Ungarn – von der Krisenbewältigung zum Aufstand gegen das EU-Regime
Eine nationale Abrechnung mit dem Bündnis

Seitdem Viktor Orbán Politik für Ungarn macht, ist das Land immer mehr ins europäische Abseits geraten. Es steht unter verschärfter Beobachtung von seiten der EU-Kommission und des EU-Parlaments; der Verdacht auf Regelverstöße, gegen die Gebote des freien Kapitalverkehrs ebenso wie gegen die des guten demokratischen Regierens, betätigt sich in laufenden Beanstandungen, Vertragsverletzungsverfahren und Sanktionsdrohungen gegen das unzuverlässige, wenn nicht unwürdige Mitglied der EU.

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Ungarn – von der Krisenbewältigung zum Aufstand gegen das EU-Regime
Eine nationale Abrechnung mit dem Bündnis

Seitdem Viktor Orbán Politik für Ungarn macht, ist das Land immer mehr ins europäische Abseits geraten. Es steht unter verschärfter Beobachtung von seiten der EU-Kommission und des EU-Parlaments; der Verdacht auf Regelverstöße, gegen die Gebote des freien Kapitalverkehrs ebenso wie gegen die des guten demokratischen Regierens, betätigt sich in laufenden Beanstandungen, Vertragsverletzungsverfahren und Sanktionsdrohungen gegen das unzuverlässige, wenn nicht unwürdige Mitglied der EU.

Umgekehrt ist aber auch die EU in Ungarn nicht mehr gut angesehen. Wenn der Regierungschef seine Anhänger zur Unterstützung der ungarischen Regierung gegen den Druck aus der EU einbestellt, demonstrieren mehrere Hunderttausend unter der Parole Wir werden keine Kolonie sein! Orbán:

„Die EU ist 65 Jahre alt, der IWF 67 Jahre, die Vereinigten Staaten 236 Jahre, aber Ungarn ist 1116 Jahre alt.“ (FAZ, 24.2.12)

Unter Berufung auf den Heroismus seiner Nation in der jüngeren Geschichte, den 56-er Aufstand, instruiert er sein Volk am Nationalfeiertag über den aktuellen Freiheitskampf, diesmal allerdings gegen die EU und ausländische Konzerne (Ungarn baut um, derstandard.at, 28.10.13), und ruft auf zur nationalen Einheitsfront:

„Verräter und innere Feinde der Nation hätten mit feindlich gesinnten Ausländern paktiert, um das Land und seine Menschen den Bürokraten der Europäischen Union, den Spekulanten und der internationalen Finanzindustrie auszuliefern. Doch die Nation habe entschieden, nicht mehr in der Gefangenschaft des Auslands zu leben, sie werde gegen Kolonisierung und für ihre Selbstbestimmung kämpfen. ‚Bringen wir unsere Truppen in Stellung!‘“ [1]

In den Institutionen der europäischen Gemeinschaft, die Ungarn in den gemeinsamen Markt eingegliedert haben, im Kreis der Banken, die es mit den Segnungen des Kreditgeschäfts bekannt gemacht haben, hat Orbán im Verlauf der Krise endgültig ein feindliches Lager von Ausländern, Bürokraten und Spekulanten identifiziert, dem Ungarn die Stirn bieten muss, und der Linie verdankt er auch seine Wahlsiege. Nachdem seine Nation zum ersten europäischen Opfer der Lehman-Krise gerät, die Finanzmärkte die Staatsverschuldung als problematisch einstufen, Kapital abziehen, so dass die Währung abstürzt, keine weiteren Kredite vergeben werden und Ungarn ein Beistandsabkommen mit dem IWF abschließen muss, nachdem eine „Technokratenregierung“ unter Aufsicht des IWF zwei Jahre lang ein Krisenbewältigungsprogramm mit Spar- d.h. Verelendungsmaßnahmen comme il faut durchzieht, kommt Orbáns Partei Fidesz (Ungarischer Bürgerbund) 2010 mit einem Erdrutsch-Wahlsieg von 53 Prozent an die Macht, die sie sich 2014 erst in Parlamentswahlen, dann in den Europawahlen und zuletzt in Kommunalwahlen grandios bestätigen lässt: Orbán personifiziert eine Krisenbewältigung der anderen Art, geißelt die Abhängigkeiten, in die der nationale Aufbruch per Marktwirtschaft & Demokratie seine Nation verstrickt hat, mit Parolen wie Kolonialisierung als Angriff auf die Staatsmacht, die durch Verschuldung geknechtet und durch auswärtige Instanzen, den IWF und die EU-Kommission, ihrer souveränen Rechte beraubt werden soll.[2]

Auf die Weise zieht Orbán seine Bilanz über 24 Jahre freies Ungarn – eine Abrechnung mit dem europäischen Weg, den Ungarn eingeschlagen hat. Was er da alles als beträchtlichen Verlust unseres nationalen Vermögens in den letzten 20 Jahren (Orbán, Die Welt, 15.4.13), also als schiere Enteignung der Nation zusammenfasst, sind einerseits die ökonomischen Resultate des Systemwechsels, wie sie alle in die EU eingemeindeten osteuropäischen Staaten inkl. der ehemaligen DDR zu verzeichnen haben: Im Wesentlichen vollzieht sich eine großangelegte Abwicklung anstelle des erwarteten freiheitlichen Aufschwungs. Was daneben an Geschäft zustande kommt, findet überwiegend unter der Regie und zum Nutzen der Bilanzen von auswärtigem Kapital statt, während ganze Produktionszweige, für die sich kein auswärtiges kapitalstarkes Interesse findet, u.a. die unter dem realen Sozialismus produktive ungarische Landwirtschaft, kaputtgehen und der Staatsmacht einen Haufen existenzunfähiger Kostgänger hinterlassen.[3] In der Umrüstung zu einem Kapitalstandort, aber mit einem elementaren Mangel an nationalem Kapital ausgestattet, hat sich die Nation in einen Standortvergleich hineinbegeben, in dem sie nicht viel mehr als die geographische Nähe zu den europäischen Wachstumszentren und eine gut ausgebildete und preiswerte Arbeiterschaft anzubieten hat, also ganz darauf angewiesen ist, das Interesse internationaler Konzerne auf sich zu ziehen – in Konkurrenz zu den osteuropäischen Nachbarstaaten, die mit ziemlich denselben Angeboten aufwarten. Die Entwicklung fällt demgemäß aus: Anstatt zu blühen, veröden ganze Landstriche, die frühere Industrie bricht zusammen, an ihre Stelle treten wenige produktive Zentren, in denen vor allem die deutsche Autoindustrie samt Zulieferern die Billigangebote an ungarischer Arbeitskraft würdigt und ausnützt.

Entsprechend heftig schlagen daher die Krisenrechnungen des Kapitals gegen Ungarn aus: Die Märkte bewerten die Staatsschulden, die die Vorgängerregierungen bei der notdürftigen Aufrechterhaltung eines gesellschaftlichen Lebens akkumuliert haben und die die von Europa vorgegebenen Maastricht-Grenzen überschreiten, als nicht länger vertrauenswürdig, entziehen Ungarn ihren Kredit und bringen den Staat an den Rand des Staatsbankrotts. Dank seiner ökonomischen Abhängigkeit vom Auslandskapital macht Ungarn dann auch Bekanntschaft mit den politischen Zwängen, die man sich als Schuldnerstaat gefallen lassen muss, mit Sparauflagen des IWF und Defizitverfahren aus Brüssel. Die Staatsführung verliert die Freiheit zur souveränen Gestaltung ihres Haushalts und sieht sich dazu beauftragt, die weitere Verelendung ihres Volks und Verwahrlosung des Standorts zu verwalten.

Gegen das Kombinat von Krisenwirkungen und politischen Diktaten stellt sich Orbán auf und reklamiert das Recht seiner Nation auf Erfolg: Schließlich war die Befreiung aus der Rolle eines Satellitenstaats angesagt. Auf einen solchen Handel mit Europa beruft sich die heutige ungarische Führung, zumal sie den Sturz der Sowjetherrschaft nicht zuletzt sich selbst als ihre historische Leistung zurechnet. Die Erinnerung daran, wer denn als erster den Grenzzaun zerschnitten und DDR-Bürgern die Freiheit geschenkt habe, unterstreicht den Anspruch, was umgekehrt Europa und die Führungsmacht Deutschland vorneweg mit der Anerkennung ihres unverbrüchlichen Rechts auf nationale Größe und Selbstbehauptung zu entgelten hätte. Was den Nationen im Sowjetblock vorgeblich alles an Entwicklung versagt geblieben ist, das sollte schließlich dank der Aufnahme in die EU und Teilnahme am europäischen Markt verwirklicht werden. Dafür stehen die offiziellen Parolen vom Aufholprozeß und der Angleichung der Lebensverhältnisse, mit denen Europa die osteuropäischen Nachbarn angeworben und eingemeindet hat. Auf dem Weg zu diesem Ziel, im Rahmen ihrer Transformation haben die Reformregierungen zwar allerhand Rosskuren und Durststrecken als notwendige Etappen begriffen und durchexerziert; aber die Frage, wozu das alles gut sein soll, bleibt natürlich bestehen. Auch die Zuversicht spendende, wenn auch ein wenig verlogene offizielle Deutung für die zweifelhaften Erfolge bei der Anwendung der bewährten marktwirtschaftlichen Rezepte – der Verweis auf die historischen Hypotheken dieser Länder, ihre rückständige Verfassung, die sie der Sowjetherrschaft zu verdanken haben sollen – ist über lange Zeit und bei den meisten in Kraft geblieben; dem ungarischen Staatschef aber genügt das nach 20 Jahren Erfahrungen in der freien Welt nicht mehr, er hat sich da einen anderen Standpunkt zurechtgelegt, was seiner Nation zusteht und gegen wen sie das heutzutage durchzufechten hat.[4]

Dem krisengeschärften Blick des Staatschefs drängt sich da die Deutung des ganz und gar nicht bestellten Schadens, den der Aufbruch seiner Nation gezeitigt hat, als Resultat ungarnfeindlicher Zwecke, mindestens als unterlassene, Ungarn aber zustehende Hilfeleistung auf: Wenn die auswärtigen Instanzen, statt bei ungarischen Erfolgen behilflich zu sein, ein Geschäftswesen auf Kosten der Nation betreiben, plündern sie Ungarn aus. Wenn IWF und EU mit ihren sogenannten Sachzwängen der Marktwirtschaft und ihren einschlägigen Rezepten, wie sich eine Nation ökonomisch gesundschrumpfen und per Haushaltskonsolidierung zur vertrauenswürdigen Anlagesphäre herzurichten hat, den Sachwaltern der souveränen Nation abverlangen, ihren wirtschaftlichen Ruin und ihre politische Degradierung zuzulassen, muten sie ihnen zu, Volk und Staat zu verraten und verkaufen. Wenn statt der Befreiung der Nation zu ihrem Erfolg das Gegenteil eingetreten ist, sind auswärtige Feinde darauf aus, das Reich der Magyaren in eine Kolonie zu verwandeln.

Gegen die muss das gedemütigte Ungarn sich behaupten, acquis communautaire, Brüsseler Vorschriften und Berliner Diktate hin oder her. Also entwickelt sich das Land vom Musterknaben in Sachen Einführung von Marktwirtschaft & Demokratie zum Störfall in Europa, und das nationale Pathos des Befreiungskampfs ist ernst gemeint: Fidesz probiert den Aufstand gegen die europäischen Führungsmächte und erteilt dem bisherigen Kurs der mehr oder weniger bedingungslosen politischen und ökonomischen Unterordnung unter die EU, dem Erfolgsgeheimnis des EU-Imperialismus in Osteuropa, eine Absage, betreibt ein Stück Zersetzung der EU.

1. Eine abweichende nationale Antwort auf die Krise: Krisenbewältigung als Freiheitskampf

Aufgrund der politischen Krisendiagnose Orbáns fällt seine Linie der Krisenbekämpfung mit einem Kampf gegen die mehr oder weniger verbrecherischen Machenschaften ausländischer Instanzen zusammen. Er erhebt Einspruch gegen das Urteil des Weltmarkts über die Potenz der Nation, gegen die Herabstufung zum Schuldnerstaat, er legt ebenso Einspruch ein gegen die in der EU verbindlich gemachte Sorte Krisenbewältigung per Sparhaushalt und gesteigerten Offerten in Sachen Verbilligung und Flexibilisierung der nationalen Arbeitskraft. Vom IWF verlangt er das Recht auf eine Kredithilfe ohne Auflagen, die die Nation beschränken, die Weigerung wird mit einer vorzeitigen Rückzahlung des IWF-Kredits zur Beendigung des IWF-Regimes beantwortet: Kehrt der IWF ins Land zurück, werde ich gehen.[5] Im Kampf um die Wiederherstellung des souveränen Rechts auf eine der Rettung der Nation dienliche Haushaltsgestaltung verlegt er sich auf das Mittel, über das auch eine krisengeschädigte Staatsmacht immer noch gebietet: die hoheitliche Verfügung über ihr Inventar.

