Das türkische Volk wählt falsch
Deutschland bestellt eine Richtungswahl: Gegen „Autokratie“ für „Demokratie“

Die Tagesthemen lassen den türkischen Hoffnungsträger Kılıçdaroğlu den Wahlkampf machen, den Deutschland sich von Erdoğan verbittet, und der spult brav ab, was unsere wertegeleitete Moderatorin hören will. Und dann das. Erst gewinnt die AKP die Parlaments-, dann Erdoğan die Präsi­­dentenwahl. Wo doch unsere Journalisten den türkischen Massen mitfühlend nahegelegt hatten, was sie aus ihren Nöten folgen lassen sollen.

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Das türkische Volk wählt falsch
Deutschland bestellt eine Richtungswahl: Gegen „Autokratie“ für „Demokratie“

Caren Miosga lässt in den Tagesthemen den türkischen Hoffnungsträger den Wahlkampf machen, den Deutschland sich von Erdoğan verbittet, und der spult brav ab, was unsere wertegeleitete Moderatorin hören will:

„Tagesthemen: Herr Kılıçdaroğlu, Sie kündigen nichts weniger an, als in der Türkei die Demokratie wiederherzustellen. Wie soll das gehen, 20 Jahre Willkür und Korruption eben mal einfach so abzuwickeln?
Kemal Kılıçdaroğlu: In diesen 20 Jahren ist unsere Demokratie ausgeblutet. Unser Sechserbündnis ist zusammengekommen, um das wiederaufzubauen, um die Demokratie wiederherzustellen. Was uns zusammengeführt hat, ist die Sehnsucht nach Demokratie. Dieses Land braucht die Demokratie. Besonders die Jugend ruft immer lauter danach. Die Türkei hat stark an Vitalität eingebüßt, da keine Demokratie existierte und alle Macht bei einer Person lag. Wir haben große wirtschaftliche Probleme. Um das zu reparieren und die Demokratie wiederherzustellen, wollen wir ein gestärktes parlamentarisches System einführen. Wir werden die Verfassung ändern. Wir werden ein Gesetz zur politischen Ethik beschließen. Da gibt es vieles, was wir noch in Angriff nehmen werden. Und: Sämtliche demokratischen Standards der Europäischen Union werden wir – ohne die Öffnung eines neuen Kapitels durch die EU abzuwarten – vollständig umsetzen.“ (8.5.23)

Die Türken enttäuschen und wählen – wie reife Wähler: „Keine Experimente“, schon gleich in „schweren Zeiten“

Und dann das. Erst gewinnt die AKP die Parlaments-, dann Erdoğan die Präsidentenwahl. Wo doch unsere Journalisten mit außerordentlichem menschlichen und sozialen Mitfühlen mit den Nöten der türkischen Massen diesen nahegelegt hatten, was sie als Wählervolk daraus folgen lassen sollen.

„Wer geglaubt hat, 20 Jahre AKP und Recep Tayyip Erdoğan seien den Menschen in der Türkei genug, sieht sich getäuscht. Ein zunehmend autokratischer Regierungsstil, Inflation, niedrige Löhne, Korruptionsvorwürfe, teils späte staatliche Hilfe nach dem Erdbeben, vermutlich mehr eingestürzte Gebäude wegen Pfusch am Bau – von Erdoğan toleriert: all das hat nicht gereicht, ihn aus dem Amt zu heben.“ (Lueb, Tagesschau, 15.5.23)

Diesmal richtig enttäuscht vermerken Journalisten die hohe Wahlbeteiligung und dass die offiziellen Wahlbeobachter der OECD keine Wahlfälschung attestieren. Dabei hatte der Hoffnungsträger noch lanciert: „Kılıçdaroğlu wirft russischer Gruppe Einflussnahme vor.“ (FAZ, 13.5.23)

Experten unterhalten die Öffentlichkeit mit ihrem Rätsel, wie die Türken nur so wählen können anstatt wie wir es gern hätten. Ein altes Schlachtschiff von deutschem Botschafter erinnert sich an alte Parolen von Adenauer und Merkel: Erdoğan habe mit „Keine Experimente!“ gepunktet.

