Ein heißer Wahlkampfsommer in den USA:
Was muss ein amerikanischer Präsident können und sein?

Im politischen Leben Amerikas fällt das Sommerloch dieses Jahr aus. Im Herbst wird schließlich der Präsident gewählt. Und weil es um den Posten des wichtigsten Machthabers der Welt geht, des Leaders der Weltordnungsmacht schlechthin, genießt jede Wendung im amerikanischen Wahlkampf die Aufmerksamkeit der ganzen Welt. An Wendungen hat es bislang auch nicht gefehlt: Das erste direkte Aufeinandertreffen der beiden Kandidaten gerät zu einem dermaßen großen Desaster für die Demokraten, dass Trumps erneuter Wahlsieg eine sichere Wette zu sein scheint. Doch schon einige Wochen später ist nichts mehr sicher: Nachdem Biden versichert, nur der Allmächtige selbst könne ihn von einer weiteren Kandidatur abhalten, verzichtet er dann doch plötzlich zugunsten seiner – im Volk noch unbeliebteren – Vize Kamala Harris; entgegen allen Erwartungen trifft die in der Partei wie in der Wählerschaft auf eine Welle von Begeisterung. Schon einige Wochen später überholt sie Trump in etlichen Umfragen.

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Ein heißer Wahlkampfsommer in den USA 
Was muss ein amerikanischer Präsident können und sein? 

Im politischen Leben Amerikas fällt das Sommerloch dieses Jahr aus. Im Herbst wird schließlich der Präsident gewählt. Und weil es um den Posten des wichtigsten Machthabers der Welt geht, des Leaders der Weltordnungsmacht schlechthin, genießt jede Wendung im amerikanischen Wahlkampf die Aufmerksamkeit der ganzen Welt. An Wendungen hat es bislang auch nicht gefehlt: Das erste direkte Aufeinandertreffen der beiden Kandidaten gerät zu einem dermaßen großen Desaster für die Demokraten, dass Trumps erneuter Wahlsieg eine sichere Wette zu sein scheint. Gleich danach fällt der Supreme Court zwei Grundsatzurteile, die zwei Herzensanliegen Trumps realisieren: einen Tiefschlag gegen die lästigen amerikanischen Regulierungsbehörden und einen Todesstoß für alle Versuche, einen Präsidenten für seine Taten im Amt strafrechtlich zu belangen. Trump wird dann innerhalb von einigen Tagen Opfer eines Attentats, das ihn nur stärker macht, von der Anklage der Veruntreuung geheimer Regierungsdokumente vorläufig freigesprochen, auf dem Parteitag der Republikaner als Messias gekrönt und von den Umfragen als eindeutig aussichtsreichster Bewerber ums höchste Amt bestätigt. Doch schon einige Wochen später ist nichts mehr sicher: Nachdem Biden versichert, nur der Allmächtige selbst könne ihn von einer weiteren Kandidatur abhalten, verzichtet er dann doch plötzlich zugunsten seiner – im Volk noch unbeliebteren – Vize Kamala Harris; entgegen allen Erwartungen trifft die in der Partei wie in der Wählerschaft auf eine Welle von Begeisterung. Schon einige Wochen später überholt sie Trump in etlichen Umfragen.

Da ist der journalistische Verstand voll in seinem Element. Die Sorge, dass die Zeit zum Begreifen und Erklären des einen Ereignisses zu knapp sein könnte, bevor das nächste da ist, plagt die Vertreter dieses Berufs jedenfalls nicht. Der sieht das gar nicht erst vor. Das Geschehen ist für sie vor allem: „interessant!“ und „bedeutend!“ Solche Urteile sind schnell zu haben, ergeben sich eigentlich von selbst. Dafür braucht es bloß einen ungefähren Sinn dafür, wann etwas als sensationell gelten darf – ganz einfach, wenn den Großen Großes und bislang Unbekanntes geschieht. Beides zusammen ergibt einen hohen Neuigkeitswert, der darin besteht, Neugier zu wecken und zu bedienen. Und weil es eben darum geht, sehen sich weder Sender noch Empfänger durch die Vielzahl der Ereignisse überfordert. In der Regel verschluckt einfach der jüngste Vorfall den vorangegangenen und macht eine weitere Befassung mit ihm überflüssig. Oder die Vielzahl und die Verkettung der Ereignisse werden selbst zum spannendsten Thema. Das potenziert sogar den Neuigkeitswert: „Was da alles los ist! Darf man dazu ‚historisch‘ sagen?“

Dagegen befasst sich die folgende Chronik mit etwas, was sehr wenig Neuigkeitswert hat: Lehren aus dem amerikanischen Politsommer über die Sache der amerikanischen Herrschaft. Aber was heißt da eigentlich „die Sache“? Es ist nämlich auffällig, dass der Streit um die Sachen, um die es in dieser so ereignisreichen Phase des Wahlkampfes geht, allenfalls am Rande so etwas wie „Sachthemen“ betrifft, um die sich eine amerikanische Herrschaft erfolgreich zu kümmern hätte: die Wirtschaft und die Inflation, den Arbeitsmarkt und die Einwanderung, die Kriege und die Sittlichkeit der Nation. Es geht aber sehr wohl – darin sind sich alle Seiten einig – um die Hauptsache: Was muss ein amerikanischer Präsident können und sein?

Das Fernsehduell: ein Kampf um Dominanz

Ende Juni findet das erste Fernsehduell zwischen Trump und Biden statt. Auf einer Live-Debatte besteht insbesondere die demokratische Partei – und zwar ohne Publikum und ohne die Möglichkeit von Zwischenrufen, damit Trump seine übliche Show nicht abziehen kann. Einmal zu einer sachlichen Auseinandersetzung gezwungen, wird der sich in seiner Dummheit und Lügenhaftigkeit schon selbst entzaubern; eine schöne Kontrastfolie, vor der Biden trotz aller unübersehbaren Alterserscheinungen als Inbegriff der Seriosität, insofern als alternativloser Kandidat auftrumpfen kann. So jedenfalls das Kalkül der Demokraten.

Die eine Hälfte des Plans geht ziemlich auf: Trump liefert seine übliche Litanei aus Feindbildern mit allen dazugehörigen Erfindungen, Übertreibungen und Verzerrungen ab: Die Grenze ist eine offene Einladung an Migranten, die in der amerikanischen Blutbahn nichts verloren haben, zumal sie großteils aus Verrückten und Verbrechern bestehen; die Demokraten wollen alle Amerikaner verarmen und schaffen das auch; überhaupt hassen sie das Land und das Volk, das sie am liebsten austauschen würden. Doch Trumps offensichtlich irreale Hetztiraden nützen Biden wenig. Etwas anderes hat sowieso niemand von ihm erwartet, der gewollte Schock-Effekt bleibt also aus. Denn inzwischen weiß jeder Amerikaner, wie die großzügige dichterische Freiheit zu verstehen ist, die Trump sich so gerne genehmigt: als die überdeutliche Bekundung seiner rücksichtslosen Kampfbereitschaft gegen die Feinde, die seine patriotischen Anhänger als die ihren ansehen sollen. Für diese allgemeine Klarstellung seines Anspruchs auf die Macht und ihre ungehinderte Anwendung ist die polemische Rücksichtslosigkeit, mit der Trump sich seine Gegner und überhaupt die Problemfälle der Nation so freihändig wie zweckmäßig zurechtdefiniert, das denkbar beste Mittel. Er lässt nämlich keinen Zweifel aufkommen: Er wird nichts gelten lassen, was seinem Willen zu „America first!“ widerspricht. Mit jedem Feindbild und jeder dystopischen Notstandsdiagnose kündigt er an, was er mit aller Macht bekämpfen und beseitigen wird. In gewisser Weise realisiert Trump genau mit seinen haarsträubenden Verzerrungen das Ideal eines jeden Politikers der mächtigeren Sorte: Der wird doch nicht gewählt, um Hochachtung vor einer vorfindlichen Realität zu haben, sondern um sie gemäß dem eigenen herrschaftlichen Bedarf zurechtzumachen, sie mit aller Macht zu „gestalten“. Insofern gibt Trump beim Duell bloß eine weitere Aufführung genau der Führungspersönlichkeit, für die seine Anhänger ihn schätzen und die auch den berühmten „swing voters“ offenbar nicht fremd ist: An der Spitze der Nation braucht es vor allem einen starken Anführer, also einen Anführertypen. Und gerade wenn die Nation sich nach parteiübergreifendem Urteil in einem Kampf befindet, in dem ihr Schicksal als größte Macht der Welt entschieden wird, muss der Anführertyp auch eine Kämpfernatur sein.

