Terrorabwehr nach innen
Bürgerfreiheit = Staatssicherheit
Der demokratische Staat macht sich „terrorfest“: ein Freibrief für die umfassende Ausforschung der Bevölkerung und Repression auf Verdacht. Das Volk wird imperialismusfest gemacht: der äußere und auch innere Feind namens Terror macht Staatssicherheit zur wahren Bürgerfreiheit.
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Terrorabwehr nach innen
Bürgerfreiheit =
Staatssicherheit
Für ihr ziviles Innenleben leiten die „westlichen“
Staaten – USA nebst demokratischen Verbündeten – aus den
Anschlägen von New York und Washington eine eigentümliche
Lagedefinition ab. Ab sofort gehen sie in allem Ernst
davon aus, dass der Feind im Lande steht: ein
Feind ohne eigenen Staat und ohne reguläre Truppen, eine
Untergrundarmee unbekannter Größe, jedenfalls insgesamt
einige Hundertschaften stark, jederzeit bereit,
terroristisch zuzuschlagen. Den Unterschied zwischen
normalem Zivilleben und militärischem Ausnahmezustand
erklären sie insoweit für aufgehoben: Äußere und
innere Sicherheit sind nicht mehr zu trennen
, so der
deutsche Innenminister. Ob sie jemals so richtig getrennt
waren in den letzten Jahrzehnten – der sowjetische
Hauptfeind wurde auch schon innenpolitisch bekämpft, in
Gestalt „moskauhöriger“ kommunistischer Parteien; nach
dessen Ableben kann die Bekämpfung der „organisierten
Kriminalität“ unmöglich vor Staatsgrenzen Halt machen,
Amerika jedenfalls führt seinen „Krieg“ gegen das
Rauschgift an einer Front, die von den Slums der eigenen
Großstädte bis in exotische Gebirgsregionen reicht… –,
das kann dahingestellt bleiben. Nach dem 11. September
und der kollektiven Beschlussfassung der demokratischen
Mächte über dessen unausweichliche Folgen ist das zivile
Alltagsleben in den imperialistischen Metropolen auf alle
Fälle von höchster Stelle neu definiert: als eine neue
Art von Kriegszustand. Die normale Tagesordnung des
kapitalistischen Erwerbslebens und seiner
Freizeitvergnügungen ist dadurch nicht wirklich über den
Haufen geworfen, so wie es bei einem wirklichen Krieg und
Einmarsch fremder Soldaten der Fall wäre. Neue
Prioritäten setzen die zuständigen Regierungen aber auch
nach innen, für ihre eigene „Zivilgesellschaft“: Alles,
was die Insassen ihrer Länder so treiben, wird unter den
großen Generalvorbehalt gestellt, dass zuerst und vor
allem der Staat sein Gewaltmonopol gegen einen immer und
überall drohenden Feind sicherzustellen hat.
Diese Reaktion auf die Terrorangriffe gegen Amerika mag einiges an Hysterie erzeugen; aus Hysterie erfolgt sie nicht. Die „westliche“ Staatsgewalt realisiert auf ihre Weise, nämlich als herausgeforderte höchste Ordnungsmacht, nicht mehr und nicht weniger als eine unerwünschte Nebenwirkung ihres imperialistischen Welterfolgs, die, wie es solchen Nebenwirkungen eigen zu sein pflegt, von dem erwünschten Haupteffekt schwer zu trennen ist. Sie nimmt wahr, dass die restliche Welt zu großen Teilen ziemlich feindselig eingestellt ist gegen ihren umfassenden und kompromisslosen kommerziellen, militärischen und ordnungspolitischen Zugriff und dass diese Feindschaft sich nicht – mehr – in ferne Länder wegsperren und dort mit überlegener Abschreckungsmacht, also mit einseitigem militärischen Terror niederhalten lässt. In der Verfassung, die die imperialistischen Mächte ihr verpasst haben, enthält die „globalisierte“ Welt nicht bloß jede Menge Gründe für politische Gegnerschaft, sondern bietet entschlossenen Feinden auch Mittel und Gelegenheiten, sogar die maßgeblichen Zentren des Weltgeschäfts und der kriegerischen Gewalt terroristisch anzugreifen, und zwar in für terroristische NGOs sehr ansehnlicher Größenordnung. Ihre globale Herrschaft schlägt so auf die imperialistische Staatsmacht selbst zurück: Das stellen deren regierende Sachwalter an den Attentaten des 11. September fest, und dadurch sehen sie sich herausgefordert – nach außen hin zu einem „neuen kalten Krieg“ samt „heißer“ Einleitung, nach innen eben zu einer „rechtsstaatlichen Offensive“ ganz eigener Art. Gemäß ihrer Gefahrendiagnose unterwerfen sie das gesamte öffentliche und private Leben in ihrem freiheitlichen Gemeinwesen allerhöchsten Sicherheitsanforderungen und gehen mit einer Begeisterung ans Werk, als hätten sie auf den rechten Anlass nur gewartet. Voller Tatendrang nehmen sie zwei Aufgaben in Angriff: den sachgerechten Ausbau der internen Staatssicherheit sowie die Erzeugung einer passenden, auch wahlkampfmäßig ausnutzbaren, also demokratischen Volksmeinung über den kriegsähnlichen Ernst der Lage.
