gebrauch der Netztechnik und die Zugriffsfreiheit auf unerwünschte Inhalte regeln wollen, wird diese Gemeinde gerne auch einmal renitent. Ihre Vertreter wenden die Maßstäbe der Freiheit, die sie aus ihren fiktiven Gemeinschaften gewohnt sind, auf das echte Leben und die dort waltende Rechtsmacht der real existierenden Politik an und beschweren sich über Eingriffe in ihre essentiellen Rechte, die sie nicht einmal für den Schutz unschuldiger Kinder vor Pornografen dulden wollen. Und manche gründen gleich eine kleine Piraten-Partei, die als Wahlverein und Teil des Systems, das ihre schöne herrschaftsfreie Netzwelt bedroht, eben dieser Bedrohung entgegentreten soll.

Anlässlich der Unruhen in Tunesien, Ägypten und anderswo, bei denen Internet und soziale Netzwerke zur Organisation von Demos verwendet wurden, gibt es Komplimente: Westliche Beobachter schreiben der Facebook-Jugend dieser Länder anerkennend einen kämpferischen, demokratiefreundlichen Idealismus zu, der ihnen aus den freiheitlichen Usancen dieser Gemeinschaften zugewachsen sein soll. Das wird in manchen Fällen schon so sein. Die Begegnung mit ihren neuen, auf welche Weise auch immer demokratisierten Herrschaften und deren Ansprüchen an den öffentlichen Diskurs steht in diesen Ländern der umstürzlerischen Internet-Generation erst noch bevor, die bislang, soweit ersichtlich, ein gemeinsames politisches und soziales Interesse durch ihre Vernetzung ersetzt hat.

Das virtuelle Gemeinwesen als herrschaftskritischer Maßstab für gute Regierung – Verschwörung als Regierungshandeln

Die Veranstalter der Enthüllungsseite WikiLeaks haben die Praxis des freiheitlichen Informationsflusses in den weltweiten social networks, die dort als Maßstab echter Freiheit gilt, entschieden kritisch gewendet und das Netz zu einer politischen Waffe umgewidmet. Beim Abgleich dieser selbstbestimmten Sender-Empfänger-Gemeinschaften des www mit der wirklichen Welt haben sie einen sehr einsinnigen, radikal herrschaftskritischen politischen Handlungsbedarf entdeckt: Vollständige Informationsfreiheit und umfassende Informiertheit der Gesellschaft ist weit von ihrer Verwirklichung entfernt. Wenn WikiLeaks stellvertretend für die globale Internetgemeinde Maß nimmt an dem Anspruch auf jederzeitige Verfügbarkeit jeder Art von Information für jeden, dann kann im real existierenden Verhältnis der Bürgergesellschaften zu ihren Regierungen angesichts deren notorischer Geheimniskrämerei von einer herrschaftsfreien demokratischen Vermittlung von Volk und Führung nicht die Rede sein. Daran muss dringend gearbeitet werden, und WikiLeaks ist die Speerspitze dieses freiheitlichen Reformbedarfs.

