Die Sittlichkeit des Imperialismus
Völkerrecht und Menschenrechte
Völkerrecht und Menschenrechte – wo Recht sein soll, braucht es Gewalt. Wenn die nicht unangefochten ist – „Gleichgewicht des Schreckens“ – dann herrscht auch eine, wenn auch spezielle Rechtslage, die allerdings mit dem Abgang der Sowjetunion passé ist. Heute bietet die verbliebene Supermacht an, für die Gültigkeit des Völkerrechts zu sorgen – als letztlich allein kompetenter Ausleger und Vollstrecker!
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Länder & Abkommen
Gliederung
- Regeln für den internationalen Gewaltgebrauch
- Internationales Recht braucht internationale Gewalt: Auch das Völkerrecht kommt aus den Gewehrläufen
- Das „Gleichgewicht des Schreckens“: Auch eine Rechtslage
- Ein Angebot, das man nicht ablehnen kann: Die USA bieten dem Völkerrecht den Konsens mit ihrer Gewalt an
Die Sittlichkeit des
Imperialismus
Völkerrecht und
Menschenrechte
Kriegsaktionen der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak oder der NATO auf dem Balkan ziehen mehr Fragen nach der Erlaubtheit solchen Tuns nach sich als nach ihrem Grund und Zweck; daß die Machthaber, gegen deren Länder solche Schritte unternommen werden, nicht irgendwelche zeit- und ortsübliche politische Vorhaben verfolgt, sondern Unrechtmäßiges verbrochen haben, steht sowieso fest. Die Staatenwelt bezieht sich offenbar ganz selbstverständlich auf ein internationales System der Legitimität, an dem ihre Mitglieder wechselseitig ihr Handeln messen, als wären sie moralische Individuen und Rechtspersonen eines Welt-Rechtsstaates, der ihnen die staatsbürgerliche Frage, ob „die das dürfen“, mit seiner Gewalt verbindlich beantworten könnte. Den gibt es zwar nicht; aber daß zwischen ihnen eine Art Rechtszustand besteht: das Völkerrecht, das erkennen sie an.
Und zwar sehr allgemein. Ob es um die Notwendigkeit eines Krieges gegen einen Feind der imperialistischen Weltordnung geht – wie beim Vorgehen gegen einen „Schurkenstaat“ – oder bloß um zivile Streitfälle zwischen Nationen – etwa die einseitige Kündigung eines Vertrags über Atommüll, die den Partner schädigt: Stets berufen sich die zuständigen Staatenlenker, beim Zuschlagen wie beim Zurückweisen gegnerischer Ansprüche – auf Entschädigung z.B. –, ebenso auf ihre völkerrechtlichen Pflichten und Ermächtigungen wie die davon Betroffenen; beide Seiten werfen einander Regelverstöße vor. Generell fällt auf, daß die Staaten ihre Konflikte ganz selbstverständlich auch als Rechtsprobleme behandeln und sich wenn nötig vor Schiedsgerichten der WTO oder Gerichtshöfen der UNO miteinander streiten; und wenn die üblichen Verdächtigen der Staatenwelt sich mal wieder etwas zuschulden kommen lassen, werden sie von den Guten, die sich auch schon einmal zu einer „Gemeinschaft der Wohlmeinenden“ zusammenrotten, mit gerechter Gewalt bedroht oder gezüchtigt, wobei die „Wohlmeinenden“ oder ein „Weltpolizist“ sich ohne weiteres auch selbst ermächtigen, wenn es sonst niemand tut.
Ums Völkerrecht kommt heutzutage also kein Staat mehr herum, wenn er mit seinesgleichen Konflikte zu „lösen“ hat. Weniger gewalttätig ist die Welt der internationalen Politik dadurch allerdings nicht geworden. Wie auch: Dieses erhabene Rechtssystem regelt einen Zustand namens Weltfrieden, der enorm viel bewaffneten und anderen gewaltträchtigen Handlungsbedarf zwischen den Nationen einschließt und stets von neuem stiftet.
Regeln für den internationalen Gewaltgebrauch
Gewalttätigen Handlungsbedarf haben und entwickeln Staaten, und zwar alle und notwendigerweise. Denn sie stehen in Konkurrenz zueinander um die vielfältigen Mittel ihrer Macht – Volk und Territorium gehören ebenso dazu wie, wenn diese ersten Attribute einer souveränen Staatsmacht geklärt sind, die Erträge aus dem kapitalistischen Gebrauch des lebenden und toten Inventars der Nation, gutes Geld, gute Waffen, finanzieller und politischer Kredit in aller Welt. Alle Staaten bemühen sich um Positionsverbesserungen, die stets auf Kosten anderer gehen, und bringen dafür gegeneinander die Einflußmittel zum Einsatz, deren Aneignung ihnen ihr bisheriger Entwicklungsstand erlaubt hat. Der Alltag der Staatsveranstaltung, die man Außenpolitik nennt, besteht folglich in nichts als der Eröffnung eigener und der Abwehr gegnerischer Erpressungen; und weil als äußerstes Erpressungsmittel Krieg allemal dazugehört – als letzte „Option“ –, geht Außenpolitik prinzipiell nicht ohne Militär. Ohne Heuchelei geht sie selbstverständlich auch nicht; die ist im zwischenstaatlichen Verkehr sogar als ehrenwertes Geschäft fest institutionalisiert und heißt dort Diplomatie.
Die Staaten, die alles das immerzu betreiben, haben es unternommen, für ihre konfliktreichen Willensverhältnisse förmliche Verfahrensvorschriften zu erfinden[1]: festgelegte Prozeduren, denen der Gebrauch der staatlichen Gewalt nach außen, sich anbequemen soll, um den stets drohenden Übergang zur kriegerischen Auseinandersetzung nach Möglichkeit zu vermeiden und erst einmal andere, friedliche Formen der „Konfliktlösung“ zum Zuge kommen zu lassen. Immer wenn das nicht gelingt, zeigt sich, daß die „Ächtung des Krieges“ als Mittel der Austragung internationaler Interessensgegensätze nicht das Werk weltfremder Friedensidealisten ist, sondern das furchtbarer Realisten, die an ihrem internationalen Vorschriftenwesen keinen Waffengang scheitern lassen, wenn er „unvermeidlich“ ist. Kriege widersprechen nicht dem Standpunkt, daß die gewußten und gewollten Gegensätze der Nationen einer rechtsförmigen Organisation bedürfen, sondern befördern ihn, so daß es sogar für die Dauer der Kampfhandlungen eine gewisse internationale Etikette für den Umgang mit gefangenen oder verletzten Kombattanten, der Zivilbevölkerung oder Diplomaten des Feindstaates gibt – was nicht heißt, daß sie auch eingehalten wird. Nach dem letzten Schuß stehen schon wieder Verfahrensweisen bereit, nach denen die neue Lage geregelt wird: Dem Verlierer wird üblicherweise auferlegt, künftig den „friedensgefährdenden“ Gebrauch seiner Gewalt zu unterlassen; der Sieger genießt nach Kräften die politischen Früchte seines Sieges und paßt auf den Verlierer auf.
Die Gesamtheit dieses Regelwerks heißt auf deutsch „Völkerrecht“. Die „Völker“ sind allerdings an den einschlägigen Verhältnissen nicht beteiligt, jedenfalls nicht als anspruchsberechtigte Rechtssubjekte. Sie haben lediglich mit ihrem Eigentum und Leben für die Interessen ihrer Staaten einzustehen. Daß deren Willensverhältnisse hinsichtlich des Procedere ihres Machtgebrauches nach außen als Rechtsverhältnisse gelten sollen, ist eine Analogie zu innerstaatlichen Gegebenheiten, die die Staaten gemeinsam in Kraft gesetzt haben.
Denen ist von ihren inneren Verhältnissen her selbstverständlich, daß die Verfolgung von Interessen eine konfliktträchtige Angelegenheit ist – schließlich geht es den lieben Volksgenossen auf die eine oder andere Weise immer darum, sich unter den Bedingungen des kapitalistischen Konkurrierens gegen andere durchzusetzen – und deswegen an rechtliche Regeln gebunden werden muß, die den gesellschaftlichen Gewaltbedarf wirksam verstaatlichen. Den Leuten werden daher bürgerliche Gesetzbücher für den zivilisierten Umgang miteinander und mit eigenem und fremdem Eigentum an die Hand gegeben; außerdem Strafgesetzbücher mit Sanktionsdrohungen für allfällige Verstöße. Ein öffentlicher Gewaltapparat sorgt dafür, daß das dort Aufgeschriebene auch unwidersprechlich gilt, und zwar allgemein und für alle, „ohne Ansehen der Person“. Unabhängig von seinem Inhalt und seinen Mitteln bindet so die Rechtsordnung jedes Interesse in der Gesellschaft an seine Billigung durch den staatlichen Gewaltmonopolisten – setzt damit also, umgekehrt, lauter Interessen in Kraft, die ohne Gewalt gegeneinander gar nicht auskommen und trotzdem dauerhaft miteinander auskommen müssen. Soweit – und nur soweit – sie Recht bekommen, mögen die konkurrierenden Rechtssubjekte gegeneinander tätig werden und haben in den fälligen Kollisionen dann auch die überlegene Gewalt des Rechtsstaats auf ihrer Seite; soweit ihre Bedürfnisse illegitim sind, gelten sie nichts, wie dringlich sie sich auch immer darstellen mögen, und haben die öffentliche Gewalt gegen sich, die regelwidriges Verhalten als verbotene Gewalt definiert und ahndet. Durch ein System der Ermächtigung und Beschränkung der privaten Konkurrenzinteressen nach allgemeingeltenden Regeln, die niemanden diskriminieren, sondern alle Unterschiede zwischen den konkurrierenden Subjekten voraussetzen und bestehen lassen, sorgt das innerstaatliche Recht dafür, daß der bürgerliche „Kampf aller gegen alle“ zivil und sozialfriedlich seinen Gang geht.
