USA – „Fighting the war on terrorism on the domestic front“

Zum Kampf der USA gegen den Terror gehört sich ein „Krieg an der Heimatfront“. Die US-Bürger sollen sich die nationale Herausforderung zur persönlichen Stimmungslage machen. Und als vorbildliche Patrioten nehmen sie die von oben geschürte Kriegshysterie als Sachlage, in der sie sich als Kämpfer gegen eine feindliche Welt zu betätigen haben.

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USA – „Fighting the war on terrorism on the domestic front“

„The nation is at war. The war has two home fronts: one is abroad, in Afghanistan; the second is here, defending the homeland.“ (Der Sprecher des Weißen Hauses, Pressekonferenz vom 24. 10.01)

Wenn die gewaltigste Staatsmacht der Welt sich anschickt, die „Heimatfront“ zu „verteidigen“, dann lässt sie sich von niemandem etwas vormachen. Dass von einem Krieg im eigentlichen Sinne, also einer die US-Macht ernsthaft auf die Probe stellenden militärischen Bedrohung des US-Territoriums nicht die Rede sein kann, ficht sie nicht an; sie nimmt den terroristischen Anschlag als Kriegserklärung an die Unverwundbarkeit ihrer Macht und schreitet zur Tat. Und sie zieht alle Register der patriotischen Propaganda, um das eigene Volk auf den Standpunkt einzuschwören, dass es sich im Krieg befinde und sich entsprechend aufzuführen habe. Dafür müssen die Regenten des amerikanischen Freiheitsstalls ihre Bürger gar nicht groß agitieren. Gewissensqualen der Art, ob das Bombardieren afghanischer Städte der intrinsischen Güte und Menschenfreundlichkeit des eigenen Nationalcharakters gemäß sei, finden sich im Gefühlshaushalt des normalen Amerikaners nicht; sie wären auch geradezu antiamerikanisch.[1] Gemeinsam sind Volk und Führung der festen Überzeugung, dass die Anschläge nicht bloß ein politisches Verbrechen, sondern nichts Geringeres als ein Sakrileg darstellen, begangen an god’s own country und mit entsprechender Vehemenz zu „beantworten“. Die nationale „Antwort“ auf den Terrorismus wird nicht einfach vollzogen – mit einer Verhaftungswelle, einem Antiterrorgesetz, einer quasi kriegsmäßigen Beaufsichtigung des Flugverkehrs. Sie wird öffentlich zelebriert – auf allen Kanälen und bis hinein in den ganz gewöhnlichen Staatsbürgeralltag. Mit ihrem „Krieg an der Heimatfront“ demonstrieren die USA der ganzen Welt, dass sie auch in Fragen patriotischer Gesinnung einmalig sind: Einmalig in ihrer Betroffenheit, einmalig aber auch in dem Stolz und dem Mut, mit dem sie die schwere nationale Stunde bewältigen. Terrorismusbekämpfung als patriotische Schau, Kriegsbereitschaft als rührselige nationale Feier – da könnte ein Goebbels vor Neid erblassen.

„Pearl Harbor“

Amerikanische Patrioten müssen ziemlich weit zurückdenken, um sich eines Ereignisses entsinnen zu können, das die Nation ähnlich aufgewühlt und betroffen gemacht hat. Was die Anschläge mit dem damaligen japanischen Angriff auf einen US-Flottenstützpunkt verbindet, ist dabei – das sagen diejenigen, die die Historie bemühen, selbst – ausdrücklich nicht irgendeine Gemeinsamkeit in der Sache, sondern das Gefühl der Schmach, das aufrechte Patrioten angesichts der Verletzung höchster nationaler Güter zu befallen pflegt. Wie es sich für anständige Nationalisten gehört, würdigt Amerikas Bevölkerung das Kaputtmachen von zwei Hochhäusern und einem Stück Verteidigungsministerium einhellig als nationale Ehrverletzung: Dass die ziemlich unverhältnismäßig ausfällt, ergibt sich aus der Unvergleichlichkeit der betroffenen Nation wie von selbst. Die wirklichen Schäden an Eigentum und Menschenleben stehen für diese Ehrverletzung als Beleg; ihr Charakter als Symbol für das Unerlaubte, also eigentlich Undenkbare macht ihre ganze Schrecklichkeit aus – ansonsten sind ja gerade Amerikaner einiges gewohnt, was die tagtägliche Produktion von Leichen in ihrer schönen Heimat angeht, und verfallen nicht bei jedem Amoklauf in einer Schule, bei jedem Tornado oder Flugzeugabsturz in Ergriffenheit und Empörung.

