Stichwort: Sozialversicherungen
Arbeiten im Kapitalismus geht offensichtlich nur, wenn der Staat einen Großteil des privaten Lohneinkommens seiner arbeitenden Bevölkerung zwangsweise kollektiviert und damit ein umfassendes System von Sozialkassen unterhält. So viel Sozialismus muss sein im freien bürgerlichen Gemeinwesen. Wie in dem mit hoheitlicher Gewalt ‚Solidarität‘ organisiert wird und warum, erläutert das Stichwort: Sozialversicherungen.
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Stichwort: Sozialversicherungen
Das System der deutschen Sozialversicherungen gilt als stolze Errungenschaft, versichert zig Millionen Erwerbsbürger, bewegt dabei jährlich gigantische Geldsummen und hat einst als vorbildlicher Fortschritt hin zu einer sozialen Marktwirtschaft in den Industrienationen Schule gemacht. Was die Versicherten selbst betrifft, wissen sie sich bei allen Beschwerden über das ‚Netto vom Brutto‘ glücklich zu schätzen, wenn sie nicht irgendeiner, sondern einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung für den Erwerb ihres Lebensunterhalts nachgehen dürfen: Denn solche Arbeitsplätze gelten heute, noch vor jedem Blick auf das Verhältnis von Lohn und Leistung, das sie den Beschäftigten bieten, als das Nonplusultra unter den Beschäftigungsverhältnissen – und eines stimmt daran ganz sicher: Die Sozialversicherungen warten mit einer Reihe beachtenswerter Leistungen für ihre Mitglieder auf. Bleibt zu klären, was diese guten Nachrichten über die Lebenslage derer offenbaren, die auf diese Leistungen angewiesen sind, und was diese Lebenslage über den Grund und Zweck des ökonomischen Systems verrät.
I. Die Rentenversicherung
Die erste gute Nachricht an die Erwerbsbürger stammt von ihrer gesetzlichen Rentenversicherung, die in Deutschland erfunden wurde: Für ihren Lebensabend in diesem schönen Land wird staatlicherseits gesorgt; seine Einwohner sollen und müssen nicht ewig arbeiten für ihr Geld, sondern können darauf rechnen, ihren Ruhestand aus den Zahlungen dieser Versicherung zu bestreiten. Den Versicherten bleibt der individuelle Test darauf erspart, ob sie überhaupt dazu in der Lage wären, bis ins hohe Alter einer abhängigen Beschäftigung zum Zwecke des Gelderwerbs nachzugehen und ob ihre Firmen und Betriebe dabei mitspielen würden. Die Sozialgesetzgebung legt eine ‚Regelaltersgrenze‘ für sie fest, die bis auf Weiteres bei 67 Jahren liegt und bis zu der sie es auch nur dann schaffen müssen, wenn sie ihre Altersrente abschlagsfrei erhalten wollen.
Was allerdings das allgemeine Niveau dieses Ruhestands angeht, hat der Gesetzgeber sich darauf verlegt, dass das Rentenniveau im Lande im Schnitt bei genau 48 % des Durchschnittseinkommens aus abhängiger Beschäftigung liegen möge – eine Beschlusslage, welche unzählige gesetzliche Bestimmungen für die Altersrente und ganz viel Versicherungsmathematik nach sich zieht. Seinen rüstigen und künftigen Rentnern gegenüber stellt er klar, dass sie in ihrer goldenen Zeit nach der Arbeit mit knapp halb so viel Geld wie bisher auskommen müssen, dass sie von ihm also Altersarmut per Gesetz zu erwarten haben. Wenn sie ihren gewohnten Lebensstandard auch nur annähernd halten wollen, müssen sie private Zusatzvorkehrungen treffen.
Mit der Festlegung des allgemeinen Rentenniveaus und der Akquise von 30 Millionen Einzahlern und 18 Millionen Rentnern ist die Angelegenheit für die Rentenversicherung und ihre Klientel alles andere als erledigt, denn der Gesetzgeber hat sich größte Mühe gegeben, den Individuen und ihrer Erwerbsquelle gleichermaßen zu entsprechen.
1. Der Erwerb von Entgeltpunkten
Das fängt damit an, dass die Versicherung ihren Klienten, die ihren Lebensunterhalt nicht länger aus der Erwerbsarbeit bestreiten müssen, bis zum Lebensende nachhängen lässt, was sie in ihrem Arbeitsleben jeweils erreicht haben: Daran knüpft sie den Erwerb von ‚Entgeltpunkten‘ – auf die vierte Nachkommastelle quantifizierte Rechtsansprüche an die Versicherung, die deren Mitglieder im Laufe ihres Erwerbslebens durch die auf ihr Einkommen erhobenen Beitragszahlungen [1] akkumulieren. In Retrospektive entfaltet sie die Erwerbsbiografien ihrer Mitglieder und liest an denen ihre jeweils individuelle Lebensleistung ab. Sie geht dabei mit kleinlicher Genauigkeit zu Werke, denn die Altersbezüge, mit denen die Alten ihr Dasein fristen, wollen wohlverdient sein, haben also unbedingt in einem gerechten Passungsverhältnis zur erbrachten Lebensleistung zu stehen; alles andere wäre schließlich Gleichmacherei, also eine Missachtung der beachtlichen Unterschiede, zu denen die Rentenanwärter es in ihrem Erwerbsleben gebracht haben:
Zum ersten stellt die Versicherung fest, dass die Menschen über ihr erwerbsfähiges Alter hinweg ja keineswegs gleich lange bzw. gleich viel arbeiten. Ihre Biografien sind durchzogen von individuellen Lebensentscheidungen, persönlichen Schicksalsschlägen und allen möglichen Stolpersteinen. All das lässt sie zu Buche schlagen, indem sie ihren Mitgliedern akribisch nachrechnet, wie lange bzw. wie unterbrechungsfrei sie als abhängig Beschäftigte vollwertige Beitragszeiten angesammelt haben, wobei ihr auch noch Ausbildung, Wehr- bzw. Zivildienst und Zeiten familiärer Erziehung und Pflege als zwar beitragsfreie, jedoch zumindest in Teilen anzuerkennende Lebensleistungen gelten und eine Zeitgutschrift wert sind. Zum zweiten dient ihr für jedes nachgezählte Beitragsjahr ein für das jeweilige Jahr ermittelter allgemeiner Durchschnittslohn als Messlatte, der aus einem Vergleich aller wirklichen Arbeitseinkommen sozialversicherungspflichtig Beschäftigter ermittelt wird und der ihr exakt einen Entgeltpunkt pro Arbeitsjahr wert ist. Wer unter dem Durchschnitt liegt, bekommt für das Jahr einen entsprechenden Bruchteil, wer darüber liegt, ein entsprechendes Vielfaches eines Entgeltpunktes gutgeschrieben. Auch hier wird die Versicherung großer Unterschiede gewahr, weil die mit Erwerbsarbeit in der Bundesrepublik erzielten Einkommen nun einmal weit gefächert sind; ihr Spektrum ist als Lohnhierarchie bekannt. Die individuelle Leistung, die die Versicherung akribisch ermittelt und zur Bemessungsgrundlage der Gutschrift ihrer Entgeltpunkte macht, besteht recht besehen also darin, dass die Versicherten sich in der Hierarchie der Löhne und Gehälter auf einer Position von ganz unten bis ganz oben einsortiert haben. Ihre Konkurrenz um die besseren Jobs garantiert ihnen zwar nicht ihren individuellen Erfolg gegen ihresgleichen, sorgt im Resultat aber allemal dafür, dass keiner der Plätze dieser Hierarchie unbesetzt bleibt.
Die rentenpolitische Figur des ‚Eckrentners‘, der bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze genau 45 Jahre lang zum Durchschnittslohn gearbeitet hat und dabei von keinen längeren Phasen der Krankheit oder Arbeitslosigkeit gestört wurde, gibt den Versicherten schließlich vor, woran sie sich am Ende mit der Anzahl ihrer jeweils erzielten Entgeltpunkte messen lassen müssen. Dieses Maß, das für die Versicherung den Musterfall eines Normalverdieners bilanziert und ihr eine Regelaltersrente wert ist, verdankt sich keiner noch so geschönten Durchschnittserhebung, sondern wird schlicht politisch festgelegt und als Hebel der Rentenkürzung von Politikern durchaus geschätzt.
Ob die Versicherten es letztendlich zu den 45 Entgeltpunkten bringen oder nicht – ihr jeweils erzieltes Ergebnis ist auf jeden Fall so gerecht wie das Verfahren zu seiner Ermittlung, bei dem nichts als ihre per Vergleich ermittelte individuelle Leistung eine Rolle gespielt hat.
