Amerika im Wahljahr 2020
Chronik eines „Kampfs um die Seele Amerikas“

„Ich wähle den Präsidenten, unter dem ich mehr Geld verdiene.“ (Ein namensloser hard-working Amerikaner im deutschen Fernsehen)

Das ist schon sehr nahe an der wahren Seele Amerikas: am falschen Materialismus kapitalistischer Konkurrenz, in der das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sich nicht übertreffen lässt. Aber was die zweite Welle des Wahlkampfes des Donald Trump – nach 2016 – um America first! betrifft, ist das noch nicht einmal die halbe Wahrheit. Im offiziell losgetretenen ‚clash of cultures‘ zwischen populistischen Lügen und demokratischer Heuchelei geht es um nichts Geringeres als die Moral der Nation – also den Gehorsam des Volkes, auf dem im Land der Freien die Weltmacht der Staatsgewalt beruht.

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Amerika im Wahljahr 2020
Chronik eines „Kampfs um die Seele Amerikas“

„Ich wähle den Präsidenten, unter dem ich mehr Geld verdiene.“ (Ein namensloser hard-working Amerikaner im deutschen Fernsehen)

Das ist schon sehr nahe an der wahren Seele Amerikas: am falschen Materialismus kapitalistischer Konkurrenz, in der das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sich nicht übertreffen lässt. Aber was die zweite Welle des Wahlkampfes des Donald Trump – nach 2016 – um America first! betrifft, ist das noch nicht einmal die halbe Wahrheit. Im offiziell losgetretenen ‚clash of cultures‘ zwischen populistischen Lügen und demokratischer Heuchelei geht es um nichts Geringeres als die Moral der Nation – also den Gehorsam des Volkes, auf dem im Land der Freien die Weltmacht der Staatsgewalt beruht.

I. Das Amtsenthebungsverfahren geht zu Ende, der Kampf um die Fortsetzung von „America first!“ geht vielversprechend los

Anfang des Jahres sieht die Welt für den Präsidenten noch ziemlich gut aus. Klar, die Sache mit dem Amtsenthebungsverfahren war nicht schön – nicht einmal für einen Amtsinhaber, der auf die Verfahrensregeln des politischen Betriebs programmatisch pfeift, weil der Kampf dagegen sein politisches Programm ist. Andererseits: Er geht aus der Affäre mit der Gewissheit hervor, dass er damit in jeder Hinsicht richtig liegt.

Erstens haben sich die Demokraten als die Feinde entlarvt, als die er sie schon immer behandelt hat. Nun haben sie auch versucht, das Volk seiner Wahlstimme zu berauben und ihm so die Chance zu verwehren, sich vier weitere Jahre unter Trump zu bestellen. Sie werden offensichtlich nicht ruhen, bis sie den Willen des Volkes endgültig vereitelt, also den Mann entthront haben, den es vor drei Jahren gewählt hat und dem es seine Ergebenheit seitdem auf jedem dafür vorgesehenen Event kundgibt.

Zweitens haben die Demokraten endgültig bewiesen, dass sie Amerika schwächen wollen. Ihre Anklage hat ja gelautet, Trump habe die nationale Sicherheit seinem persönlichen politischen Fortkommen untergeordnet, weil er die Gewährung von Militärhilfe für die Ukraine an die Bedingung geknüpft hat, die ukrainische Justiz möge eine Korruptionsuntersuchung gegen Joe Bidens Sohn aufnehmen oder zumindest ankündigen. Doch schon die Eröffnung des Verfahrens verrät, was der abschließende Freispruch später bestätigt: Trump hat recht gehabt – nicht er, sondern die Demokraten sind die wahre Gefahr für die nationale Sicherheit. Denn sie wollen den Einsatz amerikanischer Macht an die Einhaltung von irgendwelchen etablierten Verfahrensregeln knüpfen, sie also nicht in der erpresserischen Freiheit zum Einsatz bringen, auf die das Volk ein Recht hat. Sie sind es also, die das Recht des Volkes auf die Sicherheit imperialistischer Souveränität ihrem parteipolitischen Fortkommen unterordnen.

Drittens sieht das nicht nur Trump so. Auch die Mehrheit des amerikanischen Volkes juckt die inkriminierte Tat nicht; auch ihr leuchtet nicht ein, warum die freihändige Erpressung einer fremden Macht auf einmal ein Verbrechen sein soll. Der ganze Schlamm, den die Demokraten im Laufe des Verfahrens ausgraben und gegen Trump & Co schleudern, lässt sie ebenfalls kalt. Allenfalls darin sind die Demokraten nahe an der Volksmeinung: Sie hätten lieber die ursprünglichen Bedenken ihrer Führungsspitze ernst genommen, die Partei würde mit ihrem aufgeblasenen Akt staatsmännischer Verantwortung ein Verbrechen begehen, das in den Augen der Amerikaner weit schwerer wiegt als der Missbrauch der Macht: die Verhinderung ihres entschlossenen Gebrauchs.

Viertens braucht Trump sich vor den Demokraten nicht zu fürchten. Ihre rechtsstaatlichen Machtmittel können ihm nichts anhaben, solange die Republikaner ihm nicht von Bord gehen. Was sie eben nicht tun, auch wenn die Ankläger ihnen die Gelegenheit geben und in Sachen überparteiliche Verantwortung ordentlich auf die Tube drücken. Trump kann sich also sicher sein: Nicht nur 80 Prozent der republikanischen Wähler, auch Republikaner der mächtigeren Sorte stehen ihm bedingungslos zur Seite. Er ist mit seiner ‚autoritären‘ Tour kein Außenseiter mehr, sondern der unbestrittene Anführer einer Partei, die sich als seine Manövriermasse versteht und bewährt. Und das ist nicht nur für den weiteren Erfolg von America first! , sondern gerade im Wahljahr von entscheidender Bedeutung. Denn zwar haben Autoritarismus, Befehl und Gehorsam nicht immer den besten Ruf in der Demokratie, aber für den politischen Erfolg in ihr ist das gewünschte Resultat solcher verpönten Herrschaftsformen unerlässlich: Geschlossenheit hinter einer eben damit bewiesenen Führungspersönlichkeit.

So bekommt Trump in viel mehr als bloß dieser einen Affäre recht, nämlich in den zwei Grundgleichungen, auf denen er seit jeher besteht: zwischen der Sicherung seiner Macht und der Sicherheit der Nation, zwischen der Bekämpfung seiner eigenen Konkurrenten und der Feinde des Volkes. Wahr sind diese Grundgleichungen nicht; den Anspruch, von dem sie zeugen, meint Trump allerdings ernst, weswegen die Amerikaner ‚Wahlkampf‘ dieses Jahr sehr ernst zu nehmen haben. Dafür muss Trump auch gar nicht erst in einen gesonderten ‚Wahlkampfmodus‘ umschalten; seit drei Jahren beweist er, dass die kämpferischen Zuspitzungen eines Wahlkampfs, in denen Demokraten sich bei der Anfeindung ihrer Gegner immer etwas gehen lassen, gar nicht bloß das sind und sein dürfen. Die Wähler wissen insofern längst, woran sie bei ihm sind und was sie von ihm zu erwarten haben: die Überführung ihres Nationalismus ins Grundsätzliche, in den rücksichtslosen Kampf gegen die Feinde der Nation, und die Zuspitzung des Wahlkampfs auf seinen polemischen Kern, auf einen rückhaltlosen Kampf um die Macht. Und dazu haben die guten Amerikaner Anfang November ihren entscheidenden Beitrag zu leisten.

Diese Grundgleichungen gelten im Grunde für alles, was am Wahltag auf dem Spiel steht – also für alles, was Trump in seinem Kampf bisher erreicht hat. Die amerikanische Weltordnung ist endlich kein sicherer Platz mehr für Ideale einer multipolaren Ordnung mit globaler Völkerverständigung, also für die Ausnutzung der amerikanischen Supermacht, die seine Vorgänger zugelassen haben. Das Innenleben der Nation ist endlich kein sicherer Platz mehr für die Ideologien politisch korrekter Liberaler, die dem Volk weismachen wollen, seine Bigotterie und sein Chauvinismus seien moralische Laster und nicht Tugenden der Stärke. Dazu leistet Trump allein mit seiner Dauerbeschallung der Twittersphäre sowie mit seinen vielen ‚Likes‘ und ‚Retweets‘ für Rechtsradikale der intellektuellen, militanten und der verschwörungstheoretischen Art einen entscheidenden Beitrag. Ein von ihm orchestrierter Rechtsruck am Obersten Gericht und überhaupt im Justizsystem verspricht, aus Waffenschrank und Mutterleib sichere Häfen zu machen, während eine Mauer aus Stahl und rechtlichen Schikanen dafür sorgt, dass Amerikas Städte es für Einwanderer nicht mehr sind. Nicht länger werden die Sicherheit des Homelands und das Vorrecht der Amerikaner der moralischen Empfindlichkeit von denjenigen geopfert, die kein Blut und keine Kinder in Käfigen sehen können und denen Haarspalterei zwischen Islam und Terror wichtiger ist als die Bekämpfung der Feinde. All diese Erfolge eines Programms der nationalen Durchsetzung nach außen und der nationalistischen Aufrüstung im Innern stehen auf dem Spiel, weil die andere Partei den amerikanischen Erfolg offensichtlich gar nicht mehr will.

Dabei ist der größte Erfolg, um dessen Bewahrung es dieses Jahr zu kämpfen gilt, eine Sache, über die es in Amerika eigentlich keine zwei Meinungen gibt. Bei allen kleineren und größeren ‚Spaltungen‘ im Lande sind amerikanische Politiker und Bürger darin absolut einig: Der Reichtum der Nation bemisst sich in dem Geld, das in den Bilanzen von Unternehmen wächst und wachsen soll; dieses Wachstum ist auf dem besten Wege, wenn finanzkräftige Spekulanten bei der Suche nach größt- und schnellstmöglicher Bereicherung einem Herdentrieb folgen, der sie nach oben führt. Im ‚land of opportunity‘ versteht es sich von selbst, dass der Wohlstand der Nation in der Akkumulation des Kapitals besteht, also in der Bereicherung der erlesenen Klasse, deren Fortschritte da gemessen werden. Nicht dass man die anderen Wirtschaftsbürger vergessen würde, nur wird ihr Wohlstand wohlweislich nicht daran gemessen, ob er von Quartal zu Quartal wächst. In ihrem Fall fällt die Messlatte definitiv bescheidener aus: Für sie gilt schlicht die unumstößliche Wahrheit, dass ein Einkommen besser ist als keines, ein Job im Dienste des Wachstums anderer selbst der ersehnte Wohlstand ist. Trumps betont arbeiterfreundlicher Populismus fällt in dieser Hinsicht insofern sehr konventionell aus: Wenn er sich als Freund einer von Globalisten geschundenen amerikanischen Arbeiterklasse aufführt und die amerikanische Unternehmerschaft zur Befolgung des Prinzips ‚Amerikas Jobs den Amerikanern‘ mahnt; wenn er das Vorrecht amerikanischer Arbeiter so kämpferisch und mit so offenherziger Ausländerfeindschaft hervorhebt – dann ist das eben seine besondere Weise, diesen stolzen Massen zu ihrer Abhängigkeit von der Bereicherung der anderen Klasse zu gratulieren. Letztere wird gebieterisch eingeladen, diese menschliche Ressource voll auszunutzen.

‚Alternative Fakten‘ sind es definitiv nicht, wenn Trump darauf hinweist, dass diese nationale Hauptsache unter seiner Regie prächtig gedeiht. Alle entscheidenden Erfolgsziffern liegen – zumindest zum Beginn des Wahljahrs – eindeutig im Plus. Es gibt Wachstum, einen Aufschwung an der Börse und Jobs ohne Ende. Trump hat auch keine Scheu, die privaten Erfolge freier Unternehmer bei ihrer gerade nicht herrschaftlich dirigierten Bereicherung ausgerechnet sich als oberstem Bürokraten zuzurechnen; in dem gerne als ‚Trump bump‘ bezeichneten Aufschwung sieht er vielmehr seinen stärksten Trumpf im Kampf um den Wiedereinzug ins Weiße Haus. Widerspruch befürchtet er dabei auch nicht vonseiten der freien Unternehmerschaft, deren Stolz von der Lüge lebt, die Macht ihres Geldes und die Früchte seines Einsatzes seien ihr eigenes, ganz privates Werk, die Bereicherung an der Arbeit ihrer Belegschaften bloß der angemessene Lohn für ihre Mühe, Arbeitsplätze einzurichten. Schließlich hat Trump mit Steuersenkungen und der Beseitigung rechtlicher Hindernisse gerade für solche Heilsbringer einiges getan, damit die freien Unternehmer sich noch freier entfalten können – bei der Ausnutzung aller natürlichen Energieressourcen, die das Land zu bieten hat, bei der Ausnutzung der Arbeiter, deren Gewerkschaften er geschwächt hat, und bei der Ausnutzung der Kaufkraft einer ganzen Welt, die er an amerikanischer Ware nicht mehr vorbeilässt... Für die Fortsetzung auch dieser alles entscheidenden Erfolgsstory ist ein Kampf fällig, denn laut Trump stehen dieses Jahr nicht bloß konkurrierende wirtschaftspolitische Rezepte gegeneinander, sondern Freiheit versus Sozialismus.

Derweil hat die Führung der demokratischen Partei alle Hände voll zu tun, diesen Verdacht zu entkräften.

II. Die Herausforderung Sanders wird beendet, die Versöhnung Amerikas mit sich kann beginnen

Das ist schon im Ansatz beinahe schiefgelaufen. Es hat nicht viel gefehlt, und ein linker Dinosaurier, der sich ohne Scham und mitten im antisozialistischen Paradies einen ‚Sozialisten‘ nennt, hätte es der Partei unmöglich gemacht, ihm die Nominierung zu verweigern. Hätte Bernie Sanders seine frühen Siege in den demokratischen Vorwahlen fortgesetzt, dann hätte die Partei Trumps Feindbild recht gegeben, heißt es, und ihm die Stimmen der Mitte gleich frei Haus liefern können.