1. Der demokratische Gewaltmonopolist macht sich „terrorfest“
Wenn Terroristen Verkehrsflugzeuge ins World Trade Center und ins Pentagon lenken können, dann ist im Grunde – so die offizielle Beschlusslage in der direkt betroffenen und den in Solidarhaftung mitbetroffenen Nationen – das gesamte zivile Innenleben ein einziges Sicherheitsrisiko, das die zuständigen politischen Sicherheitsingenieure nicht im Griff haben. Die wissen ihrerseits sofort, woran es fehlt: Ihre eigenen sicherheitspolitischen Vorkehrungen sind völlig unzureichend. Allen Ernstes werfen sie sich vor, „Schläfer“, also perfekt angepasste, unauffällige Zivilisten, die plötzlich zum Dschihad übergehen, nicht vor ihrer Tat entlarvt und unschädlich gemacht zu haben. Die Unmöglichkeit der Aufgabe lässt sie nicht resignieren, sondern schärft ihren Blick dafür, wieviel die Durchleuchtung ihrer Landesbewohner, aus deren Mitte die Attentäter ja gekommen sind, zu wünschen übrig lässt und wie schlecht es bestellt ist um die vorsorgliche Eliminierung aller Gefahrenquellen, auch der „bloß“ potentiellen, um die Abschreckung und Repression feindseliger Aktivitäten und Absichten, um die Säuberung ihrer Einwohnerschaft von verdächtigen „Elementen“. In diesem Sinn wird nach Defiziten in der staatlichen Sicherheitsapparatur gefahndet.
Dabei fällt den Architekten einer neuen „terror-festen“ Staatssicherheit – einerseits – gar kein übermäßiger Mangel ein, jedenfalls kein wuchtiges Kontroll- und Repressionsorgan, das ihnen noch abgehen würde. Aus gutem Grund: Sie verfügen ja schon über alles. Ihre Polizei, nach der Art der zu schützenden Rechtsgüter und der zu bekämpfenden Verbrechen in gleich mehreren Abteilungen organisiert, in vielen Nationen zudem auf Provinz- bzw. Landes- und auf gesamtstaatlicher Ebene gleich doppelt und dreifach vorhanden, bisweilen durch eine besondere Miliz ergänzt, beherrscht das gesamte Spektrum der Kontrolle und Repression, von der Verfolgung des Ladendiebs über die gentechnische Identifizierung von Sexualverbrechern unter Tausenden Kandidaten bis zur sicheren Beherrschung „bürgerkriegsähnlicher Unruhen“. Eine Datenerfassung gehört dazu, die es gestattet, die Gesamtbevölkerung eines Landes nach den raffiniertesten Kriterien komplett durchzumustern und so, per Rasterfahndung, verdächtigen Einzelfiguren auf die Schliche zu kommen, die noch nie jemandem unangenehm aufgefallen sind und vielleicht noch nicht einmal etwas Böses vorhaben; im Bedarfsfall wird dann mit Kameras, Richtmikrophon und richterlicher Abhörerlaubnis die Privatsphäre im Detail ausgekundschaftet. Daneben sind Geheimdienste, auch die gleich in mehrfacher Ausfertigung, aktiv, um unabhängig vom Zweck der Verbrechensbekämpfung die Obrigkeit über oppositionelle Umtriebe und subversive Gesinnungen, abweichende Meinungen und geplante oder nur mögliche Störungen des öffentlichen Lebens ins Bild zu setzen; im Bedarfsfall nehmen sie die gewaltsame Unterdrückung staatsabträglicher Unternehmungen auch gleich selber in die Hand. Ein Militär steht bereit, um im Fall eines inneren Notstandes die Freiheit gegen ihren Missbrauch zu verteidigen; wenn man es nur rechtzeitig ruft, ist es aber auch ohne Ausrufung des Notstands willens und fähig, z.B. ein auf Abwege geratenes Passagierflugzeug vom heimischen Himmel zu holen; nebenbei trainiert es in immer zahlreicheren Auslandseinsätzen, wie ganze Völkerschaften, die sich gerade ein wenig terroristisch betätigen, unter Kontrolle zu bringen und zu halten sind. Es fehlt also an nichts; nur langt das alles noch nicht; das steht für die zuständigen Befehlshaber mit den Ereignissen des 11. Septembers als Tatsache fest. Deshalb beantragen sie zuallererst einmal mehr von all den schönen Dingen, die sie schon haben: mehr Personal, mehr Sachmittel, mit einem Wort: mehr Geld, damit ihr Apparat seine Sache, die er schon immer macht, noch ausgedehnter angeht und die extremen Ansprüche des verunsicherten Gewaltmonopolisten zur Zufriedenheit bedient. Die nötigen Finanzmittel gibt es dann auch prompt; einige -zig Milliarden Dollar in den USA. Und wo der geltende Sparhaushalt die zusätzlichen Euro nicht hergeben soll, lässt ein mit hessischem Humor begabter Finanzminister das Nötigste fürs Erste von Zigarettenrauchern und Sachversicherungskunden eintreiben.