Hier aber schon. Die Katastrophenstelle wird zur nationalen Weihestätte und bekommt einen entsprechenden Namen: Ground Zero, Ende der Vorstellung. Bürger aller Klassen und Schichten treibt es, durch Pilgerfahrten an den Ort des Grauens und durch situationsgerecht gestammelte Fassungslosigkeit in jede Fernsehkamera ihrer Erschütterung Ausdruck zu geben: Wie schön, auch öffentlich zeigen zu dürfen, wie sehr man höchstpersönlich, mit seinem ganzen privaten Gefühlsleben mitbetroffen ist von dem Angriff auf das ideelle Kollektiv, dem anzugehören man die Ehre hat. Die Rettungs- und Aufräumarbeiten werden im Stil eines Hollywood-Katastrophenfilms inszeniert: Auf der einen Seite das unfassbar Böse, das die Nation in ihren Grundfesten bedroht, auf der anderen Seite lauter tapfere Nationalfähnchen, pausenlos und unter Aufbietung aller heroischen Eigenschaften um die Rettung der unschuldigen Opfer bemüht; dabei ganz persönlich als Mensch zutiefst engagiert; allesamt, vom allzeit bereiten Bürgermeister bis hin zum niedrigsten Müllwerker, vereint im Kampf um die gute Sache. Wie in einem schlechten Film fließen persönliches Leid und nationale Betroffenheit ununterscheidbar ineinander; ein Negerquäler wandelt sich unter dem Eindruck der Katastrophe zum Nationalhelden; und so weiter und so weiter…

Die Inszenierung des großen „Wir“, zu dem sich die Nation in der Not über alle wirklichen Gegensätze hinweg zusammenfindet, braucht sich Heuchelei nicht vorwerfen zu lassen. Sie beruht nämlich auf einer ziemlich unverwüstlichen Grundlage: Auf der festen Überzeugung noch jedes Insassen der USA, vom Ghetto-Bewohner bis zum Präriefarmer, es als Amerikaner auf jeden Fall ganz extraordinär auf dieser Welt getroffen zu haben, egal wie einem der „harte Alltag“ materiell so mitspielen mag. Dass irgendjemand auf Gottes weiter Welt ihn nicht ob seiner Zugehörigkeit zu dieser Nation beneidet und den sehnlichsten Wunsch verspürt, auch in diesem Land seine „happiness“ verfolgen zu dürfen, übersteigt das Vorstellungsvermögen des amerikanischen Durchschnittsbürgers. Umso unbegreiflicher will er es finden, dass irgendjemand seinem wunderschönen Land samt seinen goldigen Bewohnern so etwas Entsetzliches antun kann.

So übersetzt sich der normale Staatsbürger die imperialistische Kampfansage seiner Herrschaft an eine Staatenwelt, die sich antiamerikanischer Umtriebe schuldig macht, in höchstpersönliche Empörung: Darüber, wie unendlich böse Leute sein müssen, die dieser besten aller Welten – also ihm als deren leibhaftigem Repräsentanten – Schaden zufügen wollen. „Wir Amerikaner sind doch bloß ein Haufen netter Leute, die in Frieden leben wollen, und dann sowas“ – so schlicht wie grenzenlos borniert „verarbeitet“ der normale Patriot den Umstand, dass die imperialistischen Machenschaften seiner Herrschaft doch glatt auswärts Antiamerikanismus zeitigen. Die Redensart vom „american way of life“, dem die Anschläge gegolten haben sollen, ist eben nicht bloß eine solche: Die kulturimperialistische Verbrämung amerikanischer Weltmachtsansprüche ist vielmehr der genau passende Geist zum staatlichen Zuschlagen nach innen wie außen. So gesehen bekämpft der US-Staat eben nicht bloß irgendwelche Staatsfeinde. Mit seinen Anti-Terrorismus-Aktivitäten verteidigt er in Wahrheit das eingeborene Recht jedes gewöhnlichen Amerikaners darauf, als Amerikaner frei zu leben, und das heißt: Von feindseligen Reaktionen fremder Völkchen auf das Herumfuhrwerken seines Staates auf dem Globus unbehelligt zu bleiben. In dieser Frage – das darf sich jetzt jeder zu Herzen nehmen, den es betrifft – versteht der nette amerikanische Bürger überhaupt keinen Spaß. Also ist in Sachen Einsatz der Staatsgewalt einiges fällig. Vergessen sind die nationalen Entzweiungen der letzten Jahre über lüsterne Präsidenten und stimmenklauende Präsidentschaftsbewerber. Angesichts der Ungeheuerlichkeit, dass eine fremde Macht sich an god’s own country in feindlicher Absicht zu schaffen macht, verblassen innere Querelen zu Nichtigkeiten. Es gibt viel zu tun, packen wir’s an.