An diesen innerstaatlichen Verhältnissen gemessen ist der Bereich der zwischenstaatlichen Beziehungen ein einziger „rechtsfreier Raum“, weil es an einer über den Nationen stehenden Aufsichts- und Durchsetzungsinstanz fehlt, die einen dem „sozialen“ entsprechenden „internationalen Frieden“ erzwingen könnte. Daß es aber ungemein praktisch wäre, über ein solches supranationales Instrument zur unbestrittenen Durchsetzung der eigenen und Beschränkung der allemal unberechtigten gegnerischen Interessen zu verfügen, leuchtet den Urhebern rechtsstaatlicher Verhältnisse allemal ein. So haben sich die Staaten der Form nach mit ihren Vorschriften über den Gebrauch ihrer Gewalt nach außen per Übereinkunft ein eigenes Recht erfunden. Das soll eben diesen Gewaltgebrauch an allgemein geltende, gesetzesähnliche Einschränkungen und Bekräftigungen binden und ihm so weltfriedlich auf die Sprünge helfen, ohne seinen Grund, die selbstverständlich vorausgesetzten Interessengegensätze zwischen den Nationen, und seine – höchst unterschiedlich verteilten – Mittel irgendwie anzutasten. Es gilt – ganz analog zum innerstaatlichen Recht – Gleichheit vor dem internationalen „Gesetz“; dessen Vorschriften verpflichten gleichermaßen „alle Nationen, ob groß oder klein“ (so die Präambel der UNO-Satzung), und berechtigen sie zugleich zu all- und wechselseitiger Respektierung als legitime Gewalten und Subjekte des Völkerrechts. Ihre konfliktreichen und gewaltträchtigen Interessen sind ihnen unbenommen; von den verschiedenartigen Mitteln, mit denen sie diese verfolgen, wird vornehm abstrahiert. Als Verfahrensvorschrift des zwischenstaatlichen Gewaltgebrauchs ist das Völkerrecht selbst ganz „interesselos“, schreibt den Staaten keinerlei besondere Zielsetzung vor, sondern nur ein Procedere bei der Verfolgung ihrer Interessen, das nicht mehr und nicht weniger zuwege bringen soll als einen möglichst unkriegerischen, nutzbringenden Vollzug ihres Gegeneinander.
Freilich, in dem einen entscheidenden Punkt bleibt die Entsprechung zum innerstaatlichen Rechtszustand bloßes Programm: Eine übergeordnete Gewalt als Garant legitimer Ansprüche steht der Staatenwelt im Völkerrecht nicht zur Verfügung. Es bleibt bei einer Selbstverpflichtung der souveränen „Rechtssubjekte“ auf das vereinbarte Regelwerk; kein inter- oder supranationaler Gewaltmonopolist verfügt die Unterwerfung aller unter „das Gesetz“, legt es verbindlich aus und garantiert seine Vollstreckung. Dennoch ist das Völkerrecht mehr als eine x-beliebige, dem fortwährenden internationalen Schacher zugehörige multilaterale Abmachung: Es ist eine Abmachung darüber, was im Verkehr der Staaten rechtens ist, also über Regulierungen, die dem Schacher Haltbarkeit verleihen. Mit einer Konvention wie der Satzung der Vereinten Nationen ist die Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Gewalt auch im zwischenstaatlichen Bereich in der Welt. Auch wenn diese Unterscheidung – im allgemeinen wie in jedem besonderen Fall – keine andere Grundlage hat als die souveräne Entscheidung der betroffenen Gewalthaber selbst, sie zu treffen und gelten zu lassen, so heißt das eben doch auch andersherum, daß die Staaten sich selbst und einander die Rolle des regelkundigen Aufpassers zuerkennen. Mag eine übergeordnete Auslegungs- und Exekutivgewalt auch fehlen: Die vereinbarte Satzung macht die Politik der Staaten zum Gegenstand einer fortwährenden rechtsförmlichen Beurteilung, und zwar durch alle, die – aus welchem nationalen Eigeninteresse auch immer – mit der Satzung hantieren, sie also anerkennen. Das Völkerrecht ist der einvernehmlich akzeptierte Leitfaden für Außenpolitiker, sich untereinander – unbeschadet ihrer wirklichen, oft genug unvereinbaren Interessen – über die formelle Billigung ihrer jeweiligen Aktionen wie auch über eine eventuelle Verurteilung der Machenschaften gewisser Staaten einig zu werden. In den Mächten, die sich an dieser perversen Art kollektiver Urteilsbildung über ihren wechselseitigen Gewaltgebrauch beteiligen – und das sind mittlerweile alle –, hat das Völkerrecht daher zwar immer noch keinen gewaltmonopolistischen Exekutor, aber durchaus einen gewichtigen Hüter: Seine Geltung ist verankert im kollektiven Urteil und den kollektiven Entscheidungen der Staaten, die sich ihm unterstellen, um es als Instrument gemeinschaftlicher Ermächtigung – da denkt jeder an sich selbst – und Beschränkung – von Konkurrenten und Feinden – wirksam werden zu lassen.
Das Völkerrecht setzt also den erpresserischen Umgang der Staatsgewalten miteinander als selbstverständlich voraus und auch, daß dabei immer Gewalt, zumindest in Form der Drohung damit, im Spiel ist. Es geht davon aus, daß dadurch der allemal bloß berechnend gewährte Respekt der souveränen Subjekte voreinander, ihre wechselseitige Anerkennung, immerzu gefährdet ist. Es kodifiziert die formellen Grundsätze, nach denen die Staaten einander zu respektieren haben, legt also auch gleich fest, unter welchen Bedingungen und nach welchen Verfahrensregeln dieser Respekt aufzukündigen und legitimerweise Gewalt anzuwenden ist. Und es organisiert eine Garantie seiner Vorschriften in der Weise, daß es alle Staaten mit der Aufgabe betraut, darauf aufzupassen und sich unter diesem Gesichtspunkt über ihre Einmischung in die Politik der anderen einig zu werden. Die internationale Quasi-Rechtsordnung versteigt sich gar nicht zu einer – allemal bloß idealistischen – Ächtung von Gewalt; es definiert und ächtet illegitime Gewalt und erläßt einen immerwährenden Appell an alle Staaten, ihrem Gewaltgebrauch diese Definition zugrundezulegen, nämlich an ihr entlang mit anderen gegen Dritte vorzugehen. Solche Gewaltanwendung ist nämlich legitim, die so legitimierte Gewalt das eigentliche zentrale „Schutzgut“ des Völkerrechts.
Diese Maßregel besitzt mittlerweile allgemeine und dauerhafte Gültigkeit: Nach einmal eingeführter Scheidung staatlichen Handelns gemäß den Kriterien des Völkerrechts in legitimes und unrechtmäßiges ist ein Austritt aus der rechtstreuen „Völkerfamilie“ nicht mehr vorgesehen; die in der UN-Satzung zusammengefaßten Grundsätze des Völkerrechts erstrecken ihre Verbindlichkeit nach einhelliger Meinung der Völkerrechtslehre auch auf Staaten, die nicht oder nicht mehr Mitglieder der Vereinten Nationen wären. Das macht den Kampf um das Völkerrecht zum festen Bestandteil der internationalen Politik: Neben allem, was sie sonst noch zu tun haben, ringen die Außenminister der modernen Staatenwelt um die gemeinschaftliche Ermächtigung des eigenen Nationalinteresses als rechtmäßiges und um die kollektive Beschränkung des konkurrierenden und gegnerischen als illegitim.