Ein prinzipieller qualitativer Mangel fällt den Chefs der mehrfach redundant organisierten Staatssicherheit – andererseits – doch sofort auf; und der erregt sie weit heftiger als alle Probleme mit der Quantität dessen, was ihre Truppen können: Ihre Sicherheitsdienste dürfen zu wenig. Diese Entdeckung funktioniert ganz einfach, deswegen war sie auch schon am 12. September fix und fertig: Alle Ermächtigungen nehmen sich im Lichte des trotzdem gelungenen Attentats und des daraufhin beschlossenen Dauer-Quasi-Kriegszustands wie ebenso viele Beschränkungen der Ordnungsmacht aus, über die die zu ihren speziellen Aufgaben befugten Organe verfügen; alle speziellen Kompetenzzuweisungen erscheinen als Verbote, das Nötige und dafür auch schon mal mehr als das Gebotene zu tun; alle sinnreichen Kompetenzabgrenzungen, ohne die die verschiedenen Befehlsstränge sich laufend verheddern würden, erweisen sich als Be-, um nicht zu sagen Verhinderung eines erfolgreich zielführenden Zusammenwirkens. Die rechtsstaatliche Gepflogenheit überhaupt, den diversen Staatsorganen ihre Aufgaben und Befugnisse in Gesetzesform vorzuschreiben und die Einhaltung dieser Vorschriften einer Kontrolle zu unterwerfen, gerät in die Kritik: als Bremse staatlicher Zugriffsmacht, als Blockade des Gewaltmonopolisten in seinem Bemühen, die Gewalttätigkeit in seiner Gesellschaft vollständig zu monopolisieren. Die ganze demokratisch-rechtsstaatliche Art, staatliche Gewalt zu organisieren, blamiert sich am Ende an dem neuen sicherheitspolitischen Imperativ: Ausgerechnet damit, dass sie ihre vielfältigen Überwachungs- und Säuberungsbedürfnisse gegen die eigene Bevölkerung so säuberlich unterscheidet und die entsprechenden Aufgabenstellungen so exakt definiert, fällt die politische Herrschaft im Grunde laufend sich selber in den Arm.