Ein Experte der Grünen:

„Frage: Warum hat Erdoğan immer noch so viele Anhänger?
Antwort: Das verstehen auch viele Türken nicht... In Europa gucken wir immer auf Dinge wie den Abbau von Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechten, aber für den Alltag eines Bauern in Zentralanatolien ist das von untergeordneter Bedeutung. Und nicht nur für den: Auch Leute aus meinem Freundeskreis hier in Istanbul, die alle den Oppositionskandidaten gewählt haben, betrifft das nur indirekt.“ (n-tv, 15.5.23)

Die anatolischen Hinterwäldler und doofen Istanbuler Nachbarn denken beim Wählen einfach nicht wie der elitäre Böllstiftler an immer das Eine, das geliebte demokratische System, sondern an den von ihnen bevorzugten Führer der Nation – ganz ähnlich wie deutsche Wähler.

Die türkischen Wahlkämpfer selbst machen den Wahlkampf zu der Sternstunde des Nationalismus, der er ist: Türkiye gegen die Verräter der Nation

Zur ersten Runde erfährt man:

Der Langzeit-Präsident nutzt Amt und Bonus als Einiger des ganzen türkischen Volks mit seinem Staat und seiner Religion und denunziert den Herausforderer, mit kurdischen Staatsfeinden zu kollaborieren und die Türkei ans Ausland zu verkaufen. Erdoğan zeigt ein türkisches E-Auto, einen Flugzeugträger und viele große Bauten, auf die das türkische Volk stolz sein darf.

Der Herausforderer wirbt mit seinem erfolgreich geschmiedeten nationalen Parteienbündnis für sich als einende Kraft, auch der Türkei. Und volksnah: „In einem seiner letzten Videos ... hielt er lediglich eine Zwiebel in die Kamera... Ein Kilo Zwiebeln, so Kılıçdaroğlu in seinem Video, kosteten jetzt 30 Lira, ein unerhörter Preis.“ (taz, 10.5.23) – verknüpft mit der Anklage, dass für Osman Normalverbraucher die Zwiebeln auf dem Markt so teuer sind, weil der Autokrat die Türkei bei allen Autoritäten und Investoren des Weltmarkts unmöglich gemacht hat.

Deutschlands Kritiker des Populismus sind begeistert – von dem ihres Kandidaten:

„Während Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf seinen Wahlkampfveranstaltungen von neuen Waffensystemen und türkischen Großmachtträumen redet, spricht Kılıçdaroğlu von Zwiebeln und anderen Nahrungsmitteln. Der wichtigste Erdoğan-Konkurrent weiß, dass er damit den Nerv vieler WählerInnen trifft.“ (taz, 10.5.23)

Darum geht es Wahlkämpfern vor einem reifen nationalen Volk: zu beweisen, dass man mindestens so Volk ist und durch und durch türkisch tickt wie das gute Volk selbst. Da lässt Kılıçdaroğlu vorsorglich nichts anbrennen, aber Erdoğans Team auch nicht.

„Er wolle über ein ‚sehr sensibles Thema‘ sprechen, sagt Kılıçdaroğlu... ‚Ich bin Alevit.‘ Er sei nach den Glaubensgrundsätzen der Aleviten erzogen worden. Zugleich appelliert er an die Wähler, Identitätsfragen, die seit Langem die türkische Politik dominieren, hinter sich zu lassen. ‚Wir werden nicht mehr über unsere Abgrenzungen und Unterschiede sprechen. Wir werden über unsere Gemeinsamkeiten und gemeinsamen Träume sprechen... Seid ihr bereit, dieses spaltende System von seinen Wurzeln her zu zerstören?‘ ...
Mit seinem Videobekenntnis erreichte der Herausforderer so viel Aufmerksamkeit, dass das Lager des Präsidenten dazu nicht schweigen konnte. Innenminister Süleyman Soylu sagte in einem Fernsehinterview: ‚Ich frage mich, warum er jetzt über seine Identität spricht und nicht schon vorher... Er versucht, ein Problem zu schaffen, das wir längst hinter uns gelassen haben.‘ Soylu verwies auf Amtsträger, die Minderheiten angehören. Der Erdoğan-Berater Mustafa Akiş twitterte: ‚Es gibt keine Präsidentschaftsdebatte über Identitätspolitik. Die Debatte dreht sich darum, wer fähiger ist. Wir sagen: Kılıçdaroğlu hat kein Talent.‘“ (FAZ, 21.4.23)

Von der zweiten Runde erfährt man, dass sie etwas schmutziger wird, wie es reifen Demokraten geläufig ist.