2. Der ‚dynamisierte‘ Wert der Entgeltpunkte
Wie hoch diese Regelaltersrente ausfällt und welche individuelle Rentenhöhe den Versicherten ihre Lebensleistung folglich beschert, ist damit noch nicht ausgemacht. Erst über die ‚Rentenanpassungsformel‘ entscheidet sich für die punkteschwangeren Rentner nämlich – und zwar Jahr für Jahr aufs Neue –, was ihre erworbenen Punkte in Geld gemessen überhaupt wert sind. [2] Und was das angeht, macht die Versicherung die Altersrente von noch ganz anderen Fragen als ihren jeweils eigenen Leistungen abhängig; wovon, ist schon interessant.
a)
Hauptbestimmungsmoment des Rentenwerts ist die sogenannte Lohnkomponente. Durch sie wird der Rentner mit den Geschicken der Konkurrenten von heute bekannt gemacht, die sich ihrerseits noch nach Kräften um den Erwerb ihrer Entgeltpunkte schlagen. Die Versicherung ermittelt das aktuelle nationale Lohnniveau und zieht so eine Bilanz über die Erträge der Job-Konkurrenz der Erwerbstätigen, in die alle zeitgemäßen Usancen von Beschäftigung und Entlohnung, also die gesetzten Bedingungen dieser Konkurrenz mit einfließen. Von dieser aggregierten Größe, die mit seinen seinerzeit erbrachten Leistungen nun wirklich nichts zu tun hat, macht die Versicherung den Rentenwert und damit den Rentner abhängig.
Das ist einerseits ein Glück für ihn: Zur Finanzierung des Lebensabends müssen es schon die Löhne von heute sein, die in den Rentenwert einfließen, sonst hätten er und seinesgleichen angesichts des notorischen Kaufkraftverlustes des Geldes bekanntlich wenig zu lachen. Diese höchstamtlich eingebaute Berücksichtigung der Lohnentwicklung bekennt sich immerhin dazu, dass Arbeitnehmer in Anbetracht notorisch steigender Preise immerzu mehr Geld verdienen müssen, um gleich viel zu haben und nicht zu verarmen. Das zu bewerkstelligen, nimmt ihnen allerdings niemand ab, für ihren Inflationsausgleich sind sie selbst verantwortlich – und für den der Rentner gleich mit dazu. Was die Altersrente taugt, ist deshalb nicht zuletzt eine Frage des Willens und der Fähigkeit heutiger Arbeitnehmer, höhere Löhne für sich zu erstreiten. Das ist die andere Seite der Medaille: Auch wenn er an der Konkurrenz um Löhne nicht mehr aktiv teilnimmt, ist der Rentner von diesem kollektivierten Resultat der Konkurrenz der Erwerbstätigen abhängig gemacht; auch als Ruheständler bleibt er ein Leben lang an Schicksal und Geschicke der Erwerbstätigen gebunden.
Der Rentner kann im Alter eben nicht von den Erträgen aus seiner Arbeit leben – und soll es auch nicht vermittelt über die Rentenversicherung, an die er Zeit seines Lebens Beiträge abgedrückt hat. Vielmehr werden seine Bezüge auch materiell, passend zur Rechtskonstruktion der Lohnkomponente, mittels eines Umlageverfahrens im Wesentlichen aus den auf die heutigen Löhne erhobenen Zwangsbeiträgen der aktuell versicherungspflichtig Beschäftigten finanziert.
b)
Die Rentenversicherung ist insgesamt darauf bedacht, die Rechtsansprüche, die die Versicherten ihr gegenüber akkumulieren, so zu konstruieren, dass diese sich ‚dynamisch‘ nach dem Beitragsvolumen der aktuell in die Kasse einzahlenden abhängig Beschäftigten richten. Darum geht in die Rentenanpassungsformel noch der sogenannte Nachhaltigkeitsfaktor ein, der den Wert der Entgeltpunkte noch ein wenig nach unten korrigiert. Dazu wird in einem äußerst komplizierten mathematischen Ausdruck die Anzahl der Beitragszahler ins Verhältnis zur Anzahl der Beitragsempfänger gesetzt. Mit steigendem Durchschnittsalter und infolge steigender Rentneranzahl und/oder einer fallenden Zahl aktiv beitragspflichtiger Arbeitnehmer sinkt dann ‚automatisch‘ der Rentenwert. Die Ideologie dazu lautet, so würde die Rente zukunftssicher, weil dem ‚demografischen Wandel‘ ins Auge gesehen werde – die Wahrheit besteht schlicht darin, dass die Versicherung sich und ihre Mitglieder darauf festlegt, dass die Rentenhöhe vom mathematischen Verhältnis von Beitragszahlern und -empfängern abhängig sein möge, damit sie aus dem aktuellen aus abgeführten Lohnbestandteilen generierten Beitragsaufkommen finanziert werden kann. Alle ausgerufenen Probleme mit kopfstehenden Alterspyramiden in Urnenform verdanken sich nicht der Tatsache, dass die Einwohner unseres reichen Landes im Schnitt immer länger leben, sondern der Festlegung, dass deren Altersrenten eben aus den Löhnen der arbeitenden Menschheit mitfinanziert werden sollen. Deswegen sind die erwerbbaren Rentenansprüche rechtlich gleich so konstruiert, dass sie sich möglichst nach diesem vom Sozialstaat verfügten ökonomischen Imperativ richten; und deswegen kommt auch immer wieder eine weitere Anhebung der Regelaltersgrenze zum Anschmiegen der Rentenbezüge an das Beitragsvolumen ins Gespräch.
Damit ist einiges geleistet: Der soziale Staat konstituiert ein Kollektiv von Rentnern, das als Ansammlung von Individuen mit ihren Rechtsansprüchen bestimmt ist, und bezieht es materiell auf ein Kollektiv von Erwerbstätigen, die sich ihre jeweiligen Ansprüche für später erst noch erwerben, indem sie mit den zwangsweise umverteilten Elementen ihres Gesamtlohnes die heutige Gesamtrente finanzieren. Ein merkwürdiger ‚Generationenvertrag‘ ist das, in dem sich die Vertragspartner nie aus eigener Kraft oder aufgrund irgendeiner Einsicht begegnen, sondern als jeweils durch die Rentenversicherung konstituierte Subkollektive rechtlich auf die staatliche Hoheit bezogen und durch sie in ein gegensätzliches ökonomisches Zwangsverhältnis gesetzt werden. Auf diese Weise verlangt der soziale Staat, dass die Altersarmut, die er seinen Rentnern verordnet, durch die Erwerbstätigen, denen sie ebenfalls blüht, finanziert wird.
c)
Weil der Sozialstaat inzwischen selbst nicht mehr davon ausgeht, dass die gesetzliche Rentenversicherung ausreichend gewährleistet, wofür er sie eingerichtet hat, hält er seine Klientel dazu an, die durch ihn initiierten ‚Versorgungslücken‘ durch private Rentenzusatzversicherungen zu schließen, die ihrerseits staatlich gefördert werden. Um dem Nachdruck zu verleihen, haben kluge Rentenpolitiker sich den Zynismus einfallen lassen, die Resultate des von ihnen unterstellten durchschlagenden Erfolgs einer Inanspruchnahme solcher Zusatzangebote vorwegzunehmen, indem sie die reale Entwicklung der Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversicherung und eine fingierte Entwicklung zusätzlicher Beiträge für private Zusatzversicherungen in die Rentenanpassungsformel mit eingebaut haben: Der ‚Faktor für die Veränderung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung und des Altersvorsorgeanteils‘, landläufig als Riesterfaktor bezeichnet, senkt den Rentenwert noch ein Stückchen ab, beruft sich dabei auf die Doppelbelastung der Beitragszahler und versüßt über diese Schlechterstellung der Rentner den Rentenanwärtern den erzwungenen Entschluss, von ihrem verdienten Geld weitere Teile jetzt auch noch für eine zusätzliche private Vorsorge dranzugeben.[3]
3. Die lebenslängliche Reproduktion aus Geld für Arbeit: Leistung einer staatlich erzwungenen Solidarität
Die etwas betrüblichen Aussichten hinsichtlich der Prekarität ihrer Altersversorgung, die die Sozialpolitik beschließt und die die Versicherten jährlich auf dem Postweg von ihrer Versicherung mitgeteilt bekommen, haben ihren sachlichen Grund darin, worauf sie materiell von ihr festgelegt sind: Mit ihren Zwangsbeiträgen, ihrem Umlageverfahren und ihren wohldefinierten Konstruktionen der erwartbaren Anwartschaften besteht die Versicherung nachdrücklich darauf, dass ihre Mitglieder sich insgesamt und ein Leben lang aus einer Geldsumme reproduzieren müssen, die dafür untauglich ist, weil sie dafür einfach nicht gedacht ist. Denjenigen, die Löhne überhaupt stiften und auszahlen, ist der Gesichtspunkt, den die Rentenversicherung an sie als Einkommensquelle anlegt, einfach fremd: Was die Arbeitgeber der Nation ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an Arbeitsentgelt auszahlen, ist nun mal kein Geld fürs Leben, schon gleich nicht für ein Leben über die nützliche Erwerbstätigkeit hinaus, sondern wird von ihnen für nichts als die Arbeit bezahlt, die sie in ihren Diensten entrichten lassen. Weil Unternehmer Lohn dafür und für sonst nichts bezahlen, ist die Geldsumme, von denen die Erwerbstätigen ihr Leben auch über die Arbeit hinaus bestreiten müssen, notwendig zu klein.