Terrorismusbekämpfung als nationaler Auftrag und Volkssport

Die Regierung erledigt ihre Seite der Angelegenheit mit der gebotenen Gründlichkeit. Es gilt, „sie“ ausfindig zu machen und zur Strecke zu bringen; da ist alles Recht, was Erfolg bringt. Also ist zunächst eine Verhaftungswelle fällig, bei der die US-Behörden den fließenden Übergang vom Tatverdacht zur Prävention üben. Eingesperrt werden vorsichtshalber über tausend Leute in einschlägigem Alter aus einschlägigen arabischen Staaten, Tatverdacht hin oder her. Um Verhaftungsgründe ist das FBI nicht verlegen. Zum Glück stehen viele Ausländer nämlich immer schon mit einem Bein auf der falschen Seite des Gesetzes: Als „Teilnehmer“ an einem Arbeitsmarkt, auf dem der Status der Illegalität aufs Beste zum Interesse an billigster Ausbeutung ihrer Arbeitskraft passt. Noch so ein schönes Stück „american way of life“, das auch weiterhin voll in Ordnung geht, sich jetzt aber noch anders ausnutzen lässt. Solche Leute kann man praktischerweise wegen „geringfügiger“ Rechtsverletzungen einsperren und ausquetschen – man wird schon sehen, wozu das gut ist. Die Öffentlichkeit begleitet diese staatlichen Aktivitäten mit respektvoll-kritischer Aufmerksamkeit. Wieder mal wird der Vergleich mit dem 2. Weltkrieg bemüht, nämlich mit der damaligen Internierung japanischer US-Bürger als potentieller Staatsfeinde; kritisch ist der Vergleich nicht gemeint, sondern als Hinweis auf den Ernst der Lage, in der rechtsstaatliche Bedenken ganz fehl am Platze sind. Wenn „der Feind“ nun einmal das Unsichtbare, Gesinnungs-, Herkunfts- oder gar Rassenmäßige ist, ist staatlicher Rassismus die anerkanntermaßen passende Antwort. Deshalb muss auch die Frage erlaubt sein – meinen jedenfalls intellektuelle Vordenker der Nation –, ob nicht die Folter wieder in den Rang erlaubter staatlicher Praktiken zu erheben sei, angesichts der Verstocktheit von Fanatikern, die sich weder durch Geld noch das Angebot der Strafmilderung zum Verrat bestechen lassen.

Für das Bedürfnis nach flächendeckender Erfassung jeder terrorismus-verdächtigen Regung ist den US-Gesetzgebern die bisherige Rechtslage zu restriktiv: In einem „Anti-Terrorismus-Gesetz“ genehmigen sie ihren Staatsschützern neue Freiheiten.[2] Der wirkungsvolle Einsatz der Staatsgewalt gegen staatsfeindliches Treiben verlangt, dass das staatliche Recht auf Überwachung und Kontrolle aller Bürger flächendeckend und umfassend ausgestaltet wird; unter ihnen, im Gewande der Normalität, verbergen sich ja die, derer die Staatsgewalt habhaft werden will. Diesem Gesetzeswerk verleiht die US-Regierung das Akronym U.S.A. P.A.T.R.I.O.T.[3]: Auch wieder so ein netter amerikanischer Einfall. Offenbar hat auch der amerikanische Gesetzgeber ein Bewusstsein davon, dass sein Gesetz ziemlich schlecht zu dem demokratischen Selbstverständnis passt, wonach es sich beim Schutz der Privatsphäre des Bürgers vor staatlichem Zugriff um ein Recht handelt, das zu achten sich die staatliche Gewalt doch verpflichtet habe. Also beschwört er mit dem Titel „Patriot“ gleich offensiv den quasi kriegsmäßigen Ausnahmezustand, aus dem sich das Gesetz begründet und in dessen Licht es gewürdigt sein will. Wo sich Schily noch im Parlament und in Zeitungsinterviews gegen das Missverständnis verwahrt, die einschlägigen Maßnahmen könnten auch gegen ganz normale, gute Bürger gerichtet sein, begründet der US-Staat seinen Anspruch auf totale Überwachung aller privaten Aktivitäten seines Volkes gleich positiv: vom Standpunkt der Einigkeit von Patrioten oben wie unten, die sich gemeinsam gegen äußere Feinde zur Wehr setzen müssen. So gesehen vollstreckt er mit seinem Gesetz nur den Auftrag aller amerikanisch gesonnenen Menschen, die vor allem Anti-Amerikanischen geschützt werden sollen und wollen. Deren private Aktivitäten sind eben – so ist das im Krieg! – gar nicht mehr einfach privat, sondern selbst immer schon, weil seit dem 11. September in einer Weltgegend namens „Heimatfront“ stattfindend, ein Stück Antiterror-Kampf.