Sonder- und andere Steuern

Um Ungarn aus den Zwängen des IWF freizukaufen und auch den von der EU angedrohten Defizitverfahren auszuweichen, bedient sich die ungarische Regierung angesichts der Grenzen weiterer Verschuldung – wegen der Skepsis der Finanzmärkte und der Maastricht-Kriterien – einer Methode der Geldbeschaffung, die Organe wie die FAZ, leicht befremdet, als unorthodox kennzeichnen: Statt das auswärtige Kapital rundum zu hofieren, in der Berechnung, dass es Ungarn als Anlagesphäre wieder aufwertet und benützt – das wäre wohl die orthodoxe Methode, die sich für Schuldnerstaaten gehört –, greift die Orbán-Regierung auf die Geldquellen zu, die sie unter ihrer nationalen Fuchtel hat, nämlich auf Branchen, wo Geld zu holen ist:

„In der Krise sind quer durch alle Branchen die Gewinne eingebrochen. Banken, Energie, Telekommunikation und Einzelhandel waren die Branchen, in denen weiter Gewinne gemacht wurden. Wir finden, dass, wenn es eine Krise gibt, alle ihren Anteil leisten müssen, und deshalb werden Unternehmen aus diesen Branchen in der Krise mit Steuern belegt.“ (Der ungarische Finanzminister M. Varga, Die Welt, 14.4.13)

Dabei ist der Regierungsmannschaft an der Geschäftswelt, die sich im Land umtreibt, ein gewichtiger Unterschied aufgefallen: Wenn internationale, d.h. vorwiegend deutsche Autokonzerne samt Zulieferern das Land als ihren Standort zurichten, immerhin einen kleinen Teil des Volks zum nützlichen Mitglied seiner nationalen Gemeinschaft machen und der Nation Exportgewinne verschaffen, machen sie sich trotz ausländischer Herkunft um Ungarn verdient.[6] Aber am Geschäft der Banken, auswärtigen Handelsketten, Medienkonzerne und, als letzter Fall, der Internet-Unternehmen kann sie keinen nützlichen Beitrag entdecken. Die Branchen haben vielmehr den regierungsamtlichen Verdacht auf sich gezogen, das Volk zu schädigen, in seiner Tauglichkeit als nationaler Dienstleister, in seiner materiellen Existenzsicherung oder sittlichen Verfassung. Diese Kapitalgesellschaften müssen daher dienstverpflichtet werden, ihren Teil der Last zu tragen (der ungarische Außenminister János Martonyi, FAZ, 5.2.14), wie alle anderen Mitglieder der Volksgemeinschaft ihren gerechten Beitrag zur Rettung der Nation abzuleisten,[7] – womit der Kampf gegen volksfeindliche Gewinne und Geschäfte eröffnet ist.

In erster Linie gegen die der Banken:

„Heute haben wir die Situation, dass man spekulieren kann gegen dieses oder jenes Land oder gegen den Euro. Man kann auf das Scheitern bestimmter Länder wetten und damit Profit machen. Die Kosten für die so geschwächten und in den Bankrott getriebenen Staaten werden den Bürgern aufgebürdet, das ist inakzeptabel. Das muss gegen die Geldmärkte geregelt werden.“ (Orbán, Die Welt, 15.4.13)

Als zweites werden die ausländischen Ketten, die die Handelssphäre okkupiert haben, mit einer millionenschweren Krisensteuer belegt (Die Presse, 4.4.14). An einem Geschäft, das die vaterländische Landwirtschaft missachtet, ruiniert und mit dem Import schlechter ausländischer Ware letztlich nur Geld aus dem Land herauszieht, kann die Regierung keinen guten nationalen Sinn entdecken:

„Was ist daran fortschrittlich, so fragte Orbán, dass sogar die Landbevölkerung ihr Gemüse, womöglich noch ‚importierten ausländischen Dreck‘, in großen Hypermarkets einkauft, während die Flächen hinter dem Haus verfallen.“ (Pester Lloyd, 18.1.12)

Drittens führt die ungarische Regierung einen anhaltenden Kleinkrieg gegen den Sender RTL, der den privaten Fernsehsektor beherrscht und mit „Schmutz und Schund“ vergiftet, zunächst mit Geldstrafen – Die Strafe in Höhe von 278 Mio. Forint (ca. 950 000 €) richtet sich gegen die in der vierten Staffel der Realityshow Való Világ (Big Brother) gesendeten Verstöße gegen das Mediengesetz: Obszöne Sprache, Alkoholkonsum, Rauchen und andere jugendgefährdende Inhalte..., so dass sich die gesamte Strafhöhe mittlerweile auf ca. 1.7 Mio. € beläuft, Landesrekord.“ (Pester Lloyd, 18.10.11) – 2014 dann mit einer maßgeschneiderten Mediensteuer.[8]

Vom auch anderen Orts beliebten Verfahren der Steuerpolitik, die staatliche Geldbeschaffung mit einem extra guten Grund zu versehen und den Erwerb moralisch oder sonstwie zweifelhafter Güter mit einer staatlichen Gebühr zu belasten, macht die ungarische Regierung ausgiebig Gebrauch – am eingerissenen Konsum ist vieles ungesund.[9] Und überhaupt ist Arbeiten viel gesünder als Konsumieren: Varga betonte, dass man an dem Grundsatz festhalte, Arbeit steuerlich zu entlasten, dafür Konsum stärker zu besteuern. (Pester Lloyd, 21.10.14)

Die Staatsgewalt macht sich zum Schutzherren der Überlebensbedingungen ihrer Volksmassen – wo sie auswärtigen Übergriffen ausgesetzt sind: Fremdwährungskredite

Der ungarische Anti-Kapitalismus verfolgt den Verdacht auf sozial-schädliche Arten der Bereicherung auch in anderer Hinsicht. Orbán verteidigt seine abweichende Politik mit einer Definition der Menschenwürde, die sie in der Hauptsache durch Verschuldung verletzt sieht:

„Ich bin nicht beauftragt worden, eine Mainstream-Politik zu machen. Sondern ich muss das Land mit den schwierigsten Fragen konfrontieren und für diese Lösungen anbieten. Das sind: Achtung der Menschenwürde – 2010 war das überhaupt nicht der Fall. Wir hatten eine Verschuldung, die sich auf alle Ebenen auswirkte. Die Familien standen bis zum Hals in Schulden, so dass ihr alltägliches Leben viel eher Schuldsklaverei ähnelte und die Gemeinden und den Staat lähmte.“ (FAZ, 16.4.13)

Die Methode, mit der sich das Kreditgewerbe eine größere Klientel in Ungarn erschlossen hatte – die Banken beschaffen sich Kredit im Ausland zu niedrigen Zinsen, um sich mit Krediten, in der Hauptsache Hypotheken, die die nationale Zinshöhe stark unterbieten, einen ausgedehnten Kundenkreis an Land zu ziehen –, hat nämlich einen entsprechend großen Teil der ungarischen Bevölkerung ruiniert: Nachdem dasselbe Kreditgewerbe dem ungarischen Standort und seinem Geld das Vertrauen entzogen und den Forint herunterspekuliert hat, wird die Kundschaft mit einer entsprechend explodierenden Schuldverpflichtung konfrontiert nach dem ehrenwerten kaufmännischen Prinzip: Das Wechselkursrisiko müsse beim Bankkunden liegen, schließlich habe er dafür günstige Zinsen erhalten. (Der Vertreter der Banken, FAZ, 24.9.14) Ganz im Sinne dieses gerechten Tauschs, kurzfristig günstige Zinsen gegen den langfristigen Ruin der bürgerlichen Existenz, lassen die Banken ihre Schuldner auch noch mit steigenden Zinsen an ihren Problemen teilhaben:

„In der Finanzkrise verfiel der Forint, bis er nur noch halb so viel wert war wie zuvor. Hinzu kam, dass die Banken die Zinsen verdoppelten, um die Refinanzierung an den turbulenten Märkten bezahlen zu können. Als Folge wurde ein Viertel der Hypotheken notleidend.“ (FAZ, 24.9.14)

Mit einem solchen privaten Schuldenstand von 40 % des Bruttosozialprodukts – zwei Drittel der Kredite lauteten auf Devisen, davon 90 Prozent auf Schweizer Franken, den Löwenanteil bilden Hypotheken – steht das Land vor einer

„sozialen Zeitbombe, der Verschuldung von geschätzt 800 000 Haushalten. (...) In Ungarn bekamen jahrelang Menschen Kredit, die in vielen westlichen Ländern nicht einmal einen Termin beim Bankberater bekommen hätten. (...) In vielen Haushalten wird über die Hälfte des verfügbaren Einkommens durch Ratenzahlungen gebunden. Seit der Aufhebung des Moratoriums für Zwangsversteigerungen, stiegen diese in 2012 bereits auf über 11 000 an.“ (Pester Lloyd, 3.10.12)

Die Fidesz-Regierung stellt sich angesichts dieses Desasters auf den Standpunkt, die Finanzinstitute hätten die Naivität der Kunden missbraucht und hätten deshalb auch die entstandenen Verluste zu tragen (NZZ 17.12.13), und agiert unter Einsatz ihrer staatlichen Hoheit: Per Gesetzgebung und Ausrichtung des Justizapparats werden die Banken

„zur ‚Rechenschaft‘ gezogen. Dies sei im ‚Interesse des Gemeinwohls‘ und eines ‚gerechteren Lebens‘. Die Banken müssten zu mehr Fairness gezwungen werden.“ (Die Presse, 26.9.14) „Orbán verteidigte die rückwirkende Aktion als ‚im Interesse des Allgemeinwohls‘, Banken seien ‚nicht von Natur aus schlecht‘, aber sie müssten kontrolliert werden‘.“ (Pester Lloyd, 16.9.14)

Die Geschäftspraktiken der Banken werden mit Hilfe von Gesetzen, die die staatsmoralische Verurteilung ungerechtfertigter Gewinne in einen juristischen Tatbestand verwandeln, nachträglich kriminalisiert. In einem Rechtsstreit durch verschiedene Instanzen hindurch werden die Banken auf einen staatlich festgelegten Wechselkurs zur Tilgung der Schulden und die entsprechende Verminderung ihrer Forderungen verpflichtet, um einen Teil der Kreditnehmer zu entschulden:

„Die Regierung Orbán setzte 2011 ein Sondertilgungsrecht zu privilegierten Konditionen durch. Wer in der Lage war, den ganzen Kredit auf einmal abzulösen, erhielt einen Kurs von 180 Forint je Franken – 30 Prozent unter dem Marktwert. Fast 1400 Milliarden Forint (4,4 Milliarden Euro), ein Viertel der Gesamtsumme, wurden auf diese Weise getilgt. Den Banken entstand ein Verlust von mindestens 1,1 Milliarden Euro.“ (FAZ, 24.9.14)

Zeitweilig gilt ein Verbot der Entmietung der vormaligen Hauseigentümer – ein weiterer Angriff auf das Vermögen der Banken:

Die Immobilien als Sicherheiten zu verwerten war schwierig. Nicht nur, weil die Hauspreise verfielen, sondern auch, weil eine Neuregelung verbot, den Selbstnutzern zu kündigen. Statt Eigentümer waren sie nun Mieter in einem Haus, das der Bank gehörte, das diese aber nicht loswurde. (a.a.O.)