Davon geht die Rentenversicherung, wenn sie zur Mitgliedschaft verpflichtet, selbst in aller Form aus. Die Summe, die für den Einzelnen absehbar nicht zur Bestreitung eines ganzen Lebens ausreicht, muss durch den unablässigen Einsatz der Versicherung für die Gesamtheit der Erwerbstätigen, die diesen Mangel kollektiv teilen, genau diese ihr sachfremde Notwendigkeit bewerkstelligen. Mit diesem Imperativ konstituiert der soziale Staat die Individuen, die er in Gestalt seiner Rentenkasse in den Gegensatz von Beitragszahlern und -empfängern gestellt hat, insgesamt als eine Klasse, deren Revenuequelle er für die Überbrückung der Differenz zwischen Lebens- und Arbeitszeit bzw. zwischen Geld für Arbeit und Geld für Leben haftbar macht und ihr damit einen überlebensnotwendigen Dienst erweist. Die Erwerbstätigen selbst brauchen sich dafür im Prinzip nur an ihre eigensüchtigen Berechnungen zu halten, wonach sie in die fälligen Rentenbeiträge ein Einsehen haben, weil sie damit ihre Rechtsansprüche erwerben und sich ein Arbeitsleben lang darum sorgen, wie sie ‚später einmal dastehen‘ werden – den Rest erledigt der Staat mit seiner Gewalt. Er sorgt dafür, dass aus den mangelhaften Früchten ihrer weitsichtigen Anstrengungen die jeweils aktuelle Rentnergeneration alimentiert wird und die Klasse so immerzu mit ihrem Verdienst füreinander einsteht. Sie muss dazu von sich als Klasse gar nichts wissen wollen, durch den Staat praktizieren ihre Mitglieder die erzwungene Solidarität, die sie nötig haben, um bis zum Schluss von ihrer Erwerbsquelle leben zu können.[4]
Inzwischen – die rentenpolitisch glücklichen Zeiten, in denen das Ende von Arbeits- und Lebenszeit noch weitgehend zusammengefallen sind, sind endgültig vorbei – gesteht der deutsche Staat ein, dass die Bestandteile des Lohns alleine, die er sich dafür erschließt, einfach nicht mehr hinreichen. Er stellt in Rechnung, dass eine alleine aus dem Lohn finanzierte Rente als Lebensmittel untragbar und als Lohnkost ebenfalls untragbar wäre, und schießt der Rentenkasse jährlich wachsende Summen an Steuergeldern zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu, damit die Sache ihren gewohnten Gang gehen kann: Er besteht sowohl auf ihren Leistungen, als auch auf der Kalkulationsfreiheit einer Arbeitgeberschaft, die wirklich nicht mehr und nichts anderes für die Verfügung über ihre Mitarbeiter bezahlen soll, als eben das, was sie als Preis für die Verrichtung lohnender Arbeit zu zahlen bereit ist – ein beachtlicher Dienst, den er mit der Kunstfertigkeit seiner Rentenversicherung zur nachhaltigen sozialen Entlastung seiner wirtschaftlichen Leistungsträger erbringt.
II. Die Arbeitslosenversicherung
Für jene, die zur Erwirtschaftung ihres Lebensunterhalts auf die Karriere der abhängigen Beschäftigung festgelegt sind, gehört es zu den allgemeinen Berufsrisiken, nie sicher sein zu können, ob sie sich ihren Lebensunterhalt auch morgen noch verdienen können. Die Arbeitslosigkeit ist ihnen durch alle Konjunkturphasen hindurch als drohender GAU der Lohnarbeiterexistenz präsent, der ihr die Geschäftsgrundlage unter den Füßen wegzieht. Dass die große Masse der Leute unbedingt eine Anstellung zum Leben braucht, heißt eben noch lange nicht, dass sie auch eine bekommt, denn über Ein- und Ausstellung entscheiden nicht sie mit ihrem Existenzbedürfnis, sondern ihre Arbeitgeber – ihre eigene Existenzgrundlage haben diese Leute nicht selbst in der Hand.
In dieser existenziellen Frage Sicherheit zu stiften, ist Sache des sozialen Staates nicht. Ein ‚Recht auf Arbeit‘, wie es Realsozialisten und anderen Freunden der Arbeit als größte anzunehmende Verheißung an die einfachen Leute in den Sinn kommt, kommt für ihn und seine freiheitlich-egalitäre Gesellschaft jedenfalls nicht infrage.[5] Für die Betroffenen hält er etwas anderes bereit: Er versichert sie zwangsweise in einer weiteren Sozialversicherung, die sich ihrer rezidivierenden Arbeitslosigkeit dann annimmt, wenn sie eintritt, ihnen aufs Erste den ausgefallenen Lebensunterhalt kompensiert und sich ihnen zugleich als Institut präsentiert, das sie dabei unterstützt, wieder in eine bezahlte Arbeit zu kommen. Wenn es nach der Versicherung geht, sollen ihre Klienten so schnell wie möglich in den Status zurückgelangen, aus dem heraus sie bei ihr aufgelaufen sind: die Arbeitslosigkeit hinter sich lassen und sich in aktiver Beschäftigung wieder ihr Geld verdienen. Ihre Leistungen und die daran geknüpften Aufgaben und Auflagen für die Versicherten sind allesamt auf diesen Zweck geschlüsselt.
1. Arbeitslosengeld und -amt: Hilfe bei der Bewältigung eines individuellen Schicksals
Am Anfang der Hilfe durch die Arbeitslosenversicherung steht die Frage, ob sie für den arbeitslos gemeldeten Fall zuständig ist bzw. welchen Anspruch auf Leistungen er sich erwirtschaftet hat. Nur wenn der Betroffene die ‚Mindestanwartschaft‘ erfüllt, d.h. wenigstens zwölf Monate in den letzten zwei Jahren sozialversicherungspflichtig beschäftigt war und entsprechende Versicherungsbeiträge entrichtet hat, steht ihm überhaupt ein Arbeitslosengeld zu. Wie lange die Rechtsfigur des Arbeitslosen [6] auf diese Entgeltersatzleistung rechnen kann, bemisst die Versicherung wiederum an der Dauer ihrer vorangegangenen beitragspflichtigen Beschäftigung: Für manche springen da nur maximal sechs Monate Arbeitslosengeld heraus, wer allerdings wenigstens 24 Monate am Stück ordentlich beschäftigt war, für den immerhin bis zu ein Jahr, und für die Generation 50+ unter Umständen sogar bis zu zwei Jahre. Dann ist auf jeden Fall Schluss. Die am Horizont aufziehende Karriere als Langzeitarbeitsloser, der unter noch ganz andere Regularien zur Unterstützung fällt – zu Hartz IV später mehr –, wird beim Versicherten wohl schon dafür sorgen, dass er sich um seine erneute Anstellung auch wirklich bemüht. Auf jeden Fall stellt die Versicherung auf diese Weise klar, dass ihre Zuständigkeit sich auf nichts als eine zeitweise Ausnahme in einem eigentlich intakten Erwerbsleben erstreckt.
Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem vom Versicherten im letzten Jahr verdienten Durchschnittsgehalt und ist so von vornherein auf die wiederzubelebende Einkommensquelle gerichtet: Die Versicherung braucht keinen ‚Bedarf‘ zu ermitteln, den sie zu decken hat, sondern anerkennt den vom Versicherten erreichten Status in der Einkommenshierarchie, indem sie ihn zur Bemessungsgrundlage dafür macht, woraus er sich ersatzweise zu reproduzieren, d.h. als Arbeitskraft verfügbar zu halten hat: Ein Abklatsch von 60 % seines durch die einmal tatsächlich erfolgte Anwendung seiner Arbeitskraft erzielten Arbeitsentgeltes, bis zu einer Höchstgrenze von gut 2000 Euro, muss dazu jetzt einmal hinreichen und verdeutlicht dem Arbeitssuchenden, dass sein ‚Besitzstand‘ ein schwindender ist, und er dazu bereit sein muss, auch für weniger Geld die Arbeit wiederaufzunehmen.