Mit dem Ethos der bürgerlichen Öffentlichkeit erklären sich die Macher von WikiLeaks solidarisch, andererseits proklamieren sie die Notwendigkeit einer entschiedenen Fortentwicklung des kritischen Verhältnisses zur offiziellen Politik mit den Mitteln der modernen Informationstechnik, die keine Rücksichten auf bisherige Gepflogenheiten journalistischer Aufklärung mehr nehmen dürfe. Wo das bürgerliche Medienwesen ausdauernd die Verantwortungsgemeinschaft von Bürgern und Obrigkeit herbeiinformiert und -kommentiert, sehen die Gründer von WikiLeaks grundsätzlich schon auch ihre Vorstellung einer umfassend informierenden und informierten Öffentlichkeit am Werk, die sie für die gelungene Verlaufsform eines herrschaftsfreien Gemeinwesens halten: Sie sehen sich in einer Front mit ihren Kollegen von den klassischen Medien, wenn sie für offenes Regieren ohne Geheimnisse vor den Bürgern als die effektivste Methode zur Förderung guten Regierens (WikiLeaks-Website) optieren. Und mit den alten Haudegen des Enthüllungsjournalismus glauben sie sich in jeder Hinsicht einig über die mehrfach heilsame Kraft aufgedeckter Skandale: „Offengelegte Tatsachen ... befähigen Bürger dazu, gefürchtete und korrupte Regierungen und Unternehmen vor Gericht zu bringen.“ Wer Aufdeckung befürchten muss, lässt seine Machenschaften gleich sein und wird auch noch gezwungen, die ethischen Implikationen seines Handelns zu bedenken! Wer würde sich, so fragen sich die Assanges in ihrer unnachahmlich praktischen angelsächsischen Art, noch die Mühe machen, heimlich ungerecht zu handeln, wenn es sowieso bald herauskommt und es deswegen viel easier wäre, gleich gerecht zu handeln? [1] Überhaupt würde insgesamt die Transparenz verbessert, und diese Transparenz schafft eine bessere Gesellschaft für jedermann in Gestalt von stronger democracies. Dafür braucht es gesunde journalistische Medien und: Wir sind Teil dieser Medien. (ebd.)

Was aber die demokratischen Medien derzeit an Informationsvermittlung und aufklärerischer Betreuung der Bürger leisten können, halten die Macher von WikiLeaks eben überhaupt nicht für den wünschenswerten, sondern für einen äußerst mangelhaften Stand der Dinge, dem angesichts des anhaltenden Widerstands regierungsseitiger Informationsquellen nur durch einen neuen und radikaleren Anlauf auf dem Feld der Informationsbeschaffung abgeholfen werden kann. Das Problem ist bekanntlich: Wir wissen einfach nicht genug von dem, was die da oben tun! Und die rücken Informationen nicht freiwillig im nötigen Umfang heraus.

Was Politiker mitteilen, was sie jahrein, jahraus im Gefolge ihrer Ankündigungen tun, wie sie ihre Absichten begründen und ihre Erfolge und Drangsale deuten, wie sie Fakten mit der ganzen Wucht ihrer öffentlichen Interpretationshoheit so in die ihnen passenden Zusammenhänge stellen, dass sie kaum mehr wiederzuerkennen sind: All ihre Taten, der beständige Strom ihrer öffentlichen Mitteilungen, das unaufhörliche Trommelfeuer ihrer Agitation, ist den Leuten von WikiLeaks nichts anderes als die entweder uninteressante oder unwahre, scheinhafte Außenseite der Geheimnisse, die feared governments and corporations vor der Öffentlichkeit hüten und die deswegen dringend von WikiLeaks enthüllt werden müssen. Sie richten den Fokus ihrer Aufmerksamkeit auf das, was sie für skandalös halten und was ihnen deshalb wirklich wichtig ist: Eben das Geheime im Handeln von Regierungen und Unternehmen, auf dessen Kenntnis eine wirklich freie und rückhaltlos informierte Gesellschaft fraglos Anspruch hat.