Schon seine Positionen machen den Mann ziemlich unmöglich – darunter eine gesetzliche Krankenversicherung für alle, ein kostenloses Studium an allen staatlichen Hochschulen und ein ‚Green New Deal‘ zur Forcierung einer amerikanischen Energiewende. Das ist zwar nicht gerade ein sozialistischer Umsturz, aber immer noch kommunistisch genug, um Trump darin recht zu geben, dass der Angriff der Demokraten auf ihn auch auf heilige amerikanische Prinzipien zielt: auf die Freiheit des Geschäfts und darauf, dass ein jeder Amerikaner für sich selbst sorgt. Der Vorwurf gegen Sanders ist insofern ungerecht, als Notwendigkeit und Nutzen derartiger staatlicher Eingriffe der amerikanischen Politik nun wirklich nicht fremd sind, nicht einmal den Republikanern. Für die Industriepolitik gilt das sowieso – kaum ein epochemachender technologischer Durchbruch, bei dem der finanzkräftige Bedarf der Weltmacht nach den Werkzeugen militärischer Überlegenheit nicht Pate gestanden hätte. Auch in den Abteilungen Bildung und Soziales verlassen sich die politischen Steuermänner der freiesten Konkurrenz nicht darauf, dass der freigesetzte Geschäftssinn für die Bedingungen sorgt, unter denen diese Konkurrenz so funktioniert, wie die Weltmacht es für ihre weltweite Überlegenheit braucht. Blind sind sie jedenfalls nicht für den Umstand, dass der Erfolg des Geschäfts der einen ständig mit der Unfähigkeit der anderen einhergeht, selbstständig zurechtzukommen und dabei zuverlässig ihre Beiträge zu den wachsenden Zahlen zu liefern, in denen die Nation ihren Reichtum bemisst. Dennoch: Zur Moral dieser Nation passen solche Eingriffe nicht so recht; die pflegt unverdrossen die Lüge, ihr einzigartiger Erfolg sei im Grunde das Ergebnis der Schaffenskraft freigesetzter, selbstverantwortlicher Tüchtiger, also ein Lehrstück darin, wozu ein Volk es bringen kann, wenn man ihm eine wirklich freie Marktwirtschaft zumutet. Und das ist nicht einmal bloß heiße Luft, sondern eine amerikanische Lebens lüge – die moralische Lehre, mit der die amerikanische Arbeiterklasse ihren Beitrag zu dieser einzigartig erfolgreichen Kombination aus Weltgeld und Weltmacht leistet. Es ist das stolze Selbstbewusstsein, mit dem sie alle Zumutungen bewältigt, die der amerikanische Erfolg ihr beschert. Daran wollen die Demokraten nichts geraderücken.

Unmöglich ist deswegen auch die Art, wie Sanders seine alternative Politik vorträgt. Er propagiert nicht nur eine Reihe von ‚progressiven‘ sozialen und ökologischen Maßnahmen, was schon heikel genug wäre, sondern – dies der eigentliche Gehalt seiner Selbstbezeichnung als Sozialist – eine offensive Gegenmoral. Er tritt nicht bloß als Freund der Underdogs und der Umwelt auf, sondern rückt dabei auch – zumindest in den Augen seiner Kritiker – den Reichtum der Nation selbst in ein zweifelhaftes Licht. Das verbindet er auch noch mit dem Vorwurf der Vernachlässigung, gar des Verrats der Politik an den wirklich hart arbeitenden Amerikanern und lässt dabei nicht einmal eine sichtbare Unterscheidung zwischen Republikanern und Demokraten erkennen. Spätestens diese Anti-Establishment-Kampfansage macht den Führern der demokratischen Partei klar, dass Bernie Sanders auf keinen Fall ihr Mann ist und sie nicht seine Partei. Für die präsidentielle Macht ausübung ist er insofern absolut ungeeignet. Für den Macht erwerb muss eine derartige Radikalität nicht einmal nur schlecht sein, hört man. Solch progressive Positionen und ein solch aggressives Auftreten im Namen des kleinen Mannes und eines sozialeren Klassenstaats können allemal dafür gut sein, insbesondere Jungwähler für die Partei zu begeistern, die sich sonst nicht so leicht in die Wahlurnen locken lassen; Sanders’ eigener Erfolg gibt ihm darin auch recht. Doch für die Eroberung der alles entscheidenden ‚Mitte‘, deren Mitglieder ‚swing voters‘ (Wechselwähler) und deren Wohnorte ‚swing states‘ genannt werden, damit niemand verpassen kann, in welcher Hinsicht ihre Meinung überhaupt zählt, ist das letztlich parteipolitischer Selbstmord. Für den Mainstream und erst recht die Führung der Partei steht nach wie vor fest, dass ihr Volk sich zwar mehrheitlich von einem rechten Populisten in seinem Nationalismus, aber nicht von einem linken Populisten in seinem sozialen Herzen zu großen Sprüngen motivieren lässt.

Was es stattdessen braucht und wofür man es nur gewinnen kann, ist eine Rückkehr zur wirtschaftlich erfolgreichen, staatsbürgerlich vereinten Normalität . Das kann zwar durchaus Änderungen im Einzelnen einschließen. Natürlich kann man es hart arbeitenden Amerikanern leichter machen, sich als die Lohnarbeiter zu reproduzieren, die sie sind, etwa mit einer Krankenversicherung möglichst für alle oder womöglich auch einer landesweiten Erhöhung des Mindestlohns. Auch eine Art grüne Energiewende geht in Ordnung, wenn sie sich lohnt, sowie eine weitergehende ‚Liberalisierung‘ der amerikanischen Sittlichkeit als weiter ausgebauter Willkommensgruß an Minderheiten aller Art in der Familie einer wahrhaft egalitären Klassengesellschaft. Doch ein solcher Veränderungswille darf auf keinen Fall den Eindruck erwecken, am moralischen Kompass des Landes drehen zu wollen. Er darf keinen Gegensatz zwischen dem Reichtum der Reichen auf der einen, der Armut der Armen und der Zerstörung der Umwelt auf der anderen Seite, zwischen der Freiheit der einen und der Freiheit der anderen aufbauen; er darf keine Spaltung dort einführen, wo Versöhnung vonnöten ist. Es hat also dabei zu bleiben: Die Bereicherung erfolgstüchtiger Kapitalisten ist die Bedingung und das beste Mittel für alles, was man der Masse der hart arbeitenden Amerikaner an sozialen Taten und der Umwelt an Nachhaltigkeitspflege angedeihen lässt; und eine ‚progressive‘ Sittlichkeit darf keinesfalls als Angriff auf die alte verstanden werden. Einem Kandidaten, der mit Übergängen dieser wirtschaftspolitisch wie parteipolitisch tödlichen Art liebäugelt, muss die Nominierung verwehrt werden. Stattdessen braucht es einen Politiker, der verkörpert, dass die Demokraten kein Gegenprogramm zu Wachstum und Beschäftigung als Inbegriff wirtschaftlicher Vernunft und auch keine linke Gegenmoral wollen; dass sie nicht den Abbruch, sondern die Fortsetzung der Erfolge wollen, die unter Trump auf diesem Feld erzielt worden sind – aber eben ohne den Präsidenten, der den guten Willen der Demokraten dabei nicht anerkennt, der die Unterschiede bei der Betreuung und Beförderung der amerikanischen Erfolgsmaschinerie zu unversöhnlichen Gegensätzen aufbläst. Es braucht also einen Kandidaten, der gegen Trumps aggressive Lügen eine eigene, versöhnliche setzt; der ein Ideal der erfolgreichsten Klassengesellschaft aller Zeiten als ein harmonisches Gemeinschaftswerk repräsentiert. ‚Moderat‘, ‚pragmatisch‘, ‚zentristisch‘ lauten dann die einschlägigen Adjektive.

Doch so einfach läuft es nicht im Mutterland der Demokratie. Über den Ausgang der innerparteilichen Konkurrenz entscheidet nicht die Parteiführung, sondern die Basis. Für das Kontrollbedürfnis der führenden Parteimitglieder ist das nicht immer erfreulich, aber die demokratische Logik hinter der Verfahrensweise ist durchaus bestechend. In der einzigen Frage, die in der Demokratie dem Wählervolk vorgelegt wird – Wer soll an die Macht? –, ist dieses wohl selbst am kompetentesten. Und umgekehrt verschafft die Parteibasis so dem Nominierten eine Qualifikation, die gemäß der zirkulären Logik der demokratischen Herrschaftsbestellung für den Sieg in der Hauptwahl alles aussticht, was der sonst noch an zündenden Herrschaftskonzepten und -qualitäten aufweisen mag: einen echten Wahlerfolg. Der Kandidat geht auf jeden Fall als erwiesener Gewinnertyp in die Hauptkür. In dem Sinne, kurz vor der größten, ‚Super Tuesday‘ genannten Vorwahlrunde, ziehen die ‚zentristischen‘ Konkurrenten ihre Kandidatur zurück und stellen sich hinter den größten zentristischen Hoffnungsträger, den ehemaligen Vizepräsidenten Joe Biden.

Dafür, dass dieser Mann zur vorgesehenen Rolle passt, sprechen aus Sicht der Parteispitze gleich mehrere Gründe: Seine Positionen lassen auf beinahe allen Feldern genau die versöhnliche Normalität erkennen, zu der die Partei zurück und mit der sie die Wähler überzeugen will, im Grunde eine Neuauflage der Obama-Politik. Über ‚Charisma‘, heißt es, verfügt der Mann zwar nicht – was keine Eigenschaft ist in dem Sinne, vielmehr das zweifelhafte Kompliment, dass bürgerliche Untertanen sich persönlich und unmittelbar für jemanden begeistern, der ihnen sagen will, wo es langgeht. Aber Charisma braucht es dieses Jahr ohnehin nicht unbedingt, eher jemanden, der das Gegenteil von Spaltung verkörpert, die Fähigkeit ausstrahlt, Gegensätze zu überbrücken, weil er sie eben nicht als solche behandelt. Gefragt ist also ein eingefleischter, glaubwürdiger Heuchler, dem man das Etikett ‚anständig‘ anhängen kann. Vor diesem Hintergrund sieht Bidens halbes Jahrhundert im Senat ganz gut aus, zumal er sich in der Zeit den Ruf eines kompromissfähigen, überparteilichen Pragmatikers erworben hat. Seine acht skandalfreien Jahre als Vizepräsident bescheren ihm außerdem einen gewissen präsidentiellen Amtsbonus – schon wieder ein Vorteil nach der zirkulären demokratischen Logik, dass ein Machthaber sich vor allem dadurch für die Macht empfiehlt, dass er sie schon einmal hatte. Die schwarze Hautfarbe seines damaligen Chefs verschafft ihm angeblich auch die Zuneigung der schwarzen Wähler – günstig in einem Land, in dem der Rassismus gerade im Wahlkampf seinen festen Platz hat. Eine hässliche Establishmentfratze wie die selige Hillary ist er auch nicht, hat er doch seine ganze politische Karriere auf der Kultivierung einer Nähe zur weißen Arbeiterschaft aufgebaut – sehr günstig im Kräftemessen mit dem blonden Schutzengel der Weißen, deren Rassismus bedient sein will, wenn man sie überzeugen will. [1]Die Strategie der führenden Zentristen geht auf: Biden fährt in den entscheidenden Runden der Vorwahlen einen Erdrutschsieg ein. Den verbleibenden Sorgen in der Partei, sein hohes Alter und seine gelegentliche Fahrigkeit könnten den Eindruck abnehmender Zurechnungsfähigkeit erwecken, begegnen seine Wahlkampfstrategen mit der Versicherung, dass er es dieses Jahr im Grunde ziemlich leicht hat. Er muss sich vor allem zurückhalten und sich gerade dadurch von Trump positiv abheben. Denn mit dessen spalterischer Hetze, so die Gewissheit der Demokraten zumindest zu Beginn des Wahljahrs, wird Trump sich schon selbst endgültig als unamerikanische Anomalie entlarven, wird sich seine Zeit im Weißen Haus ein für allemal als Ergebnis einer einmaligen Geschmacksverirrung entpuppen.

Was die Demokraten gegen Trumps Kampf um die Stärke der Nation gegen alle Feinde setzen, ist also das Angebot eines harmonischen Zusammenwirkens für den kapitalistischen und imperialistischen Erfolg der Nation. Gegen seine Zuspitzung des ‚Kulturkampfs‘ zwischen Konservativen und Liberalen setzen sie einen Nationalismus für das ganze Volk – mit dem starken Argument, dass das, was bislang unter America first! läuft, auf eine Schwächung Amerikas hinausläuft. Stattdessen steht die kollektive Besinnung darauf an, dass die Stärke der Nation in der Einheit des Volkes liegt. Und gegen Trumps kompromisslosen Kampf um die Macht setzen sie das Dementi eines bloß parteilichen Machtkampfs als Wahlkampf. Kurz: Gegen Trumps Lüge, er vertrete das einzig wahre Amerika gegen lauter Feinde im Volk, setzen die Demokraten die Heuchelei, ihr Mann vertrete das ganze amerikanische Volk gegen einen eigentlich einsamen Spalter. Die amerikanische Demokratie ist eben bunt und lebendig.

*

Es kann losgehen, das Duell zwischen diesen zwei Varianten des herrschaftlichen Moralismus eines starken Volkes. Sein Verlauf gerät schnell etwas außergewöhnlich – es sind vor allem zwei Krisen, an deren Bewältigung die Kandidaten sich messen dürfen.

III. Covid – ein Anschlag auf den amerikanischen Volkskörper als Herausforderung an die Führungsstärke der Kandidaten

Die erste große Bewährungsprobe des Jahres lässt nicht lange auf sich warten. Das Coronavirus ist für jeden Regenten eine erhebliche Herausforderung, hat der doch einen Widerspruch zu bewältigen zwischen dem, wofür und wovon sein Volk lebt, nämlich kontinuierlichen, wachsenden Geschäften, und dem Mindestmaß an Gesundheit, das das Volk für diesen Zweck braucht. [2]Für demokratische Regenten mit ihrem Profilierungsbedarf ist das Virus allerdings eine Herausforderung besonderer Art.

Ungünstig für den Amtsinhaber ist der Umstand, dass die staatlichen Beschränkungen des Geschäftslebens die schönen Zahlen kaputtmachen, mit denen er sich dem Wähler bisher empfohlen hat. Dass der dramatische Geschäftseinbruch, der auf allseits für notwendig gehaltene Einschränkungen zurückgeht, auf Trump selbst abfärben soll, ist zwar genauso wenig rationell wie der Umstand, dass der Boom des Geschäfts ein gutes Licht auf den Chef wirft, aber immerhin gerecht. Doch Naturkatastrophen müssen für einen demokratischen Machthaber bekanntlich nicht nur schlecht sein. Krisen bieten ja auch die Chance, das Volk mit Beschwörungen und praktischen Demonstrationen der Stärke der Nation und der Tatkraft der Führungspersonen zu überfluten, so jedenfalls die bewährte Praxis, auf Deichen und in Fliegerjacken hundertfach erprobt. Trump verwertet die Chance auf seine eigene Art – er wendet schlicht seine zwei Grundgleichungen an, nimmt das Virus als einen Feind, der Amerika schwächen will, indem es dem starken amerikanischen Präsidenten schadet. Das zu verhindern, ist die Leitlinie der Virusbekämpfung, die Trump auch sehr konsequent befolgt. Und längst, bevor er über ein Heilmittel gegen das Virus verfügt, versorgt er sein Volk mit einer entsprechenden Deutung der Lage, nämlich mit dem größtmöglichen Kompliment, das ein kämpferischer Volksführer aussprechen kann: Diesem Volk fiele es nicht im Traum ein, vor Verlusten zurückzuscheuen. Auch bei Gefahr für Leib und Leben lässt es seine Führung nicht im Stich, versaut es ihr nicht die Dienste, die sie braucht und beansprucht. Daher: Laut Trump bringt Covid im Alltag zwar einiges durcheinander, ist aber relativ harmlos und wird sich demnächst von selbst – like magic – erledigen; einschneidende Maßnahmen, wo überhaupt nötig, können schnell zurückgefahren werden. Was nicht infrage kommt, ist, dass ausgerechnet Amerika sich von einem kleinen Virus ausbremsen lässt; dass seine Führung gar selbst die großartige Wirtschaft ausbremst. Dann würde man genau das herbeiführen, was Amerikas Konkurrenten und Feinde wollen – denn nicht einmal etwas so Unberechenbares wie ein noch unbeherrschtes Virus kann diesem Land etwas anhaben, es sei denn, man lässt es selbst zu.