Bei den stummen Zwängen, die in der zeitlichen und quantitativen Beschränkung des Arbeitslosengeldes liegen, bleibt es nicht. Die Versicherung erlegt dem Arbeitslosen auf, ihr sein unablässiges Bemühen um Anstellung in Form dokumentierter Bewerbungen nachzuweisen und die Gelegenheiten beim Schopfe zu packen, die sich ihm bieten. Je länger er ohne Job ist, desto größere Verdiensteinbußen hat er dafür in Kauf zu nehmen und darf schon bald auch beschissene Stellenangebote nicht mehr ausschlagen, die ihm aus irgendwelchen Gründen, z.B. längeren Arbeitswegen, nicht in den Kram passen. Sie droht ihm mit der Streichung von Leistungen und macht ihm deutlich, dass er sich in seiner Wartestellung gefälligst zum Aktivisten seiner Anstellung ohne wenn und aber zu machen hat, auch wenn er über die – ausweislich der Existenz der ganzen Versicherung – gar nicht selbst entscheiden kann.
Bei diesem Kopfstand greift die Agentur für Arbeit ihm unter die Arme, wo sie nur kann. Sie erklärt ihn zum Kunden und berät ihn mit einer Potenzialanalyse, die ihn als ein individuelles Bündel von Möglichkeiten und Hindernissen seiner Beschäftigung ins Auge fasst – rechnet ihm also ad personam vor, dass seine Angewiesenheit auf einen Job und sein fester Wille, einen zu bekommen, dazu überhaupt nicht hinreichen. Als läge das an ihm, bietet sie ihm qualifizierende und weiterbildende Maßnahmen an, die zu seinem Profil passen und es passend machen sollen – macht ihm also deutlich, dass er sich einzufügen hat in Maßstäbe, die jedenfalls nicht an seinem Bedarf an seiner Revenuequelle oder seinen Gewohnheiten, mit ihr zurechtzukommen, Maß nehmen. Im Gegenteil erscheint sein Berufsstand, in dem er sich einmal bewährt und mit dem er sich eingerichtet hat, jetzt als einseitige Borniertheit, als ein einziges Beschäftigungshindernis. Was der Versicherte mit der professionellen Unterstützung seiner Versicherung als Eigenschaft an sich herstellen soll, ist, dass er wieder gebraucht wird, was das unablässige Quidproquo seiner vorauseilenden Anpassung an die Bedürfnisse auf dem Arbeitsmarkt einschließt, mit dem sie ihn als Agentur der Aggregation von Stellenangeboten bekannt macht – ein ‚Markt‘, auf dem er als Anbieter seiner Dienstbarkeit nichts zu bestimmen hat, sondern auf dem alleine der Nachfrager das Angebot bestimmt, dem er genügen muss.
Was das Ziel der Versicherung angeht, ihren Kunden wieder ‚in Arbeit‘ zu bringen, ist die Billigkeit seines Angebotes ein ehrenwertes Äquivalent zu seinen bestehenden oder neu erlangten Qualifikationen. Insofern dienen sowohl ihre erpresserischen Maßnahmen und Zumessungen als auch die konstruktiven Dienstleistungen, die sie ihm in Gestalt der Arbeitsagenturen anzubieten hat, der gleichen Sache, flankieren einander und lehren den Versicherten, dass er im Prinzip und aus eigener Kraft seine Einkommensquelle zwar überhaupt nicht, am ehesten jedoch gefälligst dadurch zum Sprudeln bringt, dass er sich willig und billig feilbietet. Er muss aus eigenen Stücken dazu aufgelegt sein, eine Abstraktion von dem Nutzen zu vollführen, den er von seiner Arbeit hat, damit er wieder eine findet.
2. Der keineswegs individuelle Grund der Arbeitslosigkeit
Dieses letzte Prinzip der ökonomischen Vernunft, das bei der Anstrengung waltet, der Arbeitslosigkeit zu entkommen, enthält schon einen überdeutlichen Hinweis darauf, worin die Arbeitslosigkeit ihren Grund hat, aus dem man ihr gar nicht entkommen kann.
Es sind die Urteile der darum sogenannten Damen und Herren ‚Arbeitgeber‘, die einen Erwerbstätigen zum unbrauchbaren Arbeitslosen stempeln oder die umgekehrt mit einer solchen Figur Brauchbares anzufangen wissen. Sie folgen dabei stur dem Leitsatz, mit dem der Arbeitsmensch sich nur selbst im Wege steht: ‚Arbeit muss sich lohnen!‘ – für sie, die Arbeitgeber, nämlich in glaubwürdiger Perspektive mehr geldwerten Reichtum erwirtschaften, als die dazu in Bewegung gesetzte Arbeit sie selbst kostet. Dieses Verhältnis von Kosten und Erträgen der Arbeit, als das Unternehmer das produktive Tätigsein der Menschen in ihren Betriebsstätten ins Auge fassen, im Sinne eines betriebswirtschaftlichen Überschusses ausgestaltet, stellt nicht bloß die unerlässliche Voraussetzung jeder Beschäftigung und damit des Lebensunterhalts der abhängig Beschäftigten dar, die in diesem Verhältnis, wenn überhaupt, nur auf eine seiner Größen überhaupt einen Einfluss haben. Vielmehr ist es darin selbst der Gegenstand einer ständigen Umwälzung. So wenig Arbeitsplätze für ihre Einrichter für sich etwas wert sind, so wenig ist ihre alles entscheidende Eigenschaft, rentabel zu sein, für diese eine ausgemachte Sache. Deswegen sind Arbeitsplätze nicht erst in ‚schlechten Zeiten‘ notorisch ‚gefährdet‘: Unternehmer machen den Fortschritt, setzen also alle Mittel dieses Fortschritts ein, um sich drückender Kosten durch Arbeit zu entledigen, die der Lebensunterhalt ihrer Mitarbeiter für sie bedeutet. Die Streichung von Arbeitsplätzen handhaben Arbeitgeber als legitimes Mittel im Dienste ihrer Unternehmensziele, kalkulieren also souverän mit der Erzeugung von Arbeitslosigkeit, die sie weiter nichts angeht.
3. Lastenträger und Nutznießer der Arbeitslosigkeit und ihrer Versicherung
a)
Zur Finanzierung der Leistungen, auf welche die Erwerbsbürger als Arbeitslose deshalb so zuverlässig angewiesen sind, zieht ihre Versicherung die kollektiv erzielten Erträge aus ihrer Einkommensquelle heran. Sie finanziert sich, indem sie von allen abhängig Beschäftigten, die zwangsweise in ihr versichert sind, 2 × 1,25 % ihres Lohns einkassiert. Der soziale Staat geht davon aus, dass das Schicksal der Arbeitslosigkeit im Prinzip jeden Arbeitsmenschen treffen kann und dieser für sich alleine damit nicht fertig wird, und ist sich dabei gewiss, dass es sich in jedem eintretenden Fall um einen individuellen Zwischenfall handelt, der das Kollektiv der Versicherten nicht in seiner Gesamtheit ereilt. Also können und sollen die in Lohn und Brot stehenden Mitglieder dieser Risikogemeinschaft die Pechvögel in ihren Reihen gefälligst aus ihren Einkommen mitfinanzieren, die aktuell nicht das große Glück haben, einen einträglichen Job ihr Eigen zu nennen.[7]
Insgesamt legt die staatliche Hoheit mit dem Umlageprinzip der Arbeitslosenversicherung das Kollektiv der Erwerbstätigen darauf fest, für diese spezifische Nebenwirkung seines Lebens in und aus abhängiger Beschäftigung selbst aufzukommen. Was der Einzelne sich nicht leisten kann, das muss die Klasse der Erwerbstätigen sich allemal leisten können: Die Arbeitslosigkeit ist aufs Ganze gesehen durch nichts als den gezahlten Lohn zu finanzieren, zu dem es in jedem Einzelfall dazugehört, dass man nie sicher sein kann, ob man ihn morgen noch verdient.
b)
Indem der soziale Staat sich der Handhabung dieses sozioökonomischen Schicksals verschrieben hat, dient er nicht bloß der Klasse, die von diesem Schicksal immerzu bedroht ist. Gerade indem er sich der Arbeitslosigkeit so umfassend im Sinne der Betroffenen annimmt, setzt er die Maßstäbe des unternehmerischen Umgangs mit der Arbeitskraft ins Recht, die für die Arbeitslosigkeit sorgen. Mit der hoheitlichen Korrektur, welche die Erwerbsarbeit als Revenuequelle durch diese Säule der Sozialversicherungen erfährt, ist klargestellt, dass die kapitalistischen Bedingungen ihrer Anwendung auf gar keinen Fall zu korrigieren sind; das für seine Klientel erwiesenermaßen nicht immer rosige Kriterium rentabler Arbeit geht dem Sozialstaat über alles. Es ist eine entscheidende Errungenschaft der sozialen Marktwirtschaft, dass die Prospektionen der Unternehmerschaft in ihr nicht einfach nach Maßgabe ihrer ökonomischen Macht ökonomisch ‚gelten‘, sondern das ausweislich der Arbeitslosenversicherung auch unbedingt sollen.