Die andere Hälfte des Plans geht bekanntlich schief. Biden zeigt offensichtliche Zeichen von fortgeschrittener Altersschwäche. Das ist nicht nur überhaupt ein Problem, das scheint sogar noch um einiges schlimmer zu sein als Trumps Vorliebe für „alternative Fakten“. Die tapferen Anhänger Bidens beklagen die Ungerechtigkeit, dass dessen erwiesene Sachkompetenz zugunsten der oberflächlichen Obsession mit seinem Erscheinungsbild ignoriert werde. Da ruft die kundige Öffentlichkeit in Erinnerung, dass es in der langen Geschichte amerikanischer Fernsehdebatten sowieso nie auf Sachkompetenz angekommen ist: Schon kurz nach den Debatten bleiben allenfalls einige markige Sprüche zurück, die irgendwie gesessen haben. Bereits seit dem allerersten Live-Duell zwischen Kennedy und Nixon geht es nämlich darum, welches Gesamtbild die Kandidaten als Führungspersonen abgeben, wie glaubwürdig präsidentiell sie wirken. Das verlangt den Kandidaten weniger und zugleich mehr als die souveräne Beherrschung von lauter Sachthemen ab, nämlich die souveräne Bewährung in der Konkurrenz, die anhand der diversen, mehr oder weniger austauschbaren Inhalte geführt wird: Wie viel Überlegenheit strahlt der jeweilige Kontrahent aus, wie locker wird er mit seinen Rivalen fertig – kurz: Wer hat die Debatte dominiert? Das gilt bisweilen als Zirkus und das ist es auch. Zumindest einerseits. Doch andererseits wird daran deutlich, was die amerikanischen Wähler tatsächlich wählen, wenn sie in die Wahlkabine marschieren: keinen überlegenen Kopf, sondern einen Staatschef, dessen geistige Fähigkeiten genau so viel wert sind, wie sie für diesen Beruf taugen – als Mittel des Sich-Durchsetzens im Kräftemessen bei der Aneignung und Ausübung der Macht. Also wird auch dieser Zirkus mit allem Ernst begutachtet: Wer kann das am besten – glaubwürdig Führungsstärke verkörpern?

Letztere ist also nicht nur eine, sondern die wichtigste Berufsqualifikation. Bebildert wird das derzeit gerne mit der Sorge, das Ausland könnte die Altersschwäche des Präsidenten mit der Schwäche der Nation selbst gleichsetzen, sodass die Feinde und Rivalen sich die Hände reiben und die Verbündeten mit den Zähnen klappern. Beliebt ist auch das „Drei-Uhr-Telefonanruf“-Szenario: Wäre Biden noch fit genug, um aus dem Tiefschlaf heraus blitzschnell auf Betriebstemperatur zu kommen und in aller Besonnenheit auch die drastischsten Beschlüsse zu fassen – bis hin zum atomaren Weltkrieg? Wohl zu Recht hält niemand das Szenario für albern, denn darin kommt immerhin die tatsächliche Stellung der Nation zum Ausdruck, damit auch das Haupterfordernis der Macht des amerikanischen Präsidenten: Amerika ist nicht nur eine, sondern die Weltmacht im Wortsinne; die Durchsetzung ihrer nationalen Sicherheit schließt auch und gerade die jederzeitige Bereitschaft zum Einsatz der ultimativen Waffe ein; akuter Weltkriegszustand herrscht im Prinzip immer und erfordert den konstanten Beweis totaler globaler Souveränität. Und weil diese Supermacht eben auch eine Demokratie ist, in der das amerikanische Volk seinen Superchef periodisch wählt, werden die Macht der Nation und ihre Erfordernisse in die primitivsten Kriterien menschlicher Vitalität und Stärke rückübersetzt – und in albernste Demonstrationen derselben durch Greise, deren Glaubwürdigkeit von der freien Öffentlichkeit ausgiebig und pluralistisch begutachtet wird. Das Wahlvolk darf dann entscheiden, wer es in der Hinsicht mehr beeindruckt hat.

Offensichtlich ist die Schwäche des Amtsinhabers nach diesem Auftritt nicht mehr wegzudemonstrieren. Unter den Demokraten bricht Panik aus, die die Partei aber schnell in den Griff bekommt; gerade die Parteigranden überführen sie nämlich umgehend ins Taktieren und Manövrieren – in eine Kombination aus der auffällig trumpistischen Feier von Biden als bestem Präsidenten aller Zeiten und seiner dosierten Demontage. Währenddessen tut Biden mit seinem Beharren auf Weitermachen einiges für den Beweis, dass Trumps konsequente Weigerung, seine damalige Niederlage anzuerkennen, nicht bloß seine narzisstische Besonderheit, sondern ein weiterer Kernbestandteil der präsidentiellen Charaktermaske ist: die ausgeprägte Überzeugung von der eigenen Unverzichtbarkeit für die Nation. Bei seinen anschließenden öffentlichen Auftritten erinnert Biden bis in die Wortwahl hinein an seinen verhassten Rivalen: Er wettert gegen „die Eliten“ in der demokratischen Partei, die dem Volk seinen Lieblingspräsidenten wegnehmen wollen, und stellt klar, dass nur er die Nation und ihre Demokratie vor dem Untergang retten kann.

Zwei Grundsatzurteile des Supreme Court

Die Woche darauf fällt der Supreme Court zwei Urteile über die Freiheiten und Kompetenzen der amerikanischen Staatsmacht, deren exekutive Spitze im November gewählt wird. Ihre politische Bedeutung und praktische Wirkmächtigkeit werden in eine Reihe mit dem kontroversen Urteil zum Recht auf Abtreibung gestellt [1] und als Etappen des diesjährigen Wahlkampfs um die Seele der Nation eingeordnet. Immerhin sind es Grundsatzentscheidungen in der Frage, wie liberal oder konservativ die Seele des Staatsapparats sein soll.

Ein Urteil für die Handlungsfreiheit der mächtigsten Kapitale der Welt … 

Das erste Urteil („Loper Bright Enterprises v. Raimondo“) legt einen „unübersehbaren Grabstein“ (Oberster Richter Neil Gorsuch) auf die sogenannte „Chevron Doctrine“. Die geht auf eine vierzig Jahre alte Entscheidung des Supreme Court zurück und betrifft den Umstand, dass der Kongress bei der Ausarbeitung seiner Gesetze häufig abstrakte, vieldeutige Direktiven verwendet. Den jeweiligen Behörden wird etwa in Auftrag gegeben, „sicherzustellen, dass die Regeln im öffentlichen Interesse liegen“, die erforderlichen Einzelregeln – vor allem: diverse Grenzwerte und Sicherheitsvorschriften in puncto Umwelt-, Arbeits- und Konsumentenschutz – zu bestimmen und die zahllosen Streitfälle zu entscheiden, die das alltägliche Geschäftstreiben im Lande so zuverlässig hervorbringt. [2] Diesen Auslegungsspielraum haben auch die Gerichte gemäß dem Prinzip der „administrative deference“ zu respektieren: Im Zweifelsfall soll die fachliche Expertise der jeweiligen Behörde Vorrang haben, was wiederum für die „effizientere“ Bewältigung von Streitfragen sorgen soll – also dafür, dass die einschlägigen Klagen nicht dauernd vor Gericht landen. Ebendieses Prinzip wird nun zu einem Verstoß gegen die verfassungsmäßig vorgeschriebene Gewaltenteilung erklärt, wonach das Recht zur verbindlichen Interpretation der Gesetze ausschließlich der Judikative zusteht. Der Anlass für das Urteil ist die Klage eines Fischereibetriebs gegen die Pflicht zur Übernahme der Verpflegungskosten für die Kontrolleure der nationalen Fischereibehörde, die ihren Schiffen zugewiesen werden können, um über die Einhaltung der Fanggrenzen zu wachen. Den eher nebensächlichen Fall greift der konservativ dominierte Gerichtshof nun als willkommene Gelegenheit für ein Grundsatzurteil auf, das auf eine weitreichende Entmachtung der nationalen Regulierungsbehörden hinausläuft – dabei ganz prominent: die Umwelt-, Arbeits-, Konsumentenschutzbehörden. Radikal zurückgeschnitten werden soll deren Autorität, angesichts der vielfältigen Schäden, die das freie Unternehmertum zusammen mit seinem kapitalistischen Reichtum zuverlässig produziert, einschränkende Regulierungen zu setzen und durchzusetzen, die die „Nachhaltigkeit“ genau dieser geschäftlichen Freiheit gewährleisten sollen.