Traditionelle Zeitungs- und Rundfunkredaktionen pflegen als Verfechter des freien Informationswesens manchmal auch ein gewisses Verständnis für die Diskretionsbedürfnisse, manchmal auch die Lügen von Politik und Politikern, und entscheiden verantwortungsvoll abwägend [2] zwischen dem Informationsanspruch der Öffentlichkeit und möglicherweise noch höherrangigen Interessen des Gemeinwesens von Fall zu Fall über prekäre Veröffentlichungen. Der Veröffentlichungsradikalismus der WikiLeaks und Co stammt aus einer anderen Welt: Weil Bescheidwissen über grundsätzlich alles das Prinzip ihrer virtuellen Lebenswelt und damit das alles entscheidende Kriterium eines freiheitlichen, kommunikativ vermittelten, globalen Gemeinwesens ist, und weil sich in ihrem Standpunkt das Selbstbewusstsein des IT-Spezialisten, dem keiner etwas vormachen kann, mit dem journalistischen Anspruch auf rückhaltlose Information kombiniert, der ihnen als part of the media sowieso zusteht, verlangen sie gebieterisch, dass diesen Grundsätzen auch der analoge Rest der Welt zu entsprechen habe. Bei näherem Zusehen hat sich nämlich erwiesen, dass real agierende Gewaltorganisationen wie Regierungen in dieser entscheidenden Frage ziemlich oft autoritär funktionieren, ganz anders also als das frei wabernde Gezwitscher einer Internetcommunity, und dass dementsprechend die Unterdrückung von Informationen nicht gelegentlich, sondern fortwährend und schlicht nach Opportunität entschieden, dauernder Bestandteil gewöhnlicher Regierungspraxis ist. Sortiert man dann die Welt nach dem abstrakten Kriterium für Freiheit und Unfreiheit, nämlich danach, ob und wo für jedermann der Zugang zu jeder Information eröffnet ist, dann ist die Unterscheidung von offenen Regierungen und autoritären Herrschaften, von gut und böse also, ganz einfach.

In einer blitzsauberen Analyse teilen die Prüfer von WikiLeaks dem Publikum das Ergebnis ihrer Beobachtungen mit, nämlich dass wir verschwörerisches Zusammenwirken bei der politischen Elite ...als hauptsächliche Planungsmethode zum Zwecke der Erhaltung und Stärkung der autoritären Herrschaft (sehen). Autoritäre Mächte halten ihre Pläne verborgen. Das genügt, um sie als verschwörerisch zu definieren. (Verschwörung als Regierungshandeln, J. Assange, Das WikiLeaks-Manifest, 2006) Autoritäre Herrschaft ist durch ihr verschwörerisches Verhalten gekennzeichnet, das dem Zweck ihres eigenen Fortbestandes in Form weiterer Verschwörungen dient. Mit dem scharfen Schluss, dass es sich bei dem, was Missetäter verheimlichen, nur um Missetaten handeln kann, sind die Fronten hinreichend geklärt. Den bösartigen Zirkel von Verschwörung und autoritärer Herrschaft kann eine hochentwickelte, internetbasierte Gemeinschaft – technisch und netzmoralisch gesehen die Daseinsform einer Art freien Weltgesellschaft –, die ihre zivilisatorische Gemeinsamkeit im globalisierten Bescheidwissen über alles hat, nur als Anschlag auf sich auffassen. Gegen die wichtigste Bastion schlechter Regierung, die verschwörerische Geheimhaltung, steht dem freiheitsstiftenden Netzwerk der globalen Kommunikation aber gottlob auch schon ein durchschlagendes Mittel zur Verfügung: Eben dieses Netzwerk selbst, das Internet, bietet den machtvollen Hebel und die historische Gelegenheit, den einschlägigen Missständen ein für allemal ein Ende zu setzen. Die WikiLeaks-Leute haben weiter gedacht als jene vor uns und haben technologische Veränderungen erkannt, die das Risiko der Übermittlung wichtiger Informationen verringern (WL-Manifest, Website, ebd.). Seitdem schlagen sie zu und veröffentlichen was das Zeug hält all das Material, das ihnen aus welchen Motiven auch immer aus dem Bereich von Politik, Militär und Wirtschaft, datentechnisch sauber anonymisiert, in ihren kryptographisch imprägnierten Internet-Briefkasten geworfen wird. Auf die Seriosität ihrer Materialprüfung und darauf, dass ihre Veröffentlichungsaktionen nicht moralisch prinzipienlos, sondern durchaus im besten Sinne principled stattfänden, so jedenfalls, dass kein Unschuldiger gefährdet würde, halten sie sich viel zugute, und auch darauf, mit ihrem Material ausgewählte und weltweit anerkannte Weltblätter zwecks Prüfung und Weiterverbreitung zu bedienen.