Die Freiheiten, welche die einheimische Unternehmerschaft
durch die Arbeitslosenverwaltung und -versicherung
eingeräumt bekommt, sind überhaupt nicht hoch genug
einzuschätzen. Getreu der Logik, dass der Revenuequelle
Erwerbsarbeit nichts so sehr auf die Sprünge hilft wie
die Förderung ihrer lohnenden Anwendbarkeit, avancieren
die Arbeitgeber zum eigentlichen Nutznießer dieser
Sozialversicherung: In Form von Ausbildungs- und
Weiterbildungsförderung sowie
Eingliederungszuschüssen für minderwertige
Arbeitskräfte macht sie Geld aus der Arbeitslosenkasse
für beschäftigungswillige Arbeitgeber locker, die sich
daraus einen Profit ausrechnen; mit dem
Kurzarbeitergeld alimentiert sie auch den
abflauenden Bedarf von Unternehmen nach lohnender Arbeit,
sofern sie auf wirtschaftliche Gründe
(§ 96 SGB III) verweisen können, die
keine Rücksicht auf die schlecht dosierbaren
Lebensnotwendigkeiten der Arbeitskräfte zulassen, deren
Lebenszeit und -kraft sie wohldosiert in Beschlag nehmen.
Abgesehen von solchen individuellen Hilfen für die
‚Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen‘, also für
die Kalkulationsfreiheit des jeweiligen Arbeitgebers,
organisiert die Arbeitslosenversicherung überhaupt die
Verfügbarkeit eines ganzen Menschenschlags für das
Kapital in Form eines dauerhaften Überangebots
an Arbeitskraft, von dem die Unternehmerschaft
Gebrauch macht und das sie – allen Klagen ihrer
Verbandssprecher zum Trotz – nichts kostet: Indem sie die
Arbeitslosigkeit aus dem an die gesamte Klasse gezahlten
Lohn finanziert, organisiert sie eine gewaltige
Gratisgabe der Lohnarbeit für die Klasse der
Unternehmer; die Bereitstellung und Reproduktion
dieses Überangebots, an dem sie sich frei bedienen kann,
ist für sie eingeschlossen und aufgehoben im nationalen
Preis der Arbeit, den sie aus ihren Erwägungen zu zahlen
bereit ist.
4. Zusatz: Hartz IV
Für die Arbeitslosenversicherung, die diesen permanenten Überschuss an nationaler Arbeitskraft als individuelle Hilfe zum Hinwegkommen über einen Ausnahmezustand organisiert, sind irgendwann unweigerlich Zweifel angebracht – und zwar solche, die sich zielsicher auf die versicherten Individuen richten: Bestehen im Einzelfall überhaupt realistische Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt? Ist der Versicherte, der ihr so beharrlich als Kunde erhalten bleibt, wirklich prinzipiell tauglich und hatte nur das Pech, vorübergehend nicht gebraucht zu werden? Oder spricht die penetrante Beschäftigungslosigkeit dieser Figur nicht doch für einen prinzipiellen Mangel an Beschäftigungsfähigkeit und damit gegen ihre Verkäuflichkeit auf dem Arbeitsmarkt? Was in der Sache nicht zu unterscheiden ist, weil es vom Individuum überhaupt nicht abhängt, vermag die Versicherung zielsicher an der Zeitdauer seiner Arbeitslosigkeit abzulesen – und so ist nach 6 – 24 Monaten das Urteil über die Unbrauchbarkeit des Arbeitslosen dann amtlich. Weil die Arbeitslosenversicherung etwas anderes als ein Stück nützlicher Armut, die dem Fortschritt dient, nicht zu finanzieren hat, fallen Leute, die sich als überschüssige Bevölkerung erweisen, also bloß kostenintensive Opfer dieses Fortschrittes sind, aus ihrem Zuständigkeitsbereich heraus. Sie sind ein Fall für ‚Hartz IV‘, die höchst sinnreiche Kombination einer Grundsicherung für Arbeitssuchende:
Zum einen erhält mit der Grundsicherung die soziologisch gewissenhaft ermittelte und in jedem Einzelfall mit großer Sorgfalt überwachte Bedürftigkeit Einzug als der erbarmungswürdige Maßstab der Zumessungen an den Arbeitslosen. Dieser neue Maßstab entkoppelt die ihm zuteilwerdende Hilfe davon, was er sich in seinem Erwerbsleben einmal erarbeitet und verdient hat bzw. welche Ansprüche er sich durch Sozialversicherungsbeiträge erworben hat. Damit wird er nicht nur um einige Privilegien erleichtert, sondern es wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich mindestens für ihn und seinesgleichen die Revenuequelle Erwerbsarbeit als fragwürdige Angelegenheit erweist: Für einen millionenfachen Bodensatz an Arbeitsmenschen stellt es sich als Ungleichung heraus, dass, wer für die Arbeit lebt, dann auch von ihr leben kann.[8]
Als kritisches Eingeständnis über diese Erwerbsquelle ist das zum anderen überhaupt nicht gemeint, weswegen der Hartz-IV-Empfänger als Arbeitssuchender auch nicht aus der Pflicht genommen, sondern mit eiserner Konsequenz darauf festgenagelt wird, seiner Einkommensquelle gefälligst wieder gerecht zu werden.[9] Er schließt mit seiner Arbeitsagentur unverzüglich eine ‚Eingliederungsvereinbarung‘ ab. Aus der ergibt sich für ihn und seinen Sachbearbeiter ein ganzes Programm an Maßnahmen zur Vermittlung in eine bezahlte Arbeit, das er unter Androhung von Leistungskürzungen, die auch unter Anwendung des Maßstabs ‚Menschenwürde‘ noch drin sind, über sich ergehen lassen muss. Die Vermittlung in und die Sicherung von ‚Beschäftigung‘ ist dem Sozialstaat so wichtig, dass ihm das die finanzielle Bezuschussung von allerhand Jobs wert ist, von denen es einen guten Teil ohne seine kostspieligen Subventionen überhaupt nicht gäbe. Wohlwollend wendet er sich den prekären Abteilungen des Arbeitsmarktes zu, die das Kapital etabliert und ausgebaut hat, indem er ‚Aufstocker‘ bezuschusst; darüber hinaus tritt er als Initiator eines ‚sozialen Arbeitsmarkts‘ in Erscheinung, um weitere Gelegenheiten zur lohnenden Beschäftigung für den menschlichen Ausschuss anzuschieben.
Wo auch das nicht fruchtet, hält der Sozialstaat für seine Langzeitarbeitslosen noch ein Repertoire an Umschulungen, Bewerbungs- und Motivationstrainings und ähnlichen Schikanen bereit, welche die Brauchbarkeit des Individuums inszenieren und dessen Bewusstsein als Arbeitskraft bei der Stange halten, indem sie das ‚Hartzen‘ zu einer eigentümlichen Vollzeitbeschäftigung ausgestalten. Wenn die entsprechenden Maßnahmen ausgeschöpft bzw. ausgelaufen sind, verlangt er von den Opfern des Fortschritts, wenigstens einen – irgendeinen – sinnvollen symbolischen Beitrag zum Gemeinwesen zu erbringen. Das ist er der Menschenwürde seiner Schützlinge einfach schuldig.
Bis hinab zum Arbeitsdienst im Gemeindepark ist die umfassende Behandlung von Langzeitarbeitslosen im Dienste ihrer Würde auch ein Beitrag zur Moral der Arbeiterschaft: Die mit Hartz IV assoziierten Perspektiven fließen als dauerhaft präsente Drohung in den Preis ein, zu dem ihre Mitglieder bereit sind, sich nützlich zu machen und von dem sie leben. Denn in Hartz IV abzurutschen kann bekanntlich ‚jeden treffen‘, was mitunter ‚schneller geht, als man denkt‘. Glücklich kann sich darum schätzen, wer überhaupt noch Arbeit hat.
III. Die Unfallversicherung
Wo Arbeitgeber ihre Mitarbeiter rentabel zur Anwendung bringen, kommt es so massenhaft zu Unfällen, dass das einen zusätzlichen Zweig der Sozialversicherungen hervorgebracht hat. Mit der gesetzlichen Unfallversicherung sorgt der soziale Staat auch für solche Situationen eines Lebens in abhängiger Beschäftigung vor, in denen Arbeitnehmern durch Schädigung von Physis oder Psyche ihr Arbeitsvermögen beschädigt oder sogar ganz zerstört wird – und macht diese bedauerlichen Zwischenfälle nicht nur für die Geschädigten handhabbar.