Die Reaktionen fallen ähnlich dem Grundsatzurteil zur Abtreibung auch hier sehr gespalten aus:

Die einen – insbesondere die Riege der gut gerüsteten konservativen Lobbyorganisationen, die dem tapferen kleinen Fischereibetrieb zur Seite stehen – feiern das Urteil als lange ersehnten Triumph der freien Marktwirtschaft gegen die Regulierungswut übergriffiger Apparatschiks. Die sieht der freiheitsliebende amerikanische Entrepreneur nämlich immer dort am Werk, wo er auf staatlich gezogene Grenzen stößt. Vor lauter Sorge um die Späne, die bei der Mehrung des kapitalistischen Reichtums nun einmal anfallen, wird angeblich gar nicht mehr gewürdigt, dass mit der freien Bereicherung der Unternehmen immerhin der Reichtum der Nation geschaffen wird, von dessen Wachstum der Staatshaushalt und auch die minderbemittelten Haushalte der Lohnabhängigen abhängen. Der Bereicherungserfolg des Kapitals ist insofern doch schon das Allgemeinwohl, das die lästigen Behörden zu schützen behaupten. Nachhaltigkeit geht da nur durch nachhaltige Grenzenlosigkeit fürs Geschäft. Das neue Urteil macht zwar die bisherigen Einzelregelungen der diversen Regulierungsbehörden nicht hinfällig, soll vielmehr nur für zukünftige Fälle gelten; letztlich fehlen aber nur die einschlägigen Klagen, um auch ältere Regelungen zur Disposition zu stellen. Jedenfalls wird damit der allgemeine Grundsatz etabliert: Sofern ein vom Kongress erlassenes Gesetz die gegebene Sachlage nicht eindeutig klärt, müssen die betroffenen Konkurrenten nicht auf das Diktat eines Behördenleiters hören, sondern haben das Recht, ihren Streit vor Gericht auszutragen. Die Regulierung der freien Konkurrenz darf der Konkurrenz selbst also nicht länger entzogen werden; ganz amerikanisch soll auch und gerade das Recht als Konkurrenzmittel eingesetzt werden können. Über die allgemeine Konsequenz dieses Prinzips macht sich niemand etwas vor: In Sachen Regulierung obsiegt im juristischen Streitfall die Macht des Geldes. Aber so geht eben die unverfälschte Gerechtigkeit der Marktwirtschaft. Die gebietet nach Auffassung dieser Richter eine zwar abenteuerliche, aber nicht minder demokratische Trennung: Solche Fragen sind nur durch die Glieder der verfassungsrechtlich legitimierten Staatsgewalt zu entscheiden; in den Augen der Richter sind das in diesem Fall die Legislative, die die Gesetze erlässt, sowie die Judikative, die etwaige rechtliche Streitfälle entscheidet, und nicht die – der Exekutive zugeordneten – Behörden. Bei letzteren mag viel „Expertise“ beheimatet sein, aber doch keine politische Entscheidungsmacht – das wäre kein Fall von Demokratie, in der per Kreuzchen gewählte sowie in schwarze Roben gekleidete Machtinhaber über die Existenzbedingungen der bürgerlichen Konkurrenten entscheiden, sondern eben von Bürokratie. Deren Illegitimität ist für das freiheitliche Auge daran zu erkennen, dass sie allzu oft den Agenten der kapitalistischen Bereicherung lästige Leitplanken verpasst – und seien sie noch so konstruktiv gemeint, noch so auf die Nachhaltigkeit haargenau der gleichen Geschäftemacherei gemünzt. Der staatliche Überbau hat der kapitalistischen Basis durch Befreiung und nicht durch Begrenzung zu dienen – so konsequent geht der freiheitliche dialektische Materialismus dieser Richter.

Die anderen verbuchen das Urteil gerade deswegen als Katastrophe. Stellvertretend für viele äußert sich das linksliberale Weltblatt aus New York:

„Die Entscheidung könnte zur Abschaffung oder Abschwächung Tausender Vorschriften in den Bereichen Umwelt, Gesundheit, Arbeitnehmerschutz, Lebensmittel- und Arzneimittelsicherheit, Telekommunikation, Finanzsektor und mehr führen... Sie könnte es Regulierungsgegnern erleichtern, diese vor Gericht anzufechten, was zu einem Ansturm neuer Rechtsstreitigkeiten führen könnte. ‚Wenn sich Amerikaner Sorgen machen um ihr Trinkwasser, ihre Gesundheit, ihre Rente, Diskriminierung am Arbeitsplatz, wenn sie in einem Flugzeug fliegen, ein Auto fahren, wenn sie rausgehen und die Luft einatmen – all diese alltäglichen Aktivitäten werden durch ein ganzes Universum von Vorschriften der Bundesbehörden geregelt‘, sagte Lisa Heinzerling, eine Expertin für Verwaltungsrecht... Und diese Entscheidung bedeutet nun, dass noch mehr dieser Vorschriften von den Gerichten gekippt werden könnten.“ (New York Times, 28.6.24)

Den Kritikern des Urteils sind die Wirkungen des freien Geschäftemachens in ihrer systematischen Breite und Regelmäßigkeit also bestens vertraut. Sie sind ihnen sogar auffällig selbstverständlich – so selbstverständlich jedenfalls, dass sie aus den bekannten und befürchteten Schäden immer die gleiche Lehre ziehen: Überall offenbart sich der dauerhafte Bedarf nach einer hoheitlichen Gewalt, die dabei die zu erwartenden Opfer schützt. Ausgerechnet diesen Bedarf nennen die Freunde robuster Regulierungen ein Erfordernis der „fachlichen Expertise“, die doch bei den Behörden und nicht bei irgendwelchen Richtern beheimatet sei. Ganz so, als ginge es dabei um die Beherrschung von Naturwissenschaft und Technik und nicht um die rechtliche Beherrschung der Gegensätze und Widersprüche des kapitalistischen Geschäfts. Es ist den Bedenkenträgern offenbar selbstverständlich, dass wissenschaftliche Expertise genau darin ihren Platz hat und so ihren nützlichen Dienst an den Menschen leistet: als Beiträger zur echt sachgerechten Betreuung der Schäden und Streitigkeiten, die das Leben in der Marktwirtschaft mit sich bringt.

Genau dazu liefert die konservative Richtermehrheit nun ihre eigene Klarstellung: In der amerikanischen Demokratie sind Fragen der fachlichen Expertise – zumindest in den Fällen, denen der Oberste Gerichtshof irgendwie eine größere Bedeutung zumisst – als Machtfragen zu behandeln. [3] Das Urteil ist also definitiv in Trumps Sinne. Nicht nur, weil es ein erheblicher Beitrag ist zu seinem notorisch erbitterten Kampf gegen Regulierungen, sondern auch, weil es seiner – demokratiefanatischen – Definition von Politik überhaupt entspricht: als Feld der Konkurrenz um Durchsetzung, als Machtkampf eben.

… und für die des mächtigsten Amtsinhabers der Welt

Was laut der konservativen Richtermehrheit auf jeden Fall der Konkurrenz vor Gericht entzogen werden muss, ist die Handlungsfreiheit des Präsidenten. Genau das wird einige Tage später im Fall „Trump v. United States“ beschlossen.