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Bei ihrem Kampf gegen die weltweite Verschwörung der autoritären Herrschaften und für gutes Regieren müssen sie nehmen, was sie mehr oder weniger zufällig kriegen, was aber dem selbstgestellten Auftrag gar nicht schadet. Dem ganzen Wust geleakten Materials, auf das WikiLeaks auf seiner Website stolz verweist, wohnt doch Vergleichbares inne, auch wenn man es Berichten über Guantanamo, den Irakkrieg, über durch Giftabfall verseuchte Kenianer, vermutlich hochspannenden Dokumenten über Verhandlungen deutscher Regierungsstellen mit der Mautfirma Toll Collect oder über die Zukunft der privaten Krankenversicherung in Deutschland ebenso wenig ansieht wie denen über internationale Steuerhinterziehungstechniken in der Schweiz und England: Es ist alles geheimes Material! Es handelt sich also um Dokumente über Verschwörungen von autoritären Regierungen und Firmen gegen den Veröffentlichungsanspruch der Bürger, den WikiLeaks stellvertretend für sie wahrnimmt. Es handelt sich um die Veröffentlichung entlarvender Tatsachen, sonst wären sie ja nicht geheim gehalten worden, die also allein wegen ihrer Geheimhaltung schon veröffentlicht werden mussten. Mit einem bunten Strauß der besten Verschwörungen aus aller Welt geben die Assange-Leute an. Sie behaupten einfach mal so, dass ihre Enthüllung über Pharmakonzerne, die überraschenderweise mangels Rendite nicht so gern über Malaria forschen, demnächst diese Krankheit besiegen würde: [3] Das Gegenmittel ist gute Regierung, geboren aus starken Medien (WikiLeaks-Website, ebd.); oder ihr Geheimmaterial über den Afghanistan-Krieg werde nicht nur unseren Blick auf diesen Krieg verändern, sondern auf alle modernen Kriege[4] (Spiegel online, 26.7.2010). Dabei verwandeln sie die ganze Welt und ihre mehr oder weniger eindrucksvollen Schweinereien in lauter kommensurable Fälle gemeinschaftsschädlicher Verschwörungen und der unglaublich heilsamen Wirkung einer wikimäßig aufgebrezelten Öffentlichkeit.

Dass sich die entlarvende Wirkung der von ihnen und allen Enthüllern vor ihnen dokumentierten Tatsachen doch immer ziemlich in Grenzen gehalten hat, angesichts dessen, dass nicht Tatsachen, sondern die Schlüsse, die man aus ihnen zieht, oder die Interpretationen glaubwürdiger Stellen, die man sich in aller Parteilichkeit einleuchten lässt, in den Köpfen der Leute wirksam werden: Damit braucht man ihnen nicht zu kommen. Sie setzen darauf, dass man mit Transparenz erst einmal das Herrschaftsmittel der modernen Zeiten, die Unterdrückung von Informationen, zerstören und die Abschirmung der Herrschaft gegen die machtvolle Community der wissbegierigen und informationsberechtigten Bürger durchbrechen muss.

Auch der Einwand, es bedürfte zur Beseitigung autoritärer Herrschaft doch der politischen Aktion in der wirklichen Welt, von Leuten, die praktische Konsequenzen aus den öffentlich gemachten Gemeinheiten der führenden Eliten zögen, ist durch das Programm einer Heilung der Gesellschaft – einschließlich der Malariakranken – durch strong media schon vorab erledigt: Die und die Öffentlichkeit, die sie herstellen, sind das ganz spezielle revolutionäre Subjekt der WikiLeaks-Kämpfer, das alle Verschwörungen aufdeckt und jede bad governance flach legt, wenn die Leute erst einmal alles wissen, was man ihnen bislang verheimlicht hat. Publishing ist es, was eine bessere Gesellschaft für alle Menschen schafft (WikiLeaks-Website), und das ist es, worum es ihnen in ausdrücklicher Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des US Supreme Court geht, der wie sie – We agree! – auch schon manches Mal die freie Presse gegen Machenschaften der Regierung hochgehalten hat.