Zu der Großtat, alle Staaten des Globus wegen ihrer gewalttätigen Konkurrenz einem kollektiv beschlossenen Regime von internationalen Rechtsnormen zu unterwerfen, in dem sie zugleich „Normgeber“ und „Normierte“, Unterworfene des von ihnen als Recht erlassenen Vorschriftenwesens und kollektive Kontrolleure seiner Einhaltung sind, haben die Nationen der Welt in diesem Jahrhundert gleich zweimal Anlauf genommen; nicht zufällig jedesmal unter dem Eindruck eines Weltkriegs, der beträchtliche Teile des Globus in Trümmer legte. Da zivilisierte Nationen solch flächendeckende Verwüstung nur befürworten, wenn sie unbedingt nötig ist, sie also wenn möglich vermeiden, soweit ihre Ansprüche auch anders zu befriedigen sind, haben sie sich, nach dem nur kurzlebigen Unternehmen „Völkerbund“ in der Zeit zwischen den Weltkriegen, nach dem zweiten Weltkrieg erneut per Konvention als friedensstiftende und -erhaltende kollektive Rechtsgewalt, diesmal unter dem Titel der „Vereinten Nationen“ etabliert.[2]
Dieser Verein stellt sich schon in den ersten Zeilen seiner Satzung als Beitrag zum Weltfrieden dar:
„Wir, die Völker der Vereinten Nationen, … fest entschlossen, künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat…“ –
und läßt schon im nächsten Absatz der Präambel keinen Zweifel daran, wie der neue Völkerverein zum Frieden auf der Welt beizutragen gedenkt: Die Nationen, die die Satzung unterschriftlich anerkannt haben, werden
„für diese Zwecke … ihre Kräfte vereinen und Grundsätze annehmen und Verfahren einführen, die gewährleisten, daß Waffengewalt nur mehr im gemeinsamen Interesse angewendet wird.“ (Präambel der Satzung der Vereinten Nationen (SVN); Hervorh. von uns)
Dächte ein Mitgliedsstaat an Gewaltanwendung, die nicht „nur im gemeinsamen Interesse“ läge, sondern etwa „nur“ in seinem eigenen, so stünde seinen Absichten Art. 2 Ziff. 4 der Satzung entgegen, der schon die Androhung von Gewalt als völkerrechtswidrig verbietet. Und ein UN-Mitglied, das in der Auseinandersetzung mit anderen Souveränen auf die Überzeugungskraft seiner Waffen setzt, ohne sich vom zuständigen Weltkollektiv der Wahrer des Völkerrechts dazu ermächtigen zu lassen, muß damit rechnen, daß sein Vorgehen als „Bedrohung oder Bruch des Friedens“ oder als satzungswidrige „Angriffshandlung“ (Überschrift zu Kap. VII SVN) qualifiziert wird. Die „Völkergemeinschaft“ ist berechtigt, dagegen gemäß den in Kap. VII SVN aufgeführten „Maßnahmen“ die legitime „Waffengewalt im gemeinsamen Interesse“ aufzufahren; dafür soll ausdrücklich das gesamte Arsenal von „Luft-, Land- oder Seestreitkräften“ eingesetzt werden. Daneben besteht das „naturgegebene Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung“ (Art.51 SVN) fort, wie es im Fall des gegen den Irak gerichteten Unternehmens „Desert Storm“ zum Einsatz kam – um einen Akt der „kollektiven Selbstverteidigung“ Kuwaits, zusammen u.a. mit den USA, handelte es sich nämlich bei diesem Krieg in völkerrechtlicher Hinsicht –; ein Recht, das die Angelegenheit schon geregelt hatte, bis der Weltsicherheitsrat seine Zuständigkeit wahrnahm.
Die Leistung des modernen Völkerrechts ist es also, die Politik der Nationen bei der Verfolgung ihrer Interessen unter einen förmlichen und gemeinschaftlich beschlossenen Rechtsvorbehalt zu stellen, der jedes Interesse zum Einmischungsgegenstand der völkerrechtlich Vereinten Nationen macht. Sie fungieren gemeinsam als Prüfungsinstanz, die das interessierte Tun und Lassen der Staaten auf seine Genehmigungsfähigkeit untersucht. Jeder einzelne von ihnen ist aufgrund seiner vertraglichen Beteiligung an dieser Prozedur durch deren Rechtsform als Träger von Rechten und Pflichten vereinnahmt und im Gebrauch seiner souveränen Gewalt ebensowohl eingegrenzt wie bestätigt.
Keiner der beteiligten Staaten gibt sich dabei der Illusion hin, daß dadurch im zwischenstaatlichen Friedens- und Kriegswesen die Frage der rechtlichen Zulässigkeit an die Stelle politischer Erwägungen getreten wäre.[3] Das weiß jeder von sich selbst am besten. Es werden aber politische Interessen dem Kodex des Völkerrechts subsumiert und diese Interessen damit institutionell in Rechte übersetzt. Das ist ersichtlich mehr als die nebenher stets stattfindende, bloß ideologische Operation, die alltäglichen Standpunkte globaler Gewaltanwendung mit Titeln aus dem Ideenhimmel der internationalen Gerechtigkeit zu adeln. Das Völkerrecht, wie es beispielhaft zusammengefaßt und in seiner derzeit gültigen Fassung in der Satzung der Vereinten Nationen vorliegt, institutionalisiert vielmehr den mittlerweile erreichten Weltzustand, daß es sowieso keine zwischenstaatlichen Affären mehr gibt, die „dritte“ Staaten nichts angingen. Denn dahin haben es die imperialistischen Großmächte gebracht, daß tatsächlich alle Staaten ihre Außenpolitik als Weltpolitik betreiben: Die übriggebliebenen Weltmächte beziehen sowieso alles, was auf dem Globus passiert, auf sich, weil sie ihren nationalen Interessen längst universelle Reichweite verschafft haben; und die davon betroffenen Nationen kommen nicht umhin, sich mit ihren Interessen und ihrem Drang nach Macht um Teilhabe am Weltgeschehen zu bemühen und dementsprechend auf die politischen Vorgaben der entscheidenden Mächte zu beziehen. Internationale Gewalt-„Fragen“ sind also keine „Privatangelegenheit“ ihrer souveränen Urheber mehr; und das ist die bleibende Grundlage dafür, daß sie auch erklärtermaßen nicht mehr als Sache eines letztlich unaufhebbaren staatlichen „Privatrechts“ auf Gewalt gelten, sondern einem System internationaler Beschränkung und Ermächtigung nach Maßgabe der UN-Satzung unterliegen. Dem will sich keine Mitgliedsnation mehr entziehen. Alle haben offenbar vorderhand ihre Abwägungen getroffen und sich zum Zurechtkommen mit diesem System entschlossen. Die einen, weil sie sich der supranationalen Zuständigkeit zur Be- und manchmal Verurteilung ihrer Interessen nicht verschließen können, ohne Gefahr zu laufen, sehr fundamentalistisch als Feinde der internationalen Rechtsgemeinschaft angeklagt und unter Berufung auf den rechtlich bindenden Charakter der UN-Charta mit Sanktionen bis hin zur satzungsgemäßen Anwendung von „Waffengewalt im gemeinsamen Interesse“ der Rechtstreuen überzogen zu werden. Die anderen, weil es das Rechtssystem einer Welt ist, die sie für sich politisch eingerichtet haben.
Internationales Recht braucht internationale Gewalt: Auch das Völkerrecht kommt aus den Gewehrläufen
Ob ein Mitgliedsstaat der UN die Beschränkungen, die das völkerrechtliche Aufsichtswesen mit sich bringt, hinnimmt, auch wenn seine politischen Interessen dagegensprechen, und ob und inwieweit er die Freiheiten seiner satzungsgemäßen Ermächtigung ausüben kann, ist stets eine Frage der kollektiven Gewalt, die die Vereinten Nationen als Zentralagentur des internationalen Rechtswesens zu mobilisieren imstande sind.
Auf die Frage, die sich damit stellt: nach der Exekutions- und Strafgewalt, wie sie analog das innerstaatliche Rechtswesen mit so überzeugender Wucht ausstattet, hält die Satzung der UN die Antwort bereit: Die Charta sieht dafür den Sicherheitsrat vor, dem nicht nur die „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ übertragen ist, sondern auch ausdrücklich das Anerkenntnis zuteil wird, daß er „bei der Wahrnehmung der sich aus dieser Verantwortung ergebenden Pflichten … im Namen der Mitglieder der Vereinten Nationen handelt.“ (Art.24 Abs.1 SVN)
In deren Namen legt die Satzung auch die ständigen Mitglieder dieses entscheidenden Unter-Kollektivs der Vereinten Nationen fest, und zwar nach einem sehr eindeutigen Kriterium: Es handelt sich um die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, seinerzeit und teilweise nach wie vor die wirklichen Weltmachthaber. Ihrer Macht wegen bestellt das geltende Völkerrecht sie zu seinen Garanten und seinem kollektiven Entscheidungs- und Exekutivorgan, um sich in den gewaltträchtigen Streitfragen, die es normiert, Geltung zu verschaffen. Ihnen weist es die Aufgabe und Befugnis zu, die übrigen Inhaber staatlicher Gewalt dazu zu bewegen, daß sie bei der Verfolgung ihrer grenzüberschreitenden Interessen auf deren förmliche Übereinstimmung mit dem Völkerrecht achten und sich deren Legitimität ausdrücklich bestätigen lassen. Auf sie, die Großmächte in ihrer Eigenschaft als Sicherheitsratsmitglieder, kommt es an in der Frage, ob und wie für die Dauerhaftigkeit des kollektiven Regimes gesorgt wird, das dem Verlust an außenpolitischer Handlungsfreiheit durch die jederzeitige Einmischung von ca 170 Fremdnationen das Angebot einer erweiterten Freiheit gegenüberstellt: der Freiheit, sich mit vollem Recht weltweit bei allen in alles einzumischen und mit Rückendeckung aller anderen durchzusetzen, wofür man sich das Placet der „Völkergemeinschaft“ besorgt hat.