In diesem Sinne ist der Bürger aufgefordert, seinen bescheidenen Beitrag zu leisten. Wachsam soll er sein und Verdächtiges melden; die Regierung richtet eine „hotline“ ein, auf der Bürger verdächtige Vorkommnisse melden und Tipps für die Terroristenverfolgung hinterlassen können. Und was ist da nicht alles verdächtig, von mangelnder Kommunikationsbereitschaft mit den Nachbarn bis hin zu Bärten und Kopftüchern; kein Wunder, dass die Behörden Zigtausende von Hinweisen auszuwerten haben. Die Sache in die eigene Hand nehmen sollen die Bürger aber ausdrücklich nicht. Vor privaten patriotischen Racheaktionen meint die Regierung ernsthaft warnen zu müssen, nicht zuletzt deshalb, weil sie die Arbeit der Ermittlungsbehörden stören und einen schlechten Eindruck bei den arabischen Anti-Terror-Koalitionspartnern hinterlassen könnten. Den politisch Verantwortlichen ist es eben kein Geheimnis, welche Geisteshaltung sie bei ihren braven Bürgern anstacheln; ein gewisses Verständnis für aufgebrachte Fluggäste, die sich weigern, mit arabisch aussehenden Mitfliegern in einer Maschine zu sitzen, mag man auch nicht verhehlen. Dennoch: Die offiziell angesagte Fremdenfeindlichkeit soll organisiert und effizient ins Werk gesetzt werden, und das kann nun einmal nur die Staatsgewalt.

Auch anderen Aktivitäten von Bürgern in dieser Sphäre stehen die Behörden eher distanziert gegenüber. Nicht so gerne gesehen ist es z.B., wenn sie Flugzeuge mit irgendwelchen Waffen besteigen, um dann hinterher triumphierend darauf hinzuweisen, sie seien gar nicht kontrolliert worden, um so auf schreiende Versäumnisse bei der Flugsicherheit hinzuweisen. Eines fällt den US-Behörden allerdings bei allem Kontrollbedarf nicht im Traum ein: Jetzt etwa ihren Bürgern das Recht auf die eigene Knarre zu bestreiten und zum flächendeckenden Einsammeln der privaten Waffenbestände zu schreiten. Es geht eben wirklich nicht um eine verschärfte staatliche Bekämpfung oder gar Verhinderung des ganz normalen Mord-und-Totschlags, der den „american way of life“ so anheimelnd macht. Umgekehrt: Der Staat beruft sich mit seinem Anti-Terrorkampf ja gerade auf den Patriotismus als privates Lebensgefühl, für das der Waffenbesitz, also das verfassungsmäßige Recht jedes Amerikaners auf Selbstverteidigung, der unmittelbar praktische Ausdruck ist. Angesichts der „terroristischen Bedrohung“ imaginiert sich die Nation als eine einzige, gigantische Bürgerwehr; und die braucht ihre Waffen, wenn es hart auf hart geht…

Die neue Gefahr: Anthrax

Die Gefahren, die der Nation drohen, sind derzeit allerdings ein wenig anders beschaffen. Irgendwer lässt es sich angelegen sein, mittels Verschicken von Milzbrandsporen Personen und Orte des öffentlichen Lebens zu vergiften. So ein richtiger terroristischer Anschlag wird nicht daraus. Ein paar Leute sterben; öffentliche Gebäude werden kurzzeitig geschlossen. Die Staatsgewalt nimmt sich der Sache einerseits sachlich an: Das Material wird zwecks polizeilicher Untersuchung sichergestellt; der FBI wird beauftragt herauszubekommen, wer dahinter steckt, und geht ans Werk. Der Verdacht fällt auf rechte „hate groups“: Unbefangen plaudern FBI-Agenten aus, dass sie private Rachefeldzüge gegen verhasste Staats- und Mediengrößen überhaupt nicht für unvereinbar mit dem amerikanischen Nationalcharakter halten. Die Indizienketten, die sie öffentlich darbieten, führen angeblich in US-Labors, und die Presse schreibt alles fein säuberlich mit und teilt es ihrer interessierten Leserschaft am nächsten Tag mit.