Beschränkungen des Geschäftslebens, die auf bundesstaatlicher Ebene beschlossen werden, nähren den Verdacht, dass hier Amerika geschwächt und sein Volk geknechtet werden soll ; der Verdacht wird dort bestätigt, wo Demokraten am Ruder sind, sodass deutlich wird, dass auch der Kampf gegen das Virus ein Kampf um die Seele der Nation ist: Offenbar meinen die Demokraten, das weltbeste Volk sei zu schwach, um mit so etwas in aller Freiheit zurechtzukommen – und ausgerechnet diese Partei soll dieses Volk zum Sieg führen? Der Präsident steht den geschundenen Untertanen zur Seite, die den Preis für die Schwäche ihrer lokalen Führung und die Beleidigung ihrer nationalen Ehre mit Einbrüchen und Ausfällen in Sachen Wachstum und Beschäftigung zahlen müssen: Als Beschützer ihrer Freiheit ruft er per Twitter zur ‚Befreiung‘ von demokratischen Gouverneuren auf – wobei klar ist, dass er gar nicht bloß den nächsten Urnengang meint. Wie gesagt, Wahlkampf ist für diesen Mann eben Kampf. [3]

Was nicht heißt, dass Trump sich nachsagen lassen würde, das Virus selbst nicht bekämpfen zu wollen. Im Gegenteil. Er hat die Größe der Gefahr natürlich früher als alle anderen erkannt und entschiedener als alle anderen gehandelt, um die Ausbreitung zu verhindern. Er bekämpft Covid eben so, wie es sich für eine Weltmacht gehört: nicht vorsichtig defensiv, mit Lockdowns und peinlichen Masken, [4]sondern rücksichtslos offensiv – mit der Gewalt und mit dem Geld, worüber Amerika in so überlegener Weise verfügt. Er verhängt Einreiseverbote, startet eine neue Runde China-Feindschaft und sorgt – auch wenn er immer wieder beteuert, dass alle nötigen Medikamente eigentlich schon beieinander sind, um diese schwache Grippe in den Griff zu bekommen – mit einer Impfstoffförderung auf ‚warp speed‘ dafür, dass Amerika demnächst keine Einschränkungen mehr nötig haben wird, sich vielmehr auf einen noch stärkeren ‚Trump bump‘ freuen kann.

Derweil macht Biden genau das, was er laut seinen Strategen auch soll. Es ist zwar blöd, dass er – amtlos, wie er derzeit ist – gar nicht erst die Gelegenheit bekommt, Führungsstärke zu beweisen. Dass er – Risikopatient, der er auch noch ist – erst einmal in seinem Keller ausharren muss, wirkt auch nicht gerade ‚presidential‘. Andererseits: So hält er sich eben zurück und macht schon damit die bestmögliche Figur. Vor allem hält er sich an das Drehbuch, dessen Befolgung die liberale Öffentlichkeit bei Trump so vermisst: Er richtet nüchterne, zugleich aufmunternde Worte an das verunsicherte Volk; er zeigt demonstrativen Respekt für die Empfehlungen der Mediziner wie für die Klagen der Wirtschaft und der stolzen Abhängigen; er bereitet das Volk vor auf die schwierigen Kompromisse zwischen dem Schutz seiner Gesundheit und dem Schutz des Kapitalwachstums, dessen Erfolg es untergeordnet ist. Er präsentiert seinen Willen, die amerikanische Klassengesellschaft durch schwierige Zeiten für die Profitmacherei und die dafür nötige Gesundheit zu steuern, als die Bereitschaft, einer ethischen Pflicht nachzukommen, die er vor allem sich aufbürdet, und versichert die Opfer des Virus und des Geschäftseinbruchs seiner Empathie. Schließlich muntert er seine Amerikaner mit der Versicherung auf, dass sie gerade dabei sind, einen Moment wahrhafter gemeinschaftlicher Stärke als Nation mitzuerleben, egal wie sichtbar die Unterschiede zwischen ihnen gerade in der Corona-Bekämpfung werden mögen. Gegen Trumps kämpferische Offensive setzt Biden also ein Bild der präsidentiellen Normalität – die Heuchelei eines Vaters der Nation, der mächtigsten auf Erden. Und zur Freude aller Demokratieidealisten belebt er dabei den Schein, es käme in der demokratischen Politik und erst recht beim Kampf um die Macht dann doch auf so etwas wie den gesunden Menschenverstand an.

IV. Antirassismus-Proteste: ein Ruf nach einem Führer, der den antiamerikanischen Terroristen ‚law and order‘ beibringt? Oder nach einem Führer, der allen Amerikanern die Einheit bringt?

Mitte Mai kommt schon die nächste Krise für den Amtsinhaber: landesweite Proteste gegen rassistische Polizeigewalt im Besonderen und gegen den Rassismus im Allgemeinen. Dass der Unmut auf den Straßen auch Trump selbst gilt, entnimmt er schon seinem moralischen Instinkt, bekommt es dann auch tausendfach skandiert. [5]Der ganze Aufruhr bringt ihn keine Sekunde lang in Verlegenheit; er sieht schon wieder seine Grundgleichung bestätigt, dass Unzufriedenheit mit ihm und Feindschaft gegen Amerika ein und dasselbe sind.

Mit dem zentralen Gegenstand der Proteste – rassistischer Polizeigewalt – wird er leicht fertig; mit seinem Bedauern über einige ‚faule Äpfel‘ ist die Sache schon vom Tisch. Umso mehr Aufmerksamkeit schenkt er den Protesten selbst. Die nimmt er als das, was sie für eine Staatsgewalt in erster Linie immer sind: Unruhen, Verstöße gegen die Ordnung, damit gegen das Gewaltmonopol des Staates. Entsprechend droht er den Protestierenden mit dem, was er dem Rest des Volkes verspricht: Law and order! und When the looting starts, the shooting starts! [6]Er unterschiebt den Protesten damit ein Ziel, das seiner hoheitlichen Gegenoffensive viel besser entspricht als eine antirassistische Empörung. Er erklärt die gewaltsamen Ausschreitungen – gegen das Eigentum an dem, was hinter so manchem Schaufenster steht, und gegen die Polizei – und das unübersehbare Rechtsbewusstsein der Demonstrierenden zum Beweis, dass diese in Wahrheit gar nicht ‚Gerechtigkeit jetzt!‘, sondern nur die Gewalt selbst wollen, und davon immer mehr. Versprengte Antifas kommen so zu der Ehre, auf die Liste inländischer Terrororganisationen gesetzt und zu den Anführern einer drohenden kommunistischen Machtübernahme befördert zu werden. Trumps Antwort auf die Gefahr ist danach: Er schickt Soldaten, verbreitet staatlichen Terror und unterstreicht die Freude, mit der er das tut, als Demonstration seines Willens, antirassistischen Protest als Angriff auf Amerika zu bekämpfen. Der Gewalteinsatz ist insofern gar nicht erst auf ein so begrenztes Ziel wie die Durchsetzung ordnungsgemäßen, ohnmächtig appellierenden Demonstrierens gemünzt; es geht vielmehr um eine staatliche Demonstration dessen, dass Recht und Ordnung zuallererst Unterwerfung erfordern, und dass die Ordnungsgewalt willens und in der Lage ist, einen ungehorsamen Willen zu brechen .

Dass Trump dabei mit so offensiv gutem Gewissen zu Werke geht, verdankt sich seiner Gewissheit, seiner ersten Verantwortung als Staatschef nachzukommen: der Wiederherstellung der unwidersprechlichen Macht des Rechts, der Geltendmachung der dadurch geregelten Ordnung. Und das – nicht ein Geist der Versöhnung – ist immerhin genau die Sache, die das Volk wirklich zu einem Volk macht. Dass er mit seiner rhetorischen und praktischen Militanz gegen die einen im Namen der anderen das seelische Bedürfnis des Volkes ignorieren würde, wie ihm von seinen liberalen Kritikern vorgehalten wird, ist ein Gerücht. Mit seinem Vorgehen kommt er auf das Bedürfnis des Volkes nach der ordnenden Gewalt zurück, die die wunderbare bürgerliche Gesellschaft so nötig hat und die gerade im freiesten Land der Erde so ausgiebig zelebriert wird – also auf nicht weniger als das Fundament und die Grundkonstante des bürgerlichen Lebens. Es ist auch nicht so, als ob Trump eine kalte Gewaltordnung gegen die menschliche Wärme der Zivilgesellschaft setzen würde. Der Ordnung, die er ohne Rücksicht auf die Feinde durchgesetzt haben will, verpasst er auch ein menschliches Antlitz. Der Gehorsam, den er erzwingt, ist nur der menschlich erwartbare Respekt gegenüber den tugendhaften Menschen, die genau das tun, wofür die Gemeinschaft sie so schätzt:

„Die Träume kleiner Unternehmer sind komplett zerstört worden. New Yorks großartige Polizisten haben Pflastersteine ins Gesicht bekommen. Mutige Krankenschwestern im Kampf gegen das Virus haben Angst, vor die Tür zu gehen... Ein Bundespolizist in Kalifornien, ein afroamerikanischer Held der Justiz, wurde erschossen. Das ist kein friedlicher Protest, das ist inländischer Terror.“ (Trump, 1.6.20)

Dass Trump die Proteste trotz aller Appelle an Grundsätze der staatsbürgerlichen Vernunft und trotz aller Anwendung der Durchsetzungsgewalt des Staates nicht kleinkriegt, sondern eher anfacht, ist wahlkampftechnisch überhaupt kein Schaden:

„Je mehr Chaos, Anarchie und Vandalismus, desto besser. Dann ist klar, wer die bessere Wahl in Sachen öffentliche Sicherheit und ‚law and order‘ ist.“ (Kellyanne Conway, ehemalige Sprecherin von Trump, 27.9.20)

Der dringende Bedarf freiheitlich konkurrierender Bürger nach überlegener, zuschlagender Gewalt des Staates – das ist 50 Jahre nach Nixon immer noch ein schwer zu übertreffender Wahlkampfschlager. Bei dieser Sorte Unmut – etwas anders als bei der Sache mit dem Virus – können die zuständigen Gouverneure ihre Bürger gar nicht genug unterdrücken. Wenn sie es versäumen, die Demonstranten zu dominieren , wie Trump es ihnen befiehlt, haben sie sich mit ihnen offensichtlich verschworen. Gewiss ein sehr ungerechter Vorwurf, fragt man die Demonstranten auf den Straßen demokratisch regierter Metropolen, aber schon wieder eine denkbar klare Frontziehung: Die Proteste sind wieder ein Fall dafür, dass die Demokraten das Volk durch Schwäche verraten, während Trump es mit zuschlagender Gewalt schützt.

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Das gibt den Demokraten und ihrem Kandidaten schon wieder einiges zu tun, diesen Verdacht zu entkräften. Denn auch sie verstehen sich in erster Linie als Hüter der Ordnung, gegen die protestiert wird; auch für sie sind gewaltsame Ausschreitungen mit überlegener Gewalt zu beantworten. Und wo sie die Befehlsgewalt innehaben, braucht es schon einen Trump, um ihren Einsatz als ‚nachlässig‘ zu beschimpfen. Was die eine große, konkrete Forderung der Proteste betrifft, eine radikale Umschichtung öffentlicher Gelder für die Polizei in soziale Aufbauprogramme, stehen die Demokraten keineswegs Gewehr bei Fuß. Die Anerkennung, die die Demokraten und ihr Kandidat den Demonstranten zollen, ist anderer Art. Sie gilt ihrem Protest als moralischem Appell , als eindringlicher Mahnung zur kollektiven moralischen Besserung:

„Die Erbsünde dieses Landes ist auch heute ein Schandfleck für unsere Nation. Manchmal schaffen wir es, sie zu übersehen und mit den tausend anderen täglichen Notwendigkeiten einfach weiterzumachen. Aber sie ist immer da. Und nun sehen wir es ganz klar. Wir sind ein Land mit einer offenen Wunde, niemand kann sie ignorieren, niemand darf schweigen, niemand darf diese Wörter ‚Ich kann nicht atmen!‘ hören und dann nichts tun... Dies ist eine nationale Krise. Wir brauchen echte Führung – jetzt!“ (Joe Biden, 29.5.20)

Die Art, wie Biden sich mit den Demonstranten gemein macht, darf mit Verbrüderung nicht verwechselt werden. Der Rassismus in Bidens Amerika kennt keine Täter in dem Sinne, [7]nur Amerikaner, die das hässliche Erbstück noch nicht ausgeschlagen haben oder es immer noch in der Ecke stehen lassen. Und es ist auch auffällig, dass das Opfer des Rassismus vor allem die Nation selbst ist, die Einheit des gesamten Volkes. So macht der große Versöhner den Rassismus als einen Geist vorstellig, der ausgerechnet mit so etwas wie einem völkischen Gedanken nichts zu tun haben soll. Im Gegenteil: Seine Bekämpfung erfordert gerade eine Bekräftigung der völkischen Einheit – Antirassismus als die Besinnung auf eine nationalistische Tugend. Und er verpasst zu guter Letzt den Protesten eine politische Konsequenz, die die Protestierenden selbst jedenfalls nicht skandieren: Wir brauchen echte Führung jetzt. So wäre der Aufruhr auf den richtigen Kurs gebracht – auf einen Kurs der nationalen Versöhnung bei der harmonischen Entledigung einer von niemandem wirklich gewollten Sünde, die insofern dann doch nicht so anonym bleibt: Der entscheidende Schritt wäre schließlich dann getan, wenn man den Bewohner des Weißen Hauses ausgetauscht hat.

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Der ‚Krisensommer 2020‘ geht seinen Gang. Die Kandidaten stehen fest, das Duell läuft auch längst. Doch auf die altehrwürdige Tradition, das Ganze auf einem eigens dafür einberufenen Nominierungsparteitag offiziell zu machen, wollen beide Parteien trotz Corona nicht verzichten und verlegen die Veranstaltung großteils in den Cyberspace. Sie haben ihre Gründe.