Bei der Verfolgung und Bestrafung ungerechtfertigter Forderungen stößt der Justizapparat auf weitere Straftaten der Banken:

„In einem dieser Zivilprozesse gegen die ungarische OTP hat das Höchstgericht (...) mehrere Vertragsklauseln für illegal erklärt, die auch in tausenden anderen Verträgen Anwendung gefunden haben. Eine dieser Klauseln betrifft das Recht der Bank, einseitig und ohne nachvollziehbare Begründung die Zinsen für die Kunden anzuheben. Die zweite Klausel dreht sich um die Art, wie die Wechselkurse berechnet wurden. Fremdwährungskredite laufen zwar in Devisen, die Banken in Ungarn zahlten den Kredit aber in Forint aus, und auch der Kunde musste in Forint tilgen. Bei der Auszahlung des Darlehens berechneten die Kreditinstitute den zu zahlenden Forintbetrag auf Grundlage des Einkaufspreises für Franken. Bei der Tilgung wurde dem Kunden aber der Frankenverkaufspreis verrechnet. Die Differenz strichen die Institute als Gewinn ein. Da nie wirklich Forint in Franken getauscht wurden, sei die Vorgehensweise illegal, urteilte nun das Höchstgericht.“ (Der Standard, 28.6.14)

Für solche mehr oder weniger bankübliche Praktiken geht den Richtern jedes Verständnis ab, der Oberste Gerichtshof erlässt ein Urteil, wonach Banken Profite aus ‚unfairen‘, einseitigen Vertragsänderungen an die Kunden zurückzahlen müssen. (Pester Lloyd, 16.9.14) Im Kampf gegen die ruinöse Verschuldung der Bevölkerung wird die Kategorie der ungerechtfertigten Gewinne dann auch auf in der Landeswährung verliehene Kredite ausgedehnt:

„Die Rückzahlung von nicht mehr als gerechtfertigt eingestuften Gewinnen wurde kurzerhand auch auf Forintkredite ausgeweitet, was die Bürde für die Banken des Landes auf über 3 Mrd. Euro erhöht.“ (Pester Lloyd, 16.9.14)

Senkung der Wohnnebenkosten als nationale Kampagne

Auch bei anderen Geschäftszweigen hat die Fidesz-Regierung verbrecherische Gewinne auf Kosten ihrer Volksgenossen ermittelt, v.a. in der Versorgungsbranche, in der sich auch hauptsächlich ausländische Unternehmen breitgemacht haben. Dass sie bei den Kunden Preise abkassieren, die zu den höchsten in ganz Europa zählen, erwähnen auch deutsche Organe bei der Gelegenheit schon einmal; das hindert sie aber nicht im Geringsten daran, gegen Orbán, der Eon und Konsorten den Wohnnebenkostenkampf erklärt, den Vorwurf des Populismus zu erheben.

„Seit 2013 müssen alle Ungarn ein Fünftel weniger für Gas, Strom und Wasser zahlen, Hauseigentümer, Mieter und auch Unternehmer. Orbán verkaufte dies als großen Erfolg gegen ausländische Energiebetriebe, die die Ungarn ‚ökonomisch ausquetschen wollen‘.“ (Die Zeit, 8.4.14)

Er sorgt für die Dankbarkeit seiner Untertanen, indem er die Versorger dazu zwingt, auf den Rechnungen auszuweisen, um wie viel sie dank der Vorgaben der Regierung gesunken seien (FAZ, 12.4.14), und legt sich mit der EU an,

„die derzeit prüft, ob die Art und Weise der Preissenkungen gegen Gemeinschaftsrecht verstößt. Orbán und Fidesz erklären in der Öffentlichkeit, es seien die ausländischen Konzerne, die auf dem Rücken der ungarischen Verbraucher ‚ungerechtfertigte Zusatzgewinne scheffeln‘ würden, während die EU ihnen dabei helfe, sich diese Profite zu sichern.“ (Bundeszentrale für politische Bildung)

Ein Gesetz über „Konsumentenschutz“ soll in Zukunft die Energieversorgung sowie die Wohnnebendienstleistungen überhaupt zu einem staatlich monopolisierten Non-Profit-Sektor erklären (Pester Lloyd, 16.9.14), denn offenbar können wir die Preise für Strom, Gas und Fernheizung gar nicht genug senken, die Multis machen trotzdem noch Gewinne. (Fidesz-Fraktionschef Rogán, Pester Lloyd, 22.9.14)

Vorerst werden die Versorgungsunternehmen mit einer weiteren Sondersteuer auf den Dienst an der Nation verpflichtet, die sogenannte Kabelsteuer, die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – jeden Meter Versorgungsleitung (Gas, Strom, Wasser, Telekommunikation etc.) mit einer Steuer belegt. (auswaertiges-amt.de)

Die von Steuern oder Preisfestlegungen betroffenen Konzerne treten in Brüssel an, dort werden allerhand Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit im Rahmen des acquis eingeleitet, was umgekehrt die ungarische Regierung in ihrer Auffassung von ihrem gerechten Kampf gegen diese Kolonialisierung nur bestärkt.

Kampf gegen das Kapital als Instrument auswärtiger Hegemonie: Nationalisierung ...

Im Streit mit auswärtigen Banken, Energiemultis, Medienkonzernen und deren staatlichen Hütern hat die Orbán-Regierung die Überzeugung gewonnen, dass sie sich generell mehr an Kontrolle und Befehlsgewalt über deren Treiben auf ihrem Territorium verschaffen muss. Sie tritt an, die Dienste des Kapitals von der damit eingekauften Herrschaft zu trennen, die Banken vom Dienstleister für auswärtige in Hebel für inländische Wirtschaftserfolge umzufunktionieren.[10] Und wenn sich die Rechnungen der Banken nicht mit der Förderung der nationalen Wirtschaft vertragen, können sie ebensogut das Land verlassen – und der Staat nimmt Teile der Kreditwirtschaft in die eigene Hand:

„Budapester Medienberichten zufolge soll der ungarische Staat bereit sein, Raiffeisen und der Erste Bank die Budapester Töchter abzukaufen. Erst im Sommer zog sich die Bayerische Landesbank aus dem osteuropäischen Land zurück. Ungarn zahlte den Bayern 55 Millionen Euro, gleichzeitig musste die BayernLB aber auf Forderungen von 270 Millionen Euro verzichten. In Summe setzten die Bayern in Ungarn zwei Milliarden Euro in den Sand. „Presse“-Informationen zufolge könnten sich Raiffeisen und Erste Bank auch nur mit Verlusten aus Ungarn zurückziehen. Somit halten sie an ihren Budapester Töchtern fest.“ (Die Presse, 26.9.14)

Auch der Nationalkredit wird ganz für die Förderung eines heimischen Wirtschaftswachstums eingespannt. Die Ratschläge des IWF, mit hohen Zinsen für die internationale Vertrauenswürdigkeit des Forint zu sorgen, werden abschlägig beschieden, stattdessen soll die Nationalbank die heimische Wirtschaft mit Niedrigzinsen zu Wachstum animieren. Dementsprechend wird der Chef der Nationalbank ausgewechselt – was wiederum ein Aufsichtsverfahren bei der EU zur Folge hat: Ungarn beendet beispiellosen Zinssenkungszyklus / Forint fast stabil / Aber der Ruf der Notenbank hat gelitten. (FAZ, 24.7.14)

Auch der Streit mit europäischen Energiemultis wird durch den Rückkauf von Unternehmen beendet, RWE und Eon ziehen sich zum Teil aus dem Ungarn-Geschäft zurück, das schließlich auch daran leidet, dass allzu viele Kunden ihre Rechnungen nicht bezahlen können.

„So hat die ungarische Regierung vergangenes Jahr die Tochterfirma der deutschen RWE in Ungarn für 136 Millionen Euro gekauft. Der Staat hat auch den ungarischen Teil des Konzerns Eon aufgekauft, der für Gaslieferungen zuständig ist.“ (Die Zeit, 8.4.014)

... und alternative Lösungen

Auf dem Gebiet der Energieversorgung hat die ungarische Regierung schließlich auch Mut zu Alleingängen, mit denen sie sich wiederum in der EU nicht beliebt macht: Mitten in der Ukraine-Krise schließt sie mit Putin einen Vertrag über die Modernisierung und den Ausbau des ungarischen AKW mit russischem Kredit: Das Atomkraftwerk Paks deckt mit seinen vier Reaktoren des Typs WWER-440 zirka 40 Prozent des Strombedarfs des Landes (RIA, 14.1.14), und mit dem Ausbau um zwei weitere Reaktoren kommt die rohstoffarme Nation einer weitgehenden Selbstversorgung mit Energie schon sehr viel näher – ein politischer Gewinn, der ihr die damit einhergehenden Verpflichtungen in Richtung Russland durchaus wert ist:

„Finanziert werden sollen die Bauarbeiten aus einem russischen Staatskredit, dessen Höhe bis zu zehn Milliarden Euro betragen könnte. Die genaue Summe soll ebenso wie die konkreten Bautermine noch vereinbart werden. Laut dem Abkommen übernimmt Russland zudem die Belieferung des AKW mit Brennelementen, die Verarbeitung des Atommülls und die technische Wartung.“ Putin verspricht zudem die Stiftung ungarischer Arbeitsplätze: „Das ist ein einzigartiges Abkommen, weil rund 40 Prozent der Bauarbeiten von ungarischen Unternehmen übernommen werden. Darüber hinaus würden Arbeitsplätze in Ungarn mit etwa drei Milliarden US-Dollar unterstützt werden.“ (a.a.O.)

Aus ungarischer Sicht fällt Russland offenkundig nicht unter die Kategorie eines feindlichen Auslands, schließlich kämpft es zur Zeit mit Sonderangeboten um seine Rolle in der europäischen Energieversorgung. Außerdem hat Ungarn seine spezielle Last an der von der EU beschlossenen Ukraine-Politik zu tragen, neben den Sanktionen den Beschluss zur Versorgung der Ukraine, weswegen für Ungarn bestimmte Gaslieferungen seit ein paar Monaten in der Ukraine verbleiben und die ungarischen Speicher für den Winter nicht genügend aufgefüllt worden sind. Orbán tut Russland daher im Gegenzug den Gefallen, die Abmachung mit der Ukraine zu kündigen, und votiert gleich auch noch für das russische Projekt South Stream zur Umgehung der Ukraine, nachdem aus dem europäischen Konkurrenzunternehmen Nabucco nichts geworden ist. Wiederum ein Stück Kündigung der europäischen Linientreue.[11]

Nationalisierung von Grund und Boden

Mit seinem Beitritt zur EU hat sich Ungarn auf die Beseitigung einer Regelung von 1994 verpflichtet, nach der Ausländern der Kauf ungarischen Bodens verboten war. Mit diesem Verbot wollte sich Ungarn vor dem billigen Aufkauf seines Bodens durch ausländische Spekulanten schützen (Die Presse, 3.10.14), seitdem gelten Übergangsfristen für die Anpassung der ungarischen Gesetze und im Mai läuft die letzte für Ungarn mögliche Übergangsregel zu Restriktionen für EU-Ausländer beim Landerwerb aus, ein Vertragsverletzungsverfahren ist damit unausweichlich. (Pester Lloyd, 13.2.14) Die ungarische Regierung hat daher ein Gesetz erlassen, das zwar formell der europäischen Auflage, in der Sache aber der Regierungsforderung Ungarischer Boden in ungarischer Hand entspricht:

„Das neue Bodengesetz bestimmt, dass Ausländer hinfort nur noch maximal ein Hektar Land käuflich erwerben können, jeder darüber hinausgehende Erwerb ist erst nach einem schwer durchschaubaren Genehmigungsverfahren möglich, also ohne entsprechende Drähte praktisch unmöglich. Die Regierungspartei will damit sowohl ihre Politik der ‚Bodenrettung‘ vor ‚ausländischen Spekulanten‘ erfüllen, als auch der EU vorauseilend entgegenkommen, indem man den Kauf nicht gänzlich verbietet.“ (Pester Lloyd, 13.2.14)

Gleichzeitig wird das bislang reichlich angewandte Verfahren zur Umgehung der ungarischen Gesetzlichkeit, der Abschluss von Nießbrauchverträgen, neu geregelt – offenkundig zugunsten ungarischer Hände:

„Zwischen 1994 und 2001 wurden zahlreiche gesetzeskonforme Verträge abgeschlossen, mit denen der ungarische Grundeigentümer dem ausländischen Nutznießer den Boden auf Lebenszeit oder für 99 Jahre überlässt. Im Gegensatz zu Pachtverträgen wird bei Nießbrauchverträgen der gesamte Preis für den Nießbrauch bei Vertragsabschluss bezahlt. Erst Jahre später werden nun diese Nutznießverträge für gesetzwidrig erklärt. (...) Wenn der ungarische Eigentümer den Boden dem Nießbrauchnehmer im Eigentum übergeben will, dann muss das Angebot ausgehängt werden. Das neue Gesetz regelt auch das Vorkaufsrecht, wobei das Gesetz vorsieht, die lokalen Landwirte zu bevorzugen – im Umkreis von 20 km.“ (Die Presse, 3.10.14)

Die Empörung ist groß, vor allem natürlich in Österreich, dessen Geschäftswelt die ehemalige Hälfte der Doppelmonarchie nicht nur, aber auch in der Landwirtschaft wieder flächendeckend für sich erschlossen hat. Dementsprechend sind österreichische Repräsentanten bei allen Beschwerden über Ungarn, die der EU-Kommission vorgelegt werden, beteiligt oder sogar federführend. Im Streit um das Bodengesetz kommt damit auch ein prinzipielleres Streitobjekt zur Sprache: Auch die Sorte Vormundschaft durch den zwar kleinen, aber im Rahmen der EU deutlich überlegenen Nachbarn, die man sich in der Hierarchie der europäischen Staatenwelt eingehandelt hat, will man sich in Ungarn nicht mehr gefallen lassen.