Das Gericht befasst sich dabei mit der Frage, ob die Anklage gegen Donald Trump wegen versuchten Wahlbetrugs abgewiesen werden muss, weil der Präsident bei seinen Amtshandlungen absolute Immunität vor strafrechtlicher Verfolgung genießt – so sieht es jedenfalls der ehemalige Präsident. Darin bekommt er nun von der höchsten gerichtlichen Instanz weitgehend Recht: Sie stellt zwar explizit fest, dass der Präsident nicht über dem Gesetz steht, als Privatperson keine strafrechtliche Immunität genießt und auch nicht für alle seine Amtshandlungen absolute Immunität beanspruchen kann – letztere gilt nämlich nur für die sogenannten „Kernkompetenzen“, die dem Präsidenten exklusiv zufallen, bei denen der Kongress und die Judikative ihm also keinesfalls reinreden dürfen. Doch in der darüber hinausreichenden Grauzone, die noch „innerhalb des äußeren Umkreises seiner offiziellen Verantwortung“ liegt, ist seine Immunität immerhin „zu vermuten“ („presumptive“). Strafbar macht er sich erst im Falle einer „manifesten“ Autoritätsüberschreitung. Der Staatsanwalt muss nachweisen, dass seine Ermittlungen gegen den Präsidenten keine „Gefahr eines Eingriffs in die Befugnisse und Funktionen der Exekutive“ darstellen. Dabei ganz entscheidend: Alle offizielle Kommunikation z.B. zwischen Trump und seinem Justizminister, seinem Vizepräsidenten und diversen Beamten in den Bundesstaaten ist vor strafrechtlichen Ermittlungen geschützt. [4] Ebenfalls tabu ist die Ermittlung der Motive des Präsidenten – eine solche wertet die konservative Mehrheit als Büchse der Pandora, die den Präsidenten bei der Ausübung seiner Kernkompetenzen behindern könnte. Die Entscheidung, ob Trumps damalige Versuche, seine Wahlniederlage ungültig zu machen, als die offiziellen Handlungen eines Präsidenten oder nicht vielmehr als die inoffizielle Handlung einer Privatperson einzustufen sind, wird an ein unteres Gericht zurückverwiesen. Dazu merkt das Begründungsschreiben des Obersten Gerichtshofs in aller Demut an, er selbst müsse „sich dessen bewusst sein, dass er die letzte und nicht die erste Instanz ist... Die notwendigerweise faktenbasierte Analyse, ob es sich bei dem behaupteten Verhalten um ein offizielles oder inoffizielles Verhalten handelt, wird am besten zunächst vom Bezirksgericht vorgenommen.“ Die unmittelbare Relevanz des Urteils besteht darin, dass Trump in dieser Sache vor der Wahl Anfang November nichts mehr zu befürchten hat; dafür ist das Urteil – böse Zungen sagen: absichtlich – zu spät gefällt worden. Falls er die Wahl gewinnt, kann er seinen Justizminister anweisen, das Verfahren ohne Weiteres einzustampfen; falls er verliert, bleibt ihm immer noch die begründete Hoffnung, dass die unteren Instanzen die Klage angesichts dieses Grundsatzurteils abweisen; und wenn nicht, hat die höchste gerichtliche Instanz im Land immerhin viel für die Klarstellung getan, wie viel Schutz sie für den Inhaber des höchsten Amtes übrig hat.

Doch es geht den konservativen Richtern um viel mehr als diesen bestimmten Fall. Durch dessen fundamentalen und präzedenzlosen Charakter sieht sich die konservative Richtermehrheit zur Entscheidung einer Grundsatzfrage veranlasst: Was muss ein Präsident dürfen, angesichts dessen, was er können muss? Die konservative Richtermehrheit beruft sich dabei – gemäß ihrer juristischen Philosophie des „Originalismus“ [5] – auf die Gründerväter der Nation und auf zahlreiche Hinweise aus vorangegangenen Urteilen des Obersten Gerichtshofs selbst:

„Die Verfassungsväter ‚erachteten eine tatkräftige Exekutive als unerlässlich‘... Eine ‚schwache Exekutive impliziert eine schwache Ausübung der Regierungsgewalt‘... Der Präsident muss ‚die sensibelsten und weitreichendsten Entscheidungen treffen, die einem Beamten im Rahmen unseres Verfassungssystems anvertraut werden‘. Dementsprechend besteht ‚das größte öffentliche Interesse‘ daran, den Präsidenten mit ‚der größtmöglichen Fähigkeit auszustatten, die Pflichten seines Amtes furchtlos und unparteiisch zu erfüllen‘. In Anbetracht der ‚einzigartigen Risiken für das wirksame Funktionieren der Regierung‘, die entstehen, wenn die Kräfte des Präsidenten durch Verfahren abgelenkt werden, die ihn ‚bei der Ausübung seiner Amtspflichten unangemessen vorsichtig‘ machen könnten, hat der Supreme Court die Immunität und die Vorrechte des Präsidenten anerkannt, die ‚in der verfassungsrechtlichen Tradition der Gewaltenteilung verwurzelt sind und von unserer Geschichte gestützt werden‘.“

Die Sorglosigkeit des Präsidenten bezüglich der Konsequenzen seiner Handlungen für ihn selbst muss unbedingt sein, weil die Rücksichtslosigkeit des Gewaltgebrauchs seine erste und entscheidende Kernkompetenz ist. Nur dann wird die Exekutive ihrem Auftrag gerecht – so groß, so flächendeckend und so dringlich ist der Gewaltbedarf der Nation. Die Konservativen machen sich also erkennbar daran, einen Rechtsschutz für den Präsidenten zu schaffen, der zu dem passt, was der Präsident der USA objektiv ist: die mächtigste Person der Welt, die genau dadurch ihren nützlichen Dienst für die Nation verrichtet, dass sie sich rücksichtslos durchsetzt. Diese Funktionalität der präsidentiellen Macht erfordert also in der Sache einen weitreichenden Vertrauensvorschuss an ihren Inhaber, die weitreichende „Mutmaßung“ einer Identität zwischen den Beweggründen des Präsidenten und den Interessen der Nation.

Genau an der Stelle haken die vielen Kritiker des Urteils ein – wieder mit der Beschwörung einer Katastrophe für die Nation. Sie beklagen die „rechtsfreie Zone“, die die konservativen Richter – außerdem mit einer fadenscheinigen historischen Argumentation [6] – zweckmäßig herbeikonstruieren. In diesem Sinne präsentiert eine Richterin der unterlegenen liberalen Minderheit folgenden Verriss:

„Der Präsident der Vereinigten Staaten ist die mächtigste Person im Lande und möglicherweise in der ganzen Welt. Solange er seine Amtsbefugnisse in irgendeiner Weise nutzt, ist er nach der Argumentation der Mehrheit nun vor Strafverfolgung geschützt. Befiehlt er einer Spezialeinheit der Navy, einen politischen Rivalen zu ermorden? Immun. Organisiert er einen Militärputsch, um sich an der Macht zu halten? Immun. Nimmt er Bestechungsgelder im Austausch gegen eine offizielle Begnadigung an? Immun. Immun, immun, immun... Der Präsident soll ruhig gegen das Gesetz verstoßen, die Vorzüge seines Amtes zur persönlichen Bereicherung ausnutzen, seine offizielle Macht für böse Zwecke einsetzen. Denn wenn er wüsste, dass er eines Tages für Gesetzesverstöße zur Rechenschaft gezogen werden könnte, wäre er vielleicht nicht so mutig und furchtlos, wie wir es uns wünschen würden. Das ist die Botschaft der Mehrheit heute... Bei jeder Ausübung seiner Amtsgewalt ist der Präsident nun ein König, der über dem Gesetz steht.“

Bei „mächtigster Person im Lande und möglicherweise der Welt“ und der Frage, was amerikanische Präsidenten mit ihrem Machtapparat nach innen und nach außen – insbesondere mit der Verfügung über die mächtigste Armee der Welt – anstellen können und anstellen, kann einem viel einfallen. Einer guten liberalen Richterin fällt vor allem der persönlich-politische Vorteil ein, für den diese Machtfülle missbraucht werden kann. Die Sorge, die sie von Berufs wegen und mit erkennbarer Leidenschaft bewegt, gilt also dem Amt und der Herrschaftsform selbst: Ein derart übermächtiger Beruf verlangt rechtliche Kontrolle – dann kommen nicht böse Zwecke, sondern die Anliegen der so mächtig geführten Nation voran. Die sind wiederum gut, weil demokratisch sauber, also ganz legitim.