V. Der Nominierungsparteitag der Demokraten
Gib den Menschen Licht in der Finsternis – oder: Wie Biden das von Trump gespaltene Volk unter seiner Führung versöhnen will

Nominierungsparteitage haben in den USA inzwischen eine eher formelle Hauptfunktion, seit das Ergebnis der Vorwahlen den Charakter einer verbindlichen Vorgabe angenommen hat. Sie sind dazu da, den Gewinner der Vorwahlen als den offiziellen Kandidaten der Partei zeremoniell zu bestätigen. Andererseits hat dieses Event darüber offenbar nichts von seiner Wichtigkeit verloren, es ist vielmehr zum förmlichen Höhepunkt des demokratischen Personenkults geworden. Dort wird das Publikum eingeladen, den Kandidaten als eine Figur kennenzulernen, die Begeisterung verdient – ausweislich der Begeisterung, die seine Partei und ausgewählte Anhänger dort zeigen. Was der Wählerschaft auf die Art feierlich vorgeführt wird, ist in der Sache nichts, was Begeisterung verdient hätte, nämlich das Wesentliche an ihrer demokratischen Existenz: Demokratische Bürger vertrauen einer regierenden Person die Bestimmungsmacht über ihre Existenzbedingungen an – in einer ‚Schicksalswahl‘ erst recht. Dafür kommen sie in den Genuss, diese Klarstellung über die Abhängigkeit, in die sie alle vier Jahre einwilligen, als ein eifriges Werben um ihre Sympathie zu erleben, bei der auch einige Tage lang an ‚pomp and circumstance‘ und Promi-Besetzung nicht gespart wird. Zu diesem Werben gehört an erster Stelle, die menschliche, wertemäßige Nähe des Machtaspiranten zu den normalen Menschen, die ihn ins Amt bringen sollen, über alle Schamgrenzen hinaus zu inszenieren. Das ist insofern ein Hohn, als es gerade um die Qualifikation des Kandidaten fürs Regieren über die Leute geht, also um ein Verhältnis, zu dem ‚Nähe‘ wirklich nicht passt. Ein bemühtes Dementi der Andersartigkeit der regierenden Person soll ihre Eignung für eine sehr andersartige Position belegen. So will es die demokratische Sitte.

Diese treiben die Demokraten dieses Jahr auf die Spitze, wenn sie dem Publikum die bewegte Privatgeschichte ihres Kandidaten nahebringen; die ist zugleich für das Idealbild eines demokratischen Politikers so stereotyp, dass er schon wieder als normal erscheint: Der Mann stammt aus einfachen Verhältnissen, wie die meisten seiner künftigen Untertanen. Und was sie sich erträumen, hat er geschafft und sich schon früh zu höheren Posten hochgearbeitet, aber ohne dass ihm der Aufstieg zu Kopfe gestiegen wäre, wie es sich für einen demokratischen Machthaber eben gehört, der das Vertrauen seiner Wähler braucht, um über sie zu regieren. Aufgrund seiner sozialen Herkunft kann er die Armut und harte Arbeit seiner Anhänger mitfühlen. Darüber hinaus haben ihn auch Schicksalsschläge der emotionaleren Art getroffen: Er hat den frühen Unfalltod seiner ersten Frau und der kleinen Tochter sowie den späteren Krebstod seines ältesten Sohnes verkraften müssen, was in seinem Fall nicht einfach für eine traurige Familiengeschichte steht, sondern für seine Fähigkeit zur herrschaftlichen Tugend namens ‚Empathie‘ – die übliche Begleitmusik zu allen Härten, die demokratische Regenten den kleinen Leuten bescheren. Diesem Politiker kann man diesen billigen Trost in jedem Fall abnehmen. Trotz aller persönlichen Rückschläge immer weitergemacht, trotz aller Erfolge nie elitär geworden – alles in allem ein außergewöhnlich menschlicher, ein auffallend normaler Machthaber. Seine hemdsärmelige Kollegialität, bodenständige Moralität und herausgeputzte Empathie für die kleinen Leute qualifizieren ihn zur Macht, mit der er seine Untertanen wieder geistig zusammenführen will, damit sie weitere Erfolge für die Nation einfahren.

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Auf dem Parteitag bekommt Biden auch eine ‚running mate‘ namens Kamala Harris – die damit einen eigenartigen Posten übernimmt. Wenn alles gut geht, wird die Beiwagenfahrerin natürlich Vizepräsidentin; dann wird sie u.a. Vorsitzende des Senats, was die derzeit gar nicht irrelevante Befugnis mit sich bringt, im Falle eines Patts im Senat das entscheidende Votum abgeben zu können, z.B. bei der Nominierung eines Richters am Obersten Gericht. Noch wichtiger: Sie ist „nur einen Herzschlag von der Präsidentschaft entfernt“ und hat in der Zeit danach auch die Poleposition bei zukünftigen Rennen um das Weiße Haus – siehe Joe Biden. Doch im Grunde hat der Inhaber dieses Postens im Falle eines Wahlsiegs seine wichtigste Funktion schon erfüllt. Die ‚running mate‘ soll vor allem als personifiziertes strategisches Aushängeschild dienen, als symbolischer Wink an eine bestimmte Wählerklientel oder an einen Flügel in der Partei. Dafür braucht es vor allem eine Figur, die demographisch und optisch den Hauptkandidaten gut ergänzt – kann ja sein, dass die Wähler sich einbilden, das würde sich irgendwie aufs Regieren selbst auswirken, und als Geste des guten Willens ist das in jedem Fall gut. Es ist zwar nicht immer leicht, die richtige Schnittmenge in einer einzigen Person zu entdecken, und es heißt, man hätte in der präsidentiellen Geschichte Amerikas schon öfters danebengelangt. Aber dieses Jahr ist die Stellenbeschreibung erstens denkbar einfach, denn nach Me too und Black lives matter! und der Einigung auf den alten weißen Biden steht fest: Eine schwarze Frau muss her. Natürlich ist allen Seiten klar, dass es sich dabei um eine Quotenfrau und -schwarze handelt; Taktierereien dieser Art werden in der Demokratie transparent verhandelt; die Umworbenen werden eingeladen, darüber zu urteilen, wie die Manipulateure sie gewinnen wollen. Und es hat sich zweitens glatt eine passende Figur gefunden, sogar eine, die eine glanzvolle Karriere als ‚law and order‘-Politikerin hinter sich hat – Trump kann kommen. Drittens hat sie gelegentlich mit Positionen des linken Flügels geliebäugelt – vielleicht reicht das den engagierten Bernie-Fans. Ein solcher offener Zynismus hat der kritischen Öffentlichkeit dieses Jahr allerdings nicht gereicht; sie hat es geschafft, ihn zu toppen. Ihr ist nämlich aufgefallen, dass Kamala Harris zwar schon ziemlich schwarz ist, aber: Ist sie wirklich eine Afroamerikanerin? Kann eine Frau mit jamaikanischem Vater und indischer Mutter wirklich den Opferstatus für sich beanspruchen, mit dem sie als Schmuckstück der neuen Führungsfigur vor den wirklichen schwarzen Opfern glänzen will? Das amerikanische Volk lässt sich in puncto Rassismus nicht so leicht über den Tisch ziehen.

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Nach den schönen Reden, die von den beiden Obamas auch erwartet wurden, ergreift der unterlegene Sanders das Wort – und bietet seinen Anhängern einen guten, denkbar defensiven Grund, sich nicht nur mit dem verhassten Establishment-Kandidaten zu versöhnen, sondern sich auch für ihn zu engagieren:

„Wir brauchen Joe Biden als unseren nächsten Präsidenten... Wenn Trump gewählt wird, dann steht der ganze Fortschritt infrage, den wir in diesem Land gemacht haben... Bei dieser Wahl geht es um das Grundsätzliche: um die Bewahrung unserer Demokratie... Unter Trumps Regierung hat der Autoritarismus in diesem Land Wurzeln geschlagen.“

Fortschritte sozialdemokratischer Art kommen derzeit nicht infrage, die Prämisse aller demokratischen Politik muss gerettet werden. Die besteht darin, dass abweichende, ‚progressive‘ Positionen nicht als Gefahr für die Nation bekämpft, sondern als Alternativen guten Regierens anerkannt werden. Also gilt dasselbe auch für die frustrierten Progressiven: Sie müssen sich für das kleinere Übel mobilisieren lassen, das ja immer noch eine demokratische Alternative des Guten ist – sonst könnte es das letzte Mal sein, dass sie an einer so wunderbaren Veranstaltung teilnehmen dürfen.

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Nach der Feier seiner Person kommt die Pflicht: Der Kandidat muss selbst das Wort ergreifen und sein Publikum davon überzeugen, dass er wirklich die überaus anständige, supernormale Lichtgestalt ist, als die seine Partei ihn inszeniert. Das ist ihm auch gelungen, heißt es. Erstens hat er sich nicht einmal auffallend verhaspelt und kaum Anlass zur befürchteten Vermutung geboten, er stehe schon mit einem Bein im Altersheim. Zweitens hat er es geschafft, die Geschichte einer Rückkehr eines normalen Menschen an die Macht zum Leuchten zu bringen:

„Gib den Menschen Licht, und sie werden den Weg finden. Gib den Menschen Licht... Der amtierende Präsident hat Amerika viel zu lange in Finsternis verhüllt. Zu viel Wut. Zu viel Angst. Zu viel Spaltung. Hier und jetzt gebe ich Ihnen mein Ehrenwort: Wenn Sie mir die Präsidentschaft anvertrauen, werde ich das Beste und nicht das Schlechteste aus uns herausholen. Ich werde ein Verbündeter des Lichts sein, nicht der Finsternis. Jetzt ist die Zeit, dass wir, das Volk, zusammenkommen. Vereint können wir die Zeit der Finsternis in Amerika überwinden.“

Das ist schon ein sehr hoher Ton – so hoch, dass man sich kaum den Patrioten vorstellen kann, der sich da auf die falsche Seite schlagen könnte. So ist es natürlich auch gemeint – Demokraten können eben hemmungslos sein, wenn es ihnen um den Nachweis geht, dass es zu ihnen eigentlich keine Alternative geben kann. Ein Sieg für Biden ist ein Sieg für alle Amerikaner, der einzige Verlierer ist der amtierende Präsident:

„Obwohl ich Kandidat der Demokraten bin, werde ich ein Präsident der Amerikaner sein. Ich werde für diejenigen hart arbeiten, die mich nicht unterstützt haben – genauso hart wie für diejenigen, die mich gewählt haben. Das ist der Job eines Präsidenten: uns alle zu vertreten, nicht nur die Parteibasis. Jetzt ist kein parteipolitischer Moment, jetzt muss ein amerikanischer Moment sein – ein Moment, der Hoffnung und Licht und Liebe braucht. Hoffnung für unsere Zukunft. Licht, um den Weg vorwärts zu sehen. Und Liebe füreinander. Amerika ist nicht bloß ein Haufen kollidierender Interessen, republikanisch oder demokratisch regierter Staaten. Wir sind so viel größer als das. Wir sind so viel besser als das.“

Biden versteht es genauso gut wie Trump, ein Gleichheitszeichen zu setzen zwischen sich und dem Anliegen aller Amerikaner, die nicht gerade Donald Trump heißen, also zwischen seinem Konkurrenten im Machtkampf und dem Feind des Volkes im Kampf um seine vereinte Zukunft. Trump mag antreten, weil er die Macht will, Biden tritt an, weil er den Wunsch nach Einheit realisieren will, der ausgerechnet aus allen zahlreichen ‚Spaltungen‘ sprechen soll, die das Volk entzweien. Dass Biden sich überhaupt in einem parteipolitischen Machtkampf befindet, verbucht er als bloße Formalität des Verfahrens. Das ist eine grandiose Heuchelei – und es ist zugleich mehr: Was Biden als Verheißung einer nationalen Versöhnung und eines gemeinsamen Aufbruchs ins immerwährende Licht anbietet, ist in der Sache ein anspruchsvoller Befehl. Denn man kann den Amerikanern viel nachsagen, aber bestimmt nicht, dass sie nicht wüssten, was sie aneinander nicht länger ertragen können und warum. Sein leuchtendes Bild läuft in der Sache auf die Forderung hinaus, seine Bürger mögen von all ihren gewussten und gepflegten Gegensätzen in der Frage, wer das amerikanische Volk überhaupt ist und wie sein Nationalismus auszusehen hat, absehen – und darauf hinsehen, dass sie ein Volk sind.

Die objektive Wahrheit dieser Einheit besteht darin, dass die amerikanischen Bürger – genauso wie die Mitglieder eines jeden Staatsvolks – ein und derselben Staatsgewalt unterworfen sind. Sofern diese Einheit eine subjektive Wahrheit hat, liegt sie darin, dass die Bürger diese Abstraktion an sich selbst vollziehen und sie zur seltsamen Größe einer ‚nationalen Identität‘ machen, indem sie ihre gemeinsame Unterwerfung zur moralischen Gemeinschaft verklären, die die staatliche Gewalt schützt. So sehr die Pflege dieser Identität stets eine moralische Einheit des Volkes zelebriert, so wenig ist sie dazu geeignet, Harmonie zu stiften. Der Alltag der nationalen Identität ist ein Rechten darüber, wer seinen Pflichten gegenüber der moralischen Gemeinschaft nachkommt und wer eben nicht, sodass die Rechte der Pflichtbewussten beschnitten werden. Dieses Rechten kennt einige Eskalationsstufen, was auch für die Mittel gilt, die zum Schutz der verletzten Gemeinschaft in Erwägung gezogen und gegebenenfalls in Anschlag gebracht werden; kurz vor dem Ende dieser Eskalationsstufen steht die Frage, wer überhaupt zu der moralischen Community dazugehört und wer sich ihr endgültig entfremdet oder sie sogar verraten hat; das Ende ist erreicht, wenn in dieser Frage Gewissheit herrscht. Wenn interessierte Beobachter nicht länger über Amerika reden können, ohne das Wort ‚Spaltung‘ fallen zu lassen, dann liegt das daran, dass die Amerikaner bei dieser Gewissheit angekommen sind – angeleitet von konkurrierenden Politikern und den Deutungskünstlern der professionellen und semiprofessionellen Öffentlichkeit, von denen sie sich gerne mobilisieren lassen. Und wenn angesichts dieses sogenannten ‚Kulturkriegs‘ die Sorge vor einem neuen ‚Bürgerkrieg‘ populär geworden ist, zeugt das davon, wie ernst dieses Volk seine nationale Identität und die Pflichten nimmt, die sich aus ihren eingebildeten Rechten als echte Amerikaner ergeben.

Diese Spaltung ist es, die Trump auf seine bekannte, berühmt-berüchtigte und offenbar sehr erfolgreiche Art zuspitzt, was ihm den ungerechten Vorwurf einbringt, an der Spaltung der Nation überhaupt schuld zu sein. Diese Spaltung ist es, die Biden auf seine Art zu kitten beansprucht, indem er diese eskalierten Gegensätze im Volk gewissermaßen auf ihren Ausgangspunkt zurückdreht – darauf, dass die pure Abstraktion, ein amerikanisches Volk zu sein, alles übertrumpft, was dieses Volk für die verfeindeten Amerikaner jeweils sein soll. Und zwar dadurch, dass die Amerikaner in seiner Person, vor allem in seinem vorgelebten Willen zur Versöhnung, die Einheit genießen, die Biden aus ihrem staatsbürgerlichen Inneren als ihren dringlichsten Wunsch herausliest. Was das amerikanische Volk statt des ‚populistischen‘ , ‚spalterischen‘ Furors eines Trump wollen soll – das ist das Ideal eines perfekten demokratischen Staatsbürgerkollektivs, das alle demokratischen Regenten hegen: über Bürger zu regieren, die nicht fragen, was ihr Land für sie, sondern was sie für ihr Land tun können.

VI. Der Nominierungsparteitag der Republikaner:
Make America great again, again! Ein großartiges Volk und sein großartiger Führer – im Erfolg vereint!