Diese Frage stellt sich praktisch in jedem Fall eines Verstoßes gegen das vereinbarte Regime, also einer „Gefährdung des Weltfriedens oder der internationalen Sicherheit“. Damit tritt nämlich der Ernstfall ein, daß der UN-Standpunkt einer rechtsförmigen Weltverfahrensordnung gerade soviel Geltung beanspruchen kann, wie ihm die wirklichen staatlichen Machthaber durch Indienststellung ihrer Gewaltmittel verleihen. An die Weltmächte der ersten oder zweiten Ordnung – und auch an alle andern, denn das Völkerrecht diskriminiert ja nicht – ergeht dann der Ruf der UNO, sich mit ihrer militärischen Schlagkraft in den Dienst des „Weltfriedens“ und der „internationalen Sicherheit“ zu stellen. Die Adressaten dieses Ansinnens sind damit zu einem Abgleich des kollektiven Dienstauftrages mit ihrem nationalen Interesse herausgefordert – dazu also, den Anspruch der UNO an ihren eigenen jeweiligen weltpolitischen Anliegen und umgekehrt ihren nationalen imperialistischen Handlungsbedarf an dem Gewaltbedarf des Völkerrechts im vorliegenden Fall zu messen und zu schauen, ob und wie sich beides zur Deckung bringen läßt. Damit ist auf alle Fälle klar, daß im Dienste des Völkerrechts kein Schuß fällt, solange nicht die Übereinstimmung von nationaler Politik und völkerrechtlichem Gewaltbedarf abschließend geprüft ist – geht diese Prüfung aber positiv aus, dann können der Geltung der UNO-Satzung auch schon einmal in ausgewachsenen Kriegen wie in Korea oder dem Irak einige zehn- oder hunderttausend Tote gewidmet werden.
Doch wie das Ergebnis auch ausfällt: Als praktische Rechtsgewalt ist das Völkerrecht allemal nichts anderes als das Resultat der durch die wichtigen Nationen vorgenommenen Prüfung, inwieweit das ihnen angetragene UNO-Mandat ihrer weltpolitischen Interessenlage entspricht. Diese Mächte sind es daher auch, die durch den Einsatz ihrer Gewalt im Dienste der Vereinten Nationen bestimmen, wann wo gegen und für wen welcher Artikel der UN-Charta geltend zu machen und durchzusetzen ist, was also rechtens ist. So fällt der militärischen Gewalt, die für diese Verbindlichkeit in Übereinstimmung mit ihren Interessen sorgt, auch die völkerrechtliche Definitionsgewalt über Zulässigkeit und Unzulässigkeit, Erlaubtes und Verbotenes im zwischenstaatlichen Verkehr zu. Und das nicht nur faktisch; das Regelwerk dekretiert es ausdrücklich so: Indem es die maßgeblichen Weltmächte – die Auswahl reflektiert das Kräfteverhältnis zum Entstehungszeitpunkt der Charta – zu ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat ernennt und mit einem Vetorecht ausstattet, spricht es ihnen die Kompetenz zu, fallweise die internationale Rechtslage verbindlich zu interpretieren.
Für diese Staaten, die Macher im höchsten völkerrechtlichen Entscheidungsorgan und maßgeblichen Ausführungsgewalten der Vereinten Nationen, löst sich so das Verhältnis zwischen dem verlangten Dienst am Völkerrecht und ihren eigenen weltherrschaftlichen Interessen, von Beschränkung und Ermächtigung durchs nationenübergreifende Regelwerk, sehr eindeutig auf: Sie bestimmen – auch und erst recht in eigener Sache – in letzter Instanz über den Gehalt internationaler Legitimität; und an ihrer Definition des Unerlaubten kommt – außer ihnen selbst – niemand vorbei. Für sie ist die Konstruktion einer allgemeingültigen Legalität zwischen den Staaten keine Fessel, sondern ein Mittel: Sie sind in aller Form ermächtigt, aus ihren politischen Kalkulationen weltweit verbindliche Rechtspflichten zu machen – solange sie sich einig sind, worauf noch zurückzukommen ist. In jedem Fall sind sie, stellvertretend für den ganzen Rest der Staatenwelt, aufgrund ihrer militärischen Macht auch die befugten Herren der UNO-Satzung, nämlich ihrer praktischen Anwendung. Dies als „Irrweg“ des Völkerrechts oder seine womöglich mißbräuchliche „Instrumentalisierung“ zu beklagen, sollte man den unverbesserlichen Idealisten einer supranationalen Welt-Rechtsgewalt überlassen. Es gehört zum Wesen dieser Rechtssphäre, daß sie auf die Übereinstimmung von völkerrechtlicher Beurteilung und nationalem Durchsetzungsinteresse der entscheidenden Militärmächte baut, die sich den kollektiven Rechtsstandpunkt zu eigen machen; und es gehört zum Kernbestand der UN-Charta und zum Programm der Vereinten Nationen, in allen Fällen eines internationalen Exekutivbedürfnisses auf die Machtmittel der potenten Einzelstaaten zurückzugreifen und ihnen dafür dann auch die Definitionshoheit über die Rechtslage zuzuerkennen, die sie exekutieren sollen. Das Völkerrecht stellt eben nicht – oder allenfalls seiner Idee, nicht seiner Logik nach – den Imperialismus auf den Kopf, sondern fügt dem System der bewaffneten Kräfte und imperialistischen Berechnungen, von dem sein Bestand und alles, was es an praktischer Bedeutung besitzt, ohnehin abhängt, den Standpunkt der rechtlichen Normierung und ein entsprechendes satzungsmäßiges Handwerkszeug hinzu.
Auf den ideologischen Schein, in den und vermittels der Vereinten Nationen wäre anstelle nationaler Interessenspolitik und gegen alle imperialistischen Kräfteverhältnisse das internationale Recht auf dem Weg zur Weltherrschaft, kommt es deswegen auch wirklich nicht an. Was die Satzung wirklich leistet, auf die alle modernen Souveräne sich verpflichtet haben, langt schon: Mit ihrer Unterscheidung von legitimem und unerlaubtem staatlichem Gewaltgebrauch nach außen dient sie als normierender Leitfaden, an dem entlang die Staaten ihre Gewaltinteressen fortwährend aufeinander beziehen, miteinander abgleichen und fallweise zu kollektiven Urteilen vereinigen, denen die Berechnung der dazu ausdrücklich befugten Weltmächte – gegebenenfalls – materielles Gewicht verleihen, und zwar bis hin zu kriegerischen Bestrafungsaktionen. Diese Mächte bestehen ihrerseits vermittels der UNO, und indem sie sich in den Dienst ihres Regelwerks stellen, darauf, daß das, was aus ihren „Gewehrläufen“ kommt, nicht nur imperialistische Gewalt, sondern allgemeinverbindliches Recht ist.
Für diese elegante Transformation militärischer Macht und weltpolitischer Interessen in völkerrechtliche Praxis gilt nur eine einzige, allerdings sehr entscheidende Bedingung: Die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats müssen sich einig werden: „Beschlüsse des Sicherheitsrates über alle sonstigen Fragen (sc. die nicht bloße Verfahrensfragen sind) bedürfen der Zustimmung … sämtlicher ständiger Mitglieder …“ (Art.27 Abs.3 SVN) Die Satzung geht davon aus, daß sie in den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates ihre Exekutoren gefunden hat; sie kennt keine Garantie, daß diese sich selber – nach bestem Wissen und Gewissen – an die Vorgaben des Völkerrechts halten und als redliche Treuhänder des rechtsetzenden Willens der „Völkergemeinschaft“ handeln, wenn sie im gegebenen Fall die Forderungen der Rechtslage mit den Geboten ihrer Interessenlage abgleichen resp. umgekehrt für eine von ihnen eröffnete Feindschaft das internationale Normenwesen in Anspruch nehmen. Sie dekretiert aber eine Vorkehrung gegen Einseitigkeit – nämlich ‚Mehrseitigkeit‘: eine Mehrzahl höchster Exekutivmächte, die einander kontrollieren, und zwar aufgrund des vorgeschriebenen Konsenses wirksam: Entweder entscheiden die Weltmächte einhellig und handeln gemeinsam – oder gar nicht, jedenfalls nicht als Weltgericht. Kriegen sie keinen Konsens zustande, so ist das der „Beweis“, daß sie, obwohl einzige und anerkannte Ausleger und Sachwalter der Satzung, in dem Fall eben doch bloß ihren speziellen nationalen Interessen folgen wollen statt der vereinbarten Norm; gerechterweise kommt dann eben auch kein verbindliches Urteil und Mandat zustande. Werden sie sich hingegen einig, dann geht daraus hervor, daß sie im Dienst des Völkerrechts tätig werden. Der Konsens beglaubigt ihre interessierten politischen Ermessensentscheidungen als rechtskräftiges Urteil im Namen sämtlicher Vereinten Nationen; was sie dann durchsetzen, ist gutes, echtes, unanfechtbar gültiges Völkerrecht. Mit einem Satzungstrick konstruiert die UNO-Charta die denkbar nächste Annäherung an ein international Recht setzendes Gewaltmonopol: Pluralismus plus Einigungszwang der ohnehin entscheidenden Gewalten.