1. Die Arbeitskraft als gefährdetes Eigentum
So sehr der soziale Staat sich damit einverstanden erklärt, dass Arbeitgeber nach ihren Kriterien über die Anwendung des Arbeitsvermögens der Arbeitnehmer gebieten, was und wie also gearbeitet wird, so sehr besteht er als Rechtsstaat darauf, dass dieses Arbeitsvermögen – in seinem ganzen unselbstständigen Charakter – letzteren exklusiv gehört und vor Übergriffen geschützt werden muss. In diesem Sinne sieht er sich zu einem Eingriff in das freie Vertragsverhältnis herausgefordert, als das er die Lohnarbeit fasst: Er geht davon aus, dass es in dem ungleichen Verhältnis zwischen weisungsbefugten Unternehmern und unselbstständigen Arbeitskräften durch Unfälle und Überbeanspruchungen zu bleibenden Schäden am Arbeitsvermögen der Beschäftigten kommt. Er erlässt Schutz- und Aufsichtsvorschriften – und rechnet weiterhin fest mit gesundheitlichen Schäden, die nunmehr im Rahmen der anerkannten Usancen der Berufsausübung in der jeweiligen Branche liegen. Wenn sie eindeutig auf die unter der Kommandomacht des Unternehmers stattfindenden Verrichtungen zurückzuführen sind – was mittels arbeitsmedizinischer Expertise von den gewöhnlichen Belastungen und Gesundheitsrisiken einer zivilisatorisch-fortschrittlichen Umwelt sorgfältig zu unterscheiden ist –, handelt es sich um ‚Berufskrankheiten‘ und ‚Arbeitsunfälle‘, womit zum Leidwesen der Unternehmer eine zivilrechtliche Haftungsfrage in der Welt ist. Irgendwer muss schließlich für die Behandlungs- und Therapiekosten aufkommen; schlimmer noch: Dem Arbeitnehmer steht Schadensersatz zu.
2. Eine Sozialversicherung für die Klasse der Unternehmer
Dass Vater Staat die finanzielle Glattstellung dieser Schadensfälle in Form einer Sozialversicherung für Arbeitnehmer abwickelt, ist allerdings eindeutig eine Hilfe für die Seite der Unternehmer. Die melden ihre Belegschaften bei der Unfallversicherung an, auf die der Staat kraft Gesetzes die zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche der Beschäftigten gegen ihre Dienstherren aus dem Arbeitsvertrag ‚überleitet‘, sofern die nicht grob fahrlässig gegen Vorschriften zur Unfallprävention verstoßen haben. Sie kommt an deren Stelle für Behandlungskosten und Entschädigung – zeitweilig mit ‚Verletztengeld‘, mit einer ‚Verletztenrente‘ bzw. einer Abfindung bei nicht mehr zu heilenden Schäden – auf, deren Höhe sich nach der geldwerten Einschätzung des geschädigten Gutes richtet: Die zu berechnende ‚Minderung der Erwerbsfähigkeit‘ würdigt die disparatesten Schäden an der Physis als prozentualen Abzug am Arbeitsvermögen und wird mit dem mit der zerstörten Revenuequelle einstmals erzielten Einkommen multipliziert. Der im Ergebnis als Geldsumme bilanzierte Schaden am Eigentum des Arbeitnehmers wird ihm auf Heller und Pfennig ersetzt.
Die Unternehmer sind damit von einem unkalkulierbaren Risiko befreit; und die Geschädigten haben sich mit ihrer Versicherung als Anspruchsgegner darüber auseinanderzusetzen, ob es sich wirklich um eindeutige Fälle handelt, für die sie tatsächlich aufkommen muss. Als Versicherung macht sie dabei ihrerseits den Standpunkt geltend, dass ihre Leistungen kostenintensive Ausgaben darstellen, die nicht überborden dürfen, weshalb diese Auseinandersetzung nicht immer im Sinne der Betroffenen ausgeht.
Dass die dafür aufzubringenden Versicherungsbeiträge, die sich nach der Lohnsumme des Versicherten und der veranschlagten Unfallgefahr des jeweiligen Gewerbezweiges richten, im Falle dieser Sozialversicherung ausnahmsweise nicht ‚paritätisch‘, sondern alleine vom Arbeitgeber zu bezahlen sind, ist nur gerecht: Mit seiner sozialen Einrichtung lässt der Staat seine Unternehmerschaft billig davonkommen, indem die Unfallversicherung das außerordentliche finanzielle Risiko, das er mit den Haftungsfragen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten in die Welt gesetzt hat, für sie in einen ordentlichen, also zuverlässig kalkulierbaren Kostenbestandteil der Arbeit überführt. Dieser Kostenbestandteil unterscheidet sich darin, dass die lohnenden Erträge dieser Arbeit ihn zu rechtfertigen haben, im übrigen dann auch nicht von den sonstigen Bestandteilen der Lohn‑ und ihrer ‑nebenkosten, die, wie auch immer sie rechtlich veranschlagt werden, doch letztlich allesamt vom Arbeitgeber ausgelegt werden.
IV. Die Krankenversicherung
Krankheiten sind für den normalen Zeitgenossen ein doppelter Schaden: ein Defekt an Physis, Psyche oder beidem, der ihn an allen möglichen Unternehmungen hindert; und ein finanzielles Problem, und zwar ein zweifaches: Sie machen – je nach Schwere und so lange sie dauern – den Gelderwerb unmöglich, auf den der moderne Mensch angewiesen ist; und die fachgerechte Behandlung des persönlichen Defekts ist teuer, in ernsteren Fällen unbezahlbar, überfordert jedenfalls ganz leicht, was ein normales Arbeitsentgelt an Kaufkraft hergibt und eine durchschnittliche Lebensführung davon übrig lässt. Für die Bewältigung dieser existenziellen Problemlage hat der Sozialstaat Vorsorge getroffen.
1. Die Leistungen der Krankenversicherung für die Lohnarbeiterexistenz
Er verpflichtet die Arbeitgeber, ihren Angestellten im ärztlich dokumentierten Krankheitsfall für eine gewisse Frist den Lohn weiterzuzahlen, ohne dass sie dafür die vereinbarte Arbeitsleistung abrufen können. Der vom Lohn abhängige Lebensunterhalt wird also nicht schlagartig hinfällig. Indem er dafür den Arbeitgeber in Anspruch nimmt, behandelt der Sozialstaat die Gesundheit des Arbeitnehmers als Gegenstand eines doppelten Interesses: des Betroffenen sowieso, weil für den von seiner Leistungsfähigkeit sein Einkommen abhängt; aber zugleich der Firma, die sich mit der Lohnzahlung ein Recht auf die Leistungsfähigkeit ihrer Arbeitskräfte kauft und deswegen auch daran interessiert sein muss, nach einer begrenzten Ausfallzeit wieder über sie verfügen zu können. Von Staats wegen wird so festgestellt, dass die Gesundheit lohnabhängiger Arbeitsleute nicht bloß Privatsache, nicht bloß subjektive Bedingung für alles ist, was der Mensch sich vornehmen mag, sondern Voraussetzung und Instrument der Arbeit für Geld. Und zwar nach beiden Seiten hin: für die, die für Geld arbeiten, und für die, die für Arbeit Geld bezahlen. Nichtsdestotrotz bleibt es ein Widerspruch für Arbeitgeber, Lohn für nicht geleistete Arbeit bezahlen zu müssen, und weil der Sozialstaat ihnen den nicht länger als sechs Wochen zumuten will, entlässt er sie für die darüber hinausgehende Dauer der Erkrankung aus dieser Verpflichtung. Er enthebt den Einkommensersatz für den Krankenstand aus dem individuellen Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Dienstherr und lässt die Krankenkassen für diese unproduktive Kost mit einem Krankengeld einspringen, das bei ungefähr zwei Dritteln des Lohns liegt und von dem der kranke Arbeitnehmer bis auf weiteres seine Notwendigkeiten bestreiten kann.[10]
Mit seinen Krankenkassen widmet der Staat sich außerdem dem Kostenproblem, das mit der Behandlung anfallender Krankheiten deswegen verbunden ist, weil er die Medizin als veritable Einkommensquelle für ein vielschichtiges Gewerbe, zusammengesetzt aus praktizierenden Ärzten und Kliniken, Pharmaindustrie und Wissenschaft etc., eingerichtet hat. Die Krankenkassen, die das in der Hauptsache finanzieren, beschaffen sich ihre Mittel ihrerseits durch kontinuierliche Abzüge vom Arbeitsentgelt der abhängig Beschäftigen. Der Staat erhebt so die Betreuung der Gesundheit seiner Bevölkerung in den Rang einer öffentlichen Angelegenheit und macht für deren Bezahlung die lohnabhängige Mehrheit haftbar, der er die Vorsorge für den Krankheitsfall per Versicherung nicht selbst überlässt, weil sie nach seinem sachkundigen Urteil dafür nicht genug Geld verdient. Er institutionalisiert den medizinischen Versorgungsbetrieb als Kostenfaktor im ökonomischen Kreislauf zwischen Arbeitgebern, die für benötigte Arbeit Geld zahlen, und den Angestellten, die für ihre Arbeit ein Einkommen beziehen. Seinen Standpunkt, dass die Gesundheit der Arbeitnehmer, also auch deren Wiederherstellung im – von den Kassen definierten – Bedarfsfall eben nicht bloß Privatsache, sondern Sorgeobjekt des auf leistungsfähige Mitarbeiter angewiesenen Unternehmens zu sein hat, macht der deutsche Sozialstaat zudem in der Form geltend, dass er den Kassenbeitrag zur Hälfte als Lohnabzug, zur anderen Hälfte als Pflichtbeitrag des Arbeitgebers verbucht. Er unterstreicht damit den Sachverhalt, der sich im Übrigen auch ganz ohne solche Formalität für die Beteiligten und Betroffenen von selbst versteht: Gesundheit ist nicht bloß subjektive Voraussetzung für alles Mögliche, sondern wesentlicher Bestandteil des Dienstverhältnisses, in dem bezahlte Arbeitskräfte zu ihrem lohnzahlenden Dienstherren stehen; sie ist selbst Teil des Geschäftsartikels, nämlich der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft, über die der Lohnempfänger die Verfügung an seinen Arbeitgeber abtritt, und gehört zu der Verfügungsmasse des Unternehmens, das dafür ein Entgelt bezahlt, um damit sein Geschäft zu machen.