„Die ungarische Regierung hat jedenfalls klar zu verstehen gegeben, dass sie sich weder vom österreichischen Landwirtschaftsminister, der ‚Betrüger schützt‘, noch von der EU aufhalten lassen wird, denn: der Schutz der ungarischen Scholle sei eine Aufgabe von nationaler Tragweite, in die ‚Bürokraten aus Brüssel‘ nicht dreinzureden haben. Und, so fügte Landwirtschaftsminister Fazekas süffisant und treffend an, die Österreicher sollen sich mal nicht so anstellen: es sei heute für einen Ausländer in Ungarn nicht schwerer an Land zu kommen als in Niederösterreich, der Steiermark oder Kärnten.“ (Pester Lloyd, 27.3.14)

Die Tatsache, dass sich die etablierten EU-Mitglieder in ihrer Gesetzgebung weitaus mehr nationale Vorbehalte leisten können als die Neuzugänge aus dem Osten, denen die EU in ihrem Kampf zur Ausrottung staatswirtschaftlicher Untugenden im Anschlussverfahren eine stromlinienförmige Fassung des freien Verkehrs von Waren, Kapital und Menschen aufgenötigt hat, macht die Vorkämpfer der ungarischen Nation nur umso bestimmter in ihrem Abwehrkampf.

Der ungarische Boden gehört aber nicht nur aus Gründen des schnöden Kommerz’ in ungarische Hand – heilig ist er nämlich auch noch.

2. Orbáns ideeller Auftraggeber: das Ungarntum. Seine Mission: Anleitung des Volks im Bewährungskampf zwischen starken und schwachen Völkern

Im Zuge des Ringens mit auswärtigen Geschäftemachern, die Ungarn ausplündern, seine Potenzen missachten und verkommen lassen, und des Kleinkriegs gegen Diktate der EU und Versuche anderer Staaten, in ungarische Belange hineinzuregieren, nimmt Fidesz mit immer größerer Bestimmtheit den Standpunkt ein, dass sich die Nation in einem einzigen Abwehrkampf gegen ihre Abhängigkeit von diesen auswärtigen Instanzen befindet. Umso mehr pocht man auf das eigene, höhere nationale Recht, sich dagegen zu behaupten: Das Volk, als dessen Diener sich schließlich noch jede Staatsmacht begreift, ist in Not, in seinem Bestand gefährdet, zerrüttet durch Feinde im Inneren und bedroht durch Angriffe von außen – in den Worten des Staatschefs: Ich bin nicht beauftragt worden, eine Mainstream-Politik zu machen. Sondern ich muss das Land mit den schwierigsten Fragen konfrontieren. (FAZ, 16.4.13) Und das tut er nicht unter der allerhöchsten Berufungsinstanz, auf die sich nationale Politiker verstehen: Die Staatsmacht steht vor der welthistorischen Aufgabe, die heilige, 1116-jährige Einheit von Staat und Volk zu bewahren, einen starken völkischen Staat zu schaffen und mit ihm das Magyarentum zu retten. Dem Staatschef fallen folgerichtig alle Topoi ein, mit denen Faschisten angesichts der dramatischen Lage das höchste Gut, die Volksgemeinschaft beschwören und die Schwächen, Fehler und das Versagen ihrer politischen Vorgänger bzw. der mainstream-Politik anklagen, und auch auf die entsprechenden politischen Instrumente, um die Nation vor dem drohenden Untergang zu bewahren.[12]

Mit dem Aufstellen von Denkmälern und allen anderen Requisiten vaterländischer Kulturorgien erinnert Orbán seine Untertanen an ihre eigentliche, heroische Natur in Gestalt einer vorstaatlichen Gemeinschaft, definiert durch ihren nationalen Vogel Turul und die unauflöslichen Blutbande, die sich durch alle geschichtlichen Schicksalschläge, von der Frühzeit über Türkenherrschaft, Versailles und Sowjetherrschaft hindurch nicht davon hat abbringen lassen, ein zusammengehöriger Haufen sein und bleiben zu wollen. Der Ausflug in die Geschichte bebildert diese eigene bessere Identität:

„Der Turul ist ein Urbild, das Urbild der Ungarn. Wir werden in es hineingeboren, so wie wir in unsere Sprache und Geschichte hineingeboren werden. Das Urbild gehört zum Blut und zum Heimatboden. Von dem Augenblick an, wo wir als Ungarn auf die Welt kommen, schließen unsere sieben Stämme den Blutbund, gründet unser heiliger Stephan den Staat, unterliegen unsere Truppen in der Schlacht bei Mohács, der Turul aber ist das Symbol der nationalen Identität der jetzt lebenden, der schon gestorbenen und der erst noch auf die Welt kommenden Ungarn. (…)
Wer die Zeichen der Zeit zu lesen vermag, der kann sie lesen. Eine Welt neuer Gesetze kommt auf den europäischen Kontinent zu. Das erste Gebot dieser im Entstehen begriffenen neuen Welt lautet: Die Starken vereinigen sich, die Schwachen zerfallen, das heißt, die Angehörigen starker Nationen halten zusammen, die der schwachen Nationen laufen auseinander. Ich wünsche jedem Ungarn, dass er Ohren haben möge zu hören und dass er die Zeichen lesen möge.“ (Viktor Orbán bei der Denkmaleinweihung in Ópusztaszer, Pester Lloyd, 5.10.12)

Der aktuelle Schicksalsschlag, die Krise, bestätigt die historische Mission, und die Staatsgewalt hat alle Hände voll zu tun, um aus ihrem Volk all die Qualitäten herauszuholen, mit denen es seiner eigentlichen Natur gerecht werden muss. Der von ihm beschworene epochenübergreifende ungarische Volkskörper hat als erste und wichtigste Aufgabe die, nicht zu zerfallen, sondern sich gefälligst ordentlich zu vermehren.

Familie

Orbán spricht seine Landsleute vorwiegend gleich in ihrer ordnungsgemäßen Funktion als Familien an. Eine seiner leider in der Verfassungsreform nicht verwirklichten Ideen war ein Wahlrecht für Kinder, das von ihren Eltern wahrgenommen wird. Mit der zentralen These, wonach ‚Einwanderung keine Lösung für die demographischen Probleme in Europa‘ sei und ‚die Geschichte gezeigt hat, dass nur die Nationen überleben, die sich biologisch selbst erhalten können‘ (Pester Lloyd, 26.8.14), belehrt er auch die Kollegen in der EU über die Fehler ihrer Einwanderungspolitik. Mit einer Eheprämie, Kindergeld und zusätzlichen Boni für weitere Kinder wird die ungarische Biologie auf Trab gebracht.

Scholle

Aus der Aufgabe der Selbsterhaltung folgt zweitens der hohe Wert des Bodens, auf dem sich die Nation befindet, in seiner Eigenschaft als Scholle, dem emphatischen Titel für die Grund und Boden zugedachte Rolle als Garant nationaler Unabhängigkeit:

„Die ungarische Scholle wird uns mit allem versorgen, was wir brauchen: einer guten Lebensumgebung, Jobs für ein gutes Auskommen, gesundem Wasser und qualitätvoller Nahrung, mit in Ungarn produzierten Lebensmitteln (...) Nationen, die ihre Scholle aufgeben, geben sich selbst auf und werden konsequenterweise schwach.‘ Nicht zuletzt sind der Verzicht auf ‚genversaute‘ Lebensmittel sowie die Selbstversorgung ‚wichtige Komponenten der nationalen Unabhängigkeit‘. (...)
Orbán schmückte aus, was alles passiert, wenn man sich um den ländlichen Raum nicht richtig bemüht: Ausverkauf durch Konzerne, Abhängigkeit von Saatgutproduzenten und Importen, Preisdiktate, Spekulation und nicht zuletzt sieht auch Orbán einen Krieg um Ackerland und Wasserressourcen heraufziehen, den er wie folgt kommentiert: ‚Die schlechte Nachricht ist, dass dieser Krieg längst begonnen hat, auch wenn er nicht mit normalen Waffen, sondern mit anderen Aktionen, wie ‚Herabstufungen‘ geführt wird (gemeint sind die des IWF) – daher müssen wir wachsam sein.‘“ (Pester Lloyd, 18.1.12)

Auf der Scholle“ beruht die staatsmoralische Funktion des Nährstands, sie bildet sozusagen die greifbare ökonomische Verankerung der sich selbst erhaltenden Volksgemeinschaft, was ihre Bewohner umgekehrt zum Dank gegenüber diesem Subjekt verpflichtet, das seine treuen Anhänger versorgt. Alle schädlichen Wirkungen des modernen Weltmarkts und seiner Agrarindustrie, die durch die Privatisierung in Ungarn bewirkte Verwahrlosung der Landgebiete und Verelendung der nationalen Bauernschaft, verdanken sich einzig der Missachtung der Scholle. Daher rühren auch die höheren Weihen für das neue Bodengesetz durch die heilige Erde und ihre Verwendung zur Familiengründung von Jungbauern:

„Ausverkauf der heiligen ungarischen Erde, Vorwurf der ‚Bodenspekulation‘ durch ausländische Besitzer (...). Fazekas wiederholte, dass der Staat vorhabe, sich ein gesetzliches Vorkaufsrecht für Land, das auf den Markt kommt, einzuräumen, um es in einen staatlichen Fonds einfließen zu lassen, aus dem man dann junge Bauern günstig zur Existenzgründung verhelfen könne.“ (Pester Lloyd, 3.9.10)

Das kann nicht der Sinn der Scholle sein, österreichische Agrarunternehmer zu bereichern, während die ungarische Landarmut vom Dienst an der Nation per Arbeit und Familiengründung ausgeschlossen wird.

Arbeit

Auch jenseits von Blut und Boden führt die historische Bestimmung der Volksgemeinschaft, sich zu erhalten, zu einer Apotheose der Arbeit – Orbáns Kritik an der Krise als staats- und geschichtsphilosophischer Großentwurf:

„...dann schlage ich vor, dass wir uns kurz daran erinnern, dass es im 20. Jahrhundert drei große Weltsystemwechsel gab,“ nämlich Weltkrieg I, Weltkrieg II, Ende der Sowjetherrschaft, und jetzt der vierte: „die Behauptung lautet, dass heute in der Welt eine Veränderung ähnlicher Größenordnung vor sich geht. Als Manifestierung dieser Veränderung, das heißt, wie sie offensichtlich wurde, können wir die globale Finanzkrise von 2008, aber eher die westliche Finanzkrise identifizieren, (...) und wie sich der Nebel auf die Landschaft senkt, senkt sich allmählich das Wissen auf uns herab, dass – wenn wir uns gut umsehen, und gründlich analysieren, was um uns herum vor sich geht –, dies eine andere Welt ist als die, in der wir vor sechs Jahren lebten. (...)
Der globale Wettbewerb zwischen den Nationen, Kräftegruppen und Bündnissen wurde durch ein neues Element ergänzt. Denn bisher haben alle vom Wettbewerb in der Weltwirtschaft geredet. (...) Wir können ungefähr sagen, was eine Nation oder eine wirtschaftliche Interessengruppe wie die Europäische Union in der internationalen Wirtschaft wettbewerbsfähig macht, oder wodurch sie ihre Wettbewerbsfähigkeit verliert. Jedoch sind viele der Meinung, und ich gehöre zu dieser Gruppe, dass das heute nicht die Hauptfrage ist. Es bleibt natürlich weiterhin eine wichtige Frage. Solange man von Geld und Wirtschaft lebt, und das wird sich auf kurze Sicht nicht ändern, wird das immer eine wichtige Frage bleiben. Aber es gibt einen noch wichtigeren Wettlauf: Es ist der Wettlauf um die Erfindung der Staatsform, die am besten fähig ist, eine Nation erfolgreich zu machen. Da der Staat nichts anderes ist als die Organisationsform der Gemeinschaft (...), kann das bestimmende Moment in der heutigen Welt vielleicht so formuliert werden, dass ein Wettlauf um die Organisationsform der Gemeinschaft, des Staates vor sich geht. (...) Die Lage präsentiert sich folgendermaßen: Wenn wir von hier betrachten, was um uns herum vorgeht, gingen wir immer davon aus, dass wir drei Formen der Staatsorganisation kannten: Den Nationalstaat, den liberalen Staat und den Wohlfahrtsstaat. Und die Frage ist, was kommt jetzt? Die ungarische Antwort ist, dass die Epoche eines auf Arbeit basierten Staates anbrechen kann, wir wollen eine auf Arbeit basierte Gesellschaft organisieren, die, wie ich vorhin bereits erwähnte, das Odium auf sich nimmt, klar auszusprechen, dass sie nicht liberaler Natur ist.“ (Orbán-Rede, 26.7.14)

Schwer beeindruckt vom eigenen Mut, das Odium auf sich genommen zu haben, gegen die europäische Wertewelt ins Feld zu ziehen, propagiert der Ober-Ungar seine Kampfansage an die Krise, d.h. – der englische Text ist da deutlicher – die notwendige Behauptung Ungarns im Kampf der Nationen um die „great redistribution of global financial, economic, commercial, political and military power that became obvious in 2008.“ Sein Gegenprogramm gegen die Sachgesetze der rentablen Anwendung von Arbeit, die in der Krise großflächig auf die Dienste der Arbeit verzichtet und die Arbeiter ruiniert, besteht darin, dass Arbeit als Dienst am Staat gerade dann unverzichtbar ist, wenn das Kapital sie nicht gebrauchen kann und will: Wir hatten eine Verschuldung, die sich auf alle Ebenen auswirkte. Die Familien standen bis zum Hals in Schulden, so dass ihr alltägliches Leben viel eher Schuldsklaverei ähnelte und die Gemeinden und den Staat lähmte. (FAZ, 16.4.13) Mit den verschuldeten Familien macht die Krise vor allem schließlich deren Staatsmacht zum Opfer. Der Staatsmann konzediert zwar, dass es sich auf kurze Sicht nicht ändern wird, dass man von Geld und Wirtschaft lebt; ein Gedanke an die Beseitigung dieser Geldwirtschaft ist ihm so fremd wie nur was; aber wenn diese Geldwirtschaft die staatsnützliche Verwendung seines Volks behindert, sieht er sich dazu aufgerufen, jenseits und gegen die Rentabilitätsrechnungen den Aufbau eines neuen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells (a.a.O.) in Gang zu setzen.