Die sicherheitspolitische Selbstkritik des demokratischen Gewaltmonopolisten erfährt so eine fundamentalistische Zuspitzung, die mit der Praxis von Polizeibehörden und Geheimdiensten nicht viel zu tun hat. Sie bezieht sich mehr auf das sozialkundliche Bild, das der bürgerliche Rechtsstaat vor sich selber und seinen mündigen Bürgern abgibt: Er präsentiert sich als oberster Diener seines Gemeinwesens; seine interne funktionelle Arbeitsteilung macht er als ein System von „checks and balances“ vorstellig, das nur dazu da wäre, die braven Leute vor Übergriffen von seiner Seite zu schützen; dass er alles Nötige unternimmt, um die Konflikte in seiner Klassengesellschaft samt kriminellem Sumpf und politischen Ausreißern sicher zu beherrschen, will er so verstanden wissen, dass er sich dabei auf ein unerlässliches Minimum an Gewalt beschränkt – im Unterschied zu den härteren Gepflogenheiten tyrannischer Regime, die zum allergrößten Teil sowieso gar nicht die passenden wären, um in einem flotten Kapitalismus für „sozialen Frieden“ zu sorgen; auf anderes greift er genau so lange nicht zurück, wie er es nicht braucht, und hält es für den Notstandsfall in Reserve. Mit der Beschränkung staatlicher Allmacht ist es in der Realität also nicht weit her; und dass auch gar nicht viel daran sein kann, wenn der Monopolist der Macht sich „beschränkt“, ist ziemlich leicht einzusehen. Deswegen will das bürgerliche Gemeinwesen es aber nur umso mehr als großherzigen Verzicht und weise Zurückhaltung gewürdigt wissen, dass es seinen Machtorganen Willkür verbietet, Herrschaft mit Funktionen verknüpft, die Selbstkontrolle der Macht in einem eigenen Instanzenzug institutionalisiert – und sich dabei immerzu auf Freiheitsrechte der Untertanen beruft, die der Souverän gar nicht antasten dürfte. Ganz anders jedoch, wenn der bürgerliche Souverän seine Machtvollkommenheit für gefährdet erklärt. Dann finden die regierenden Demokraten überhaupt nichts dabei, den sonst gepflegten Schwindel von der Begrenztheit staatlicher Hoheitsgewalt praktisch zu dementieren und alles über den Haufen zu werfen, was sie ihrer Herrschaftsform sonst als ihre zivile und zurückhaltende Art zugute gehalten haben wollen. Dann werden „Garantien“ für eine staatlich „unantastbare“ Privatsphäre mit einem Federstrich und einer Abstimmung im Parlament außer Kraft gesetzt, polizeiliche Kontrollen und Ermittlungen von der engen Bindung an einen staatsanwaltschaftlichen Auftrag und eine richterliche Erlaubnis befreit, Verhaftungen und Abschiebungen ohne Einspruchsmöglichkeit erleichtert, Geheimdienste zu Gewalttaten ermächtigt, und was sonst noch alles zu den „Sicherheitspaketen“ gehört, die – rechtsförmlich, wie es sich gehört – seit dem 11. September in allen freiheitlichen Musterdemokratien „geschnürt“ werden. Die Ideologie, der bürgerliche Staat wäre darauf bedacht, seine Untertanen vor seiner eigenen Machtausübung in Schutz zu nehmen, kommt dabei nicht einmal zu kurz: Sie wird für bare Münze genommen, als wäre sie die sachliche Beschreibung der herrschenden Verhältnisse; nun aber nicht in der Absicht, den demokratischen Staat als wahr gewordene Freiheitsidee zu preisen, sondern um seine Förmlichkeiten als Selbstblockade der Macht zu verwerfen und eine gründliche Umstellung der Herrschaftssitten zu fordern, wenn die Nation gegen die terroristische Gefahr im Innern eine Chance haben will. Schutz vor dem Staat kann und darf nicht mehr verlangt werden, wenn und seit der Schutz des Staates an der Spitze der politischen Agenda steht: Das ist die neue Linie.
Wie gesagt: Diese selbstkritische Absage ergeht an eine Fiktion; allerdings an eine, die in der demokratischen Öffentlichkeit – vom Sozialkundeunterricht und der Politikwissenschaft ganz zu schweigen – eine große Rolle spielt und bis in Gesetzesformulierungen und höchstrichterliche Urteile hinein die Sitten und Gebräuche des bürgerlichen Rechtsstaats durchtränkt. Es ist daher auch nicht so, dass die Organisatoren der neuen Sicherheitskultur ihre großen Töne von der Unhaltbarkeit und prinzipiellen Revisionsbedürftigkeit aller bisherigen Staatssicherheit anstimmen würden, nur um dann den Datenaustausch zwischen ihren verschiedenen Behörden besser zu organisieren oder unbefangener gegen fromme Clubs mit verfassungsfeindlicher Zielsetzung vorzugehen. Es geht ihnen schon um mehr. Sie wollen einen Maßstab zur Beurteilung des Staates, seiner Regierung und der praktizierten Politik außer Kraft setzen, der bislang immer ziemlich wichtig genommen werden sollte; jahrzehntelang vor allem für den ideologischen Kampf gegen die ‚realsozialistische‘ Alternative. Ihre neue Sicherheitspolitik will die „westliche“ Demokratie grundsätzlich nicht mehr einer kritischen Würdigung aussetzen, die noch so tut, als wäre an formellen Beschränkungen staatlicher Allmacht irgendetwas Gutes. Damit ist in schlichtem Umkehrschluss auch schon das Kriterium festgesetzt, nach dem sie beurteilt werden will: Qualitätsmaßstab staatlicher Gefahrenabwehr unter den Bedingungen eines antiterroristischen Dauerkriegszustands ist die offensive Rücksichtslosigkeit gegen alles, was den Schein erweckt und bislang auch durchaus erwecken sollte, demokratisch-rechtsstaatliche Herrschaft wäre vorwiegend mit Rücksichtnahme auf Bürgerfreiheiten beschäftigt. Der Gewaltmonopolist will danach geschätzt werden, dass er es niemandem gestattet, schon gar nicht seiner alten Rechtslage, ihm „in den Arm zu fallen“, wenn er gerade gegen potentielle Staatsfeinde ausholt. In diesem Sinne können die regierenden Sicherheitspolitiker gerade der Vorstellung einiges abgewinnen, die Attentate in Amerika gehörten zu den Unkosten einer „offenen Gesellschaft“ und wären nur in einer Diktatur sicher zu verhindern: Sie – so geht der Gedanke bei ihnen weiter – lassen sich ihre „offene Gesellschaft“ von terroristischen „Schläfern“ jedenfalls nicht kaputt machen. Was Diktatoren für ihre bösen Zwecke fertigbringen, das schaffen sie für ihr gutes Ziel allemal; was Diktatoren als solche entlarvt und disqualifiziert, steht ihnen zu und ehrt sie als Retter der Demokratie. So möchten die Schilys der „westlichen“ Staatenwelt Politik machen, und daran wollen sie sich messen lassen.