2. Die Produktivkraft der Abstraktionsleistungen des Medizinbetriebs
Im Verhältnis zu dieser eindeutigen politökonomischen Zweckbestimmung der Gesundheit des Durchschnittsmenschen zeichnet sich die aus Kassenbeiträgen finanzierte Behandlung und Versorgung der Krankheitsfälle durch eine starke Abstraktionsleistung aus. Der Grund einer Krankheit, soweit er mit der Arbeit und überhaupt der Lebensführung des Patienten zusammenhängt, spielt ebenso wie der Zweck und Nutzen ihrer Behandlung keine Rolle – bzw. nur insoweit, wie das für die Diagnose des Leidens und für eine wirksame Therapie von Bedeutung sein mag. Im Prinzip sieht der medizinische Betrieb strikt davon ab, dass Physis und Psyche im Erwerbsleben im Allgemeinen, im Lohnarbeitsverhältnis im Besonderen als Erwerbsmittel und dementsprechend als Verschleißartikel zum Einsatz gebracht werden, dass Krankheiten der unterschiedlichsten Art ihren Grund in objektiven Sachzwängen und den Sitten der bürgerlichen Konkurrenz um Gelderwerb und gesellschaftliche Anerkennung haben, und dass diese Gründe in den Zwecken, die die Patienten mit ihrer im glücklichen Fall wiederhergestellten Leistungsfähigkeit verfolgen – müssen –, von Neuem wirksam werden. Der ganze materielle Lebenszusammenhang, für den Gesundheit vor allem ge- und verbraucht wird, ist aus der Parallelwelt der medizinischen Versorgung ausgeklammert. Die Abstraktion, dass Gesundheit irgendwie Bedingung für alles ist, wird praktisch wahr gemacht – nicht zuletzt mit der segensreichen, nur vereinzelt von profilsüchtigen Reaktionären infrage gestellten Konsequenz, dass jedes Leiden behandelt wird, auch wenn es mit dem Alltag der Arbeit und der beruflichen Konkurrenz nichts zu tun hat, und dass die großen Teile der Bevölkerung, die nicht im Berufsleben stehen und sich erst recht keine private Krankenversicherung leisten können – Familien, Rentner etc. –, unterschiedslos von den Kassen mitbetreut werden, die sich das dafür benötigte Geld im Wesentlichen aus dem Arbeitseinkommen der aktiv Beschäftigten holen.
Diese Abstraktion: die ideelle und die praktische, i.e. im Selbstbewusstsein der Akteure wie in der medizinischen Wissenschaft wirksame Abtrennung von der Welt der Konkurrenz und der Lohnarbeit, in der entscheidende Gründe für den allgemeinen alltäglichen Gesundheitsverschleiß und die maßgeblichen Zwecke der einschlägigen Reparaturmaßnahmen zu Hause sind, begründet die unbedingte Funktionalität des Medizinbetriebs für eben diese Welt. Deren Schädlichkeit für eine funktionstüchtige Physis und eine intakte Psyche ist natürlich den Profis des Gesundheitswesens bekannt; die diversen Zumutungen, die den modernen Erdenbürger nach und nach kaputtmachen, ebenso wie die Notwendigkeiten von Lebensunterhalt und Karriere, für deren Bewältigung die tapferen Konkurrenzsubjekte sich kaputtmachen, werden in der Wissenschaft wie in der alltäglichen ärztlichen Beratungspraxis durchaus berücksichtigt, als ‚externe Faktoren‘; aber das unterstreicht nur: Das alles ist ganz einfach nicht der Gegenstand, um den der Betrieb sich dreht. Dessen praktisches und theoretisches Sorgeobjekt ist das leidende Individuum, an dem sich und soweit sich an dem – neben allen möglichen Zufälligkeiten und Notwendigkeiten der Natur – die vielfältigen schädlichen Wirkungen und Nebenwirkungen einer zeitgemäßen bürgerlichen Existenz niederschlagen und geltend machen. In diesem Sinne stellt das Gesundheitswesen tatsächlich und konsequent ‚den Menschen‘, den leidenden, ‚in den Mittelpunkt‘.
Nach Maßgabe dieser Abstraktion unterstützt es mit seinen Hilfsleistungen, auftrags- und bestimmungsgemäß, die Leute in ihrem instrumentellen Verhältnis zu sich, zu ihrer Physis wie zu ihrem seelischen Durchhaltevermögen, als eigentumsgleichen Mitteln des Gelderwerbs, der Selbstbehauptung im alltäglichen Konkurrenzbetrieb, des Sich-Durchwurstelns. Es kennt seine Klienten gar nicht anders als so: als Subjekte, die mit sich selbst als ihrer Verfügungsmasse im und für den bürgerlichen Lebenskampf umgehen und die sich deswegen – je nach vorhandenem oder nicht vorhandenem Eigentum mehr oder weniger alternativlos – zur arbeitsamen Verfügungsmasse eines um Profit konkurrierenden Unternehmens machen. Dementsprechend stellt der Medizinbetrieb seine Dienste bereit, wenn die Menschen nicht mehr und damit sie wieder systemgemäß funktionieren. Ein Unding – wäre das, hätte die Medizin einen anderen, nämlich den Auftrag, sich mit dem systematischen Verbrauch von Gesundheit zu befassen, mit dessen Gründen und mit den Zwecken, für die die aktive Menschheit die ständige Arbeit an ihrer Gesundheit braucht. Aber so ist es in der freien Konkurrenzgesellschaft und ihrem Staat nun einmal und ein für allemal nicht eingerichtet. Das Metier ist konstruiert und wird praktiziert als – für viele sehr einträglicher – Dienst, der den Leuten bei der Wiedergewinnung ihrer Funktionstüchtigkeit als engagierte ‚Rädchen im System‘ hilft und der damit einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, sie auf dieses Leben als die größte Selbstverständlichkeit festzulegen: auf ihre Funktion und auf ihren Willen, sich in dieser Funktion zu bewähren.
3. Die Haltbarkeit des Tauschgeschäfts von Gesundheit und Geld
Was die Arbeitnehmer dabei als – manchmal schwer zu treffende und häufig schwer einzuhaltende – Abwägung zwischen dem Erwerb von ausreichend bis angenehm viel Geld für das Leben und der Lebensqualität, die der Arbeitseinsatz übrig lässt, kennen, ist tatsächlich ihr Umgang mit einer ziemlich widersprüchlichen Eigenschaft der Revenuequelle Erwerbsarbeit selber: Deren Anwendung ist für ihren Besitzer identisch mit der progressiven Untergrabung ihrer eigenen Grundlage; je ergiebiger er sie für sich ‚ausquetscht‘ – also aushält, dass sie ‚ausgequetscht‘ wird –, desto eher ruiniert er sie. Von der allgemeinen gesellschaftlichen Gültigkeit dieser Identität zeugt die ganze Einrichtung des staatlichen Gesundheitswesens inklusive der Krankenversicherung, die den Zugang dazu organisiert und immerzu nichts davon wissen will, weshalb das dauernd nötig ist. Dem Widerspruch der Revenuequelle wird auf diese Art Rechnung getragen, sodass er für deren Inhaber ein ganzes Arbeitsleben lang haltbar wird. Darin besteht die fundamentale Leistung des Gesundheitswesens für die arbeitende Klasse: Mit ihren Dienstleistungen und nur mit ihnen kann der Arbeitsmensch – mit etwas Glück bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze – in Fragen der Rücksichtslosigkeit gegen seine Gesundheit dauerhaft ‚über seine Verhältnisse leben‘, sie Stück um Stück gegen das Geld, von dem er lebt, zu Markte tragen und sie reparieren, strecken und panschen lassen, bis am Ende nichts mehr geht. Der Unternehmerschaft garantiert diese Sozialversicherung, dass die Lohnarbeit, derer sie sich bedient, Bestand hat, also mit und dank ihr überhaupt und dauerhaft als verlässlicher Tausch von Lebenszeit und -kraft gegen Geld im Dienste des Profits über die Bühne gehen kann.