In der Warnung der liberalen Richter vor einem rachsüchtigen König im Weißen Haus sieht der Chef der konservativen Richtermehrheit John Roberts nur unseriöse „Angstmacherei auf der Grundlage extremer Hypothesen über eine Zukunft, in der sich der Präsident ‚ermächtigt fühlt, gegen das Strafrecht zu verstoßen‘“. Hypothetische Horrorszenarien sind für ihn an anderer Stelle angebracht:

„Wahrscheinlicher ist die Aussicht auf eine Exekutive, die sich selbst kannibalisiert, wenn jeder nachfolgende Präsident die Freiheit hat, seine Vorgänger strafrechtlich zu verfolgen, aber nicht die Fähigkeit, seine Pflichten mutig und furchtlos zu erfüllen, weil er fürchtet, der nächste zu sein... Praktisch jeder Präsident wird dafür kritisiert, dass er irgendeinen Aspekt des Bundesrechts (z.B. Drogen-, Waffen-, Einwanderungs- oder Umweltgesetze) unzureichend durchsetzt. Ein engagierter Staatsanwalt in einer neuen Regierung könnte behaupten, dass ein früherer Präsident gegen dieses umfassende Gesetz verstoßen hat... Die Schwächung der Präsidentschaft und unserer Regierung, die sich aus einem solchen Kreislauf von Streitigkeiten zwischen den Fraktionen ergeben würde, ist genau das, was die Verfassungsväter vermeiden wollten.“

Dieses tatsächlich nicht monarchische, sondern sehr demokratische Ideal starker Führung ist das einzige Mittel gegen die aus Richtersicht größte Gefahr für die amerikanische Demokratie: dass der oberste Machtinhaber bloß ein schwacher Spielball der Konkurrenz der Parteien sein könnte.

*

Zu diesem Zeitpunkt weisen die Umfragen der einschlägigen Institute und die Urteile des höchsten Gerichts eindeutig in die gleiche Richtung: Amerika bekommt ab nächstem Jahr die ungefesselte Führungsstärke und die Rachegelüste eines „America first!“-Präsidenten zu spüren. Auch noch mit einem von der konservativen Denkfabrik „Heritage Foundation“ spendierten Regierungsleitfaden namens „Project 2025“, der entfesseltes Geschäftemachen und entfesselte Exekutivmacht sinnreich kombiniert.

Das Attentat auf und die Krönung von Trump

In dem Moment schreitet ein Scharfschütze mit seinen eigenen, dem Vernehmen nach herostratischen Beweggründen ein. Trump wird auf offener Bühne vor seinen Anhängern angeschossen. Kaum fällt er zu Boden, schon übernimmt sein beeindruckender demokratischer Instinkt: Er ergreift die Gelegenheit für eine ikonische Pose, reckt die Faust in die Höhe und ruft mit blutverschmiertem Gesicht „fight fight fight!“ in die Menge. Die Kameras sind glücklicherweise zur Stelle, um einen Moment einzufangen, dessen Bedeutung sofort für alle klar wird. Trumps verschwörerisches Gerede von den vielen Bösewichtern, die ihm ans Leder wollen, weil sie seine Anhänger unterdrücken wollen, wird zwar nicht wahr, aber extrem plastisch. Und der Glaube seiner Anhänger an einen Retter, der in der Schlacht gegen den allgegenwärtigen Antiamerikanismus vor keinem Kampf und keiner Gefahr zurückscheut, wird auf spektakuläre Weise beglaubigt.

Großartiger Stoff für den Parteitag der Republikaner, der zwei Tage später beginnt und dessen hauptsächlicher Tagesordnungspunkt ohnehin die einstimmige Huldigung für einen Mann ist, der schon immer weit mehr als der Kandidat einer Partei sein will und als mehr gefeiert wird. Trump ist und bleibt der Anführer einer politischen Bewegung; als solche versteht sich seine Partei umgekehrt immer mehr. In den Tagen vor dem krönenden Abschluss mit der Rede von Trump führen sich die Parteimitglieder auf wie bei seinen berühmten Kundgebungen; sie bestärken einander wechselseitig in ihrem Anspruch darauf, die einzig wahren Amerikaner zu sein, durch die demonstrative gemeinsame Hingabe an ihren nun erwiesenermaßen göttlich gesegneten Anführer. Der feiert sich wiederum als Inbegriff der Betroffenheit und Berechtigung seiner Anhänger, als Märtyrer und zugleich Schlachtführer für die echten Amerikaner. Wenn er zu Beginn seiner heiß erwarteten Rede mit versöhnlichen Gesten verspricht, diesmal ein „President for all Americans“ zu sein, um dann sogleich zurückzukehren zu seinen üblichen Pöbeleien gegen Politiker und Medien, die ihn nicht lieben, sowie gegen die Einwanderer, die in sein nationales Blut- und Farbschema nicht hineinpassen, dann widerspricht er sich überhaupt nicht. Die Opfer seiner Invektiven zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie Nicht-Anhänger Trumps, also unamerikanisch sind. Die verdienen keinen Präsidenten, der ihnen dient, sondern nur einen, der sie bestraft. Damit bietet Trump ein Lehrstück über das Volk, das er braucht: eines, das sich auf vollendete Weise eben als Volk aufführt. Das bildet sich die Souveränität des Präsidenten als die eigene ein. Was immer seine Anhänger von seiner Regentschaft erwarten – weniger Inflation, das Fernhalten und Rauswerfen der Illegalen, mehr Jesus und weniger Wokeness in Bildung und Kultur –, sie haben alles in der Vorstellung zusammenfallen zu lassen, dass sie von ihrer aktuellen Regierung schlecht, also unamerikanisch behandelt, um ihre Freiheit gebracht werden. So können sie Trumps Versprechen genießen, dass es ihre Rache sein wird, wenn er sich gegen seine Feinde durchsetzt – und ihn als Führer begrüßen, der sich durch nichts und niemanden aufhalten lässt.

Zum Auftakt des Parteitags wird nebenbei auch bewiesen, dass es bei aller Bösartigkeit im „deep state“ immer mehr good guys gibt, die die systematische Hexenjagd gegen den wahren Volkspräsidenten nicht länger tolerieren: Die Anklage wegen Veruntreuung geheimer Regierungsdokumente wird von einer von Trump nominierten Richterin überraschenderweise eingestampft. Der Sonderermittler hätte hier nie eingesetzt werden dürfen, weil ein solcher Ermittler nur vom Präsidenten selbst – und nicht bloß vom Generalbundesanwalt – eingesetzt werden darf. Das Urteil ist insofern spektakulär, als es eine Praxis außer Kraft setzt, die vor allem auf die berühmte „Watergate“-Affäre zurückgeht und dafür sorgen soll, dass der Ermittler nicht ausgerechnet gegenüber dem Angeklagten weisungsgebunden ist. Der Befund, mit dem der Prozess auf null zurückgeworfen wird, ist einerseits sehr formell, andererseits überhaupt nicht: Die Richterin folgt offensichtlich dem Wink mit dem Zaunpfahl, den der konservative Oberste Richter Clarence Thomas mit seiner Urteilsbegründung im ganz anderen, oben erwähnten Verfahren zur Immunität des Präsidenten gegeben hat, um auch hier noch einen grundsätzlichen Beitrag zur Stärkung der Kontrollmacht der Staatsspitze über den gesamten exekutiven Apparat zu leisten. Der Prozess ist damit zwar noch nicht aus der Welt, die Ankläger dürfen nämlich in Berufung gehen, doch auch hier sorgt die außerordentliche Verzögerung des Urteils dafür, dass Trump vor der Wahl nichts mehr zu fürchten hat.