Entsprechend sieht die praktische Fassung der Orbánschen staatsphilosophischen Ideenwelt dann auch aus, ein staatlich erzwungener Arbeitsdienst:

„Durch die kommunalen Beschäftigungsprogramme kann es ein Langzeitarbeitsloser auf maximal 47 000 Forint, abzüglich 16 % Flattax, also rund 145.- EUR bringen, wovon man in Ungarn nicht leben kann, auch wenn der Wirtschaftsminister das Gegenteil behauptet. Dafür muss der Betroffene jedoch bereit sein, 40 Stunden die Woche schwere körperliche Tätigkeit, unter Umständen auch fern des Wohnortes zu verrichten.“ (Pester Lloyd, 3.10.12)
„Jeder Sozialhilfeempfänger und Langzeitarbeitslose kann per Anweisung aus dem Arbeitsamt bzw. der zuständigen Kommunalbehörde zur ‚Gemeinschaftsarbeit‘ verpflichtet werden, Weigerung oder nicht befriedigende Ausführung hat den Ausschluss von sämtlichen staatlichen Zuwendungen für drei Jahre zur Folge.“ (Pester Lloyd, 5.5.14)
„Ungefähr jeder Zehnte ist – auf Staatskosten – bei Privatunternehmen beschäftigt, die auf diese Weise zu sklavenbilligen Handlangern kommen, die meisten ‚arbeiten‘ jedoch bei Kommunalbetrieben wie Wasserwerken, Forstbetrieben, der Müllentsorgung etc.“ (Pester Lloyd, 22.1.14)

Die Regierung hat soviel Gefallen an ihrem Programm gefunden, dass sie verbindliche Zahlen vorgibt, „ein akutelles Regierungsdekret, das bald in ein Gesetz umgewandelt werden soll, schreibt vor, dass ab spätestens Jahresende durchschnittlich mindestens 200 000 Menschen Vollzeit in Közmunka (der staatliche Arbeitsdienst) zu halten sind.“ (Pester Lloyd, 3.10.12) Sie hat sogar schon mehr darin verstaut, nämlich derzeit rund 250 000 ‚Közmunkas‘, so dass zunehmend Menschen, die ihren Job verlieren, auf die Arbeitslos-Meldung beim Arbeitsamt verzichten. (Pester Lloyd, 13.2.13)

Die vom kapitalistischen Geschäft für überflüssig erachteten Volksteile werden mit einer Mischung aus Arbeitsdienst, Strafe und Schikane einer irgendwie nützlichen Verwendung zugeführt und auf die Weise dann doch zu ihrer wahren Volksnatur befähigt. Das Modell einer arbeitsbasierten Gesellschaft verlangt aber auch am anderen Ende der Hierarchie der Berufe drastische staatliche Orientierungshilfen für das Bildungswesen seiner Nation:

„Weil den internationalen Werkbänken in Ungarn immer mehr Arbeitskräfte abhanden kommen, sollen Schüler massiv von Abitur und Studium abgehalten und in technische bzw. ‚nationalwirtschaftlich nützliche‘ Berufe geführt werden. Dazu wird man die Zahl der Abiturienten halbieren, (...) durch die Verknappung der Abitur-Plätze und eine Anhebung der Schwelle für eine Aufnahme in die Gymnasiumsoberstufe auf mindestens 4,25 Notenschnitt (1,75 nach deutschem System). Die Zahl von ca. 128 000 Gymnasiasten soll auf rund 60 000 mehr als halbiert werden, so auch der Ausstoß von jungen Menschen mit Hochschulreife.“ (Pester Lloyd, 9.11.14)[13]

Eine Nation, die sich im Kampf um Aufstieg gegen Untergang wähnt, kann und will sich nicht darauf verlassen, was die Konkurrenz der erfolgswilligen Jugend in- und außerhalb des Bildungswesens an sachgerechter Verteilung von Leistungsträgern zustandebringt – die arbeitsbasierte Gesellschaft hat auch da ihr Recht einzufordern.

Vereinigung und Reinigung des Volks

Das ungarische Volk, dem sich die Orbán-Regierung als ideellem Auftraggeber verpflichtet weiß, in dessen Namen sie die Mission eines Existenzkampfes führt, fällt keineswegs zusammen mit dem Menschenmaterial, das sich innerhalb ihrer Staatsgrenzen aufhält. So durchrasst und durchmischt und in alle Welt verstreut, wie sich das Volk herumtreibt, darf es nicht bleiben. Ungar zu sein ist nämlich keine Sache von Geburtsort und Pass und die Staatsmacht hat auch an der Front viel zu tun, um dem echten Volk zu seinem Recht zu verhelfen. Das Turul-Denkmal soll allen Ungarn Folgendes zu denken aufgeben:

„Diese Statue, die wir heute, am Tag des heiligen Michael, einweihen, ist das Denkmal des nationalen Zusammenhalts. Es erinnert daran, dass jeder Ungar jedem anderen Ungarn Rechenschaft schuldig ist. Die ungarische ist eine Weltnation, denn die Grenzen des Landes und die Grenzen der ungarischen Nation fallen nicht zusammen. (...) Dieses Denkmal will uns sagen, dass es nur ein einziges Vaterland gibt, und zwar jenes, welches dazu fähig ist, alle Ungarn diesseits und jenseits der Trianon-Grenzen in einer einzigen Gemeinschaft zu vereinigen.“ (Viktor Orbán bei der Denkmaleinweihung in Ópusztaszer, Pester Lloyd, 5.10.12)[14]

Die Nation ist nicht saturiert, deswegen deklariert ihr Chef sie gleich zu einer Weltnation und nimmt sich allerhand Grenzverschiebungen entlang seiner völkischen Staatsansprüche in Europa vor – wenig beeindruckt von den EU-Geboten zur Bereinigung aller Revanchismen, die die Osteuropäer als Bedingung für ihre Aufnahme in die EU unterschreiben mussten. Das außerhalb der heutigen nationalen Grenzen befindliche Volk ist mit allen verfügbaren Mitteln einzuschließen – auf Kosten der entsprechenden Streitigkeiten mit den jeweiligen Souveränen, unter die es dank seiner tragischen Geschichte gefallen ist: Vorerst stattet der Fidesz-Führer schon einmal ungarisch-stämmige Staatsbürger der Nachbarstaaten Slowakei und Ukraine, Rumänien und Serbien mit einer ungarischen Staatsbürgerschaft aus;[15] bei den in Österreich beheimateten Ungarn hält man sich da zwar etwas zurück, aber auch auf den neuen Hauptfreund Europas, die Ukraine, nimmt Orbán keine Rücksicht:

„Eine demokratische Ukraine müsse die Kollektivrechte achten und damit auch jene der ungarischen Minderheit. Wenn Kiew dies nicht einhalte, ‚haben wir einen legitimen Grund uns hinsichtlich des demokratischen Charakters der zukünftigen Ukraine Sorgen zu machen‘, sagte der Premier. Orbán hatte am Samstag im Parlament in Budapest betont, dass den im Karpatenbecken lebenden Ungarn die doppelte Staatsbürgerschaft, Kollektivrechte und auch eine Autonomie zustehe. Diese weitreichende Eigenständigkeit sowie die doppelte Staatsbürgerschaft hatte Orban auch für die etwa 200 000 ethnischen Ungarn in der Westukraine gefordert. Darauf kritisierte die ukrainische Übergangsregierung, die Äußerungen Orbans trügen nicht zur ‚Deeskalation und Stabilisierung‘ in der Ukraine bei.“ (diepresse.com, 15.5.14 )

Innerhalb der ungarischen Grenzen sind volksfremde Elemente auszusortieren, einerseits anhand ethnischer Unterschiede, was sich Fidesz mit einem feinsinnigen staatsrechtlichen Unterschied in die Verfassung hineingeschrieben hat, in der ethnische Ungarn im In- wie Ausland als nationenbildend, die 13 anerkannten ethnischen und nationalen Minderheiten lediglich als staatsbildend eingestuft werden. (Pester Lloyd, 26.8.14) Die letztere Rollenzuschreibung betrifft in der Masse die Roma, deren schon ethnisch kenntliche ungenügende Eignung zur Nationbildung sich auch daran erweist, dass sie seit dem Einzug der Marktwirtschaft in Ungarn flächendeckend durch den Rost gefallen sind, woran einwandfrei mangelnder Wille und fehlende Eignung dieser Volksgruppe zum Dienst am großen Ganzen abzulesen sind.

Das prädestiniert sie dann in besonderer Weise für das „Modell“ des Arbeitsdiensts und als Objekt für den Sadismus lokaler, häufig von der Jobbik-Partei gestellter Aufseher: Besonders gründlich nutzt man das Modell in stark von Roma besiedelten Regionen, teilweise unter Aufsicht von Lokalpolitikern der neonazistischen Jobbik. (Pester Lloyd, 5.5.14) Schließlich gehört die Beaufsichtigung der Roma als zentrale Säule zu der sog. Nationalen Romastrategie (Pester Lloyd, 22.1.14), weil der schlechte Volkscharakter, wenn er nicht genügend überwacht wird, zu nichts anderem taugt als zum Phänomen der Zigeunerkriminalität. Die guten Erfahrungen mit dem Arbeitsdienst kann Orbán in Europa nur weiterempfehlen:

„‘Europas 10 Millionen Roma könnten die ungelernten Tätigkeiten ausüben, die heute überwiegend von Einwanderern erledigt werden‘. … Anstatt Unmengen Geld in Trainings-Programme in den Herkunftsländern von künftigen Einwanderern zu investieren, könnten ‚die Leute dort Jobs finden, wo Gott entschieden hat, sie zur Welt kommen zu lassen‘.“ (Pester Lloyd, 26.8.14)

Seine Roma würde er gerne an die EU als gesamteuropäische Wanderarbeiter loswerden.

Bei der anderen Art von Armut, den Bettlern, die außerhalb der staatlichen Zwangsarbeit herumlungern, drängt sich die Unterscheidung zwischen Volk und Gesindel auf. Die Qualifikation zum echten Ungarn beschränkt sich nämlich nicht nur auf die ethnisch astreine Abstammung, verlangt ist da auch das moralische Element: Die Obrigkeit entdeckt an ihren Untergebenen, einer Bevölkerung von 10 Millionen, darunter ca. 4 Millionen Steuerzahler und ca. 3,5 Millionen in Armut, davon ca. 500 000 Roma in extremer Armut, auch den markanten Unterschied von problematischen Familien und solchen, die fähig seien, den Staat mitzutragen. Auch dieser Charaktereigenschaft ist Rechnung zu tragen, was die Regierung durch die Einrichtung zweier verschiedener Staatssekretariate für Sozialpolitik unterstreicht, eines für Leistungsempfänger und eines für diejenigen, die ‚Ungarn auf ihren Schultern tragen‘, also die belastbaren Steuerzahler. (pusztaranger.wordpress.com)

Und auch bei den Leistungsempfängern heißt es genau hinschauen; der zuständige Minister für Humanressourcen und reformierte Pastor Balog legt großen Wert auf das weitere Kriterium, ob sie ohne eigenes Verschulden bzw. selbstverschuldet in Not geraten sind.

Ob nun selbstverschuldet oder auch nicht – wenn sich die Armut im öffentlichen Leben störend bemerkbar macht, verdient sie die angemessene Behandlung als Straftat: Das ungarische Recht ist um das Delikt obdachloses Verhalten an ausgewiesenen Stätten des Weltkulturerbes bereichert worden. Bei wiederholter Zuwiderhandlung drohen Strafen von öffentlicher Arbeit bis zu Geldbußen oder Arrest. (FAZ, 2.10.13) Gesellschaftlicher Abschaum darf das Bild einer weltkulturwürdigen Nation nicht beschmutzen.