DiesePerson muss man dem Volk jedenfalls nicht erst auf einem Nominierungsparteitag näherbringen; auch nicht, dass dessen Schicksal sich an Trumps eigenem entscheidet. Wenn einer die Pflege seiner menschlichen und wertemäßigen Nähe zum Volk pflegt, dann ist es Trump. Seine Nähe zum Volk liegt nicht bloß in dem formellen Umstand, dass er eine direkte Ansprache an seine Follower an den etablierten Medien vorbei bevorzugt, sondern darin, dass er alle Spuren der Kompromissbereitschaft und des Respekts vor dem gegnerischen Lager, die zur Demokratie gehören, als Heuchelei zurückweist, zu der er nicht bereit ist. Seiner berüchtigten Dünnhäutigkeit und Streitsucht, seiner ostentativen Unanständigkeit und seiner Bereitschaft, die nacktesten Lügen zu erzählen und die offensichtlichsten Tatsachen nicht gelten zu lassen, wenn sie zu seinem exzessiven Selbstlob nicht passen, können die Bürger erstens ihr eigenes Konkurrenz- und Rechtsbewusstsein entnehmen – jedenfalls dann, wenn sie sich sicher sind, dass ihnen Unrecht geschieht, also dauernd. Dem können sie zweitens die politische Bedeutung entnehmen, auf die es Trump ankommt: Hier tritt ein Siegeswille auf zwei Beinen an, der mit all seinen Lügen nur unterstreicht, dass er ehrlich genug ist, auf der einen schlichten Wahrheit zu beharren: Gewinnen geht so, dass man den Gegner zum Verlierer macht. Seine programmatische Missachtung der etablierten, liberalen ‚political correctness‘ gehört zu seinem Kernprogramm, weil er darin erstens eine Untergrabung des selbstbewussten, siegesgewissen amerikanischen Elans sieht, und weil er zweitens in der Untergrabung des amerikanischen Selbstbewusstseins den Grund für Amerikas vermeintliche Niederlagen in der Welt sieht. Der eitle Narzissmus, der zu dieser nationalen Säuberungsaktion gehört, ist kein bloßer Fimmel: Feinde zu bekämpfen, die sich als Verbündete ausgeben, ist nicht bloß seine persönliche Mission, sondern doch wohl seine politische Aufgabe. Für die Unterscheidung, wer Feind und wer Freund ist, verfügt Trump über ein Kriterium, das deswegen so treffsicher ist, weil es Trump selbst ist. So, in dieser für Trump typischen extremen Art, wird auch auf diesem Parteitag einiges für die demokratische Klarstellung getan, dass das Schicksal der Wähler an der Person ihres gewählten Führers hängt.

Doch bei einer solchen politischen Persönlichkeit lässt sich auf einem Nominierungsparteitag offenbar etwas Zusätzliches für die Pflege der Bürgernähe tun. Anscheinend sind die Veranstalter auf die Idee gekommen, es wäre gut, noch einmal extra klarzustellen, dass der unanständige Wüterich keinen Widerspruch zu den Werten verkörpert, die hart arbeitende Männer, biedere Hausfrauen und moderne Konkurrenzfiguren aller in Amerika heimisch gewordenen Ethnien schätzen: Wenn er Antirassismus-Proteste als Angriff auf amerikanische Grundprinzipien und Höchstwerte brandmarkt, dann hat das mit Rassismus nichts zu tun – das können schwarze und asiatische Republikaner schlicht dadurch beweisen, dass sie vor die Kameras treten und es mit ihrer schieren Anwesenheit bezeugen. Ihnen folgen Frauen aus dem persönlichen Umfeld des Präsidenten auf dem Fuße – seine Tochter, die Frau seines Sohns –, die den Angeklagten ganz persönlich, abseits der Bühne kennen: Etwas anderes als harte Arbeit, eiserner Wille und menschliche Wärme ist ihnen nie aufgefallen. [8]

Ganz in die virtuelle Welt wollen die Republikaner ihren Nominierungsparteitag nicht verbannen. Zumindest für Trumps Rede – er hält gleich zwei – trommeln sie jubelnde Massen zusammen. Bei seiner feierlichen Annahme der Nominierung kommen gut tausend Gäste vor dem Weißen Haus zusammen. Vielleicht meinen sie, dass die inszenierte Begeisterung für den Kandidaten nicht fühlbar genug ist, wenn die Zuschauer die überschwänglich klatschenden Anhänger nicht mit eigenen Augen sehen können. Das ist für einen kleinen Skandal gut, nicht nur wegen Corona, sondern vor allem deswegen, weil bei Trumps Rede glatt das Weiße Haus im Hintergrund steht. Das übliche Dekorum schreibt vor, dass bei solchen Parteiveranstaltungen eine zumindest symbolische Trennlinie zwischen Trump als Kandidat einer Partei und als Präsident der Nation zu ziehen ist – noch so eine ungeschriebene Regel, von der und von deren Heiligkeit die Bürger wohl erst in dem Moment erfahren, in dem Trump sich darüber hinwegsetzt. Amtsbonus im Vordergrund, ja; Amtssitz im Hintergrund, nein. An der Rede selbst fällt schon wieder auf, wie wenig Trump in einen besonderen Wahlkampfmodus wechseln muss, um Wahlkampf zu führen. Er kommt auf alle Erfolgsmeldungen und Feindschaftserklärungen zu sprechen, mit denen er sein Volk seit dreieinhalb Jahren unterhält. Insbesondere in den fortdauernden und eskalierenden Antirassismus-Protesten findet er den Gegensatz, um den es in der Wahl überhaupt geht: die Helden von ‚law and order‘ und Vaterlandsliebe hier, die Agenten des Chaos und Amerikahasses dort. ‚Präsident aller Amerikaner‘ will der Mann freilich auf seine Art sehr wohl sein bzw. bleiben, ein ‚Verbündeter des Lichts‘ wohl auch. Er ist sich aber eben sicher: Die Nation muss man gar nicht erst einen, damit sie großartig ist, schon gar nicht durch den Aufruf, die Gegensätze beiseite zu lassen, die die Bürger zigfach zu nennen wissen. Das Volk, das eigentliche, ist schon geeint – und wenn es das nicht ist, dann deswegen, weil die Nation von inneren Feinden durchsetzt ist. Gegen Bidens Verheißung eines gemeinschaftlichen Ideals setzt Trump die harte Realität dieses Ideals als gewaltsam durchgesetzte Ordnung. Gegen die Zumutung einer Abstraktion von allen gegensätzlichen Auslegungen eines echt amerikanischen Nationalismus setzt Trump die Forderung, sich dabei gefälligst zu entscheiden, also nicht einer geheuchelten Versöhnung das Wort zu reden, die bloß zu weniger Jobs, mehr Chaos, weniger Siegen und mehr Verbrechern im Land führt, sondern einer herrschaftlichen Säuberung des Gemeinwesens im Trump’schen Sinn zu applaudieren. Dann steht dem Erfolg der Nation nichts mehr im Wege – der Einheit also auch nicht. In seiner Abschlussrede sagt es Trump selbst am besten: Wissen Sie, der Erfolg bringt die Menschen zusammen – vielleicht besser als alles andere.

VII. Enthüllungen ohne Ende, die Trump nicht umbringen, sondern seinen Willen zum Sieg nur stärker machen

Nach dem republikanischen Nominierungsparteitag genießt Trump einen kurzen Aufschwung in den Umfragen, was seine Gegner in der liberalen Presse dazu veranlasst, ihren eigenen Beitrag zum Kampf um die Seele der Nation zu leisten, indem sie mit dreckiger Wäsche des Präsidenten an die Öffentlichkeit treten.

Umtriebige Journalisten bei The Atlantic tun zahlreiche Quellen auf, die gehört haben wollen, dass Trump Amerikas Soldaten, erst recht die Gefallenen und Gefangenen unter ihnen, für suckers (Trottel) und losers hält. Das rückt sein Dauerlob für das großartigste Militär der Welt und die schönen Soldaten – so schön sowie sein Bestehen darauf, dass auch das letzte Sportereignis nicht abgehen darf, ohne dass alle Anwesenden bei der Nationalhymne auf beiden Füßen stehen, auch und gerade aus Respekt für die Soldaten, in ein schiefes Licht. Das alles ist als Heuchelei entlarvt, weil der Präsident die Soldaten im Privaten und im Herzen nicht so richtig lieb hat. Das Schielen durch das Schlüsselloch macht offenbar blind für das Offensichtliche: Trumps penetrantes Besingen der Großartigkeit seiner menschlichen Machtprojektoren ist schon immer mit dem Anspruch einhergegangen, gefälligst Erfolge einzufahren. Die Soldaten in allen Ehren, zum Umkommen und Gefangenwerden werden sie aber nicht ausgebildet, erst recht nicht bei Einsätzen, die der Nation nach Trumps Ermessen nichts nützen. Für die Demokraten tut sich damit jedenfalls die Chance auf, an entscheidender Stelle eine Lanze für die Seele Amerikas zu brechen: Sehr großzügig schenken sie Lob, Preis und Dank dafür, dass diese tapferen und treuen Menschen ihr Leben in den Dienst der nationalen Sache stellen, deren zivile Befehlshaber mit ihnen nun wirklich nicht zimperlich verfahren. Sie geben ihnen bekanntlich nicht nur die weltbeste Ausrüstung, sondern auch reichlich Gelegenheit, ihre Tugenden zu demonstrieren. Und ob sie dabei umkommen oder nicht, in jedem Fall dürfen sie sich in den Dienst der übelsten Antikritik stellen: Wie können Amerikaner nur – und der Commander-in-Chief erst recht – amerikanische Kriege missbilligen, wo ihre großartigen ‚boys & girls‘ ihr Leben aufs Spiel setzen?

Mit der Wiederholung seines Mantras Fake News! hat sich die Sache für Trump schon mehr oder weniger erledigt – auch deswegen, weil das Wahlvolk gar nicht die Zeit bekommt, sich zu fragen, ob es die Geschichten überhaupt glauben, geschweige denn sich aufregen soll. Kaum eine Woche später kommt nämlich schon die nächste Enthüllung: Reporter-Legende Bob Woodward von der Washington Post – einer der Journalisten, die vor einem halben Jahrhundert die Watergate-Affäre aufgedeckt haben – veröffentlicht ein Interview mit Trump, in dem klar wird, dass er ein paar Wochen früher als bekannt von der Gefährlichkeit des Coronavirus Kenntnis hatte und die Gefahr trotzdem heruntergespielt hat. Mit einem knappen Verweis auf Winston Churchill, der die damaligen Bombenangriffe der Deutschen ja auch bewusst heruntergespielt hat, weil er den Kampfgeist des Volkes nicht untergraben wollte, kann Trump die Sache zwar nicht wirklich vom Tisch wischen, aber darum geht’s auch nicht. Schon der Vergleich mit Churchill zeigt, dass er die Gelegenheit nutzt, seine Kampffront gegen die Demokraten offensiv auszubauen: Der Kampf gegen Corona ist schließlich eine Frage der nationalen Ehre, und was machen die Demokraten? Sie knicken vor dem Feind ein. Als Trump dann Ende des Monats selbst vom Virus infiziert wird, sieht es eine knappe Woche lang nicht gut aus für das Narrativ des Präsidenten; als er eine Woche später über den Berg ist, steht aus seiner Sicht fest: Er bekommt schon wieder in allen Punkten recht. Krank geworden ist er ja nur dadurch, dass er sich dem Virus tapfer gestellt hat. So erfährt er auch am eigenen Leib, was er sowieso schon wusste, was aber die sogenannten Experten mit ihrem bloßen Schulwissen nie verstehen wollten: Das Virus ist schwach, Trump ist stark, Amerika ist es also auch. Das veranlasst den Präsidenten zu einer Auffrischung des Kampfgeists seines Volkes, die es mit Churchill durchaus aufnehmen kann: Habt keine Angst vor Covid. Lasst es nicht euer Leben beherrschen. Es kann stattdessen seine vertraute und bewährte Lebenslüge vorwärtsblickender Selbstverantwortung, mit der es sich an alles anpasst, was ihm zugemutet wird, auch auf diese Herausforderung übertragen.

Zwei Wochen später nimmt die New York Times einen neuen Anlauf: Sie veröffentlicht die Steuererklärung, deren Offenlegung Trump ewig verweigert hat, was in den Augen seiner Gegner schon seit Jahren die Gewissheit reifen lässt, dass die Dokumente wohl seine endgültige Entlarvung enthalten. Es kommt heraus, dass er es dank ziemlich beeindruckender Buchhaltungstechniken schafft, einerseits sehr wenig an den Fiskus zu zahlen, andererseits sehr viele Verluste zu kassieren, ohne dabei pleitezugehen – jedenfalls vorerst. Nur bleibt nach der Veröffentlichung unklar, worin genau der Skandal denn besteht: Soll nun bewiesen sein, dass Trump zu den unanständigen Reichen gehört, weil er zwar sehr vermögend ist, aber kaum etwas an den Staat abdrückt, was man sich irgendwie als ein Vergehen am eigenen Geldbeutel vorstellen soll? Oder soll bewiesen sein, dass sein Geschäftserfolg bloß simuliert ist, was seinen Kritikern deswegen Genugtuung verschafft, weil Trumps endloser Angeberei damit der Boden entzogen und eines seiner stärksten Wahlargumente entwertet wäre? In jedem Fall ist auffällig, dass auch dieser Skandal es nicht schafft, dem Präsidenten einen zusätzlichen Schlag in den Umfragen zu verpassen. Das liegt wohl erstens daran, dass kein Amerikaner hier etwas erfährt, was er nicht schon vermutet hat – diesem Volk liegt die Bewunderung für einen gerissenen Konkurrenten viel näher als der Sozialneid, das Laster der Schwachen. Zweitens bekommt es auch in diesem Fall kaum Zeit, sich angesichts der hiermit aufgeworfenen Fragen der patriotischen Moral zu entscheiden, worüber genau es sich empören soll. Denn einige Tage später sorgt Trump für neues Material: In der ersten TV-Debatte führt er sich unmöglich auf, lässt seinen Konkurrenten nicht zu Wort kommen, erkennt ihn als würdigen Konkurrenten überhaupt nicht an und gibt einer rechtsradikalen Schlägertruppe den Hinweis, sie solle sich für den Wahltag bereithalten. Danach ist von der Steuererklärung schon kaum mehr die Rede, von seiner empörenden Art umso mehr, ohne dass die Umfragewerte weiter nach unten zeigen würden.

Man merkt: Die Sache hat ein gewisses System. Zwar sorgen alle solche Enthüllungen für einige Aufregung, aber nichts davon bringt Trump in Bedrängnis – eher löst der nächste Skandal bloß den letzten ab. Vor allem fällt dabei auf, wie gut Trump es versteht, aus allen derartigen Offensiven seiner Gegner eine Beweiskette zu verfertigen, die genau den Befund bestätigt, dem er seine ganze politische Existenz verdankt. Solche Angriffe haben ihn überhaupt einmal dazu motiviert, das Amt des Präsidenten anzustreben; auch dazu, seinen ersten Wahlkampf und seine Amtszeit als Anti-Establishment-Kampf abzuwickeln und damit nun in eine weitere Runde zu gehen. Jeder neu aufgedeckte Skandal beweist vor allem die verbissene Feindschaft seiner Gegner, näher: ihre obsessive Entschlossenheit, einen erfolgreichen Geschäftsmann und einen gewählten Präsidenten kleinzukriegen, also die Stärke und die Stimme des Volkes zu entwerten. Insofern reiht sich damit bloß ein Grund an den nächsten, den Gegnern des Lieblingspräsidenten des Volkes das Handwerk zu legen – und damit auch stets eine neue Gelegenheit, zu demonstrieren, dass dieser Amerikaner vor keinem Gegner in die Knie geht. Ein ums andere Mal beweist er, dass sein Wille zum Sieg an keiner Stelle abnimmt, sondern bei allen Anfeindungen zunimmt, er insofern der verlässlichste Präsident ist, den das amerikanische Volk je gekannt hat. Er hält auch dann sein Wort, wenn es ihm persönlich ans Eingemachte geht. Für ein Volk, das zu der Gewissheit gelangt ist, dass es ohne die Erledigung seiner Feinde nicht weitergehen kann, ist ein solcher Präsident der einzig richtige.