Ansonsten gibt sich die Partei einige Mühe, sich als die eigentliche amerikanische Arbeiterpartei in Szene zu setzen. Zwecks Glaubwürdigkeit treten ein paar ganz authentische „everyday Americans“ auf, die drei Jobs gleichzeitig haben und sich trotzdem keine Geschenke für ihre Enkelkinder leisten können. Wofür und wogegen das sprechen soll? Gemäß der Vernunft der Demokratie spricht marktwirtschaftliche Armut offenbar auch im libertären Amerika für die Notwendigkeit besseren Regierens, also gegen die schlechte Regierungsführung Bidens. Im Anschluss darf sogar ein waschechter kämpferischer Gewerkschafter, der Chef der „Teamsters“ (Gewerkschaft der Transportarbeiter), auftreten: Der prangert die Raffgier der großen Konzerne an, deren Verbrechen darin besteht, die gewerkschaftliche Vertretung ihrer Belegschaften zu bekämpfen, die Kosten für die Betreuung der berühmten Wechselfälle eines proletarischen Lebens (Krankenversicherung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Rente) dem amerikanischen Steuerzahler aufzudrücken und dem amerikanischen Standort untreu zu sein. Seine Polemiken gegen big business und seine flammenden Plädoyers für die Wichtigkeit patriotischer amerikanischer Gewerkschaften wie die Teamsters werden von den Anwesenden zum größten Teil mit verdutztem Schweigen quittiert, aber sein Appell im Namen der Arbeiter an die Politik und an seine Kollegen aus den anderen Gewerkschaften ist ganz im Sinne der „America first!“-Gastgeber:

„Wir brauchen eine Handelspolitik, die die amerikanischen Arbeitnehmer an erste Stelle setzt. Es muss für Unternehmen einfacher werden, in Amerika zu bleiben. Wir müssen sicherstellen, dass diese Nation die größte, schnellste und stärkste Nation der Welt ist.“

Unter dem Strich kommt also eine stereotyp populistische Feier des Patrioten im Arbeiter heraus: Die Mitglieder dieser Klasse können sich als Inbegriff des wahren Amerikaners feiern lassen, den die Eliten im Establishment zum Opfer machen, weil sie seine harte Arbeit und seinen ehrenwerten Kampf ums Zurechtkommen mit den spärlichen Erträgen nie würdigen. Das wird jetzt von einer republikanischen Führung nachgeholt, die ihren radikalen Willen zum Ausschluss der Fremden und aller anderen Abweichenden im Namen der Arbeiter demonstriert. Das materielle Versprechen der Partei an die Arbeiterklasse tragen die Delegierten auf ihren bunten Pappschildern herum: „Massenabschiebung jetzt!“

Für all diese Kernelemente des aktuellen republikanischen Selbstverständnisses – für die absolute Ergebenheit gegenüber Trump, die ostentative Feindschaft gegen alle Nicht-Amerikaner, gerne auch unter Berufung auf die Lage der arbeitenden Klasse – steht der feierlich nominierte Vizepräsidentschaftskandidat J.D. Vance. Er kombiniert den aggressiven Hass christlicher Nationalisten gegen Einwanderer und Frauen, die zu wenig Kinder bekommen, mit dem smarten Geschäftssinn des Silicon Valley.

Biden out, Harris in

Eine knappe Woche nach dem Parteitag der Republikaner schmeißt Biden doch hin. Er lobt sich für seine großartigen Dienste an den Bürgern, insbesondere an der hart arbeitenden „middle class“, glaubt zwar immer noch fest an seine Siegesfähigkeiten und -aussichten, sieht aber ein, dass er das Vertrauen seiner Partei als Schlachtführer im Wahlkampf verloren hat. Als Abschiedsgeschenk an sich ernennt er im Alleingang seine Nachfolgerin, seine Vize Kamala Harris. Die gilt bis zur missglückten Fernsehdebatte Bidens als No-Go fürs Rennen. Ihre Umfragewerte sind so schlecht wie die von Biden, eher noch schlechter; ihre 2020er-Kandidatur für die Präsidentschaft gilt als Rohrkrepierer; viel zu unsympathisch und abgehoben, heißt es. Als Vize habe sie sich auch nicht mit nennenswerten Erfolgen beliebt gemacht – die parteiübergreifende Unzufriedenheit mit der Lage an der Grenze wird ihr als ihr Misserfolg vorgerechnet, weil Biden die Diplomatie mit den lateinamerikanischen Herkunftsländern einmal in ihr Ressort getan hat. Kurz: Sie hat wenige überzeugt und wenig geleistet, ist also weder überzeugend noch effektiv. Bis zuletzt gilt sie als effektivste Abschreckungswaffe in den Händen von Bidens letzten Verteidigern, nach dem Motto: Im Vergleich zu ihr sieht Biden zwar alt, aber gar nicht so schlecht aus.

Doch kaum findet der Kandidatenwechsel statt, schon wechseln die Partei wie die ihr zugeneigte Öffentlichkeit radikal ihre Sicht auf die Kandidatin, ohne dass sich an deren Taten oder Standpunkten irgendetwas geändert hätte: Innerhalb von Stunden schließen sich die demokratischen Gouverneure ihrer Nominierung an, einige Tage später folgen nach und nach die Parteigranden, schließlich gibt Obama medienwirksam seinen Segen. Spätestens dann bricht Begeisterung aus: Die überwiegende Erleichterung über die Absetzung des für chancenlos befundenen alten Mannes wird auf die neue Kandidatin projiziert und als ihre Eigenschaft zelebriert: Die Neue wirkt so jung und so vital! Der Enthusiasmus ist nicht nur abstrakt, sondern auch sehr instrumentell: Er ist vor allem auf die wiederbelebte Hoffnung gemünzt, den Trump’schen Teufel doch noch schlagen zu können – wie eine Art Zweck-Führerkult. Doch einmal in Gang gekommen, produziert der Zweckoptimismus seine eigenen Gründe, die Frau großartig zu finden: Die Meme-Fabriken aus der Onlinewelt schaffen in Echtzeit auf ihre verspielte, penetrante Art eine eigene Ikone; sie greifen auf bisher als peinlich geltende Auftritte der unbeliebten Politikerin zurück, um sie nun als Beweise von sympathischer Volksnähe neu in Umlauf zu bringen – gestern „cringe“, heute „brat“. Das vernetzte Publikum aus Promis und Normalwählern zirkuliert die Bilder eine Weile unter sich, teilt sich seine Begeisterung wechselseitig mit, blickt dann auf sein kollektives Produkt und kommt zu dem Befund: Die Frau ist echt beliebt! Man ist erst massenhaft begeistert, dann über die Begeisterung begeistert – per Schneeballsystem entsteht eine Art Mini-Bewegung für Kamala. Die irgendwie anerkannten Vertreter von lauter demographischen Kategorien – Vorort-Muttis und überhaupt die Frauen, „people of color“ wie „White Men for Kamala!“ – melden sich mit ihrem Überschwang zu Wort. Spendengelder fließen in rekordverdächtiger Geschwindigkeit, was die anderen Anhänger in ihrer Begeisterung bekräftigt, was wiederum den Spendern beweist, dass sie die richtige Wahl treffen. Irgendwie anrüchig findet es längst keiner mehr, eingesammelte Geldsummen als Indikator für Erfolgsaussichten zu nehmen, also für die Tauglichkeit der Kandidatin – das Interesse am Erfolg der richtigen Kandidatin macht da einiges wett. Die traditionellen Experten der seriösen Öffentlichkeit begutachten das Phänomen und ziehen mit nur ein bisschen Verwunderung und skeptischer Distanz denselben Schluss: Die Menschen sind begeistert, an der Frau ist also definitiv was dran. So abstrakt, zirkulär und personenkultig ist sie eben, die Herstellung – von oben wie von unten – der demokratischen Zustimmung zu prospektiven Machthabern. Und genau damit macht sich nun die wiedererwachte demokratische Partei an die Rettung der Demokratie vor dem Populisten Trump.