Die fundamentalistische Selbstkritik der demokratischen Staatssicherheit läuft also auf einen verpflichtenden Blankoscheck für die umfassende Ausforschung der Bevölkerung und für Repression auf Verdacht hinaus. Und so einen Freibrief stellt eine Regierung sich keineswegs bloß aus Imagegründen aus, sondern weil sie ihren gesamten Sicherheitsapparat in einer Hinsicht eben doch ziemlich grundsätzlich runderneuern will. Neue Kompetenzen und neue Pflichten werden den Polizeien und Geheimdiensten, den Staatsanwaltschaften und den Ausländerbehörden, den Melde-, Sozial- und Arbeitsämtern und der militärischen Luftraumüberwachung ausdrücklich zugeteilt; Bedingungen und Fristen fürs Observieren, Belauschen und Verhaften werden aufgehoben; und darüber sollen überhaupt neue Sitten in den staatlichen Herrschaftsapparat einziehen. Denn der muss als erster merken und beherzigen, dass „es“ „nicht mehr so weiter geht wie bisher“. Eine Kultur des Misstrauens; das Aufspüren oder Schaffen von Verdachtsfällen, in denen der Verdächtigte seine Harmlosigkeit nachweisen muss; eine „Sensibilisierung“ der Behörden für Indizien, die geeignet sind, eine Verdächtigung zu begründen; Kooperation der Sicherheitsorgane über alle Kompetenzabgrenzungen hinweg; die vollumfängliche Widerlegung des von oben aufgebrachten Vorwurfs, „Datenschutz“ wäre „Täterschutz“; mehr Aufmerksamkeit auf „antiwestliche“ Einstellungen; mehr „Mut“, einem Verdacht auch einmal außerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Überprüfungspflichten nachzugehen – das wären so ein paar Bausteine für ein neues demokratisches Sicherheitswesen.
So ringen die verantwortlichen Amtsträger darum, den quantitativen Ausbau mit einem qualitativen Fortschritt ihrer demokratischen Staatssicherheit zu verbinden – und sind mit ihren antiterroristischen Reforminitiativen zugleich schon mitten drin in der Lösung ihrer zweiten Aufgabe: ihr Volk neu ein- und aufzustellen.
2. Das Volk wird imperialismusfest gemacht
Ihren Bürgern müssen die Kommandanten der inneren Abwehrfront beibringen, dass – irgendwie – Krieg ist, unmerklich sogar im eigenen Land, und dass deswegen der gesamte Betrieb unter einen großen Sicherheitsvorbehalt gestellt gehört. Der gesamte Betrieb – das bedeutet: die Bürger selbst mit allen ihren Aktivitäten. Denn letztlich sind, sicherheitspolitisch betrachtet, sie mit ihrem undurchsichtigen Privatleben der Sumpf, aus dem heraus die Terroristen zuschlagen. Deswegen müssen sie es sich gefallen lassen, kritisch beäugt und immer wieder einmal einem eingehenderen Sicherheits-Check unterzogen zu werden. Das sollen die guten Leute gutwillig hinnehmen; aber das ist noch das Wenigste, was ihr demokratischer Staat von ihnen verlangt. Als mündige und wahlberechtigte Bürger sollen sie darüber hinaus alles billigen, was der Staat für seine Sicherheit tut, also die Politiker danach würdigen und an die Macht wählen, wie glaubwürdig ihnen die Entschlossenheit vorkommt, mit der die Kandidaten gegen alle Freiräume vorgehen, in denen sich Terroristen verbergen könnten.