Und das hat tatsächlich funktioniert!
Das „Gleichgewicht des Schreckens“: Auch eine Rechtslage
Die alte Sowjetunion mit ihrem Block verfügte über Machtmittel, an denen die imperialistische Einrichtung der Nachkriegswelt unter Führung der USA nicht vorbeikam und die ihr die Mitgliedschaft im Weltsicherheitsrat garantierten. Die Schlagkraft ihrer Rüstung führte nicht nur jahrzehntelang zu einem militärstrategischen Gleichgewicht. Auch im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen zogen die machtvollen Interessenstandpunkte der feindlichen Blöcke in allen Fragen, die von ihnen als essentiell im Rahmen des „Systemgegensatzes“ erachtet wurden, zuverlässig ein „Patt“ zwischen der imperialistischen und der realsozialistischen Weltmacht nach sich. Zwischen dem Koreakrieg im Jahre 1950, der völkerrechtlich als Krieg der Vereinten Nationen unter Führung der USA gegen Nordkorea und seinen chinesischen Verbündeten geführt wurde – entgegen der UN-Satzung hatte die Sowjetunion an der Abstimmung im Sicherheitsrat nicht teilgenommen – und dem Krieg gegen den Irak 1991 kam deshalb die im Sicherheitsrat versammelte Militärmacht der ständigen Mitglieder nicht mehr kollektiv im Namen der UNO zum „friedenschaffenden“ Einsatz.
Die Verhältnisse der „bipolaren“ Welt führten aber keineswegs zur Aufhebung des Völkerrechts oder zur Auflösung der ja gerade erst und schon im Zuge der „Polarisierung“ gegründeten UN-Organisation. Im Gegenteil: Die lange Reihe von UNO-Resolutionen, die im Sicherheitsrat dann doch keine Zustimmung fanden, das stereotype „Njet“, für das die Botschafter und Außenminister der Sowjetunion über Jahrzehnte berüchtigt waren, die später kaum weniger zahlreichen „No“ aus Amerika – das alles belegt, daß auch in Streitfragen, bei denen bleibender Dissens absehbar war, keine Seite auf die in der UNO institutionalisierte völkerrechtliche Unterscheidung zwischen rechtmäßiger und unrechtmäßiger Gewaltanwendung verzichten mochte. Unermüdlich wurden die gar nicht auflösbaren Konflikte in Gestalt widerstreitender Rechtsstandpunkte vorgetragen. Denn wenn schon kein rechtsgültiges Urteil zustandekam, so doch immerhin die nicht-verbindliche Billigung des einen oder des anderen Standpunkts durch eine Mehrheit der versammelten Völkerrechtsgemeinde. Und die war selbst den großen Führungsmächten soviel wert, daß darum erbittert gerungen wurde, mit den höflichen und unfeinen Mitteln diplomatischer Erpressung. Die Normen der UNO-Satzung wurden in Anspruch genommen, um an ihnen entlang Zustimmung zur Weltpolitik des einen oder des anderen „Blocks“ zu organisieren; fallweise und, weil und soweit ein „Fall“ allemal mehr oder weniger zum exemplarischen Unterfall des großen Ringens zwischen „West“ und „Ost“ gemacht wurde, überhaupt. Und auch wenn dabei völkerrechtlich sonst nichts weiter herauskam: Daß die Politik der Staaten mit- und gegeneinander nicht nach ihrem Inhalt, sondern nach dem Rechtsformalismus der Charta beurteilt gehört; daß nationale Forderungen und ebenso die Vorteils-Nachteils-Rechnungen der davon betroffenen Staaten sich in Gesichtspunkte der (Un-)Rechtmäßigkeit übersetzen müssen, um Anerkennung zu finden; und daß sich die Staatenwelt im Sinne dieser Beurteilungsart eigentlich als Weltgericht zu konstituieren und das für illegitim Erkannte mit überlegener Strafgewalt zu bekämpfen, alles Legale hingegen hinzunehmen oder sogar zu unterstützen hätte: dieser Standpunkt fand weltweit allgemeine Anerkennung. Die Staaten jedenfalls widmen ihm genügend Beiträge, um ihn in einem großen und dauerhaften Beamtenapparat materielle Gestalt annehmen zu lassen.
Und immerhin bekam dieser Apparat auch in Zeiten des sowjetischen „Njet“, des amerikanischen „No“, also der seinerzeit vielbeklagten „Selbstblockade“ und „Entscheidungsunfähigkeit“ des Weltsicherheitsrats doch auch einiges zu tun. Es gab eben immer auch solche Streitereien in der neu entstehenden Staatenwelt, in denen die verfeindeten Weltmächte, wenn schon nicht zu übereinstimmenden Interessen, so doch von ihren entgegengesetzten Bedürfnissen aus unter dem verfremdenden Gesichtspunkt der völkerrechtlichen Legitimität zu deckungsgleichen Urteilen gelangten und sogar für die Mobilisierung eines gewissen Maßes an völkergemeinschaftlichem Interventionswillen und einer entsprechenden Rechtsgewalt sorgten. So konnte sich die UNO auf dem weiten Feld der Gemetzel hervortun, die die Liquidierung der Kolonialreiche und die Umformung ihrer exotischen Hinterlassenschaft in lauter selbständige Staatsgebilde begleiteten; weil nämlich die Sowjetunion mit ihren antirevolutionären Hoffnungen auf einen gleitenden Übergang von der nationalen Emanzipation zum Sozialismus auf der einen Seite, Amerika mit seinen Ansprüchen auf eine Welt voller frei ausnutzbarer Handelspartner und beflissener Kompradoren – CIA-Geschöpfen im Notfall – auf der anderen Seite in der Verurteilung des Kolonialismus fallweise einigungsbereit waren und die beiden hauptsächlich betroffenen Sicherheitsratsmitglieder Frankreich und Großbritannien zu machtlos, um dagegen ihr ohnehin schwindendes Interesse an Kolonien als gültigen Rechtsstandpunkt zu behaupten. So wurden manche der fälligen Staatsgründungskriege von den „Supermächten“ sistiert, andere bis zur Erschöpfung der Parteien, aber ohne definitives Ergebnis ausgekämpft; in noch anderen Fällen fanden die Weltmächte, von denen mindestens – die – eine immer die Finger im Spiel hatte, eine Entspannungsgeste auf Kosten der bislang unterstützten Kriegspartei opportun. Und damit wurde dann der Weg frei für einen UN-Entscheid. Meist wurde beschlossen, Truppenkontingente aus dienstfertigen Mitgliedsländern unter UNO-Kommando mit Ferngläsern zwischen die Fronten zu stellen, so daß die Parteien vor Ort entweder halbwegs Ruhe geben oder fortan an ihren Aufsehern vorbeischießen mußten. Seither markieren von den Golanhöhen bis Angola „Blauhelme“ die Kriegsschauplätze, über deren Einhegung Amerikaner und Russen seinerzeit einen Konsens gefunden haben – und wenn es etwa im Fall Israel nur der war, daß ein Konsens über eine eindeutige völkerrechtliche Qualifikation der Kriege, die mit der noch immer nicht abgeschlossenen Gründung dieses Staates einhergehen, gegen das US-Veto nicht zu erreichen ist, immerhin aber die jeweiligen Waffenstillstandslinien anerkannt und von UNO-Soldaten beaufsichtigt werden sollen, solange sie jeweils gelten.