Ohne handgreiflichen Einsatz der Staatsgewalt kommen die Größe und die kämpferische Leistungsfähigkeit, die dank seiner Natur und Tradition in so einem Volk drinstecken, offensichtlich nicht zum Vorschein.

3. Orbáns Verteidigung der Nation steigert sich zum programmatischen Aufstand gegen „Brüssel, das neue Moskau

Der ungarische Staatschef hat die Ungleichung von europäischer Staatsraison und nationalem Wohlergehen gründlich kennengelernt. Die aus Europa verkündete Perspektive der Osterweiterung, dass die Eingliederung ins Bündnis und die Ausrichtung der gesamten Innenausstattung der Nation am europäischen Kodex guten Regierens zur Angleichung ans europäische Wohlstandsniveau und zum Zuwachs an souveränen Mitteln führen würde, hat sich nicht bewahrheitet. Das durchschlagend negative Resultat der ungarischen Karriere im Europa der Vaterländer liefert Orbán den Beweis, dass, wenn Ungarn seine Interessen wahren will, nicht Korrekturen hier und da anstehen, sondern der Aufstand gegen die in Europa gültige Geschäftsordnung. Dem Staatsretter stellt sich der Widerspruch der europäischen Konstruktion – souveräne Staaten verzichten im Interesse der Stärkung ihrer Macht Zug um Zug auf ihre Rechte und ordnen sich einem weltmächtigen Supra-Staat unter – nämlich sehr klar und einseitig als Mechanismus zur Unterordnung seiner Nation dar: Für ihn steht Ungarn in der EU unter Fremdherrschaft, ausgeübt durch die Gemeinschaftsorgane, durch die Hauptmächte und schließlich auch noch durch den unerträglichen Nachbarn Österreich.[16]

Der fällige Befreiungskampf findet allerdings in der EU statt, ein Ausstieg wird nicht in Erwägung gezogen. Denn bei allem antieuropäischen Furor kommt der Fidesz an der Tatsache nicht vorbei, dass alle möglichen Verhältnisse, in und von denen seine Nation lebt, vergemeinschaftet sind. Über die fundamentale Angewiesenheit seines Staatswesens auf die Finanzquellen der EU z.B. macht sich Orbán auch gar nichts vor. Er würdigt das Partnerschaftsabkommen über die EU-Mittel für die Budgetperiode 2014-2020 [17] explizit damit, wie überlebenswichtig die Mittel aus der Gemeinschaftskasse für sein Land sind, denn ‚ohne das Geld würde die Balance der ungarischen Nationalwirtschaft kippen‘. Er klärt Barroso aber auch gleich anschließend darüber auf, dass die Summe in ungefähr dem Betrag entsprechen wird, den ausländische Investoren in der gleichen Zeit als Gewinne nach Hause schaffen werden. (Pester Lloyd, 11.9.14)

Er will die Gelder mehr als als eine Gegenleistung verstanden haben, die Ungarn zusteht, sozusagen als Ausgleich für das schlechte Benehmen der europäischen Multis, die Gewinne nach Hause, d.h. ins Ausland schaffen, statt sie in die ungarische Volkswirtschaft zu investieren, die es ihnen erlaubt, sich zu bereichern. Dass sich die Selbstbehauptung seiner Nation an ihrer fundamentalen Abhängigkeit von der Finanzierung aus EU-Töpfen irgendwie zu relativieren und er sich mit einer Politik der Anpassung und Unterordnung, wie sie die Mehrheit der osteuropäischen Nachbarn betreibt, zu bescheiden hätte, kommt für ihn nicht in Frage. Er denkt zwar, wie gesagt, nicht im Entfernstesten daran, das Bündnis aufzukündigen, was seine Mitstreiter zuweilen drohend in den Raum stellen; als Bedingung der nationalen Behauptung sind die Teilnahme am gemeinsamen Markt, die Niederlassung europäischer Konzerne und die EU-Zuflüsse zum nationalen Haushalt unverzichtbar, aber eben nur als Bedingung, die Ungarn nach seinen nationalen Zwecken, für seinen Aufstieg und zur Stärkung seiner nationalen Souveränität zu handhaben gewillt ist. Er nimmt sich daher auch die Freiheit, den Gehorsam zu verweigern, die Einhaltung europäischer Vorschriften und Vorgaben zu kündigen, wenn er sie als schädlich und unvereinbar mit seiner nationalen Linie ansieht. Zum Zweck der

Behauptung in Europa

sucht sich der Staatschef politischen Rückhalt, im konservativen Lager, in der EVP,[18] und insbesondere bei der CSU. Ungarn und Bayern vereinigt vieles, vom Christentum bis zu Audi.[19] Auch bei der christlichen Bruderpartei in Berlin betont Orbán mehr die gute Kooperation und den Respekt vor der deutschen Wirtschaftsmacht – von da kommen schließlich die Konzerne, die aus seinem Standort etwas machen,[20] und der beiderseitige Vorteil sollte doch die deutsche Regierung von der Brauchbarkeit seiner Regierungslinie überzeugen. Gegenüber der deutschen Öffentlichkeit beschwert er sich darüber, dass seine gemeinschaftsdienlichen Wirtschaftserfolge so wenig gewürdigt werden:

„Warum werden wir immer wieder ohne Grund in Sachen zur Rechenschaft gezogen, wie zum Beispiel, ob Obdachlose nun im Freien schlafen dürfen oder nicht, obwohl wir doch in den Bereichen, in denen die Union das verlangt, Erfolge aufweisen: In Sachen Staatsverschuldung, Haushalt, Handelsbilanz, Beschäftigung. Ich verstehe nicht, wo man von Griechenland bis Zypern überall Misserfolge hat, warum man nicht eine Erfolgsgeschichte haben will.“ (FAZ, 16.4.13)

Im Streit der Nationen um die Ausgestaltung der EU besteht er auf der Freiheit, da ganz nach nationalen Gesichtspunkten zu entscheiden:

„Was für Ungarn funktioniert, muss nicht die Lösung für England sein. Daher müsste Brüssel in den Zeiten der Krise ganz besonders darauf achten, den Nationalstaaten den nötigen Respekt und Spielraum zu gewähren, sich flexibel statt doktrinär zum Aufbau der verschiedenen Modelle zu stellen. Das fehlt heute in der Kultur der Europäischen Union. Den Mitgliedstaaten wird nicht der dem Nationalstaat gebührende Respekt entgegengebracht. Das ist auch wirtschaftlich irrational.“ (Die Welt, 15.4.13)

Mit dem unschuldigen Vorschlag, fürs allgemeine Wohl in Europa mehr Flexibilität zuzulassen und Brüssel auch einmal wieder Kompetenzen wegzunehmen, statt ihm immer neue zuzuschanzen – da beruft er sich auf die Position, die schließlich auch eine gewichtige Nation wie England im Bündnis vertritt –, rührt er dann allerdings durchaus an die Substanz des Bündnisses.

Im Abwehrkampf gegen die regelmäßigen Einsprüche der EU-Kommission – kritisiert werden Verstöße gegen EU-Recht insbesondere in Sachen Diskriminierung auswärtiger Kapitale, Verletzung der Unabhängigkeit der Nationalbank, die Nicht-Einhaltung der Konvergenzkriterien etc. etc. – gegen die Vertragsverletzungsverfahren und Androhung finanzieller Sanktionen [21] taktiert der ungarische Regierungschef, nimmt Gesetze zurück oder lässt sie umschreiben, sucht sich andere Wege, die Forderungen aus Brüssel zu umgehen, und macht etwa die beanstandeten Gesetzesvorhaben unangreifbar, indem sie mit Hilfe der parlamentarischen Mehrheit in Verfassungsrang erhoben werden. Aber in diesem Kleinkrieg mit Europa hat sich der Fidesz die wachsende Gewissheit verschafft, dass ein Europa, das immer wieder ungarische Maßnahmen zur Krisenbewältigung behindert, mehr Gegner als nützliches Bündnis ist. Und auch die daraus folgende Notwendigkeit hat Orbáns Partei der permanenten Auseinandersetzung entnommen: Um gegen die Bevormundung durch die europäischen Organe bestehen zu können, braucht man eine im Inneren unbestrittene, fest verankerte Regierungsgewalt, damit die Angriffe der inneren und äußeren Feinde Ungarns an der Geschlossenheit von Volk und Führung zuschanden werden. Und bei deren Herstellung kommt es, wie es kommen muss: Die berufenen Hüter der europäischen Höchstwerte fahren dem Staatsretter mit dem Verdikt undemokratisch! in die Parade. Der Streit mit Europa dehnt sich auf die nächste Ebene, die der Demokratie und ihrer Werte aus.

… und gegen Europa mit der Absicherung der Macht im Inneren

Die Methoden zur Verewigung der Regierungsmacht sind nicht besonders originell, teils bekannt aus ehrenwerten alten Demokratien, die per Wahlrecht für stabile Mehrheiten sorgen; Fidesz favorisiert das englische System oder sorgt wie die amerikanischen Bundesstaaten für einen passenden Zuschnitt der Wahlkreise. Teils sind es die Praktiken, mit denen vom Ausland angefeindete Regierungen alle Einfallstore für dessen Unterwanderungsbemühungen im Inneren schließen und sich den Durchgriff auf alle Abteilungen ihrer Gesellschaft sichern: die Gleichschaltung von Justiz, Öffentlichkeit und kulturellem Überbau sowie Attacken gegen die vom Ausland finanzierten NGOs.[22]

Orbán hat ein lückenloses Programm zur Herstellung der nationalen Einheit aufgelegt. Das gibt er seinem Volk auch schriftlich und lässt in allen Amtsstuben, Ministerien, Kasernen und öffentlichen Gebäuden Tafeln aufhängen: “‘Ein neuer Gesellschaftsvertrag ist nach der erfolgreichen Revolution in den Wahlkabinen‘ entstanden, heißt es da, und weiter: ‚Die Ungarn haben ein neues System, das der nationalen Einheit, beschlossen.‘ Die Regierung werde diese Einheit vollenden, ‚resolut, kompromisslos‘.“ (Spiegel online, 27.12.10) 

Die Einheit, die Orbán an seinem Volk so schätzt – In ganz Europa habe keine andere Partei mit derart großem Abstand gewonnen. ‚Ungarn ist die einheitlichste Nation Europas geworden‘. (FAZ, 8.4.14) – setzt er gerne praktisch in Bewegung, organisiert regelmäßig Aufmärsche mit dem nötigen Pomp, die – laut Parlamentspräsident Kövér – Ungarn schon einmal vor einem von den Banken und Brüssel inspirierten Putsch gerettet haben sollen:

„Einflussreiche Kreise‘ der EU hätten 2012 versucht, Orbán aus dem Amt zu putschen und nur die‘ Friedensmarschbewegung‘, also die Liebe des Volkes hatte das verhindert.“ (Pester Lloyd, 16.9.14)

Mit regelmäßigen Volksbefragungen besorgt sich Orbáns Mannschaft die überwältigende Zustimmung durch die Volksmeinung [23] – eine moderne Fassung der nationalen Einheitsfront.

Als Ungarn 2010 an die Reihe kommt, die Troika zu führen, stellt die EU seine demokratische Qualifikation für diesen Posten, also den Respekt gegenüber seiner Nation grundsätzlich in Frage:

„Jean Asselborn warf Ungarns Regierung vor, gegen ‚den Geist und die Worte der EU-Verträge‘ zu verstoßen. ‚Es stellt sich die Frage, ob ein solches Land würdig ist, die EU zu führen. Wenn wir nichts tun, wird es sehr schwierig, mit China oder Iran über Menschenrechte zu sprechen‘.“ (Spiegel online, 27.12.10)

Bezeichnenderweise werden die hohen europäischen Werte gleich mit dem EU-imperialistischen Anspruch und Nutzen identifiziert, sich gegenüber dem Rest der Staatenwelt als Aufsichtsmacht aufzubauen; und da ist von den unbedeutenderen Mitmachernationen Unterordnung und Linientreue verlangt. In dem Streit wird Europa prinzipiell, Orbán aber auch.

Absagen an Europa, staatstheoretisch ...