Für diese staats- und wahlbürgerliche Unterrichtseinheit erweist es sich als sehr funktional, dass sich zwischen den machthabenden Protagonisten der neuen Sicherheitskultur und den Anhängern des überkommenen Ethos staatlicher Selbstbeschränkung eine lebhafte Debatte über das dankbare Thema ‚Freiheit und/oder/statt Sicherheit‘ entspinnt. Denn natürlich gibt es noch öffentlich vernehmbare Stimmen, die „dem Menschen“ ein Recht auf Schutz vor staatlichen „Übergriffen“ zusprechen, sogar Parteien, die sich mit derartigen „Werten“ dem Wähler mal empfohlen haben und davon nicht lassen wollen. Die finden sich zu allerhand Bedenken herausgefordert, wenn der Gewaltmonopolist seine totalitäre Natur so offensiv gegen jedermann herauskehrt und die eigene Massenbasis als ein einziges Sicherheitsproblem behandelt. Zwar traut sich auch der liberalste Totalitarismuskritiker unter dem Eindruck des eingestürzten World Trade Center nicht mehr recht, der demokratischen Obrigkeit die Pflicht zu umfassender Volkskontrolle und -säuberung abzusprechen. Das Gerede von der „offenen Gesellschaft“, die durch terroristische Aktionen nicht kaputt gemacht werden dürfte, ist trotzdem oft genug so gemeint, dass der „totale Überwachungsstaat“ doch auch „keine Lösung“ wäre – zumal „die Terroristen“, von denen man sonst zwar nichts, das aber ganz genau weiß, es genau darauf doch bloß abgesehen haben: „unsere Freiheit“ kaputt zu machen. Speziell in der deutschen Bundesrepublik melden sich die letzten Experten der „Vergangenheitsbewältigung“ mit der Erinnerung zu Wort, so ungemein revolutionäre Einrichtungen wie die organisatorische Trennung von Polizei und Geheimdienst wären doch die Lehre, die „wir“ aus den „Verbrechen der Gestapo“ gezogen hätten, und plädieren dafür, diese antifaschistische Erbschaft nicht leichtfertig wegzuwerfen. Überhaupt stehen dem staatlichen Sicherheitsbedürfnis die unantastbaren bürgerlichen Freiheitsrechte entgegen, mit deren Ausübung die Menschheit bekanntlich von morgens bis abends beschäftigt ist…
Genau so sehen die Anwälte einer neuen Sicherheitspolitik
die Sache auch, wollen damit nur auf die genau
entgegengesetzte Schlussfolgerung hinaus und benutzen in
diesem Sinn die Bedenklichkeiten der notorischen
Bedenkenträger als Steilvorlage für ihre Agitation. Mit
Hitler lassen sie sich sowieso nicht vergleichen; die
Gleichsetzung ist für die „Feinde der offenen
Gesellschaft“ reserviert; und dass die Demokratie sich
vor denen gar nicht genug in Acht nehmen kann, darin
stimmen ja auch die liberalen Fossilien des
Antifaschismus den regierenden Terrorismusbekämpfern zu.
Und was die zu einer Kette von Freiheitsakten geadelten
Alltagsbeschäftigungen des erwerbstätigen Volkes
betrifft, so ist der New Yorker Massenmord an Tausenden
solcher Freiheitshelden doch wohl der schlagende Beweis
dafür, dass Freiheit ohne Sicherheit nichts ist – ohne
genau die Sicherheit, versteht sich, die der
Staat seinen Bürgern spendiert, wenn er verspricht, sie
fortwährend auf subversive Elemente hin durchzumustern
und davon zu säubern. Denn immerhin ist derselbe Staat
tatsächlich erst einmal mit der Durchsetzung von
Gewaltverhältnissen befasst, die, quasi als
„Kollateralschaden“, ganz viel Unsicherheit
stiften: Auf die ruinöse Benutzung des Globus
durch ihre Geschäftswelt setzen die „westlichen“
Demokratien ein Abschreckungsregime von überlegener
Brutalität oben drauf; und für die beständige
Reproduktion und Verteidigung dieser idyllischen
Verhältnisse machen sie ihr eigenes Bürgervolk haftbar,
eben als Truppe in einem permanenten antiterroristischen
Abwehrkrieg. Doch das ist in der offiziellen
Sicherheitsanalyse einfach als gegebene Lage
vorausgesetzt; und jede Ursachenforschung führt zu dem
Befund, dass an der Feindschaft, die die
imperialistischen Mächte sich mit ihrem segensreichen
Wirken weltweit einhandeln, selbstverständlich die Feinde
schuld sind. Vor denen müssen sie folglich ihr Volk auf
Biegen und Brechen schützen. Ganz von selbst verbietet
sich damit jede Vorstellung von der Art, dem Bürger täte
womöglich umgekehrt Schutz vor seiner Obrigkeit
und deren äußeren wie inneren Unternehmungen not. Die
Gleichheitszeichen zwischen Staatssicherheit und
Bürgerwohl[1]
geraten nicht einmal dann in ein schiefes Licht, wenn ein
Mann wie der deutsche Innenminister offen erklärt:
Eine Gefahr ist in Deutschland nicht zu erkennen, das
Land ist kein Ziel islamistischer Täter; das kann sich
aber ändern, sobald die Amerikaner ihren Gegenschlag
ausführen und Deutschland, womöglich an prominenter
Stelle, beteiligt ist.