Das alles hindert die politischen Repräsentanten, andererseits, überhaupt nicht daran, gleichzeitig und daneben immerzu zu betonen, das sie sich eine „Verbindung“ zu Al-Kaida, Irak etc, pp. durchaus „vorstellen“ könnten. Sie wollen sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, diese Vorkommnisse als Beleg für die Unheimlichkeit der terroristischen Bedrohung darzustellen. Dafür kann man sich auch ganz von dem Anlass verabschieden und die generellen Gefahren eines Bio-Krieges an die Wand malen. Es gibt zwar derzeit nirgendwo irgendwelche „Erkenntnisse“ darüber, dass irgendjemand einen solchen plant; das tut aber dem Zweck der Übung keinerlei Abbruch. Gerade die an allen Maßstäben einer wirklichen Kriegführung gemessene Zwecklosigkeit einer wahllosen Vergiftung von Menschenmassen, wie sie in den Szenarien vergifteter Stauseen oder U-Bahnschächte vorstellig gemacht wird[4], erfüllt ja bestens die Funktion, dem Volk die absolute Unkalkulierbarkeit terroristischer Bedrohung vor Augen zu führen.

Dagegen kann selbstverständlich wiederum nur entschiedenes staatliches Handeln helfen. Der US-Staat lässt sich auch an dieser Front mangelnde Fürsorge nicht nachsagen; er lagert entsprechende Mengen Antibiotika ein und legt sich zu diesem Zweck sogar mit einem hochanständigen deutschen Pharma-Konzern an, der den Unterschied zwischen Südafrikas zweifelhaftem Anspruch nach verbilligten Aids-Medikamenten und dem berechtigten Begehren der USA nach kostengünstiger Versorgung mit antiterroristischen Schutzmitteln nicht gleich gebührend anerkannt hat. Anhand der Milzbrandbriefe soll eben beides bewiesen werden: Einerseits, mit welcher „namenlosen“ und „unberechenbaren“, „jeden amerikanischen Bürger bedrohenden“ Gefahr die Nation es zu tun hat; andererseits, mit welcher Entschlossenheit und Tatkraft seine Obrigkeit bei der Bewältigung der Bedrohung zu Werke geht. Unter dem ersten Gesichtspunkt ist es angebracht, den Ernst der Bedrohungslage hervorzuheben, nichts ausschließen zu wollen, immerzu vor neuen Anschlägen zu warnen, damit kein Bürger auch nur eine Minute lang vergisst, in welcher ernsten Lage sich die Nation befindet und er mit ihr. Unter dem zweiten Gesichtspunkt ist zu betonen, das die Führung selbstverständlich alles im Griff hat und genau die passenden Maßnahmen trifft, um jede nur erdenkliche Gefahr von ihren Bürgern abzuwenden. Das propagandistische Anliegen ist also nicht ganz widerspruchsfrei, so dass sich inzwischen auch die Presse nicht mehr richtig auskennt und nicht weiß, ob sie nun im Staatsauftrag auf- oder abwiegeln soll. Beschwerden über „widersprüchliche“ und „konfuse“ Auskünfte verschiedener Regierungsstellen werden laut: Wo bleibt die eindeutige Botschaft, die man guten Gewissens seinen Lesern zum Frühstück servieren kann? Hat der Präsident noch alles im Griff? Zweifel werden laut: Der Tod zweier Postarbeiter gibt Anlass zur kritischen Frage, warum das Capitol und das Weiße Haus geräumt und dekontaminiert werden, nicht aber die Postzentrale, durch die Giftbriefe verschickt wurden. Wird hier etwa – unglaublicher Gedanke – bei der Sorge um die Sicherheit aller Amerikaner mit zweierlei Maß gemessen? Sollte es ausgerechnet bei der Durchsetzung des höchsten nationalen Gemeinschaftsanliegens Bürger erster und zweiter Klasse geben? So werden Nationalisten kritisch.