Orbán hat einen Gegenentwurf gegen das EU-Regime zu bieten: das Modell der illiberalen Demokratie, ohne Rücksicht auf Verluste, ausdrücklich und programmatisch ausgesprochen als Modell der Zukunft, wie es einige in Europa weniger beliebte Staatsmodelle so erfolgreich praktizieren:

„Die ‚Stars‘ der internationalen Analysen sind heute Singapur, China, Indien, Russland, die Türkei. Und ich glaube, unsere politische Gemeinschaft hat dies vor Jahren richtig erahnt, gefühlt, und diese Herausforderung vielleicht auch intellektuell verarbeitet. (...) Indem wir uns von den in Westeuropa akzeptierten Dogmen und Ideologien lossagen und uns von ihnen unabhängig machen, versuchen wir, die Organisationsform der Gemeinschaft, den neuen ungarischen Staat zu finden, der imstande ist, unsere Gemeinschaft in der Perspektive von Jahrzehnten im großen Wettlauf der Welt wettbewerbsfähig zu machen.“ (Orbán-Rede, 26.7.14)

Den Kollegen in Europa führt er das grundsätzliche Versagen ihres Staatsmodells vor Augen:

„Wir können also ruhig behaupten, dass die liberale Demokratie sich auch im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten und im Vergleich zu uns als unfähig erwiesen hat, das zur Selbsterhaltung der Nation notwendige öffentliche Vermögen zu beschützen. Des Weiteren hat der liberale ungarische Staat das Land nicht vor der Verschuldung beschützt. Und er hat die Familien nicht beschützt, hier denke man an das System der Fremdwährungskredite. Der liberale Staat hat die Familien nicht davor beschützt, zu Kreditsklaven zu werden.“ (a.a.O.)

Und das berechtigt ihn zu einem historischen Gegenentwurf, der Verkündung der illiberalen Demokratie gegen die Weicheier der ungarischen Vorgängerregierung und der EU. Er rechnet den europäischen Staatskollegen das komplette Versagen ihrer windigen Wertewelt auf ungarischem Boden vor, um den europäischen Totschläger mit höchsten und unbezweifelbaren Werten mit einem noch höheren Wert zu erledigen – die Nation und deren Selbsterhaltung im welthistorischen Wettbewerb zwischen den Nationen– und den europäischen Konsens auf dieser Ebene zu kündigen. Eine beachtliche Provokation und programmatische Kampfansage an die Adresse der Hüter dieser Werte, schließlich handelt es sich dabei um die Rechtstitel, mit denen der Euroimperialismus sowohl auf den etablierten Herrschaftsverhältnissen im Bündnis besteht als auch in Sachen Weltordnung eine Rolle als maßgebliches Subjekt beansprucht, das über die Rechtmäßigkeit anderer politischer Gewalten zu befinden hat. Orbáns Entdecker und Förderer von der Konrad-Adenauer-Stiftung könnten echt stolz sein auf das politische Talent, wäre er bloß der Antikommunist geblieben, als der er sich vor 24 Jahren großartig bewährt hat. Aber als Kritiker der EU hat man ihn sich nicht bestellt.

… und als punktuelle Kündigung der Bündnisdisziplin

Ungarn nimmt sich die Freiheit, aus der in Europa verlangten außenpolitischen Geschlossenheit auszuscheren, wo immer es seine substantiellen Interessen gebieten, aktuell im Fall der Ukraine und der Konfrontation mit Russland: Ich habe nicht vor, ungarische Interessen nur wegen der Ukraine aufs Spiel zu setzen. (Orbán macht den Putin, Die Zeit, 30. 7. 14) Gemeinsam mit dem slowakischen Premier wendet er sich gegen die Russland-Sanktionen, er werde sich innerhalb der EU nach Partnern umsehen, um die EU-Sanktionspolitik zu ändern. (Der Standard, 15.8.14)

Er propagiert überhaupt eine strategische Ostöffnung in der Handelspolitik mit dem expliziten Ziel der Verminderung der Abhängigkeit von der EU und der Zielvorgabe, den Handelsanteil mit der EU von 2/3 auf die Hälfte zu Gunsten ‚alternativer Handelspartner‘ zu senken. (Pester Lloyd, 15.8.14) Dazu gehört dann auch der Bruch mit dem europäischen Konsens, was den Umgang mit solchen Partnern betrifft. Orbán unternimmt den Alleingang mit einem Schritt in Richtung Anerkennung der türkischen Republik Zypern zur Eröffnung gedeihlicher Sonderbeziehungen mit der Türkei [24] und steht nicht an, zusätzlich zu chinesischem Kredit [25] auch noch ausgerechnet chinesische Werte in sein Land zu importieren:

„Die ungarischen Staatsmedien haben am 22. Oktober eine Kooperationsvereinbarung mit dem Chinesischen Zentral-Fernsehen (CCTV) abgeschlossen. (...) Durch den Tausch von Programminhalten will man ‚die Werte der beiden Länder zum Ausdruck bringen‘. Eine ähnliche Kooperationsvereinbarung im Rahmen der Politik der Ostöffnung besteht seit Kurzem mit den türkischen Staatsmedien.“ (pusztaranger.wordpress.com, 20.10.14)

Die Reichweite von Orbáns Ostöffnung und seiner sonstigen Beziehungen mag so beschränkt sein wie die Mittel, die er aus seinem Standort herauswirtschaftet. Und so schnell wird er die Abhängigkeit von der EU auch mit Hilfe der Chinesen nicht loswerden, nachdem seine Nationalwirtschaft im Wesentlichen als Dependance von Euro-Kapital funktioniert. Aber einen Beitrag zur Zersetzung des Bündnisses leistet er mit seiner abweichenden Außenpolitik allemal; und er steht auch nicht völlig isoliert da mit seiner Position. Auch bei Tschechen und Slowaken führen die gegen Russland beschlossenen Sanktionen zu Protesten gegen die EU, die mitten in der ohnehin schwierigen Krisenlage ihren kleinen Mitgliedern kaum tragbare weitere Lasten aufbürdet. Der tschechische Präsident hat sich auch demonstrative Verstöße gegen die europäische Linientreue zuschulden kommen lassen, stellt durch seine Worte und sein Verhalten Werte in Frage, die bisher unumstritten waren,[26] gibt also Grund zur Sorge um die zuverlässige Einordnung dieses Typus von Staaten im Bündnis, um die Stabilität der europäischen Herrschaft in ihrer Ostzone.

[1] Bundeszentrale für politische Bildung, 27.2.2014, bpb.de

[2] Mit Orbáns Staatsprogramm befasst sich auch der Artikel „Eine ‚nationale Revolution‘ im Hinterhof der EU“ in Gegenstandpunkt 3-11

[3] „Der Ministerpräsident habe von den Vorgängerregierungen immense Probleme geerbt, sagt Bod (früherer Wirtschaftsberater in Orbáns erster Regierung). Dazu gehöre die sehr grosse Zahl von Ungarn, welche nicht in produktive Arbeitsprozesse involviert seien. Zu wenige Menschen arbeiteten in Ungarn, zu viele lebten von sozialer Unterstützung. Von den zehn Millionen Einwohnern sind drei Millionen Rentner, und von der arbeitsfähigen Bevölkerung geht weniger als die Hälfte einer produktiven Beschäftigung nach. Die Privatisierung nach der Wende von 1989/90 hat laut Bod eine Million Arbeitsplätze zerstört; in den ersten drei Jahren danach habe sich das Bruttoinlandsprodukt um 17 Prozent reduziert. Ausländische Investoren hätten 10 000 hochqualifizierte, produktive Arbeitsplätze geschaffen, seien aber weit davon entfernt, die Million verlorener Arbeitsplätze wettzumachen.“ (NZZ, 20.2.11)

[4] Die Wende bzw. die seitdem gültig gemachte Version von Marktwirtschaft & Demokratie als europäische Staatsraison und Ermächtigung der EU-Instanzen und Führungsmächte zur Aufsicht über die Mitglieder lehnt Orbán daher als für Ungarn weiterhin verbindlichen Maßstab ab: Der Systemwechsel ist natürlich als Erfahrung sehr wertvoll (...), aber inzwischen geht in der Welt eine genauso bedeutende Veränderung vor, wie es das Erlebnis der Wende war. Die intellektuelle Aufgabe, die vor uns liegt, besteht darin, in Bezug auf das Verstehen der Zukunft und auf die Diskussionen über den Weg in die Zukunft die Wende nur mehr als Erfahrung, aber nicht mehr als Referenzpunkt zu betrachten. Vielmehr müssen wir die globalen Machtverschiebungen im Finanzwesen, im Welthandel, sowie in machtpolitischer und militärischer Hinsicht, die 2008 zu Tage traten, zu unserem neuen Ausgangspunkt machen. (pusztaranger.wordpress.com, 1.8.14, Viktor Orbáns Rede auf der 25. Freien Sommeruniversität in Baile Tusnad (Rumänien) am 26. Juli 2014, im Folgenden zitiert als Orbán-Rede, 26.7.14)

[5] Orbán 2010, Pester Lloyd, 3.10.12. (Der Pester Lloyd knüpft an die Tradition der gleichnamigen deutschsprachigen Tageszeitung von 1854 bis 1945 an, wurde 1994 neugegründet und erscheint seit 2009 nur noch als Online-Zeitung. Er steht kritisch zur Regierung von Viktor Orbán und wird von der ebenso wie andere oppositionelle Presse-Organe unter Druck gesetzt.)

 Der ungarische Finanzminister Varga: Wir wollen ein Arrangement, wie es beispielsweise Polen hat: Das Land hat eine flexible Kreditlinie, auf die es im Notfall zurückgreifen kann, hat sie aber in der gesamten Krise kein einziges Mal genutzt. Mexiko und Kolumbien haben so etwas auch. Aber im Fall von Ungarn scheint der IWF gegenüber dieser Lösung nicht offen zu sein. (Die Welt, 14.4.13)

Ungarn will seine Schulden an den Internationalen Währungsfonds vorzeitig zurückzahlen und wirft den IWF aus dem Land. Die Nationalbank forderte nach eigenen Angaben den Fonds auf, seine Repräsentanz in dem Land zu schließen. Man halte eine ständige Vertretung des IWF in Ungarn für ‚unbegründet‘, schrieb der Chef der Notenbank, György Matolcsy, an die geschäftsführende Direktorin des IWF, Christine Lagarde. Matolcsy kündigte in dem Schreiben zugleich an, den 2008 erteilten IWF-Kredit bis Ende 2013 zurückzuzahlen. (FAZ, 16.7.13)

[6] Eine Absenkung des Steuersatzes für die Autoindustrie von 19 auf 10 % steht weiterhin im Raum. Womöglich regelt man die Angelegenheit über Geldrückflüsse (für Ausbildung, Arbeitsplatzförderungen etc.), dass der spezielle Nachlass kommt, ist aber sicher. (Pester Lloyd, 21.10.14)

[7] Zum Entsetzen seriöser Wirtschaftsorgane werden die Banken mit einer Steuer auf die Bilanzsumme belegt. Nicht nur ist der Satz der höchste in der EU. Er orientiert sich auch an den Bankvermögen von 2009, obgleich die Bilanzen in der Krise stark geschrumpft sind. Dazu kommt seit 2013 eine Finanztransaktionssteuer (FAZ, 24.9.14). Im Sommer 2014 wird die Finanztransaktionssteuer erhöht, und ein Abschlag für Banken beschlossen, die Gläubiger von hochverschuldeten Gemeinden waren. Die Begründung für die einseitige Reduzierung durch den Schuldner um immerhin sieben Prozent: Der Gesamtstaat habe diese Verbindlichkeiten übernommen und dürfe als soliderer Schuldner gelten. (FAZ, 13.7.13)

Zuguterletzt macht die Regierung die Sondersteuern zur Regel: Die als ‚befristete Sondersteuern‘ gegen Telekom, Handelsketten, Banken und Energieunternehmen 2010 verhängten und zwischenzeitlich mehrfach erhöhten Zusatzabgaben sollen bestehen bleiben. Hinzu kommt eine 25 %-Steuer auf die Verkaufsprovisionen von Geldanlageunternehmen, freie bzw. bei Banken angesiedelte Aktien- und Fondsmanager. (Pester Lloyd, 21.10.14)

[8] Die ungarische Regierung verlangt künftig einen Anteil von den Werbeeinnahmen der Verlage und Fernseh- sowie Radiostationen. Die Steuer wird auf den Umsatz erhoben und nicht auf das, was die Medienunternehmen tatsächlich verdienen, also den Gewinn. (...) Mehr als die Hälfte der geplanten Einnahmen dürften von dem Sender RTL Klub kommen, dem größten Privatsender im Land. Das Unternehmen, das der deutschen Bertelsmann AG gehört, wird wegen seines hohen Umsatzes als einziges den Steuersatz von 40 Prozent zahlen müssen. (Die Zeit, 10. 6. 14)

[9] Aufgrund des enormen staatlichen Geldbedarfs wird der Finanzminister bei der Suche nach weiteren geschäftlichen Transaktionen, die sich mit einer Steuer belegen lassen, erfinderisch: Die ‚Chipssteuer‘ auf so definierte ungesunde Lebensmittel wird auf alkoholische Getränke ausgeweitet (...), die sogenannte Umweltschutzabgabe wird auf Waschmittel, Körperreinigungsmittel wie Duschgel, Flüssigseifen etc., Kunstblumen, Büropapier und ‚industrielle Ausstattung‘ erweitert. (Pester Lloyd 31.10.14)

[10] Töröcskei, der als Vertrauter von Premier Orbán von diesem 2011 zum Chef der Staatsfinanzierungsagentur AKK ernannt wurde, in einem Interview mit Der Standard vom 16.1.14:

„Töröcskei: Das Konzept richtet sich nicht gegen Ausländer: Ausländische Beteiligungen sind so wie beim Marktführer OTP willkommen. Aber die Konzernzentralen sollten in Ungarn liegen. Wir haben 2008 und 2009 gesehen, was passiert, wenn das nicht der Fall ist: In einer Krise versucht jeder zuallererst seinen eigenen Schrebergarten in Ordnung zu bringen. Die ausländischen Eigentümer haben sich auf die Rettung der Mutterbanken konzentriert und sich erst mit viel Verzögerung um die Probleme im Ungarn gekümmert. Dies hat zu einem Zeitverlust bei den Aufräumarbeiten geführt, worunter die Wirtschaft leidet...