VIII. Kalifornien brennt, der amerikanische Traum und die amerikanische Geschichte sind in Gefahr – der Kampf um die Seele Amerikas geht weiter

Die Waldbrände in Kalifornien und die Antirassismus-Proteste geben den Kandidaten Gelegenheit zu einem kurzen, humoristischen Intermezzo, das zeigt, wozu demokratische Politiker fähig sind, wenn sie einmal in Fahrt kommen. Dann sind nicht einmal Waldbrände davor gefeit, unter die Logik des demokratischen Wahlkampfs subsumiert zu werden. Mitte September fliegt Trump nach Kalifornien, um sich als oberster Chef Amerikas vor Ort blicken zu lassen, nur um dort ganz Amerika öffentlich die Schuldigen für die Katastrophe zu nennen. Es sind dieselben, die er daheim in Washington zurückgelassen hat. Nach seiner Erkenntnis liegen die Brände letztlich nämlich daran, dass die Kehrwoche in nordkalifornischen Wäldern nicht ordentlich eingehalten worden ist, was wiederum darauf zurückzuführen ist, dass der Gouverneur ein Demokrat ist. Lässt man diese Typen an der Macht, dann herrscht Unordnung im Wald und auf der Straße, dann brennt es eben überall...

Biden, doch kämpferisch, schlägt mit einer interessanten Retourkutsche zurück:

„Wenn wir einem Klima-Brandstifter vier weitere Jahre im Weißen Haus schenken, dürfen wir uns nicht wundern, wenn noch mehr von Amerika brennt, wenn noch mehr von Amerika unter Wasser ist... Wie viele Vororte werden in solchen Bränden zerstört werden, wenn es noch vier Jahre vom Klima-Leugner Trump als Präsident gibt? Wie viele Vororte werden überflutet, wie viele Vororte werden durch Wirbelstürme weggefegt?“

Das eine ist, dass er gewisse klimatische Verwüstungen eines amerikanisch geführten globalen Kapitalismus dem letzten staatlichen Manager und Cheerleader in die Schuhe schiebt, sodass auch hier nur echte Führung – jetzt! , nämlich seine, den Weltuntergang verhindern kann. Das andere ist, dass er dabei wiederholt auf gefährdete amerikanische Vororte verweist. Das hat seine eigene Bewandtnis: Dort hat Trump seine nächste Front im Kampf um die Seele der Nation aufgemacht; er profiliert sich seit einiger Zeit als Schutzengel des ‚suburban lifestyle dream‘, insbesondere der ‚suburban housewives‘. Das tut er vornehmlich durch die Bekundung seiner Entschlossenheit, alle Anstrengungen der Demokraten zu vereiteln, die Vororte abzuschaffen . Er hegt den nicht ganz gerechten Verdacht, die Demokraten – zumindest deren linker Flügel, wenn Sleepy Joe den entsprechenden Vorstoß verschläft – könnten sich für neue Sozialwohnungen und preiswerte Eigenheime auch in den Vororten einsetzen. Mit Trump wird es das definitiv nicht geben: „Es werden keine Wohnungen für Menschen mit niedrigem Einkommen [‚low-income housing‘] in die Vororte eindringen.“ Sonst wären die Schutzburgen dahin, in die deren Bewohner einmal geflohen sind; dann gäbe es, zum einen, eine zumindest teilweise Entwertung des Vermögens der dortigen Hausbesitzer, also der sicheren Basis, auf der sie sich auf die übliche Weise verschulden müssen, und zum anderen hätten sie, so die übliche Lesart, genau das Gesindel wieder vor der Tür, das sie durch den Umzug in die Vororte einmal loswerden wollten. Welches Gesindel damit im Besonderen gemeint ist, ist für jeden guten Amerikaner klar – und wer es nicht schon weiß, kriegt es von aufmerksamen Journalisten zur besten Sendezeit noch einmal gesagt. Trump spricht mit ‚low-income housing‘ das traditionelle ‚Codewort‘ aus, mit dem jahrelang die ethnische Durchmischung der Vororte verhindert worden ist, damit es dort in übertragenem und wörtlichem Sinne nicht zu bunt wird.

Dieser ‚suburban dream‘, mit dessen Verteidigung Trump sich den ‚suburban housewives‘ anempfiehlt, ist – so viel kennt auch der Durchschnittseuropäer zumindest aus dem Fernsehen, wenn nicht gleich aus seinem eigenen Streben – der Inbegriff des amerikanischen Traums eines Aufstiegs aus der Arbeiterklasse in die ‚middle class‘. Deren Mitglieder sind zwar nach wie vor lohnabhängig, schlagen sich mit allen dazugehörigen Schwierigkeiten herum, pflegen den dazugehörigen Stolz als tugendhafte Arbeitstiere; sie sind aber zugleich echte Eigentümer und pflegen auch den dazugehörigen Stolz als eigenständige Wesen, weil sie ihr in aller Abhängigkeit verdientes Geld an einen Geschäftemacher weniger abdrücken und ihr trautes Heim so pflegen können, wie sie es wollen. Ein eigenartiger Traum ist das schon, nämlich eine sehr negative Fassung von Wohlstand. Sie besteht zum einen in der Sicherheit vor den üblichen Schikanen des Wohnens zur Miete wie vor dem üblichen Verbrechen in den Innenstädten; ersetzt wird das durch ein eigenes Haus und eine erste, zweite, dritte ... Hypothek. Sie besteht zum anderen in geregelter, ja gestanzter Normalität . In der berühmt-berüchtigten Gleichförmigkeit der Vororte, in denen arrivierte Amerikaner ihre Freiheit und Eigenständigkeit auskosten, haben deren Bewohner ein sehr plastisches, absolut sicheres Kriterium dafür, dass sie es geschafft haben, einem gültigen Maßstab von Erfolg gerecht geworden zu sein – wie sie sich dafür aufreiben, gehört zum Selbstbild dazu. Die stereotype Verlogenheit dieses Selbstbilds des bescheidenen, anständigen, selbst erarbeiteten Erfolgs bietet Kulturkritikern und Freiheitsidealisten auf beiden Seiten des Atlantiks sehr viel Stoff zum Naserümpfen; die traurige materielle Realität, die sie da vor sich haben, finden sie eben ästhetisch öde; das buntere Elend der Innenstädte und der zweifelhafte Genuss eines echten Ausstiegs bieten mehr Abwechslung.

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Apropos American Dream:

„In Amerika aufzuwachsen, bedeutet, in einem Land zu leben, in dem alles möglich ist, in dem jedermann aufsteigen kann und in dem jeder Traum wahr werden kann – und das alles wegen der unvergänglichen Prinzipien, die unsere Gründerväter vor beinahe zweieinhalb Jahrhunderten niedergelegt haben.“

Das hat man schon mal gehört, ja. Trump entdeckt darin wieder ein geeignetes Thema, mit dem er die Frontlinie zwischen sich und den gottlosen demokratischen Gegnern unterstreichen kann. Anlässlich eines Besuchs im Nationalarchiv und der Verkündung einer neuen Bildungsoffensive präsentiert er sich als Schutzengel auch der großartigen Erzählung, die Amerikaner von ihrer Nationalgeschichte pflegen:

„Heute habe ich die Freude, verkünden zu dürfen, dass ich bald mit einer ‚executive order‘ [präsidentielles Dekret] eine nationale Kommission zur Förderung patriotischer Bildung einsetzen werde. Sie wird die ‚1776 Commission‘ heißen [benannt nach dem Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung]. Sie wird unsere Lehrkräfte dazu anregen, unsere Kinder das Wunder der amerikanischen Geschichte zu lehren, und sie wird die Planung der Feierlichkeiten für den 250sten Jahrestag unserer Gründung übernehmen. 250 Jahre – stellt euch das vor!“

Der Feind, den er hier bekämpft, treibt sein Unwesen in den Korridoren der amerikanischen Kultur. Zum festen Bestandteil dieser Kultur – zum Lehrplan in vielen Schulen, zum Leseangebot in vielen Buchhandlungen, zur Film- und Podcastwelt – gehört es inzwischen auch, das Offensichtliche zur Kenntnis zu nehmen: So richtig hat das Selbstbild der Nation nie gestimmt, ziemlich oft ist das traumhafte Versprechen nicht eingelöst worden, schon gar nicht für diejenigen, die schwarzer Hautfarbe sind. Außerdem hat Trump es mit den Black lives matter! -Protesten zu tun, die mit den Symbolen und Legenden der amerikanischen Vergangenheit nicht gerade behutsam umgehen, erst recht, wenn sie in Bronze gegossen sind und auf öffentlichen Plätzen herumstehen: Die linken Aufstände und das Chaos sind das unmittelbare Resultat von Jahrzehnten linker Indoktrinierung in unseren Schulen.

Als Beispiel für den linken Ungeist nennt Trump das neulich gegründete ‚1619 Project‘ der New York Times (benannt nach dem Ankunftsdatum der ersten Sklaven auf amerikanischem Boden), das darauf zielt, die Geschichte Amerikas neu zu erzählen, indem es die Konsequenzen der Sklaverei und die Beiträge schwarzer Amerikaner ins Zentrum des nationalen Narrativs rückt . Das ist auch eine ziemlich perfekte Zusammenfassung dessen, was unter dieser Überschrift dann an historischen Fakten und Erzählungen kommt und was überhaupt den Kern der inzwischen sehr voluminösen kritischen amerikanischen Geschichtsschreibung ausmacht. Lehrreich ist das alles schon – einerseits. Geradegerückt wird nicht wenig Propaganda über die glorreiche Geschichte der USA, die die allermeisten in ihrer Bildungs- und Bürgerkarriere erfahren dürfen. Andererseits ist das, worauf die Projektbetreiber hinauswollen, vor allem ein Lehrstück darin, dass eine kritische Erzählung der nationalen Geschichte nicht dasselbe ist wie eine Kritik an der Nation. Im Gegenteil.

„Die Beiträge [der Schwarzen] zum Aufbau der reichsten und mächtigsten Nation der Erde waren unauslöschlich... Schwarze Amerikaner, genauso wie diese in Alabaster gemeißelten Männer in der Hauptstadt des Landes, sind die wahren Gründerväter...In jedem Krieg, den diese Nation je geführt hat, haben schwarze Amerikaner gekämpft – der Anteil der Schwarzen, der im Militär dient, ist heute größer als der aller anderen ethnischen Gruppen... Obwohl ihnen die allen versprochene Freiheit und Gerechtigkeit gewaltsam vorenthalten wurde, haben schwarze Amerikaner an das amerikanische Credo fest geglaubt. Durch Jahrhunderte des schwarzen Widerstands und des Protests haben wir dem Land dazu verholfen, seinen Gründungsidealen gerecht zu werden. Und zwar nicht nur für uns selbst: Der Kampf der Schwarzen um Rechte hat den Weg für jeden anderen Kampf um Rechte frei gemacht – für Frauen, Schwule, Einwanderer und Behinderte... Ohne den idealistischen, mühsamen und patriotischen Kampf schwarzer Amerikaner würde unsere Demokratie heute ganz anders aussehen – es wäre womöglich überhaupt keine Demokratie... Über Jahrhunderte haben weiße Amerikaner versucht, das ‚Negro problem‘ zu lösen... Wie wäre es, wenn Amerika endlich, im 400. Jahr dieser Nation, einsehen würde, dass wir noch nie das Problem gewesen sind, vielmehr die Lösung?... Uns wurde einmal gesagt, dass wir wegen unserer Knechtschaft nie Amerikaner sein könnten. Doch gerade wegen unserer Knechtschaft sind wir amerikanischer als alle anderen geworden.“ (Nikole Hannah-Jones, New York Times, 14.8.19)

Ein beeindruckender Beitrag zur Eingemeindung der Schwarzen in die patriotische Selbstliebe der amerikanischen Nation, zur Versöhnung aller Bürger, gerade der Schwarzen, mit ihrem Land in Geschichte und Gegenwart: Man rückt erst eine Geschichte der Unterdrückung, der Diskriminierung und des Kampfs der Schwarzen dagegen in den Vordergrund, um das alles in die wichtigsten Beiträge der unterdrückten Schwarzen zu Reichtum, Macht und demokratischer Schönheit derselben Nation umzudeuten. Affirmativer, was das Selbstverständnis der Nation heute betrifft, könnte eine Kritik kaum sein, könnte man meinen. Es hilft nur nichts. Denn auch eine affirmativ gemeinte kritische Revision geht nicht ohne Kritik ab; die Sünden der Nation müssen schon ans Licht, damit die Opfer in die großartige Gemeinde aufgenommen werden können. Ohne Relativierung der offiziellen Selbstfeier und der offiziellen Lichtgestalten ist eine wahrhaft inklusive Feier der Nation nun einmal nicht zu haben. Und das ist aus Trumps Sicht einfach untubar. Eine derartige Aufnahme der Schwarzen in die Gemeinde der Glorreichen spaltet diese nur:

„Kritische Rassentheorie, das 1619 Project und der Kreuzzug gegen die Geschichte Amerikas sind toxische Propaganda, ideologisches Gift. Wenn man sie nicht verbannt, wird sie das zivile Band zwischen uns auflösen. Sie wird unser Land zerstören.“

Es wird schon so sein, dass Trump da mit uns und unserem Land vor allem eine sehr bestimmte Klientel im Auge hat. Aber es ist eher schon wieder so, dass er nicht als Rassist mit einem Anspruch auf ‚white supremacy‘, sondern eher als Anti-Antirassist auftritt. Und das ist wiederum nicht einfach eine abgefeimte Tour; ihm liegt durchaus das ganze Gemeinwesen am Herzen. Was ihm am Antirassismus nicht passt, ist nicht einfach der Angriff auf die Altvorderen, sondern seine Wirkung auf die Nation heute:

„Die Narrative über Amerika, die die radikale Linke propagiert und die in den Straßen skandiert werden, ähneln in auffälliger Weise der antiamerikanischen Propaganda unserer Feinde, weil beide Gruppen wollen, dass Amerika geschwächt, verhöhnt und total herabgesetzt wird.“

Dagegen holt Trump gleich zwei Dekrete aus der Tasche: Er verbietet die Verbreitung von ‚kritischer Rassentheorie‘ in allen Fortbildungen des föderalen öffentlichen Dienstes; und er kündigt die Einrichtung eines großen Parks in der Hauptstadt an, in dem die großartigsten Amerikaner, die je gelebt haben , in aller Sicherheit als Statuen herumstehen können.