Die Macher von WikiLeaks hängen also einerseits bei ihren Bemühungen um die Vervollkommnung demokratischer Publizität mit den Mitteln der modernen Internetkommunikation dem Ethos der bürgerlichen Öffentlichkeit an: Freie Medien machen den Bürger zur perfekten kritischen Kontrollinstanz seiner Regierung, die, dies wissend, ganz von selbst zur ethisch reflektierenden, offenen Leitungsinstanz im Dienst einer besseren Gesellschaft wird, die verantwortungsvoll alle Menschen gerecht bedient. Beim Kampf um die Verwirklichung dieser Grundsätze mit den Mitteln der ungesetzlichen Enthüllung von Regierungsgeheimnissen, der Sabotage an offizieller Politik und der Destruktion ihres guten Rufs bei den Bürgern und bei anderen Staaten, und mit den Mitteln einer Technik, die rücksichtslos in rechtlich geschützte Bereiche einbrechen und die Täter zugleich anonymisiert dem Zugriff der Staatsmacht entziehen soll, macht sich der Unterschied zu den alten Medien geltend: Über das, was sie an Kampfmitteln gegen autoritäre, verschwörerische Regierungen für vertretbar halten, wollen die Leute von WikiLeaks allein nach ihren eigenen Maßstäben entscheiden, gewonnen aus ihrem kritischen Idealismus einer weltweit freien, internetbasierten Kommunikationsgemeinschaft, der sie sich verpflichtet fühlen und die ihnen als Modell und Garant herrschaftsfreier Gemeinwesen gilt. Den Standpunkt bisweilen rücksichtsvoll abwägender Verantwortlichkeit gegenüber dem wirklichen staatlichen Gemeinwesen, den die alten Medien der bürgerlichen Öffentlichkeit praktizieren, wollen sie im antiverschwörerischen Furor der Aufklärung nicht gelten lassen, was ihnen, die diese Medien so vereinnahmend umarmen, manche distanzierende Erklärung von deren Seite einbringt. Von Seiten der betroffenen Regierungen schlägt den WikiLeaks-Leuten ohnehin tief empfundene Feindschaft entgegen. Denn die können es gar nicht leiden, wenn eine hergelaufene Hackerbande im Namen eines erfundenen globalen Internet-Gemeinwesens, auf das es in sittlicher Hinsicht mehr ankommen soll als auf die Einhaltung der Gesetze und den nationalen Zusammenhang, die Kontrolle über ihre Veröffentlichungs- und Geheimhaltungswirtschaft stört.

Das Imperium schlägt zurück

Regierungen tun sich manchmal schwer mit der endlosen professionellen Neugierde ihrer Medienbeauftragten, mit deren grundgesetzlichen Freiheiten sie, solange moderne Demokratie sein soll, zurechtkommen müssen. Und an deren laufender Nachrichtenproduktion und Sensationsgeilheit können sie von einer gemeinschaftsstiftenden Funktion der bürgerlichen Öffentlichkeit sowieso nichts entdecken, stattdessen viel Berichterstattung und Meinungsmache, die die politische Verantwortung und ihre erfolgreiche Wahrnehmung durch die Regierung allzu oft ganz anders definiert als sie selbst. Der Pluralismus der Medienwelt gibt aber kritisierten staatlichen Stellen viel Gelegenheit, ihre Nachrichten, ihre Sicht der Dinge und ihre Interpretationen der Ereignisse in Umlauf zu bringen, schließlich sind ihre Taten und Äußerungen der Hauptstoff der politischen Berichterstattung. Davon machen sie ausgiebig Gebrauch, hängt davon doch der gute Ruf der Regierungsparteien und am Ende vielleicht ihre Wiederwahl ab. Und dort, wo es ihnen ganz besonders auf die Kontrolle über die Nachrichtenlage ankommt, etwa wenn es gerade um die öffentliche Akzeptanz eines Krieges und die internationale Durchsetzung des zugehörigen Feindbildes geht, inszenieren sie sich ihre Öffentlichkeit gleich ganz selbst, wie das Beispiel der regierungsseitig organisierten, journalistischen Begleitung des letzten Irak-Krieges durch militärisch rundum beaufsichtigte embedded journalists zeigt.