Standard: Warum sollte ein inländischer Geldgeber anders agieren als ein ausländischer?

Töröcskei: Mit einem stärkeren inländischen Anteil wären wir in einer neuerlichen Krise deutlich weniger von Entwicklungen im Ausland abhängig. Und es geht um noch einen Punkt: Die Kunden der österreichischen Banken sind primär österreichische Unternehmen, diese sollen wachsen und Märkte erobern. Damit habe ich kein Problem. Aber wenn wir wollen, dass unsere eigenen Firmen konkurrenzfähig bleiben, brauchen wir Kreditinstitute, deren Fokus auf dem Erfolg der heimischen Unternehmen liegt.“

[11] Letzte Woche vereinbarte Orbán in Budapest mit dem Gazprom-Chef Alexej Miller einen beschleunigten Bau der Erdgaspipeline South Stream, die Europa über das Schwarze Meer, Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich mit russischem Gas versorgen soll – während viele EU-Länder gerade darüber nachdenken, wie sie unabhängiger werden könnten von russischem Gas. (Die Zeit, 30.7.14)

 Deutsche Meinungsmacher sind einfach nur verständnislos, wie man sich der nötigen Unabhängigkeit von Russland so entgegenstellen kann – welche Abhängigkeiten sich eine Nation aber mit der antirussischen Politik der europäischen Energiesicherheit einkauft, interessiert sie erst gar nicht.

[12] Warum aus Demokraten Faschisten werden und wie die Notstandsdefinitionen von Demokraten mit faschistischer Konsequenz vollstreckt werden, ist nachzulesen in: Konrad Hecker: „Der Faschismus und seine demokratische Bewältigung“, Gegenstandpunkt Verlag, 1996

[13] Nicht zuletzt wegen der massiven Abwanderung gerade der gut ausgebildeten Facharbeiter der vergangenen Jahre in den Westen, will die Regierung den Nachwuchs vermehrt an die Produktionsfront dirigieren. Die Billiglöhne im Land, die das auswärtige Kapital zur Niederlassung und produktiven Bewirtschaftung des Standorts bewegen sollen, bewegen eben gleichzeitig viele Volksgenossen dazu, sich woanders besser bezahlte Arbeit zu suchen, und die Regierung fürchtet um den Verlust ihrer Standortattraktivität: Schließlich war die hohe Zahl gut ausgebildeter Facharbeiter einmal das wesentlichste Argument des Investitionsstandortes Ungarn für solche Kaliber wie Nokia, General Electric, Audi, Samsung, Mercedes, Opel, Bosch und Co. (Pester Lloyd, 9.11.14)

[14] Durch die Verträge nach dem ersten Weltkrieg verlor Ungarn zwei Drittel des Staatsgebiets, über das es unter der k.u.k. Monarchie verfügte, samt drei Millionen Ungarn. Seitdem sinnt auch die Nation auf Wiedervereinigung, hat dabei aber weniger Hebel auf ihrer Seite als das große Vorbild Deutschland.

[15] Eine der Neuerungen dieses Urnengangs war, dass ethnische Ungarn aus den Nachbarländern wählen durften. Aufgrund eines neuen Gesetzes hatten sie die ungarische Staatsbürgerschaft angenommen, ohne in Ungarn zu wohnen. Von 500 000 derartigen ‚Neu-Bürgern‘ meldeten sich zwar nur 200 000 für die Wahl an, und nur 90 000 gaben tatsächlich ihre Stimme ab. Doch 95 Prozent von ihnen wählten den Fidesz. (Der Standard, 8.4.14)

[16] Mit seinem neuerlichen Wahlsieg im Rücken teilt er der EU mit, dass sein Land ‚keine Geisel, sondern ein Mitglied‘ der Union sei, das seine ‚eigenen Lösungsvorschläge‘ umsetze. (derstandard.at, 11.5.14) Der Parlamentspräsident Kövér operiert mit dem rhetorischen Hammer des Vergleichs, für den man in Ungarn nicht auf Hitler, sondern auf den Kommunismus zurückgreift:

Sollte Brüssel einer Regierung vorschreiben, wie sie ihr Land zu regieren hat, dann erinnere das an das kommunistische Moskau während des Kalten Krieges. Der Fidesz-Politiker drohte mit einem EU-Austritt Ungarns (...) Der Austritt sei zwar nur ein unwahrscheinliches ‚Alptraum‘-Szenario, allerdings könne man nicht ignorieren, dass sich die Regierungen und Finanzeliten einiger westlicher Staaten seit dem Ende des Kommunismus alles erlauben würden. (euractiv, 28/10/2014)

[17] Ungarn kann in den sieben Jahren bis 2020 in Summe bis zu 25,4 Milliarden Euro Fördergelder für Entwicklungsprojekte in einem weit gefassten Spektrum von Infrastruktur über Landwirtschafts- und Mittelstandsförderung bis hin zu Kultur, Umweltschutz und Erwachsenenbildung abrufen. Allerdings nur, wenn der ungarische Staat bzw. die jeweiligen Projektpartner und Investoren selbst rund 9,4 Mrd. Euro als Eigenanteil beisteuern. (Pester Lloyd, 11.9.14)

[18] Orbán (...) plädiert (...) für ein ‚Europa der Nationen‘, in dem konservative Werte wie die traditionelle Familie und ein konservativ verstandenes Christentum wieder eine größere Rolle spielen sollen. Die EU bezeichnet er hingegen als orientierungslos und von einem ‚schädlichen linksliberalen Post-68er-Geist‘ dominiert. (www.bpb.de)

[19] Orbán: Es ist etwas Besonderes, nach Bayern zu kommen, weil das der Ort in Europa ist, wo man uns versteht. Orbán und Seehofer kündigen eine noch engere Kooperation der beiden Länder an und verweisen auf ähnliche Forderungen und Interessen: etwa nach mehr Gewicht für die Länder und Regionen in der Europäischen Union. Seehofer bedankt sich mit einem beliebten Stehsatz deutscher Politiker: ‚Ungarn hat entscheidend dazu beigetragen, dass unser Vaterland wiedervereinigt werden konnte.‘ (Budapester Zeitung, 7.11.14) und Orbán rühmt die Vereinigung seiner Nation mit dem deutschen Auto: Ungarn ist heute ohne Audi ebenso unvorstellbar wie der Fahrzeugkonzern ohne seinen ungarischen Standort. (Budapester Zeitung, 6.11.14)

[20] Deutschland ist mit einem Anteil von 24 % mit Abstand größter ausländischer Direktinvestor in Ungarn. Eine der größten Einzelinvestitionen in Ungarn ist das Audi-Werk im westungarischen Raab/Györ, in das bislang rund 3,3 Mrd. Euro investiert wurden. Weitere Großinvestitionen sind das 2012 eröffnete Mercedes-Werk in Kecskemét (800 Millionen Euro) und das Opel-Werk in Szentgotthardt (500 Mio. Euro). Neben weiteren deutschen Großinvestoren (darunter Allianz, Bosch, Deutsche Telekom, RWE, SAP, ZF) sind zahlreiche mittelständische Unternehmen in Ungarn aktiv. (...) Mehr als drei Viertel der ungarischen Exporte gehen in die EU, allein über ein Viertel nach Deutschland. Damit ist Deutschland der mit Abstand wichtigste Wirtschaftspartner Ungarns. (auswaertiges-amt.de)

[21] Ungarn wäre das erste Land, auf das wegen eines zu hohen Staatsdefizits finanzielle EU-Sanktionen zukämen. (...) In einem seit 2004 andauernden Defizitverfahren hatte die Brüsseler Behörde Ungarn mehrfach zum Abbau der Neuverschuldung aufgefordert. (...) Mit der im Dezember in Kraft getretenen Verschärfung des EU-Stabilitätspakts (...) können nun Fördergelder eingefroren und am Ende ganz verweigert werden. (...) Die Regierung in Budapest habe Überschüsse der Rentenversicherung in den Staatshaushalt umgebucht und einmal wirksame Sondersteuern erhoben. Dies ist nach den Regeln des Stabilitätspakts nicht erlaubt. (FAZ, 23.2.12)

[22] Die FAZ will ihre Affinität zur ungarischen Linie auf dem Gebiet der Werte nicht ganz verhehlen: Natürlich kann man darüber debattieren, in welchem Ausmaß die sogenannte Zivilgesellschaft Ungarns von Organisationen repräsentiert wird, die mit teils angestellten Mitarbeitern und teils ausländischem Geld eine Homosexuellenparade in Budapest auf die Beine stellen oder für Parteienrechte eintreten–, verlegt sich aber auf den bezeichnenden Vorwurf: Konservative Werte aber werden durch Orbáns Regierungspraktiken nicht bewahrt, sondern diskreditiert. (FAZ, 23.9.14, Paranoia in Orbáns Ungarn)

[23] Seit 2010 bekommt man etwa einmal im Jahr per Post einen persönlich adressierten Fragebogen von Viktor Orbán zu aktuellen politischen Fragen. So wurde 2011 gefragt, ob der Staat den Arbeitslosen Geld oder Arbeit geben solle; 2012 wurden die berüchtigten öffentlichen Beschäftigungsprogramme unter dem Mindestlohn eingeführt – kein Geld mehr vom Staat ohne Arbeit. Seit 2013 werden auch die Neubürger im Ausland in die ‚nationale Konsultation‘ einbezogen. (pusztaranger.wordpress.com)

 Aktuell aus Anlass des Aufruhrs um die Internet-Steuer wird wieder einmal eine „nationale Konsultation“ angekündigt: Viktor Orbán sagte im Staatsfunk, er sei ‚kein Kommunist‘ und wolle mit dem Volk regieren; für Mitte Januar stellte er eine ‚Nationale Konsultation‘ über das Internet, seine gesetzliche Regelung und finanzielle Fragen in Aussicht. Das Internet generiere einen riesigen Profit, von dem ein Teil im Land gehalten werden müsse. (a.a.O.)

[24] Am 18.10. eröffnete die nur von der Türkei als Staat anerkannte Türkische Republik Nordzypern eine Repräsentanz in Ungarn, die erste in einem postsozialistischen Land. Kurz zuvor wurde die ungarische Botschaft in Nicosia geschlossen. (pusztaranger.wordpress.com, 20.10.14)

[25] Die Bank of China (BoC) wird in Budapest noch vor Jahresende ihr Regionalzentrum für Mittel- und Osteuropa eröffnen. (Budapester Zeitung, 4.11.14)

[26] Während eines Besuches in China erregte er mit einem TV-Interview Aufsehen, in dem er versicherte, er sei nicht gekommen, um Lektionen in Fragen der Menschenrechte zu erteilen, sondern um zu lernen, wie man Wirtschaftswachstum erzielt und die Gesellschaft stabilisiert. Seit der russischen Aggression gegen die Ukraine widersetzte sich die Tschechische Republik immer wieder den gegen Moskau verhängten Sanktionen der EU. Demonstrativ nahm Zeman im September an einer Konferenz teil, die der russische Oligarch Vladimir Yakunin, ein Vertrauter Putins, auf Rhodos organisierte. Die Sanktionen, sagte er dort, widersprächen dem ‚Dialog der Zivilisationen‘. Er werfe, sagte er andernorts, Putin nicht vor, dass er Michail Chodorkowskij habe verhaften lassen, ‚der im großen Maßstab gestohlen‘ habe, sondern dass er nicht auch noch andere Oligarchen ins Gefängnis steckte. Die heftigsten Proteste provozierte er jedoch Anfang November durch eine Rundfunkansprache, in der er die Musikerinnen der Punkrockband ‚Pussy Riot‘ als ‚Huren‘ beschimpfte und den Namen der Band mit dem vulgärsten Wort übersetzte, das die tschechische Sprache anbietet. (FAZ,17.11.14)