Bei diesen Interventionen, die tatsächlich UNO-Recht gesetzt und durchgesetzt haben, ist es natürlich auch vorgekommen, daß – die – eine der Weltmächte im Nachhinein ihre Bereitschaft zum Konsens tatkräftig bereut hat. Bei der Entkolonialisierung des einst belgischen Kongo etwa mußten die USA mit ihren eher geheimen Mitteln gegen eine Regierung einschreiten, die eigentlich auch mit ihrer Zustimmung von der UNO gestützt wurde; den damaligen UNO-Generalsekretär hat das ganz nebenbei das Leben gekostet. So weit haben sie es natürlich dort erst gar nicht kommen lassen, wo sie von vornherein direkt mit ihrer militärischen Gewalt engagiert waren: Ihren Krieg in Indochina haben die USA ohne jedes völkerrechtliche Mandat geführt und auch nie im Sicherheitsrat zur Abstimmung gestellt. So mußten sie nur – ähnlich wie ihr Schützling Israel bis heute – rechtlich belang- und folgenlose Resolutionen gegen ihre Kriegführung hinnehmen, gegen die sie sich durchaus auch wieder ins Recht zu setzen wußten; zur Rechtfertigung ihrer Bombenteppiche auf Nordvietnam z.B. erfanden sie 1964 eigens den „Tonking-Zwischenfall“, einen Angriff nordvietnamesischer Schnellboote auf einen ganz zufällig im Golf von Tonking liegenden US-Zerstörer, gegen den sie mit ihren Bomberflotten alsdann bloß ihr unveräußerliches „Recht auf Selbstverteidigung und Vergeltung“ wahrnahmen. Genausowenig ließ sich später die Sowjetunion von dem Vorwurf des Westens beeindrucken, ihre Intervention in Afghanistan sei eine völkerrechtswidrige Aggression: Auch sie dachte gar nicht daran, den Vereinten Nationen in dem Fall irgendeine Zuständigkeit einzuräumen; und auch sie hatte völkerrechtlich einwandfreie Beistandsgesuche der linken Regierung in Afghanistan vorzuweisen, die unter dem Druck der amerikanisch finanzierten islamischen Guerilla stand…
Außerhalb der von der UNO verwalteten Unterscheidung zwischen legitimer und unrechtmäßiger Gewaltanwendung, von beiden Seiten der Kompetenz des Völkerrechtsclubs entzogen, blieb alles, was die „Supermächte“ in ihrem Ringen um die Alternative: westliche Weltherrschaft oder sozialistischer Zwang zur Koexistenz, gegeneinander an strategischem Terror inszenierten. Amerikas „Abschreckungspolitik“ mit „nuklearer Erstschlagsoption“ und Sowjetrußlands „Atomkriegsfähigkeit“ wurden zum Gegenstand diplomatischer Verhandlungen; seltsame Verträge wurden geschlossen, in denen die beiden Seiten einander in aller Form die Mittel zu garantierter wechselseitiger Vernichtung zubilligten und sich sogar über die dafür erforderliche Menge und Wucht atomarer Waffen einig wurden. Die UNO oder gar der Sicherheitsrat, die berufenen Organe des internationalen Rechtsfriedens, wurden mit diesem schönen Stoff jedoch nicht befaßt; der war dann doch zu exklusiv für die allgemeine Völkerversammlung. Umgekehrt reichte das Einvernehmen der „Supermächte“ über ihre Exklusivität aus, um ihre strategische Sonderstellung gegenüber dem Rest der Welt in einem allgemeinen völkerrechtlichen Vertragswerk verbindlich festzuschreiben, der das Bemühen Dritter, sich Atomwaffen zu beschaffen, als Unrecht ächtet. Ein striktes, von den Sicherheitsratsmitgliedern überwachtes und mit einer gemeinsamen Kriegsdrohung glaubhaft gemachtes Bewaffnungsverbot ist zwar nicht zustandegekommen, weil ein gewaltsames Vorgehen aller einstigen Weltkriegsalliierten gegen Abweichler dann doch nicht in Reichweite war – wie ein solches wirklich wirksames Rüstungskontrollregime auszusehen hätte, bekommen erst jetzt die Iraker zu spüren –; zur Ergänzung des allgemeinen, mehr moralischen Verdikts gegen ABC-Waffen um einen mit Kontrollorganen bewehrten „Atomwaffen-Sperrvertrag“ hat es aber immerhin gereicht.
Insgesamt hat die „Selbstblockade“ des Sicherheitsrats dem zur UN-Satzung fortentwickelten Völkerrecht durchaus nicht geschadet; eher ist das Gegenteil zu notieren. Die feindlichen „Supermächte“ selbst haben sich durch ihr Vetorecht, mit dem sie sich wechselseitig an den für sie empfindlichen Punkten „blockiert“ haben, nicht etwa davon abhalten, sondern vielmehr dazu anstacheln lassen, ihre weltpolitischen Interessen – unterhalb ihrer erbitterten Bereitschaft, im Bedarfsfall einander und den Rest der Welt gleich mit zu vernichten – ins Rechtsförmliche zu übersetzen und unter diesem Firmenschild Zustimmung und Gefolgschaft zu organisieren. Und die anderen, die kleineren und die vielen neuen Staaten vor allem, haben sich erst recht nur selten daran gestört, daß ihnen im Sicherheitsrat nicht fortwährend ein einiger, aktionsfähiger Gewalt-Oligopolist mit einer unendlich überlegenen kollektiven Militärmacht entgegengetreten ist. Die diesbezügliche „Blockade“ der imperialistischen Führungsmacht durchs sowjetische „Njet“ – an eine umgekehrt von den Moskauern organisierte und von Amerika abzublockende sozialistische Weltpolizeimacht war ohnehin nie zu denken – eröffnete den Nationen der unteren Ränge vielmehr überhaupt die Gelegenheit zu dem Bemühen, ihren Interessen als – irgendwie auch – berechtigten eine gewisse weltweite Beachtung und formelle Anerkennung, wenigstens durch eine der beiden Seiten, zu verschaffen, ohne sich gleich dem als gültige Rechtsordnung daherkommenden weltherrschaftlichen Regime einer Großnation zu unterwerfen. Sogar Versuche, die in ihrem „kalten“ Weltkrieg befangenen Weltmächte ein wenig gegeneinander auszuspielen, sollen an der Tagesordnung gewesen sein. Ein Großteil dieser Nationen hat sich dann in dem sog. „Block der Blockfreien“ zusammengefunden und ausprobiert, ob angesichts der globalen „Patt“-Situation nicht sogar eine ganz andere Lesart der völkerrechtlichen Verheißung gleicher Rechte für alle Völker, nämlich ein Recht auf Berücksichtigung der vielen nicht bedienten Interessen in der Staatenwelt durchzusetzen wäre. Ihren Interessen haben sie damit nicht gedient, dem Völkerrecht als selbstverständlichem Leitfaden und der UNO als Stätte internationaler Interessenvertretung dafür um so mehr. Zumal am Ende dieser „Bewegung“ kein rechtsförmlicher Einspruch gegen den Imperialismus, sondern die von den USA erteilte Lehre steht, daß das Völkerrecht eben doch nur, aber auch soviel wert ist, wie die überlegene Militärmacht sich seiner annimmt, d.h. bedient.
Ein Angebot, das man nicht ablehnen kann: Die USA bieten dem Völkerrecht den Konsens mit ihrer Gewalt an
Der alte Hauptfeind des Imperialismus hat sich inzwischen aus der Weltgeschichte verabschiedet; und sein Rechtsnachfolger ist über seinen Systemwechsel so gründlich seiner Machtmittel verlustig gegangen, daß das Kräfteverhältnis der „Supermächte“ nicht mehr wiederzuerkennen ist. Aus dem realsozialistischen Kontrahenten – im militärischen, politischen wie im vertragsrechtlichen Sinn – ist, wenn nicht gleich ein „Obervolta mit Atomraketen“, so jedenfalls ein krisenhaft zerfallendes Staatswesen geworden, das weder ökonomisch noch militärisch imstande ist, dem weltweiten Machtanspruch der US-amerikanischen „Supermacht“ noch entgegenzutreten, soweit es dies überhaupt will. Die Sowjetunion als „Mitgestalter“ der „bipolaren Welt“, der andere „Pol“ eben, ist mitsamt ihren so respektablen Machtmitteln weggefallen und mit ihr das militärische Weltmachtpotential eines ständigen Mitglieds des Weltsicherheitsrates, das mit seinem raketengestützten Abstimmungsverhalten alles, was den Völkern Recht ist, mitbestimmt und, was seinen Interessen zuwiderlief, zumindest als kollektive Rechtsvorschrift mit seinem Vetorecht verhindert hatte.
Noch bevor dieser Umsturz der strategischen Kräfteverhältnisse perfekt war – in Moskau regierte noch eine KP, deren Chef allerdings schon die gegenleistungsfreie Preisgabe „östlicher“ Machtpositionen zur neuen Leitlinie sowjetischer Koexistenzpolitik gemacht hatte –, zogen die USA ihre Konsequenzen. Für sie neigte sich das widrige Zeitalter des „atomaren Patt“ dem Ende zu; die Welt versprach „unipolar“ zu werden, also zur unbestrittenen Verfügungsmasse der amerikanischen Weltmacht; eine „neue Weltordnung“ ohne gleichrangige antiamerikanische Gegenmacht zeichnete sich ab. Ganz von selbst kommt so ein Erfolg natürlich nicht; es galt klarzustellen, wessen Kommando in Zukunft gelten sollte. Die Annexion Kuwaits durch den großen Nachbarn Irak bot dazu die Gelegenheit: Den Beginn ihres nicht länger „blockierten“ Kontrollregimes über den Globus markierten die USA mit einem Krieg. Zu dessen politischer Bedeutung gehörte ganz wesentlich die Rolle, die die USA darin für die UNO vorgesehen hatten. Im Völkerrecht sollte nämlich ein neues Zeitalter des von Amerika diktierten Konsenses anbrechen: Wo immer die Vereinigten Staaten für sich gewaltsamen Handlungsbedarf entdeckten, sollten die Vereinten Nationen das Mandat dazu erteilen, Amerikas Militäraktionen in den Rang eines gerechten Strafgerichts erheben. Im Fall Irak ist diese Rechnung bekanntlich aufgegangen – weil die USA deutlich gemacht hatten, daß sie sich sowieso nicht bremsen lassen würden.