Es bleiben noch die Fragen, mit welchem „running mate“ Harris gegen Trump antreten und mit welcher Kampfstrategie genau sie die gut drei Monate bis zur Wahl bestreiten will. Eine Antwort auf beide Fragen findet Harris im Gouverneur des Bundesstaats Minnesota, Tim Walz. Der macht Karriere mit einem einzigen Wort, das er in etlichen Sommer-Interviews und Talkshow-Auftritten wiederholt und das die Standpunkte und Programme der republikanischen Konkurrenz hinreichend charakterisieren soll: „weird“, also „seltsam“ oder „schräg“. Neu ist es zwar nicht, Trump als wahnsinnig zu kennzeichnen und ihn so als politischen Gegner zu diskreditieren. Die ganze Kampagne der Demokraten unter Biden hat auf der Warnung beruht, mit Trump käme ein bösartiger Verrückter wieder an die Macht, der die Nation endgültig in die Katastrophe reiten würde. Das kommt den Demokraten nun viel zu wenig souverän vor; damit würden sie Trumps politisches Programm noch viel zu ernst und viel zu befassungswürdig nehmen. Die Lässigkeit, mit der Walz die Konkurrenz abserviert, sie mehr für mitleid- als furchterregend hält, begeistert die Demokraten – also sagen plötzlich alle von Rang und Namen das Zauberwort in jede Kamera, vor die sie sich drängeln können. Sogleich erfolgt die vielsagende Warnung: nicht übertreiben! Man darf nämlich Trumps Anhängern nicht mal wieder das Gefühl geben, man würde sie als abseitig und hoffnungslos verachten, bloß weil man es für ganz offensichtlich verrückt hält, in Trump und Vance eine auch nur denkbare Alternative zu sehen. Zu Recht halten interessierte Beobachter das für einen sehr schmalen Grat. Auf Walz, Galionsfigur der lässigen Verachtung, fällt die Wahl als Vize, weil er außerdem ein perfektes Gegenbild zum seltsamen republikanischen Paar abgibt: so schön normal, bodenständig, ohne Allüren und bis in die Kleiderwahl hinein ein waschechter „everyday American“! Normale Menschen mögen so was bestimmt – gerade traditionelle Republikaner, die mit der notorischen demokratischen „Küstenelite“ nichts anfangen können.

Die Krönungsmesse der Demokraten

Mit dieser verächtlichen Verneigung vor den Wählern gehen die von sich erneut begeisterten Demokraten Ende August in ihren Parteitag hinein.

Dort bekommen Basis und Führung die Chance, als Parteikollektiv intern und vor den Augen aller interessierten Amerikaner ihre geschlossene Begeisterung über ihr neues Führungsduo gemeinsam auszuleben und sie so erst richtig anzufachen. Sie führen sich auf und vor der Bühne in einer Weise auf, die sich von Trumps Kundgebungen vor allem dadurch unterscheidet, dass Trumps Kritiker sie in diesem Fall nicht abstoßend, sondern ansteckend finden. Gefallen findet man vor allem an der Fröhlichkeit, mit der die vielen Redner ihre eigene Partei feiern und über die republikanischen Gegner herziehen. Sie tun das zwar nach wie vor mit drastischen Bildern von einem nationalen Untergangsszenario, falls Trump wieder an die Macht kommt, aber nun mit einer ganz anderen Tonlage: als „freudige Krieger“, Anführer einer Kampfbewegung, die ein einziges Angebot zum euphorischen Mitfiebern und Mitmachen ist. Man hebt die Daumen statt den Zeigefinger, tauscht langweilige Faktenchecks gegen ein eigenes Narrativ und eigene Lichtgestalten aus – und findet kein Bild zu plakativ, um Trumps Kombination aus Selbstheiligsprechung und Verteufelung anderer zu „überstrahlen“: Zukunft statt Vergangenheit, Licht statt Dunkelheit, Aufbruch statt Apokalypse. Damit machen die Demokraten ein Glücksangebot an ihre Anhänger, sich mit der Abstraktion anzufreunden, die ihnen zugemutet wird: Sie sollen in Harris einen Nicht-Trump mit Erfolgsperspektive sehen, eine Machtinhaberin, bei der man nicht an ihre Machtausübung denkt, sondern an die, die ihnen erspart wird. Das aber eben nicht bloß als das berühmt-berüchtigte „kleinere Übel“, das den Wählern die von ihnen geforderte Entscheidung zwar nicht wirklich schmackhaft, aber verdaulich macht. Man bietet ihnen vielmehr das Objekt wirklich überzeugter Begeisterung an, schlicht dadurch, dass man sie in aller Entschiedenheit vorlebt.

Nach den Reden der noch lebenden Parteilegenden (Biden, die Clintons, die Obamas), von denen vor allem in Erinnerung bleibt, dass sie je auf ihre Weise die Zuschauer begeistert und ihnen klargemacht haben, dass sie von Harris & Walz begeistert sind, bekommt das Publikum endlich die Gelegenheit, die Kandidaten etwas näher kennenzulernen, für die es sich schon seit einigen Wochen begeistert. Geboten bekommt es zwei vorbildliche Ebenbilder, zwei persönliche Repräsentanten dessen, wie es sich selbst und die moralische Gemeinschaft Amerikas begreift. Die greifen tief in ihre eigene Vergangenheit, um sich als das Gegenteil einer abgehobenen „Küstenelite“ darzustellen, vielmehr als echt normale Menschen, mit denen sich noch der durchschnittlichste Amerikaner identifizieren kann, die aber gerade darin ein so strahlendes Vorbild abgeben, dass sie offensichtlich von Haus aus zur Führung der normalen Amerikaner berufen sind.

Walz kommt zuerst und liefert neuen Stoff für seine Verehrung als super normaler amerikanischer Held: Veteran, Lehrer, Football-Trainer, Jäger, guter Nachbar und vor allem Familienvater – authentisch geliebt von seinem Sohn und seinen ehemaligen Schülern, was diese auch auf der Bühne bezeugen. Er erklärt „Freiheit“ zum neuen Leitstern der Demokraten. Als deren Regierungsmotto präsentiert er ironischerweise den Grundsatz, die Bürger in Ruhe zu lassen – die Republikaner, die das traditionsgemäß als ihr besonderes Regierungsmotto pflegen, meinen damit laut Walz nur ihre eigene Freiheit, die Bürger zu betrügen. Zum Schluss kommt dann Harris auf die Bühne, stellt sich vor als multiethnischen Spross eingewanderter Akademiker, die die Schönheit einer Gesellschaft tüchtiger Einwanderer verkörpern; als Produkt einer „working class neighborhood“ mit der dort typischen Notlage, die Harris als Geburtsstätte wichtiger Tugenden bespricht: Dazu gehört an erster Stelle eine ausgeprägte Arbeitsethik: Anpacken statt Meckern, keine halben Sachen! Die braucht man eben, um ein Auskommen zu finden, das zwar nicht reich macht, aber offenbar ausreicht, um den traurigen Stolz aufs Zurechtkommen in Gestalt eines ordentlich gemähten Rasens zu pflegen. Dazu gehört auch die Tugend, sich für die vielen Opfer des American Way of Life verantwortlich zu erklären: In ihrer Kindheit findet ein missbrauchtes Mädchen aus der Nachbarschaft bei Harris’ Familie Unterschlupf; ihr Herz für Opfer führt sie zu einer Karriere als hartnäckige Staatsanwältin, die sich für die Opfer so einsetzt, dass sie sich für den Schutz des staatlichen Rechts einsetzt, das Täter immer dann bestraft, wenn der von ihnen verursachte Schaden an Leib und Leben dem Gesetz widerspricht. Von dort aus zieht sie wiederum eine direkte Linie zum höchsten Amt: Mit ihrem Herz und ihrer Härte ist sie dazu prädestiniert, auf dem mächtigsten Posten der Welt das Wohl der Nation und die Güte der Menschheit gegen das Böse im Innern und nach außen zu verteidigen. Eine geborene Repräsentantin des patriotischen Gemeinschaftsgeists und der militanten Stärke, die sie Trump rundherum abspricht: ein schwächlicher Egomane, für den eben nicht Amerika, sondern er selbst zuerst kommt, und der sich daher von jedem dahergelaufenen Diktator – i.e. von jedem auswärtigen Rivalen Amerikas – mit Schmeicheleien um den Finger wickeln lässt. Wer starke Führung für eine starke Supermacht will, kommt um Harris also nicht herum.