In das öffentliche Ringen um die richtige Sicht der Dinge und den Ausgang des bei jedem Thema neu zu durchlaufenden pluralistischen Vermittlungsprozesses von Informationen und Meinungen greifen Veröffentlichungen von WikiLeaks, wie die über bislang nicht öffentliche Kriegsereignisse im Irak oder in Afghanistan, Nachrichten oder Bilder über dortige US-Massaker, aber auch über nicht-öffentliche Nachrichten aus dem diplomatischen Bereich störend ein: Die Publizierung inoffizieller, respektloser Bemerkungen und Urteile ausgerechnet über Figuren des internationalen politischen Verkehrs, die ansonsten als Personen die offiziellen Adressaten diplomatischer Respektsbekundungen zwischen den Nationen sind, ist zumindest lästig und hat die US-Diplomatie zu schönen Klarstellungen ungefähr des Inhalts veranlasst, dass es sich bei den Botschaftsdepeschen diesmal tatsächlich nur um Depeschen, keinesfalls aber um Botschaften gehandelt haben soll.

Dass WikiLeaks ausdrücklich Sabotage sein will, an den Geheimnissen der betroffenen Staaten, nehmen die USA als das Hauptziel der Indiskretionen einfach ernst: Für solche feindseligen Bemühungen haben sie ihre strafrechtlichen Bestimmungen im Umkreis des Hochverrats, der nicht nur nach amerikanischem Recht ein hart zu bestrafendes Verbrechen gegen die Staatssicherheit ist. Die Berufung von Assange & Co auf das Ethos der globalen Datenfreiheit halten sie für nichts als Rechtfertigungen antiamerikanischer Hetze und die dem staatlichen Zugriff bislang offenbar noch entzogene Aktionssphäre ihrer Feinde für einen cyberanarchistischen Skandal. So sperren vor allem die USA aufgeflogene Informanten von WikiLeaks weg wie Terroristen und setzen den Gründer des Enthüllungsunternehmens auf ihre Abschussliste. Sie versuchen, seiner mit allen Mitteln habhaft zu werden, sogar, wie der Betroffene vermutet, mit Hilfe verschwörerischer Schwedinnen. Man sieht: So stark kann eine Demokratie gar nicht sein, dass sie auf den von WikiLeaks geführten kritischen Kampf um die Schaffung von strong democracies nicht unfreundlich reagieren würde.

[1] If acting in a just manner is easier than acting in an unjust manner, most actions will be just. (WikiLeaks-Website)

[2] Le Monde ist der Meinung, dass es zu ihren Aufgaben gehört, von diesen Dokumenten Kenntnis zu nehmen, daraus eine journalistische Analyse zu machen und sie ihren Lesern verfügbar zu machen. Informieren verbietet indes nicht, verantwortlich zu handeln. Transparenz und Gespür sind nicht unvereinbar – und das ist zweifellos das, was uns von der Grundstrategie von WikiLeaks unterscheidet. (Le Monde, 30.11. 2010, zur Veröffentlichung der Botschafts-Depeschen)

[3] Also jedenfalls in Kenia, wo der Report nach Meinung von WikiLeaks die Wahl beeinflusst haben und zu Verfassungsänderungen geführt haben soll, was wiederum zu einer offeneren Regierung und – wie WikiLeaks glaubt – vielleicht auf lange Sicht zu einer Senkung der Malaria-Opfer in Kenia beitragen wird ...(So nachzulesen auf der WikiLeaks-Website)

[4] Also jedenfalls ein bisschen: Spiegel: „Erwarten Sie da nicht ein bisschen viel?“ Assange: „Es gibt ein allgemeines Gefühl, dass es besser wäre, den Krieg zu beenden. Diese Dateien allein werden das nicht schaffen, aber sie werden den politischen Willen beeinflussen.“