Seither macht sich für die USA allerdings immer störender bemerkbar, daß die Formalia des internationalen völkerrechtlichen Kontrollregimes der veränderten Welt- und erneuerten Rechtslage noch immer nicht Rechnung tragen. Rußland ist als Rechtsnachfolger der aufgelösten Sowjetunion weiterhin ständiges Mitglied des Weltsicherheitsrates und macht sich mit seinem ererbten Vetorecht ab und zu bei der Übersetzung der neuen „unipolaren“ Weltordnung in internationales Recht störend bemerkbar; immer wieder, insbesondere im Hinblick auf die imperialistischen Eingriffe im Irak und auf dem Balkan, verweigert es aus seinen politischen Berechnungen heraus den eigentlich unwidersprechlichen Ansprüchen der USA seine Zustimmung im Sicherheitsrat, ohne daß diese Berechnungen sich für ihre Anerkennung als Gesichtspunkte der internationalen Rechtsordnung – wie die der USA – auf eine entsprechende eigene Machtstellung berufen könnten.
Die USA wären nicht die Weltmacht, die sie sind, wenn sie sich mit dieser Sachlage abfinden würden. Aus ihrer neuen Machtvollkommenheit ohne gleichrangigen Gegner ziehen sie den Schluß, daß sie dann auch exklusiv zur Wahrung der internationalen Legitimität berufen sind und Anspruch auf Anerkennung als letztlich allein kompetenter Ausleger und Vollstrecker des Völkerrechts haben. Die satzungsmäßige Restriktion, wonach im Sicherheitsrat ein Konsens unter gleichberechtigten Vetomächten herzustellen ist, begreifen sie – jedenfalls sobald ein Partner sich sträubt – als glatte Behinderung der (Welt-)Justiz, die im Interesse weltweiter Rechtssicherheit weg muß. Nach dieser Maxime handeln sie – und erregen damit prompt und folgerichtig das Mißfallen derer, die den alten Pluralismus im Sicherheitsrat als Garantie für die Rechtlichkeit seiner Entscheidungen schätzen. Das Weihnachtsbombardement des Irak; die Aufrechterhaltung der „No-Fly-Zones“ im Norden und Süden des Landes, die schon ohne jede UNO-Beteiligung eingerichtet worden waren, mit täglichen Luftangriffen; zuvor schon die Benützung der UNSCOM-Kontrollgruppe als US-Spionage-Agentur; dann die Verletzungen der restjugoslawischen Souveränität durch die NATO-Aktionen in der Kosovo-Frage ohne Mandat der Vereinten Nationen, insbesondere ohne Beschluß des Sicherheitsrates: All das läßt Debatten über die „Deckung“ dieser Maßnahmen durch das Völkerrecht aufkommen und die Frage nach dem künftigen Schicksal der Vereinten Nationen als völkerrechtlicher Hauptinstitution. Wenn das „konsensbildende Procedere“ der UNO-Satzung verletzt werde durch pure Machtentfaltung ohne Bezug auf den bisherigen Kodex, und wenn den restlichen Mitgliedern des Sicherheitsrats weiterhin „der politische Wille fehlt, sich mit den Amerikanern und Briten anzulegen“, wenn diese ohne Mandat oder gegen ein vorliegendes Veto vorgehen, dann „kann unter solchen Bedingungen die UNO nicht funktionieren.“ (Ex-Generalsekretär Butros Butros Ghali, Spiegel 2/1999).
Die USA sehen das so ähnlich, nur genau umgekehrt: Eine UNO, in der gegen ihre Definitionsgewalt in Sachen Völkerrecht, die ihnen infolge ihrer Alleinstellung als Supermacht nun einmal zugefallen ist, Einsprüche erhoben werden, Einsprüche, die sich sogar, obwohl ersichtlich gegen alle aus Washington verfügte Rechtlichkeit und folglich aus „bloß politischen Gründen“ vorgebracht, formaljuristisch korrekt auf Satzungsvorschriften berufen können, eine solche UNO kann nicht funktionieren. Wenn so etwas völkerrechtlich erlaubt oder sogar geboten sein soll, dann ist nicht das berechtigte Interesse der USA, die mit guten Machtargumenten die Verbindlichkeit ihres Standpunktes einfordern können, sondern ein solches Völkerrecht mangelhaft.[4] Und mit diesem Standpunkt bleibt Amerika keineswegs allein: Nicht nur die notorischen britischen Alliierten stimmen zu; auch und speziell der deutsche Verbündete, der sich gerade auf eine führende Rolle bei der völkerrechtlich einwandfreien gewaltsamen Umgestaltung der politischen Landkarte des Balkan vorbereitet, sieht das genauso und malt exemplarisch den Konflikt zwischen völkerrechtlicher Pflicht zum Gewaltverzicht ohne UNO-Mandat einerseits und der Neigung der NATO zum freien Zuschlagen andererseits gleich so aus, daß besagte Neigung als sittliche und rechtliche Pflicht zu verstehen ist und die völkerrechtliche Bindung als ein Stück berechnende Unmoral: „Was soll man machen, wenn eine Pflicht zum Eingreifen besteht und sich dennoch uneinsichtige Vetos auf das Völkerrecht berufen …“ (G. Verheugen, SPD, Staatsminister im Auswärtigen Amt, in: Le Monde Diplomatique, 1/1999, und sinngemäß öfter)
Weder die europäischen Partner noch die transatlantische Führungsmacht werfen deswegen das Völkerrecht als untaugliche Einrichtung weg. Sie belästigen die UNO noch nicht einmal mit Anträgen auf Satzungsänderung – ihr Vetorecht lassen sich die Vetomächte ohnehin nicht nehmen. Die USA bestehen bloß darauf, daß ihre Partner im Sicherheitsrat einsehen, wie vollständig die Verschiebung im globalen Kräfteverhältnis den Pluralismus in diesem Gremium ad absurdum geführt hat, und deswegen den aus Washington vorgegebenen Definitionen der jeweiligen Rechtslage ohne Widerspruch und Verzögerungen zustimmen. Ohne die alte Konstruktion offiziell zu kündigen, korrigieren sie deren wesentliche Absicht, nämlich mit der Mehrzahl von Vetomächten und dem Einigungszwang eine wirksame Kontrolle der obersten Kontrolleure in die völkerrechtliche Willensbildung, Entscheidungsfindung und Gewaltanwendung einzubauen. Sie setzen sich selbst als maßgeblichen Herrn der Satzung ein und ihren Kontrahenten vor die Nase, indem sie mal militärisch Fakten setzen und anschließend deren gemeinte Bedeutung erläutern, mal Interpretationen der Rechtslage verkünden und diese durch unwidersprechliche Gewaltaktionen untermauern. Die USA verfügen da über ein paar Varianten, die alle auf dasselbe hinauslaufen:
– Sie klagen den „Schurkenstaat“ Irak der Verletzung bindender Resolutionen des Sicherheitsrats an, warten dessen Urteil aber gar nicht ab, sondern unterlegen dessen früheren Entscheidungen entgegen dem Wortlaut die Bedeutung eines Ja zu ihrer Anklage und eines Freibriefs für die Militäraktionen, die sie für angebracht halten. Sie geben sogar ihre endgültig durch keine völkerrechtliche Ermächtigung alten Stils gedeckte Entschlossenheit bekannt, den irakischen Präsidenten gewaltsam von der Macht zu vertreiben, subsumieren auch das noch unter das bisherige UNO-Mandat – und stellen damit ihre Partner im höchsten UN-Gremium vor die schon vorweg entschiedene Alternative, entweder dagegen einzuschreiten – oder die amerikanische Definition der Rechtslage, sei es mißbilligend hinzunehmen, sei es zu begrüßen, auf alle Fälle als praktiziertes Völkerrecht anzuerkennen.
– Dasselbe Dilemma bereiten die USA ihren mit Vetorecht ausgestatteten Kollegen, wenn sie – wie wieder in der irakischen Affäre und auch bei der Behandlung der übriggebliebenen Bundesrepublik Jugoslawien – deren erklärte Ablehnung militärischer Drohungen in eine Art Zustimmung umdeuten oder schlicht ignorieren. Um die völkerrechtliche Selbstermächtigung zurückzuweisen, die die amerikanische Weltmacht sich da herausnimmt, müßten Rußland und China schon willens und in der Lage sein, gewaltsam oder durch wirksame „Abschreckung“ zu unterbinden, was den Abweichlern der „neuen Weltordnung“ da angedroht wird.Ergänzend oder weiterführend betreiben die USA am jugoslawischen Fall eine grundsätzliche Relativierung des Monopols der UNO und ihres Sicherheitsrats auf die völkerrechtliche Legitimierung von Krieg, und zwar mit „Klarstellungen“ auf zwei unterschiedlichen „Ebenen“:
– Gegen die Quasi-Hoheit der UN-Gremien in Fragen internationaler Gewaltanwendung berufen sie sich auf das in der Charta gleichfalls deklarierte Recht auf „Selbstverteidigung“ und machen allen Ernstes als neue maßgebliche Rechtswirklichkeit geltend, daß ihr zu verteidigendes „Selbst“ gegebenenfalls schon im Kosovo anfängt, weil und insofern von dort nämlich gewisse Weiterungen ausgehen könnten, von denen Schützlinge Amerikas sich bedroht fühlen dürften – die Rechtsauffassung soll der Sicherheitsrat ihnen erst einmal wirksam widerlegen![5]
– Noch weiter geht die Alternative, gleich ein von der UNO-Satzung vollends unabhängiges Recht auf Selbstermächtigung zu bewaffnetem Eingreifen in fremden Staaten zu postulieren, das freilich nicht jedem, sondern nur einer von den USA angeführten und dazu ernannten „Gemeinschaft der Wohlmeinenden“ zusteht. Mit dieser verwegenen Rechtskonstruktion kündigen die USA Interventionen der NATO im Kosovo an und bringen mit der zielstrebigen Vorbereitung und Einleitung entsprechender militärischer Aktionen – zur Zerschlagung serbischer Einwände sowie zur Errichtung eines NATO-Protektorats auf bislang serbischem Staatsgebiet – nicht etwa sich in die Verlegenheit, rechtzeitig eine formelle Ermächtigung zu besorgen, sondern die Sicherheitsrats-Kollegen im besonderen und die UNO im allgemeinen in Zugzwang: Die Organisation muß sich anstrengen und beeilen, einen Konsens über einen Freibrief für das US-geführte Militärbündnis hinzukriegen, mit dem sie im Verhältnis zur anlaufenden NATO-Aktion ihre Position als formeller völkerrechtlicher Auftraggeber retten kann.