*

Einige Tage später stirbt die liberale Lichtgestalt am Obersten Gericht, Ruth Bader Ginsburg – eine Lichtgestalt deswegen, weil sie erstens als Bollwerk bei der Verteidigung des Rechts auf Abtreibung gewirkt hat und zweitens mithilfe eines in Amerika berühmt gewordenen Fitnessprogramms versucht hat, so lange durchzuhalten, bis ein liberaler Präsident wieder an die Macht kommt, um einen liberalen Nachfolger am Obersten Gericht zu ernennen. Ihr Tod gibt dem Präsidenten die Gelegenheit, einen weiteren Sieg für seine konservativen Wähler einzufahren und eine neue, junge konservative Richterin zu ernennen, die dafür sorgen könnte, dass das Oberste Gericht definitiv und langfristig kein sicherer Hafen mehr ist für liberale Sitten und Sozialvorstellungen. Und falls die konservative Wählerschaft für den Dauerbeschuss der Demokraten gegen die Unmoral des Präsidenten an der einen oder anderen Stelle anfällig geworden sein sollte, führt Trump ihr hiermit vor, wie sehr ihr Kampf um die Seele Amerikas – insbesondere um die Seelen der Ungeborenen und aller Opfer, die von ‚bad hombres‘ umgebracht worden sind, weil kein ‚good guy‘ mit einer Waffe zur Stelle sein konnte – an seinem rücksichtslosen Siegeswillen hängt. Außerdem kann er sich damit rechtzeitig auf die juristische Schlacht um den Wahlausgang vorbereiten, der sich im Laufe des Monats auch noch abzeichnet...

IX. Das Finale: Präsidiale Siegesgewissheit bis an die Schmerzgrenze des demokratischen Systems

Je näher der Wahltermin kommt, umso mehr Siegesgewissheit strahlt der Präsident aus. Nachdem er das bereits seit vier Jahren tut, braucht es und bietet er in dieser demokratischen Disziplin deutlich mehr, als was der in Wahlkämpfen erfahrene Bürger so kennt. Trump applaudiert nicht nur der eigenen Vorfreude auf seine zweite Amtszeit und den eigenen Fans, die sich – wie es engagierte Wähler allemal tun – von der Aussicht betören lassen, mit ihrem Votum am Ende wieder auf der Siegerseite zu stehen, mit der sie in ihrem Alltag oft genug so verzweifelt wenig zu tun haben. Der Präsident trumpft auf mit einer vorgezogenen Absage an jedes andere Wahlergebnis als seinen Sieg: Er provoziert Fragen danach, was er im Fall einer Niederlage zu tun gedenke, ob er einen eventuellen Erfolg des verachteten Sleepy Joe anerkennen würde – um klarzustellen, dass ein problemloser Abgang von ihm nicht zu haben sei, weil ein derartiges Resultat erstens gar nicht und zweitens schon gar nicht rechtmäßig zustande kommen könne. Seine Siegesgewissheit nimmt allen Ernstes die Form der Ankündigung einer bereits feststehenden Tatsache an.

Für seine Kritiker reiht sich diese Art, einen angestrebten Erfolg als eingetretenes Faktum zu verkünden, logisch ein in ihre Buchführung über einen immer weiter anschwellenden Strom von Angebereien, die sich um Tatsachen nichts scheren, vielmehr die Kunst des plumpen Unsinns und der schamlos offenen Lüge pflegen, um die unausbleiblichen Richtigstellungen als die zu erwartenden Lügen der Gegenseite zu denunzieren, die dem Schwindler recht geben. Fortgeschrieben wird die Geschichte vom selbstverliebten Egomanen, der in völlige Realitätsverweigerung abgleitet, nämlich nicht wahrhaben will, dass immer mehr Umfragen seine Wiederwahl unwahrscheinlich erscheinen lassen. Beim Genuss psychologischer Gehässigkeiten gegen Trumps Persönlichkeit bleibt es aber nicht. Mit jeder Kundgabe aus dem Weißen Haus, ein falsches Wahlergebnis werde man nicht hinnehmen, sondern zu korrigieren wissen, wird die Sorge lauter, der Präsident versündige sich am Allerheiligsten der Demokratie: der Institution der Ermächtigung durch freie Wahlen.

Da ist was dran. Aus dem Nichts eines individuellen Wahns kommt Trumps Absage an die Möglichkeit einer regulären Wahlniederlage aber nicht. Was er ausreizt, ist der Widerspruch, der in der schönsten Errungenschaft der demokratischen Staatsform steckt: zwischen dem Zweck der freien Wahl, der Ermächtigung regierender Machthaber, und der Methode , dem Votum eines wankelmütigen Publikums.

1. Die Mission

Wer sich um die Übernahme der im höchsten Staatsamt institutionalisierten Herrschaft bewirbt, der hat eine politische Mission. Der hat mit seiner Nation etwas vor, etwas mehr oder weniger Großartiges, und will dafür die Zustimmung der Bürgerschaft, die ihm dafür als Manövriermasse dienen soll. Das leistet der Erfolg in einer freien Wahl; das ist die für die Kandidaten positive Seite an dem Verfahren, das ihre Konkurrenz um die Macht entscheidet. Die negative Seite ist die, dass der Bewerber sein politisches Vorhaben als Alternative neben das seines Gegenspielers stellt und es so, als wäre es nur ein unverbindliches Angebot, der Willkür einer letztlich unberechenbaren Wählerschaft unterwirft. Das Verfahren relativiert die Mission, die dadurch in Kraft gesetzt werden soll; es verlangt von den Kandidaten die Selbstrelativierung des Herrschaftsprogramms, für das sie ihre Nation funktionalisieren wollen. Das ist ein Widerspruch, der sich nur dann auflöst, wenn die gegnerischen Parteien die Mission, mit der sie zur Wahl antreten, und zwar die eigene wie die konkurrierende, als Varianten einer großen Sorge um Macht und Größe der Nation einordnen und anerkennen, in der sie sich einig sind. Oder objektiver ausgedrückt: wenn für die politischen Gegner eine grundsätzliche Staatsräson feststeht, die für ihre gegensätzlichen Positionen Raum lässt. In funktionierenden Demokratien hat man sich deswegen daran gewöhnt, dass feindliche politische Positionen nach erfolgter Wahl einander tolerieren, der Verlierer den Sieger als Sachwalter der nationalen Sache anerkennt und der Sieger dem Verlierer den Status einer oppositionellen Alternative zubilligt. Dass es so kommt, ist geradezu das Kriterium einer intakten Demokratie.

Worauf Trump im Finale seines Wahlkampfs offensiv besteht – und was er seit seinem Amtsantritt wenigstens einmal pro Woche demonstrativ klargestellt hat –, das ist die Tatsache, dass für ihn sein America first! ein solches relatives, zur Koexistenz mit dem politischen Willen der Gegenseite bereites, mit den Institutionen der Vermittlung gegensätzlicher Standpunkte vereinbares Anliegen nicht ist. Den demokratischen Widerspruch zwischen dem Inhalt, der Schicksalsfrage der Nation, wie er sie definiert, und den Methoden des Erwerbs und der Ausübung politischer Macht, die über der Sache stehen und sein politisches Programm relativieren, löst er in die andere Richtung auf: Die Wahl gibt entweder seiner Mission recht, und zwar uneingeschränkt, oder sie hat als sichere Methode, dem Volk zu seinem Recht und seiner rechten Führung zur Herrschaft zu verhelfen, versagt. [9]

2. Der Mann

Trump ist der Musterfall eines Politikers, der seine Mission, „America great again“ zu machen, nicht nur hat, auch nicht nur repräsentiert, sondern höchstpersönlich ist . Das ist ein Übergang ins Größenwahnsinnige; wirklich undemokratisch ist aber auch der nicht; im Gegenteil. Gerade im Heiligtum der freien Wahl stellt die Demokratie konkurrierende Herrschaftsprogramme in Gestalt von Kandidaten, personifiziert, zur Abstimmung. Darin ist eingeschlossen, dass die Ermächtigung durchs Volk dem Sieger nicht nur gestattet, sondern – im Rahmen der Befugnisse seines Amtes, die im Falle der US-Präsidentschaft ziemlich weit reichen – geradewegs aufgibt, die eigenen Willensentscheidungen zu Richtlinien für das Tun und Lassen seines Volkes und zum politischen Schicksal seiner Nation zu machen und das nach eigenem Ermessen Nötige durchzusetzen. Dass die Demokratie diese Ermächtigung befristet, dass jede neue Wahl die Identität der Person mit dem Machtwillen der Nation bestätigen, aber auch wieder auflösen kann, ist und bleibt ein Widerspruch, hat als solcher im politischen Urteilsvermögen einer demokratischen Bürgerschaft übrigens auch seinen Platz: Gerade in prächtig funktionierenden Demokratien gilt es eher als Schwäche, wenn ein gewählter Machthaber sich schlicht abwählen lässt, bloß weil die Verfassung es so will, oder gar mit einer Rücktrittsankündigung – im Fall der USA wäre das der vorzeitige Verzicht eines Präsidenten auf eine Wiederwahl – zur „lahmen Ente“ degradiert; führungsstarke Persönlichkeiten nehmen die demokratische Rechtslage persönlich, sehen in der neuen Wahl nur die Chance auf Bestätigung im Amt, bestehen auf ihrem „Amtsbonus“ – auch so eine schöne demokratische Errungenschaft –; schon durch das Restrisiko einer Abwahl finden sie sich persönlich und politisch beleidigt. Zu einer ehrgeizigen Führernatur gehört auf alle Fälle das Bemühen, Rechtslage und Institutionen so auf sich zuzuschneiden, dass der maßgebliche Herrschaftswille dadurch bedient, nicht beschränkt wird. Die Grenze zu dem, was Demokraten „Autokratie“ nennen, ist ziemlich unbestimmt, jedenfalls sehr dehnbar.

Als gewählter Präsident ist Trump hier keine Kompromisse eingegangen. Alle Institutionen, gerade die altehrwürdigen, die sich irgendwie vermittelnd, also relativierend zwischen seinen politischen Willen und dessen praktische Umsetzung, im Land und weltweit, schieben wollten und könnten, hat er beiseite geschoben; Ministerien, Behörden und auch die nationale Gerichtsbarkeit hat er nach Kräften durch die Einsetzung willfährigen Personals für sich funktionalisiert; den Einfluss oppositioneller oder auch nur widerstrebender Kräfte hat er u.a. durch ein Regieren per „Executive Order“ ausgeschaltet. Und stets hat er auf eine wählerwirksame Inszenierung Wert gelegt: Die den Democrats zugeneigten Elemente im politischen Betriebssystem des Landes hat er als volksfeindliches „Establishment“ verächtlich gemacht; die eigene Machtfülle hat er mit der Unterzeichnung unmittelbar wirksamer Dekrete vor laufender Kamera und mit unterwürfigen Hofschranzen im Hintergrund zur Schau gestellt; seine Fans hat er via Twitter zu bevorzugten Teilhabern seiner hoheitlichen Ad-hoc-Entscheidungen über das Schicksal der Nation und der Welt und zu den Erstempfängern seiner politischen Philosophie gemacht. Das Gebot der Demokratie, im Sinne der trennbaren Verbundenheit von Amt und Person einen Restrespekt vor politischen Gegnern zu wahren, weil die ja immerhin an die Stelle des Amtsinhabers treten können, hat er nicht bloß abgelehnt, sondern als Winkelzug ohnmächtiger Feinde zur Schwächung seiner, also der Macht Amerikas zurückgewiesen; die einschlägigen Sitten der Zurückhaltung und der Höflichkeit hat er als die Heuchelei blamiert, die sie sind, und durch die Ehrlichkeit plumper Beleidigung ersetzt. Nur folgerichtig erklärt er am Ende, zum finalen Höhepunkt seines Wahlkampfes, die von seinen Gegnern angestrebte Möglichkeit, mit einer Mehrheit der Wählerstimmen zwischen ihn, Amerikas Größe und den wahren Volkswillen einen Keil zu treiben, für unmöglich, jeden Versuch in dieser Richtung zu einem Beweis dafür, dass Amerika-Hasser ihn, seine Anhänger und die Nation betrügen wollen.

Eine undemokratische Entgleisung ist allerdings auch das nicht. Es ist Trumps Art, den Widerspruch aufzulösen, dass das Verfahren der persönlichen Ermächtigung das Risiko der Entmachtung einschließt. Das Institut der freien Wahl hat ihn an die Macht gebracht, ihn als die leibhaftige Räson des America first! beglaubigt und damit ihren Zweck erfüllt; fiele die fällige Neuwahl gegen ihn aus, hätte die Institution vor diesem ihrem Zweck versagt. So versteht er Sinn und Zweck der Demokratie; anders bleibt sie ihm, und wahrlich nicht nur ihm, als Form bürgerlicher Herrschaft unverständlich.

3. Die Fans

Die wahlberechtigten Adressaten quittieren Trumps Wahlkampf, soweit feststellbar, mit starker Zustimmung; speziell mit dem Verdikt, ein Wahlergebnis gegen ihn könne unmöglich wahr und nur gefälscht sein, kommt der Mann offenbar gut an. Trump feindlich gesinnte Beobachter schließen daraus gern auf demokratische Unreife seiner Anhängerschaft; ganz im Sinn ihres über die Jahre gepflegten Unverständnisses dafür, dass die Fans des Präsidenten dessen kontrafaktische Erfolgsmeldungen und verlogene Pöbeleien gegen angebliche innere Feinde eines starken Amerika für bare Münze nehmen und eifrig weiterverbreiten.

Tatsächlich bietet die auf Trump eingeschworene Wählerschaft – das zeigen zahlreiche Reportagen aus dem Hinterland – ein Musterbeispiel dafür, was Bürger an ihren Politikern schätzen und laut Demokratie-Lehrbuch auch gut finden sollen: Als größtes Plus ihres Präsidenten geben sie an, dass er tut, was er versprochen hat . Natürlich ist America first! und die Identifizierung der eigenen Person mit diesem Imperativ kein Versprechen in dem Sinn, dass sich seine Einhaltung an bestimmten Ergebnissen überprüfen ließe. Aber wenn dem Mann Tatkraft attestiert wird, auch wenn behauptete Erfolge, was die banalen Fakten betrifft, erschwindelt sind, dann kommt es darauf offenbar auch nicht an; seinen Wählern nicht, und nach den Maßstäben der Demokratie tatsächlich auch nicht. Versprochen ist ja nicht mehr und nicht weniger als der unerschütterliche Wille des obersten Chefs, alle patriotischen Sehnsüchte des einfachen Volkes wahr zu machen, worauf auch immer die sich im Einzelnen richten; und wenn dieser Wille sich durch widrige Resultate nicht aus der Bahn werfen lässt, vielmehr seine Unerschütterlichkeit dadurch unter Beweis stellt, dass er Erfolge maßlos übertreibt und Misserfolge schlicht abstreitet, dann macht er eben damit genau dieses Versprechen wahr. Dann beweist der Machthaber die Ehrlichkeit seines Erfolgswillens gerade dadurch, dass er sich die Freiheit nimmt, sogar Fakten diesem Willen und seinem Machtanspruch zu unterwerfen und – ideell, solange die Realität sich noch sperrt – anzupassen. Tatsachen zur Interpretationsfrage zu machen und die Alleingültigkeit der eigenen Interpretation zu behaupten, beweist dem nicht gegen Trump voreingenommenen Publikum, dass der Chef wie versprochen den Tatsachen an den Kragen geht, um die Welt dem in ihm verkörperten amerikanischen Herrschaftswillen gemäß zu machen und so die unwiderstehliche Dominanz der Weltmacht wiederherzustellen.