Vom Nutzen der Paranoia für den nationalen Zusammenhalt

Der US-Staat schürt eine Art Kriegshysterie mitten im Frieden; er versetzt sein Land und seine Bürger praktisch wie ideologisch in den Zustand nationaler Selbstverteidigung; er beschwört ununterbrochen den Feind, der alle bürgerliche Normalität bedrohe und lauter Ausnahmemaßnahmen notwendig mache. Daneben herrscht business as usual: Börsenkurse und Wirtschaftsdaten gehen rauf und runter, Firmen stellen aus und ein, Zinsen werden gesenkt oder erhöht; ganz nebenbei findet noch eine WTO-Tagung statt, auf der zwar angeblich im Geiste einer neuen Gemeinsamkeit, ansonsten aber ganz banal um Quoten, Zölle und Subventionen gestritten wird; und der normale US-Bürger muss, Terror hin oder her, zusehen, wie er an seine Brötchen kommt. Die nationale Stimmungsmache hat deshalb alle Momente eines politischen Konstrukts; aus ihr spricht der pure Wille der Nation, sich des Terrorismus als der „übriggebliebenen“ Bedrohung in einer amerikanisch geregelten Welt existentiell zu stellen. Mit dieser neuen nationalen Willenslage wird das Volk vertraut gemacht: Als Sachlage, der es sich mit Herz und Hand zur Verfügung zu stellen hat. Dafür wird auf Versatzstücke aus dem durchaus vertrauten Arsenal der politischen Paranoia zurückgegriffen, die offenbar zum nationalen Selbstbewusstsein der mächtigsten Nation der Welt notwendig dazugehört. Von wegen, das aufgeklärte Amerika hätte die Verhörpraktiken des Komitees für „unamerican activities“ als übles Kritikverbot und den McCarthyismus als Werk eines durchgeknallten Fanatikers durchschaut und geistig überwunden. Im Gewande des Anti-Terror-Kampfes feiert das Sittenbild eines im Kampf gegen eine feindliche Welt stehenden Amerika fröhliche Urständ.

So kümmert sich der amerikanische Staat darum, dass die Bürger sich die nationale Herausforderung in rechter Weise zur persönlichen Stimmungslage machen. Das klappt in diesem Fall nicht zuletzt deshalb so gut, weil sich der gute Amerikaner in diesem Krieg endlich mal wieder ganz persönlich wiederfinden kann. Die Einsicht in komplizierte Begründungszusammenhänge der Art, wie sie ihm anlässlich von Somalia, Bosnien oder dem Kosovo nahegebracht wurden, ist nicht verlangt. Hier kämpfen „amerikanische Jungs“ einmal nicht um übergeordnete Güter wie Weltordnung und Menschenrechte; diesen Krieg muss man sich nicht als leider notwendigen Dienst an fremden Völkchen einleuchten lassen, die „wir“ nicht ihrem Schicksal überlassen dürfen, obwohl sie sich immerzu widerspenstig zeigen. In diesem Fall geht es schlicht und einfach um Freiheit und Sicherheit aller Amerikaner, zu Hause ebenso wie in Afghanistan – um Wiedergutmachung für das der Nation Angetane. Also entfällt auch das bisschen Distanz, das amerikanische Nationalisten gegenüber den letzten US-Kriegen an den Tag legten, wenn ihnen deren nationaler Nutzen nicht so recht einleuchten wollte. Jetzt ist der Krieg die eigene patriotische Sache und der Schulterschluss von Volk und Staat so perfekt, wie ihn ein demokratisches Gemeinwesen nur hinbekommen kann.

[1] Was die paar Kritiker des Krieges im übrigen auch am eigenen Leibe zu spüren bekommen: „5. Kolonne“ ist noch der mindeste Anwurf, den sie nicht nur zu hören bekommen.

[2] Das wegweisende Gesetz wird die Kompetenz der Verfolgungsbehörden und Sicherheitsorgane, Telefone abzuhören, den Internet-Verkehr zu kontrollieren und andere Formen der Überwachung zu praktizieren, zwecks Verfolgung terroristischer Aktivitäten wesentlich vergrößern. (IHT 24.10.)

[3] Im vollen Wortlaut: „Unifying and Strengthening America by Providing Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism“

[4] Ganz im Unterschied selbstverständlich zur äußerst planvollen Vergiftung ganzer Landstriche und Bevölkerungsteile durch Agent Orange oder Anti-Kokain-Pestizide; solche Projekte gelten als völlig „rational“.