Der Herausforderer dreht auf und denunziert den Amtsinhaber, die Türkei, Türken und Türkinnen mörderischen Flüchtlingen auszuliefern, die er sofort abschieben würde:

„‚Ich werde alle Flüchtlinge zurück nach Hause schicken, sobald ich an der Macht bin. Punkt.‘ In seiner Rede in der Parteizentrale der CHP warf Kılıçdaroğlu dem Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan vor, die Grenzen des Landes, und damit ‚unsere Ehre‘, nicht geschützt zu haben. Sollte Erdoğan an der Macht bleiben, würden ‚mehr als zehn Millionen weitere Flüchtlinge in die Türkei kommen‘, behauptete er und schreckte nicht davor zurück, krude Ressentiments zu schüren: die Flüchtlinge könnten sich in Verbrecher und Plünderer verwandeln, ganze Städte würden ‚unter die Kontrolle von Flüchtlingen und Mafiabanden fallen‘, und es werde mehr Frauenmorde geben. Damit spielte er auf die verbreitete Vorstellung an, wonach Erdoğan syrische Flüchtlinge bewusst in die Türkei geholt habe, um eine Islamisierung der Gesellschaft zu erreichen und zugleich seine eigene Wählerbasis zu verbreitern.“ (FAZ, 19.5.23)

Der Amtsinhaber hat einen soliden Vorsprung und vertraut ostentativ auf die türkische Demokratie, nämlich sein Volk:

„Bei seinem traditionellen Auftritt auf dem Balkon der Parteizentrale seiner AKP in Ankara gab sich Erdoğan in der Nacht auf Montag entsprechend zufrieden und siegesgewiss. Angesichts der hohen Wahlbeteiligung von offiziell 88,9 Prozent sprach er von einem ‚Fest der Demokratie‘.“ (NZZ, 16.5.23)

Der Autokrat versteht sich eben auf das urdemokratische Mehrheitsprinzip, nach dem Erfolg Recht auf Erfolg gibt und dann Demokratie echt gut ist. Er gewinnt.

„Schwieriger Partner“ – so oder so

Die Machthaber im Westen richten sich auf das Wahlergebnis ein und vertrauen auf ihre Hebel gegenüber der Türkei, mit denen sie auch Kılıçdaroğlu kommen würden. Aber schade ist es schon, dass sie nicht auch noch das Wählen in der Türkei entscheiden können, denn:

„Unter Kılıçdaroğlu würde es wohl keine Männerfreundschaft mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin geben. Das wurde auch in einem Twitter-Post Kılıçdaroğlus kurz vor dem ersten Durchgang der Wahlen klar. Er warnte Russland vor einer Einmischung und einer Beeinflussung der Wahlen. ‚Lasst die Finger vom türkischen Staat‘, schrieb er. Eine deutliche Botschaft gegenüber Moskau – obwohl man ‚ein ausgewogenes Verhältnis‘ anstrebe.“ (Tagesschau, 23.5.23)

Und das lästige türkische Wahlvolk honoriert ausgerechnet Erdoğans Renitenz gegen die westlichen Aufsichtsmächte –

„Sein oft provozierender Widerstand gegen den Westen, der vor allem die NATO-Partner ärgert, zeichnet ihn in den Augen nationalbewusster Türken gerade aus.“ (FAZ, 16.5.23)

„Und das auch noch bei Uns!!“

Deutschlands Agrarminister und Vorzeige-Deutschtürke ist sauer.

„Die hupen, weil jemand eine Wahl gewonnen hat, der das Land in eine Art offenes Gefängnis verwandelt, während sie hier gleichzeitig die Vorzüge einer liberalen Demokratie genießen“, poltert Cem Özdemir (Grüne) über die türkischen Wähler in Deutschland, die, anstatt unsere fünfte Kolonne in der Türkei zu machen, Erdoğans fünfte Kolonne in unserer Demokratie sind.

Da werden die wirklichen Vorzüge der liberalen Demokratie fällig:

„Die Zeitenwende, die wir Gott sei Dank endlich haben im Umgang mit Putin, die braucht es jetzt auch im Umgang mit türkischem Ultranationalismus, die braucht es jetzt auch im Umgang mit Fundamentalismus.“ (ZDF, 29.5.23)

Demokrat, grün, wehrhaft.