Das ist Trumps banales Erfolgsgeheimnis, das er mit seiner über Realitäten erhabenen absoluten Siegesgewissheit fortsetzt. Denn genau darin folgen ihm seine wahlberechtigten Follower. Die nehmen Trump als leibhaftiges America first! und personifizierten patriotischen Durchsetzungswillen genau so ernst, wie der sich ihnen anbietet. Die demokratische Art, auf eine wahlkämpferisch dargebotene politische Mission einzusteigen, ohne sie und ihren Botschafter konsequent beim Wort zu nehmen, lehnen sie ab; das wäre der Betrug, für den ihr Chef und Vorbild nicht zu haben ist, was sie dem mit ihrer Zustimmung danken. Freilich, dem Beruf des Wählers im Sinn des demokratischen Normalfalls kommen sie damit nicht so recht nach. Denn objektiv geht es in dem politischen System, das das Verfahren der Ermächtigung zur Herrschaft über die ermächtigte Person und ihre Mission stellt, für den Wähler darum, dass er ein politisch-persönliches Angebot so gut und wichtig findet, dass er ihm zustimmt, ihm also – es geht ja um Herrschaft – Unterwerfung verspricht; gleichzeitig wird diese Zustimmung aber so gewertet, dass sein versprochener Gehorsam vom Wahlergebnis nicht abhängt, vielmehr der Herrschaft als solcher und folglich auch dem abgelehnten Wahlsieger gilt. Das ist der Widerspruch, den die Demokratie ihrem wahlberechtigten Fußvolk zumutet. Entsprechend locker stellt sich der Wähler normalerweise auch zu dem großen Heiligtum seiner Staatsform, nimmt Wahlversprechen und das Engagement für das Schicksal der Nation, das bei jeder Wahl wieder ganz enorm auf dem Spiel steht, für die Heuchelei, die es in einer friedlichen Konsens-Demokratie allemal ist, und begegnet dem falschen Sieger mit nicht mehr als einer schlechten Meinung und einem inneren Vorbehalt, den jeder Verfassungsschutz ihm als Meinungspluralismus durchgehen lässt. Dafür geben Trump-Wähler sich, wie gesagt, nicht her – was auf der anderen Seite nicht unbedingt heißt, dass Biden-Wähler Methodiker oder auch nur Praktiker der demokratisch gebotenen Konsens-Heuchelei wären. Die Zuspitzung, für die Trump mit seinem Wahlkampf nach dem Muster ‚Triumph des Willens‘ und seiner Kultur der ehrlichen Lügen gesorgt hat, macht auch aus der Parteinahme für einen Kandidaten, der im Gegensatz der Programme, der Personen und ihrer Anhänger partout keine Unversöhnlichkeit erkennen, sondern nur Amerika und Amerikaner kennen will, ein Bekenntnis, das nahe bei dem Entschluss liegt, einem erneut gewählten Trump die Anerkennung als oberster Machthaber zu verweigern. Ebendas: eine Absage an die Perspektive, von Democrats und ihrem Joe regiert zu werden, ist der Standpunkt, den der Präsident mit seiner vorgezogenen Nicht-Anerkennung eines falschen Wahlergebnisses seinen Wählern anträgt und bei ihnen abruft.

*

Dass er das tut, um sie an die Wahlurnen zu treiben und seine demokratisch einwandfreie Wiederwahl zu sichern, das ist der besondere Widerspruch, den Präsident Trump sich leistet, wenn er einerseits die Anerkennung der Gültigkeit der Wahl von seiner Wiederwahl abhängig macht und andererseits am Verfahren demokratischer Ermächtigung durch die Wählermehrheit festhält, das nun einmal das Risiko seiner Abwahl einschließt. Er will die Macht so unbedingt wie die formvollendete freie Zustimmung; oder andersherum: Er will die freie Wahl ohne die Möglichkeit der Niederlage. Und er geht davon aus, dass jeder gute Amerikaner das auch so sieht, ihm als America first! in Person seine Stimme gibt und so den Sinn einer freien US-Präsidentenwahl erfüllt. Dann löst sich jeder Widerspruch in Wohlgefallen auf; und das Wahljahr geht so schön zu Ende, wie es angefangen hat.

X. Das Ergebnis: Ein Wahlsieg ohne Verlierer

Die Kultur der unverschämten Ehrlichkeit, mit der Trump seinen Wahlkampf führt und eskaliert, verfängt. Die Zustimmung zu ihm, der Reinkarnation amerikanischer Größe, nimmt in absoluten Zahlen kräftig zu.

Nur nicht genug. Die Abneigung gegen ihn überwiegt. Joe Biden gewinnt.

Was der als Erstes aus seinem Erfolg macht, ist die Vollendung seines Wahlkampfs und die Einlösung seines großen Versprechens, den demokratischen Normalfall parteiübergreifender Konsenssuche und -findung wiederherzustellen. Der Sieger präsentiert sich als Joe, der für alle da ist; als personifizierte Heuchelei nationaler Einigkeit jenseits aller Gegensätze, welcher Art auch immer; als Gewinner, unter dessen Präsidentschaft sich keiner als Verlierer fühlen muss.

Trump liest das Verhältnis zwischen Sieg und Niederlage offensiv entgegengesetzt. Er macht nach dem Wahltag genau so weiter, wie er es vorher angekündigt hat – auf ihn ist eben Verlass –: einen Verlierer Trump gibt es nicht; definitiv nicht. Ein Ergebnis, das etwas anderes sagt, ist ungültig; genau genommen gibt es das überhaupt nicht.

Was fehlt, ist die Anpassung der Fakten an die politische Wahrheit. Daran lässt er arbeiten; mit den Mitteln, die Rechtsstaat und Demokratie in den USA in der Frage zu bieten haben. Und das sind erstaunlich viele. Nämlich erstens solche, die im Vorfeld freier Wahlen im Land der Freien die manipulative Beeinflussung von Wahlergebnissen durch zahlreiche Modalitäten des Wahlverfahrens erlauben und deswegen bei unliebsamen Ergebnissen im Nachhinein Gesichtspunkte für zweckmäßig konstruierte Zweifel an deren Legalität, eventuell sogar Anfechtungsgründe hergeben. Zum andern begründen die Umständlichkeiten der Präsidentenwahl selbst, insbesondere die Rolle der Einzelstaaten, aus denen die USA sich verfassungsrechtlich zusammensetzen, beim eigentlichen formellen Wahlakt zwar so gut wie nie realisierte, aber immerhin vorhandene Möglichkeiten zur nachträglichen Korrektur des Wählerwillens. Zur letzten Entscheidungsinstanz darüber, was der wirklich gewollt hat, kann so schließlich die nationale Gerichtsbarkeit werden; dass er diese Möglichkeit bei der fristgerecht fälligen Neubesetzung einer von neun Richterstellen am höchsten Bundesgericht mit einer reaktionären Gefolgsfrau mit im Kalkül hatte, hat Trump zum gegebenen Anlass ohne große Heuchelei durchblicken lassen.

Die Anpassung des Wahlergebnisses an seinen eigentlichen Zweck im Sinne Trumps und seiner Partei ist selbstverständlich mit einem Scheitern auf dem Rechtsweg nicht vorbei. Die Korrektur bleibt im Programm des permanenten Wahlkampfs, dessen nächste Stationen – Senatorenwahl in Georgia, Midterm-Elections 2022, die Rache in vier Jahren – schon feststehen. Und der mit dem Wahlabend bereits wieder angefangen hat. Lebendige Demokratie...

[1]Und für sich genommen auch eine ziemlich reife Leistung in puncto Selbststilisierung: Mit Biden haben die Demokraten einen Kandidaten nominiert, den David Axelrod, der ehemalige Chefstratege Obamas, ‚kulturell ungünstig‘ für Trump nennt: einen Politiker, der auf seine Wurzeln in der Arbeiterklasse immer Wert gelegt hat, auch wenn er seit beinahe einem halben Jahrhundert im Senat sitzt. (New York Times, 11.10.20)

[2]Vgl. „Chronik der Corona-Pandemie, III“ in GegenStandpunkt 2-20, S. 110 ff.

[3]Die Botschaft wird verstanden, manche seiner Follower treten dann auch in Aktion. So ist die Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitmer, die als Gegenrednerin zu Trumps ‚Rede zur Lage der Nation‘ prominent geworden und mit ihrer Anti-Corona-Politik zur Hassfigur der Rechten avanciert ist, ins Fadenkreuz von rechten Milizen geraten, die sich seit Trumps Sieg als bewaffneter Arm seines Kampfs mit den Demokraten verstehen. Im Mai werden die Abgeordneten des bundesstaatlichen Parlaments bei Protesten gegen die lokalen Corona-Einschränkungen von Maschinengewehre tragenden Milizionären eingeschüchtert. Im Oktober werden dann 14 Milizionäre, die an der Parlamentsaktion beteiligt waren, vom FBI verhaftet. Sie hatten die Entführung der Gouverneurin und womöglich eine Geiselnahme von Parlamentariern geplant. Whitmers Kritik am Präsidenten, er würde mit seiner kriegerischen Rhetorik den einheimischen Terror befördern, beantworten Trump und seine Anhänger auf einer Wahlkundgebung, wenige Tage nach den Festnahmen, mit dem schon an Hillary erprobten Schlachtruf Lock her up! Schließlich hat ein führendes Mitglied in Trumps Corona-Taskforce zwei Wochen nach der Wahl zum Aufstand gegen Whitmer aufgrund neuerlicher Corona-Einschränkungen in Michigan aufgerufen.

[4] Als Grund für seine Abneigung gegen Masken sagte Trump, sie passten nicht zu seinem Selbstverständnis als Präsident einer Weltmacht. (Zeit Online, 12.7.20)

[5]Vgl. zu den Protesten „Z.B. George Floyd: Vom Rassismus einer freiheitlichen, egalitären Staatsgewalt“, GegenStandpunkt 3-20, S. 27 ff.

[6]Sinngemäß: Wer plündert, wird erschossen! Neben Law and order! einer von vielen Wahlsprüchen, die südstaatliche Polizeichefs und Politiker früher verwendet haben, um die Marschrichtung bei der Bekämpfung der sogenannten Rassenunruhen vorzugeben, insbesondere nach dem Mord an Martin Luther King.

[7]Täter gibt es zwar nicht, aber natürlich viele Sünder in der Gemeinde – mit der macht sich der Pfaffe natürlich auch gemein: Dafür hat er sich mit einer eigenen früheren gesetzgeberischen Sternsünde qualifiziert: mit dem sogenannten ‚Biden Crime Law‘, bei dessen Abfassung er federführend war. Die Black lives matter! -Bewegung bezeichnet dieses Gesetz, das per massiven Ausbau der Polizei und Verschärfung des Strafrechts zum Phänomen namens ‚Masseninhaftierung‘, insbesondere von Schwarzen, geführt hat, als Kernelement des ‚institutionalisierten Rassismus‘. Von seinem damals gefeierten, gesetzgeberischen Engagement im ‚Krieg gegen das Verbrechen‘ hat er sich nun distanziert: Seine Absichten seien zwar natürlich untadelig gewesen, aber in diesem Fall habe er ein bisschen danebengelangt.

[8] Heute Abend will ich Ihnen etwas über den Führer erzählen, wie ich ihn kenne, und über die Momente, von denen ich mir wünsche, jeder Amerikaner könnte sie erleben. Ich will Ihnen von einem Präsidenten erzählen, der vom Sonnenaufgang bis Mitternacht für Sie kämpft – wenn die Kameras und Mikrophone ausgeschaltet sind... Den Schmerz, die Trauer und die Angst spüren wir heute alle. Ich war immer bei meinem Vater und habe den Schmerz in seinen Augen gesehen, als er die Berichte über die vielen Menschenleben bekommen hat, die diese Plage uns genommen hat. (Ivanka Trump) Meine Englischlehrerin in der 7. Klasse, Mrs. Bee, hat uns früher gesagt: Glaubt nichts, was ihr hört, nur die Hälfte dessen, was ihr lest, und nur das, was ihr mit eigenen Augen wahrnehmt. Die volle Bedeutung dieser Worte ist mir erst in dem Moment klar geworden, als ich meinen Mann [Trumps Sohn Eric] und die Trump-Familie kennengelernt habe. Meine Vorurteile über diese Familie sind sofort verschwunden. Sie waren herzlich und fürsorglich, hart arbeitend und bodenständig... Und in den Korridoren der Trump Organization habe ich die gleiche familiäre Atmosphäre erlebt. Ich habe auch die zahllosen Frauen in Führungspositionen gesehen, die dort Jahr für Jahr erfolgreicher wurden. (Lara Trump)

[9]Diese Logik liefert den Fahrplan für Trumps vielgescholtene Eingriffe in die Durchführung des Wahlprocedere: Wenn es der Zweck der Wahl ist, Trumps Siegeswillen recht zu geben, dann steht er umgekehrt in der Pflicht, auch praktisch gegen alle Modalitäten der Wahl vorzugehen, die dem entgegenstehen. Auch da befindet er sich in guter Gesellschaft: Schon immer lassen die konkurrierenden Parteien keine Gelegenheit aus, die Modi der Wahldurchführung als Hebel für den eigenen Sieg zu nutzen und auszugestalten, wo immer es in ihrer Macht liegt. Sie befolgen damit auf vorbildlich amerikanische Weise das heilige Prinzip der Demokratie, dem zufolge die Mehrheit entscheidet, wer die Macht im Staat ausüben darf: Wenn das gilt, dann kommt es eben darauf an, die richtige Mehrheit herzustellen . Schließlich ist das der entscheidende Sinn und Zweck einer freien Wählerstimme: Nicht einfach eine subjektive Präferenz auszudrücken, sondern einen Sieger zu kreieren. Dafür werden schließlich im Wahlkampf Milliarden investiert – doch nicht um der Freude des Wählers an seinem Votum willen! Und dafür lässt sich, gerade in dem mit vielen lebendigen Traditionen befrachteten politischen System der Nation under God, auch mit juristischen Winkelzügen einiges tun. Nicht umsonst fließt ein guter Teil der Wahlkampfspenden notorisch ins Engagement eines Heeres von Juristen, die im Sinne ihrer Auftraggeber dem Wahlrecht auf die Sprünge helfen und vor allem den Diebstahl von Stimmen verhindern: ein Zweck, der das Wählervotum ganz sachgerecht gleich als Besitzstand der Wahlkandidaten verbucht.

Dass das Recht überhaupt, und natürlich in einer so wichtigen Konkurrenzaffäre wie der Präsidentenkür schon gleich, in erster Linie nicht ein unparteiisches Regelwerk, sondern eine Waffe derer ist, die es sich leisten können, gehört ohnehin zu den Grundsätzen einer Gesellschaft, die zwischen Konkurrenz und Nation, Konkurrenzgeist und Staatsbürgergesinnung keinen Unterschied kennt.