Auf die Idee, die Nation
sollte sich dann doch besser heraushalten aus den
auswärtigen Gemetzeln, wenn daraus erst die
unkalkulierbaren „Gefahren für Leib und Leben der Bürger“
entstehen, vor denen ihr Staat sie unbedingt schützen
will, kommt auch in Deutschland niemand mehr, nachdem ein
roter Kanzler und ein grüner Außenminister drei Jahre
lang in Wort und Tat klargestellt haben, dass die einzige
Zukunft, die sie sich für ihr Land vorstellen können, im
Status einer in sämtliche Gewaltfragen auf dem Globus
aktiv eingemischten Weltwirtschaftsmacht liegt. In
rotgrüner Metaphorik heißt das: „Erwachsen werden!“ – und
wer könnte sich dem Charme dieses Imperativs entziehen.
Dann ist aber auch klar, dass der mündige Bürger die
Risiken seines volljährig gewordenen Gemeinwesens teilt –
und umgekehrt sich geschützt findet, wenn sein
Staat sich schützt; auch wenn jede Maßnahme
davon kündet, dass sein Staat es für nötig befindet,
sich vor ihm zu schützen.
Staatssicherheit ist also die wahre Bürgerfreiheit – und in gewisser Weise ist das ja auch wahr: Was den Leuten als ihr persönlicher Freiheitsraum eröffnet wird, ist faktisch nichts anderes als das Ensemble der Lebensbedingungen, die der Staat ihnen mit seiner hoheitlichen Gewalt als „die Realität“ vorsetzt und gegen jede Infragestellung, von außen wie von innen, absichert. Gemeint ist es freilich genau umgekehrt, nämlich so, dass die Staatsgewalt mit all den rechtlichen und institutionellen Existenzbedingungen, die sie ihren Bürgern aufzwingt, einen gesellschaftlichen Freiraum eröffnet, den kein Terrorist ihnen wegnehmen darf. Und so kommt die sicherheitspolitische Volksaufklärung bei ihren Adressaten auch an. Bürger, die nie und nimmer eine Kritik des Inhalts akzeptieren würden, dass ihre ganze wunderbare Freiheit nichts als der schöne Schein des staatlichen Gewaltmonopols ist und deswegen auch die terroristische Gefährdung ihrer Existenz ein Nebeneffekt des in ihrem Namen praktizierten Imperialismus ihrer Obrigkeit, verstehen umgekehrt ganz gut, sobald ihnen ein äußerer oder innerer Feind benannt wird, der die öffentliche Ordnung bedroht. Sie lassen sich sagen, dass Freiheit nichts wert ist, wenn es keine Sicherheit gibt, dass Freiheit vor allem Freiheit vor Terror, also Sicherheit, also Überwachung ist. Auch wenn die neuen Sicherheitsgesetze, einmal beschlossen, für alle gelten, sehen die Bürger dadurch nicht sich überwacht und unterdrückt. In der Stunde einer möglichen Gefahr begrüßen sie den „Großen Bruder“, der alles ausspioniert und im Griff hat; denn er verspricht fundamentalistische Ausländer zu entlarven und zu unterdrücken. Und gegen Ausländer ist alles recht. Sie sollen ruhig abgeschoben werden, ehe sie ihre Verbrechen begehen können. Sie sollen sich ruhig vom Verfassungsschutz auf Verfassungstreue testen lassen wie sonst nur Beamtenanwärter. Ihnen muss man beim Beten nachschnüffeln und die Genehmigung zu ihrem Gottesdienst entziehen, wenn sie dabei verkehrt politisieren. Gegen eine Ausforschung der eigenen Gesinnung haben gute Patrioten nichts einzuwenden – es ist ja die richtige! Durchleuchtung durch den Staat muss nur fürchten, wer etwas zu verbergen hat. Und ehrlicherweise sehen die Bürger ihre Freiheit durch die neue Dimension des Überwachungsstaates auch deswegen nicht bedroht, weil sie in Wahrheit keine unrealistische Vorstellung von dem haben, was sie ihre Freiheit nennen: Sie ist nichts anderes als ihr ganz normaler Alltag, ausgefüllt mit Arbeiten, Kaufen, „Stress“ haben – und die Leute nehmen zu Recht an, dass ihnen diese Freiheit keiner nehmen will. Zur Kritik am Staat, zur Gründung oppositioneller Parteien und für Protestdemonstrationen haben sie ihre Freiheit bisher auch schon nicht verwendet, und vom Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ haben sie nie etwas gemerkt.