Das Wort „Krönungsmesse“, das die hiesige Presse benutzt, um einen Rest von Distanz zur Veranstaltung zu markieren, an deren Erfolg ihr erkennbar so viel liegt, trifft die Sache tatsächlich nicht schlecht – wenn auch etwas anders, als der Ausdruck gemeint ist: Wenn Amerikaner die Spitze der Staatsgewalt wählen, die über sie herrscht, dann wählen sie zugleich einen Funktionsträger anderer, höherer Art, wofür einige europäische Demokratien noch auf ihre monarchische Vergangenheit zurückgreifen: einen Machthaber, der nicht nur regiert, sondern die Einheit von oben und unten verkörpert und strahlen lässt. Den Regierten wird ein strahlendes Spiegelbild angeboten, sodass sie ausgerechnet beim Blick auf die Obrigkeit sich selbst in ihrer persönlichen und kollektiven Tugendhaftigkeit wiederfinden. Das sollen in diesem Fall – dies der entscheidende Kontrast zwischen Harris und Trump an der moralischen Front – wirklich alle Amerikaner tun. In diesem Sinne präsentieren sich die Demokraten als die wahren Vertreter aller konservativen Tugenden, die die republikanische Partei für sich beansprucht: Freiheit, nationale Stärke, im Innern und nach außen. „USA, USA, USA“: Der klassische Schlachtruf amerikanischer Chauvinisten wird – aber fröhlich! – immer wieder skandiert. Und zum Schluss des Parteitags regnet es rot-weiß-blaue Luftballons. Das passt. Am Höhepunkt ihrer hurra-patriotischen Ekstase landen die Demokraten nämlich auch bei der Hauptsache der amerikanischen Wahl: bei der unmittelbaren Identität zwischen ihrer ungehemmten Liebe zum Vaterland und ihrem Bedarf nach einer hoheitlichen Machtinstanz mit einer möglichst starken und charismatischen Besetzung. Damit liefern die Demokraten auch ihr erklärtermaßen stärkstes Argument an die Wähler draußen im Lande.

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Ganz klar: Die „good vibes“ sollen auch nach dem Parteitag unbedingt weitergehen. Klar ist aber auch, dass die Flitterwochen irgendwann vorbei sein werden. Irgendwann kommt Harris, so die immer häufiger geäußerte Mahnung, um die Präsentation einer konkreten Regierungsagenda nicht herum, zumindest auf den wesentlichen Feldern – ein solides Angebot aus dem Bereich „Sachthemen“ also. Auch das passt. Zumindest insofern, als damit klargestellt wird, was Haupt- und was Nebensache des demokratischen Wahlkampfs ist: Eine Agenda fürs souveräne Regieren ist im Wahlkampf bloß eine Art, für das Wesentliche zu werben, nämlich für den einzigen vorgesehenen Punkt auf der Agenda der Wähler: die Wahl des herrschenden Personals, das dann die Agenda für die Bürger bestimmt. Andererseits: In solchen Mahnungen kommt immerhin zur Sprache, woran die Kandidaten sich einmal im Amt wirklich zu bewähren haben: am Erfolg in der Sache der Nation, an deren Bewährung in der weltweiten Konkurrenz um Geld und Gewalt. Und die erbetenen Auskünfte liefert Harris spätestens mit ihrer großen Rede durchaus – zumindest andeutungsweise: zur Wirtschaft und zur Fiskalpolitik, zur Gesundheitsversorgung und zur Einwanderung, zu den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten, bei denen Amerika sich als oberste Ordnungsmacht der Guten gefordert sieht. Das ganze Wozu der amerikanischen Herrschaft kommt also durchaus vor – in Gestalt von lauter Herausforderungen an die universelle Verantwortung einer amerikanischen Präsidentin, für die sie auf alle Fälle den richtigen Geist mitbringt.

Zwischen den polarisierten Parteien herrscht zumindest darin auffällig viel Einigkeit: Es geht mal wieder bei jedem Thema in der grundsätzlichsten Weise um die Sache der Nation: um die Freiheit und Sicherheit der Wirtschaft, d.h. die erfolgreiche Akkumulation des kapitalistischen Reichtums und seine fiskalische und regulatorische Bewirtschaftung; um die Freiheit und Sicherheit der Bürger beim alltäglichen Kampf ums Zurechtkommen; um die Sicherheit amerikanischer Überlegenheit, also ihrer Freiheit als führende Supermacht – und damit um die Frage, wie amerikanische Weltführerschaft überhaupt zu definieren ist; um die Sicherheit und Freiheit des Familienlebens, also die hoheitliche Regelung dessen, was Frauen mit ihrem Körper anstellen dürfen und sollen, und was die familiäre Lebensgemeinschaft als ökonomische und moralische Keimzelle von Volk und Staat zu leisten hat; schließlich um die Einwanderung bzw. die Notwendigkeiten und die Tücken ihrer radikalen Eindämmung – ein Sachthema, bei dem jede soeben genannte Kombination von Freiheit und Sicherheit relevant zu sein scheint. Die Befassung mit dieser mehrdimensionalen nationalen Sache und mit dem notorisch erbitterten Streit der US-Parteien um sie ist ebenfalls für einige Lehren gut – darüber, was die amerikanische Nation heute ist und braucht. Also auch darüber, wozu diese Nation solche sympathischen Führungspersönlichkeiten braucht.

In diesem Sinne: Fortsetzung folgt.

[1] Vgl. GegenStandpunkt 4-22: „Heimatschutz mal anders: Amerika streitet über seine Familienwerte“.

[2] Die Doktrin entstammt dem Urteil im Fall „Chevron U.S.A., Inc. v. Natural Resources Defense Council, Inc.“ (1984), bei dem es um die Frage ging, welche Instanz die Definitionshoheit darüber genießt, was genau als Quelle von der Sorte Verschmutzung gilt, die im Rahmen des sog. „Clean Air Act“ vom Kongress behandelt wurde. Damals wurde entschieden, der nationalen Umweltbehörde Vorfahrt zu gewähren.

[3] Dieses Prinzip wurde durch eine konservative Richtermehrheit am Obersten Gerichtshof anno 2000 etabliert und wird inzwischen als „major questions doctrine“ bezeichnet: „ein Grundsatz der Gesetzesauslegung in den USA, der in verwaltungsrechtlichen Fällen angewandt wird und besagt, dass die Gerichte davon ausgehen, dass der Kongress keine Fragen von großer politischer oder wirtschaftlicher Bedeutung an die Exekutivbehörden delegiert.“ (Wikipedia, s.v. Major questions doctrine)

[4] Im vorliegenden Fall sind Trumps mehr oder weniger explizite Aufforderungen gemeint, die Auszählung der Wahlstimmen in seinem Sinne zu verfälschen und die Anerkennung der schlechten Ergebnisse zu behindern.

[5] Vgl. nochmal „Heimatschutz mal anders: Amerika streitet über seine Familienwerte“ in GegenStandpunkt 4-22.

[6] Die konservativen Richter mögen mit der amerikanischen Verfassungsgeschichte gewohnt schöpferisch umgehen. Experten verweisen gerne auf die offensichtliche Einseitigkeit und Selektivität, mit der die konservativen Richter da vorgehen, um einen präsidentiellen Anspruch auf strafrechtliche Immunität zu untermauern, der weder mit der Verfassung selbst noch mit einem einheitlichen Standpunkt der Gründerväter eindeutig zu begründen sei. Die Entscheidung des unsinnigen Streits, wie viel Rechtsschutz und wie viel Rechenschaftspflicht die Gründer der amerikanischen Staatsgewalt eigentlich vorgesehen haben, wird hier den streitenden Profis überlassen; darüber entscheidet sowieso nur ihre Konkurrenz – im Grunde nicht anders als beim Streit der Gründerväter selbst um die Frage, wie man am besten eine Herrschaft für das freie Unternehmertum gestaltet. Die zerstrittenen Richter wie die konkurrierenden Rechtsexperten verstehen sich jedenfalls bestens auf die Kunst, zeitgebundene Opportunitätserwägungen mit dem Fetischismus gegenüber den Altvorderen zu kombinieren.