Die Korrektur der Völkerrechtslage, die die USA da betreiben, ist radikal. Sie nehmen die formelle Unterscheidung und praktische Scheidung zwischen recht- und unrechtlichem Gewaltgebrauch mit der Kompetenz der konkurrenzlosen Welt-Militärmacht in die Hand, ohne auf die etwas anders geartete UNO-Satzung und die konkurrierenden Rechte der anderen Sicherheitsrats-Mitglieder Rücksicht zu nehmen, die sie gleichwohl nicht formell aufkündigen. Sie lösen damit die ganze Konstruktion auf, wonach alle Staaten als Völkerrechtssubjekte Kontrolleure und Kontrollierte sind, und verteilen diese beiden Rollen einseitig neu: Das Definieren und Exekutieren der Rechtslage reservieren sie sich; den andern bleibt die Unterwerfung sowie die Freiheit, sich an dem von den USA verhängten Regime zu beteiligen. Für Souveränität in dem Sinn, daß sogar Amerika andere Staaten als gleichberechtigte Mit-Urheber der internationalen Rechtsbeziehungen respektiert und sich in Rechtsfragen einem gegnerischen Veto beugt, bleibt da kein Platz; die Bedeutung von „Völkerrechtssubjekt“ verblaßt zu einer Erinnerung aus den Tagen des „atomaren Patt“.
Wie das völkerrechtliche System der Vereinten Nationen diese Richtigstellung überstehen könnte, ist schwer abzusehen. Doch das ist nicht die Sorge der USA. Sie sind mit dem korrigierenden Eingriff befaßt und laden ein zu einem Aufbruch zu neuen Standards imperialistischer Sittlichkeit.
[1] Die Gewaltaffären zwischen den Staaten entstehen also aus ihren imperialistischen Beziehungen, um deren Erklärung es hier nicht geht. Das Völkerrecht befaßt sich als das moderne „ius belli ac pacis“ eben mit den Kriegen und Zwischenkriegszeiten des Imperialismus und hat in der militärischen Gewalt als dauernder Option im Verkehr der Staaten seinen Grund, in ihrem Gebrauch als friedliches Erpressungs- und kriegerisches Vernichtungsmittel seinen Gegenstand.
[2] Der Auftritt einer
„Völkerfamilie“ als einer per kollektiven Gründungsakt
zustandegekommenen Instanz, die über die Rechtmäßigkeit
staatlicher Gewaltanwendung zu entscheiden hat, ist
eine Errungenschaft imperialistischer Weltordnung. Das
in dieser und für diese Weltordnung aufgehäufte
Zerstörungspotential hatte nach der Auffassung seiner
Verwalter entsprechenden Regelungsbedarf zur Folge. Die
Fürsten und Staatswesen früherer Epochen verfügten aus
eigener Machtvollkommenheit über ein unstrittiges
„Recht zum Kriege“, das von keiner überstaatlichen
Ermächtigung abhängig war, sondern Ausstattungsmerkmal
ihrer Souveränität. Die Freiheit der Gewalt
und nicht ihre Legitimität war der
Sorgegegenstand „klassischer“ Völkerrechtler, bevor sie
sich den imperialistischen Bedarf nach kollektiver
Bindung dieser Freiheit einleuchten ließen: …jeder
Krieg, zu dem ein Souverän (bzw. ein souveräner Staat)
sich entschloß, war rechtens. Dieses Prinzip galt bis
zum Ende der Epoche des klassischen Völkerrechts in
unserem Jahrhundert. Als der deutsche Kaiser nach
verlorenem Weltkrieg im November 1918 in das neutrale
Holland flüchtete, verlangten die Siegermächte seine
Auslieferung, um ihn als Verursacher des ganzen Krieges
zur Rechenschaft zu ziehen. Das kleine Holland wies den
Antrag der Großmächte zurück, ohne die Kriegsschuld des
Kaisers geprüft zu haben. Die Begründung lag in dem
damals noch geltenden Völkerrecht, nach dem kein
Souverän wegen des Schreitens zum Kriege zur
Rechenschaft gezogen werden konnte. Mit der gleichen
Selbstverständlichkeit hatte Ludwig XIV. auf die
Geschütze seiner Armee schreiben lassen: ultima ratio
regum.
(Otto Kimminich,
Einführung in das Völkerrecht, 6. Aufl. 1997,
S.65)
[3] Diese politischen Abwägungen, auch diejenigen, die die Nationen heute in und mit der UNO anstellen, sind hier, wie gesagt, nicht Thema. Von ihnen handelt der Artikel „Die UNO der 90er Jahre: Fortschritte des Imperialismus unter der Losung seiner Überwindung“ in GegenStandpunkt 1-93, S.15.
[4] Das meint auch die
den Vereinigten Staaten gewogene Öffentlichkeit: Die
Vereinigten Staaten und Großbritannien sind Geist und
Buchstaben der Vereinten Nationen treuer als die
Vereinten Nationen selbst.
(International Herald Tribune,
19./20.12.1998)
[5] Im „Amerika-Dienst“
vom 13.1.99 äußert sich der Staatssekretär für
politische Angelegenheiten im
US-Verteidigungsministerium W. Slocombe sehr klar zu
allen diesen Punkten: „Die Vereinigten Staaten
stimmen voll und ganz überein, daß es von elementarer
Bedeutung ist, eine angemessene rechtliche Grundlage
für jeden Einsatz militärischer Gewalt zu haben. Ferner
stimmen wir zu, daß es aus rechtlichen und politischen
Gründen oft wünschenswert ist, den Einsatz von
Gewalt von den Vereinten Nationen billigen zu lassen.
Das steht außer Zweifel. In der Praxis haben wir uns an
die UNO gewandt und deren Zustimmung erhalten. Im
Golfkrieg 1991 hatte die Zustimmung die
drastischste und weitreichendste Form. Im jüngsten
Fall des Kosovo war die Zustimmung völlig klar, jedoch
weniger direkt und weitreichend. Wir bestreiten nicht,
daß eine Vollmacht der UNO nützlich oder
wünschenswert ist. Tatsache ist jedoch, daß die
UN-Charta Artikel 51 enthält, der das Recht auf
individuelle und kollektive Selbstverteidigung
anerkennt, und diese Definition ist unabhängig vom
UN-Sicherheitsrat und rechtlich separat. Unseres
Erachtens beinhalten Artikel 51 und das Völkerrecht im
Allgemeinen, daß Staaten gemeinsam handeln dürfen, wenn
ihre Sicherheit bedroht ist, und nicht erst abwarten
müssen, bis es zu einer Invasion kommt. Im Falle des
Kosovo bestand die sehr reale Gefahr eines Ausuferns
des Konflikts …, wenn nicht gehandelt worden wäre. Eine
solche Instabilität in der Region kann Stabilität und
Sicherheit bedrohen, und Konflikte können auf
NATO-Mitglieder übergreifen.“ Soviel zum Recht der
USA auf Selbstverteidigung. Was die „drastische
Zustimmung“ des Sicherheitsrats zum Irak-Krieg 1991
betrifft, so deutet der Staatssekretär hier offenbar
eine rein amerikanische Rechtsauffassung in die
damaligen Beschlüsse hinein – ein Beispiel für die
Kunst, abweichende Stimmen schlicht zu vereinnahmen,
weil eine wirksame Richtigstellung nicht zu befürchten
ist: Der Sicherheitsrat beschloß aber keinen Einsatz
von UN-Truppen. Vielmehr billigte er lediglich die
militärische Aktion der Verbündeten Kuwaits …
Rechtsgrundlage für die … militärische Aktion war nach
einhelliger Meinung Art.51 SVN.
(Otto Kimminich, Einführung in das
Völkerrecht, 6.Aufl. 1997, S.276) Dasselbe in
Sachen Kosovo: Daß Rußland sich mehrfach „kategorisch
auch gegen die bloße Androhung von Gewalt verwahrt“ hat
(SZ, 1.2.1999), nimmt
Amerika als „völlig klare“, nur etwas „indirekte“ und
„weniger weitreichende“ Zustimmung – soll
Moskau das doch widerlegen!