Per Saldo gibt es in den freiheitlichen Demokratien des „Westens“ jedenfalls wenig auszusetzen an der Bereitschaft des Publikums, sich eine Art Dauerkriegszustand und eine entsprechende neue Überwachungs- und Säuberungskultur gefallen zu lassen und sogar seine politischen Sympathien nach dem Kriterium der Härte einer Sicherheitspolitik einzurichten, die zwischen innen und außen programmatisch keine Trennung mehr gelten lässt. Mehr Zweifel haben die Regierungen der „westlichen“ Frontstaaten daran, ob ihren Leuten der so nachdrücklich angesagte Ernst der Lage auch wirklich hinreichend unter die Haut geht, wenn ihr Alltag ansonsten fürs Erste wie gehabt weiter funktioniert; ob die Ansage, dass bedingungslose Treue zum Staat und seiner Führung durch alle kriegerischen Eskalationsstufen hindurch von ihnen verlangt ist, auch gescheit ankommt.
Diese Zweifel wiegen unterschiedlich schwer, je nachdem, woran die regierenden Demokraten ihr Volk bislang schon gewöhnt haben. Der fällige Nachhilfeunterricht fällt dementsprechend gleichfalls unterschiedlich aus – und besonders drastisch im deutschen Fall. Hier hat es sich der Kanzler der rotgrünen Koalition regelrecht zu seiner Mission gemacht, seinem Volk falsche Sicherheiten, die Abneigung gegen gefährliche Staatsunternehmungen und ein bloß touristisches Verhältnis zur auswärtigen Staatenwelt gründlich auszutreiben. Im Gleichschritt mit seinem neuen imperialistischen Engagement sollen die 80 Millionen Landesbewohner, die regieren zu müssen er sich rühmt, realisieren, dass sie als deutsche Privatpersonen zum Rest der Welt grundsätzlich in einem imperialistischen Gewaltverhältnis stehen und deswegen eine Regierung brauchen, die sie in diesem Verhältnis auf die richtige Seite führt. Sie müssen begreifen, dass die Zustimmung zu ihm – wie zu jedem anderen deutschen Regierungschef – ganz ausdrücklich die Ermächtigung einschließt, sie in Kriege und andere Ungemütlichkeiten von der Art zu verwickeln – natürlich unterhalb der Schwelle zum „Abenteuer“, die freilich nur die Regierung kennt. Eine wichtige Lektion in diesem Sinne war – jenseits aller koalitionstaktischen Erwägungen – die Sache mit der Vertrauensfrage: Dem Koalitionspartner mit seiner widerstrebenden Minderheit, und an diesem schwierigen Kompagnon exemplarisch der gesamten Nation mit ihren viel zu vielen skeptischen Stimmen und Stimmungen, hat der Kanzler die Klarstellung aufgenötigt, dass das politische „Vertrauen“, das der Wähler in der Wahlurne deponiert, die Freiheit des gewählten Chefs einschließt, rein aus imperialistischer Berechnung seinem Volk ein Sicherheitsproblem und seinen Soldaten einen Kriegseinsatz zu verordnen, und dass es ohne diese letzte Konsequenz rein gar nichts wert wäre. Ein kriegsentwöhntes Volk sollte die zukunftsweisende Erinnerung verpasst kriegen und ist an die brutale Selbstverständlichkeit erinnert worden, dass die Freiheit ihren Preis hat und das Privileg, Bürger einer imperialistischen Nation zu sein, ohne eine gute Chance, für deren Ambitionen zu Gewaltaktionen herangezogen und auch selber verheizt zu werden, nicht zu haben ist.
[1] Schon der selige
Stasi-Chef Mielke meinte ganz im Ernst: Ich liebe
euch doch alle!
Über den haben aber alle gelacht.