Insofern ist es nur einerseits ein gewisser Widerspruch, wenn der Sozialstaat sich mit der Finanzierung des allgemeinen Gesundheitswesens aus dem Entgelt für Lohnarbeit und mit der Verbuchung der Hälfte dieser Kosten ausdrücklich als Pflichtanteil der Arbeitgeber zu der politökonomischen Natur der Gesundheit in der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft bekennt. Es ist andererseits ganz passend, dass der medizinische Wiederherstellungsbetrieb aus dem Einkommen der für Konkurrenz und Lohnarbeit verschlissenen Mehrheit bezahlt wird: Schließlich stünde ohne diesen Betrieb das ganze System des lohnabhängigen Geldverdienens auf dem Schlauch.
V. Die Pflegeversicherung
Jenseits der Krankenversicherung gibt es in der Bundesrepublik noch einen Versicherungszweig, der sich exklusiv um Betreuung und Abwicklung der Endstadien des geistigen und körperlichen Verfalls der bürgerlichen Existenz kümmert.[11] Leute, die sich in Zeit und Geld, das Arbeit und Lebensführung übrig lassen, einzuteilen haben, finden in dieser Einrichtung die sozialpolitische Antwort auf eine doppelte Drangsal vor: Da gibt es zum einen die bucklige Verwandtschaft, insbesondere die Generation der eigenen Eltern und Großeltern, um die sich gekümmert werden muss, was schnell in Widerspruch zu Zeit, Geld, Arbeit und Lebensführung gerät. An deren Werdegang können sie zum anderen ablesen, was auch auf sie selbst einmal zukommen wird: Wenn sie nicht einfach alt, sondern verschlissen sind, unselbstständig und unfähig, ihren Lebensnotwendigkeiten noch aus eigener Kraft Rechnung zu tragen, entwickeln auch sie das kostspielige Bedürfnis, sich betreuen und pflegen zu lassen – sorgen sich also darum, wem sie später einmal ‚zur Last fallen‘ und können sich glücklich schätzen, dass der Gesetzgeber auf ihrer Mitgliedschaft in einer sozialen Pflegeversicherung bestanden hat, die das für sämtliche Beteiligte handhabbar zu machen verspricht.[12]
1. Unterstützung für die Pflegefälle durch ein defizitäres Bezuschussungswesen
Wer sich auf fremde Hilfe zur Bewältigung seines Alltags angewiesen sieht und genügend Merkmale der gesundheitlich bedingten Unselbstständigkeit und Unfähigkeit zur eigenen Lebensführung zusammenbringt, kann die Hilfe der Pflegeversicherung beantragen und erfährt dann von ihr, was ihm zusteht. Er wird dabei als Erstes mit dem erfreulichen Umstand bekannt gemacht, dass die Leistungen, die er zu erwarten hat, nicht davon abhängig sind, wie lange, wie regelmäßig oder wie viel er in die Pflegeversicherung eingezahlt hat, sondern sich einzig und allein nach seinem Pflegebedarf richten.
Zur objektiven Ermittlung dieses individuellen Bedarfs
leistet sich der Sozialstaat einen immensen Aufwand. Im
Auftrag der Pflegeversicherung schwärmen die
professionellen Gutachter des medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung aus, ermitteln für jedes
Einzelschicksal gewissenhaft die verschiedenen Aspekte
der Unselbständigkeit, bepunkten sie routiniert von 0 =
keine Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder
der Fähigkeiten
bis 4 = schwerste
Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der
Fähigkeiten
(§ 15 SGB
XI) und zählen diese Punkte unterschiedlich
gewichtet zusammen – Einschränkungen im Bereich der
Selbstversorgung
zählen da z.B. viermal so viel
wie im Bereich der Mobilität
. So berechnen sie als
Ergebnis einen ‚Pflegegrad‘, der die disparatesten
Schwierigkeiten bei der Lebensführung in eine handhabbare
Ziffer zwischen 1 und 5 überführt, welcher der
Versicherung bares Geld wert ist.
Nimmt der Betroffene ‚Pflegesachleistungen‘ in Anspruch, die ambulante Pflegedienste ihm anzubieten haben, oder auch, wenn es eine teilstationäre Pflege sein muss – was ebenfalls ermittelt sein will –, zahlt die Versicherung zwischen 689 Euro bei Pflegegrad 2 bis 1995 Euro bei Pflegegrad 5 an den Erbringer der vereinbarten Dienstleistungen; erfolgt eine vollstationäre Pflege, ist die Summe, die an das Pflegeheim geht, ein paar Euro höher. Der weniger erfreuliche Umstand, den die förmlich anerkannten Pflegefälle dabei zu gewärtigen haben: All diesen Zumessungen für die durch sie in Anspruch genommenen – anerkanntermaßen notwendigen – Leistungen ist gemein, dass sie hinten und vorne nicht ausreichen, um die Kosten dieser Leistungen auch wirklich zu decken. Die Differenz hat der versicherte Pflegefall aus eigener Tasche zu begleichen, was sein Einkommen – zumeist die Altersrente – und seine Ersparnisse schnell aufzehrt. Die Leistungen dieser Sozialversicherung sind von vornherein als Zuschuss konzipiert, welcher die notwendigen Kosten überhaupt nicht decken soll, sondern den Betroffenen und sein Umfeld in die Pflicht nimmt.
2. Unterstützung für die Angehörigen bei ihrer Inanspruchnahme
Die Pflegebedürftigen, die sich ihre Pflege auch mit dieser Versicherung nicht leisten können, fallen reihenweise ihren Angehörigen zur Last und verhelfen damit dem altehrwürdigen Reproduktionszusammenhang der bürgerlichen Familie in den Zeiten fortschreitender ‚Vereinzelung‘ moderner Individuen zu neuem Glanze. Dass die Angehörigen dem Pflegefall in aller Regel mit ihrer Lebenszeit und -kraft und ihrem Geld zur Seite stehen, davon geht der soziale Staat aus und begrüßt das. Seine Pflegeversicherung setzt unverhohlen darauf, dass die familiäre Reproduktionsgemeinschaft als Lückenbüßer einspringt, wo ihre Leistungen gar nicht erst darauf berechnet sind, den Bedarf des Pflegebedürftigen zu decken.
Finanziell gilt hier das Prinzip ‚Kinder haften für ihre Eltern‘: Wo deren Altersrente und der Verbrauch ihres künftigen Nachlasses, kombiniert mit den Leistungen der Pflegeversicherung nicht ausreichen, springt zwar zunächst ein Sozialhilfeträger ein, die Kinder müssen allerdings damit rechnen, aufgrund der Regularien zur Unterhaltspflicht gegenüber ihren Eltern finanziell in Haftung genommen zu werden. Sie stehen allemal vor der Alternative, sich selbst um die Pflegeangelegenheiten zu kümmern, um sich und ihren Lieben das teure Pflegeheim zu ersparen. Dieses Engagement unterstützt die Pflegeversicherung ebenfalls: Dem Versicherten steht es frei, sich anstelle der Pflegesachleistungen ein ‚Pflegegeld‘ auszahlen zu lassen, das er seinen pflegenden Angehörigen als Kompensation für deren Mühen zustecken kann. Wo die Pflegeversicherung sich nicht mehr an der Finanzierung eines professionellen Gewerbes beteiligt, das mit Pflegebetrug und billigen Osteuropäerinnen sein Geschäft zu machen versteht, sondern eine rein private Initiative unterstützt, sind ihr die Pflegegrade augenblicklich nur noch knapp die Hälfte wert: Als Pflegegeld gibt es dann maximal 901 Euro bei Pflegegrad 5 – was immerhin die Notwendigkeit einer 24-Stunden-Pflege bezeichnet, die überhaupt nur im Schichtwechsel mehrerer Pflegepersonen zu bewerkstelligen ist – unter die Angehörigen oder illegal beschäftigten privaten Pflege- und Haushaltshilfen zu verteilen. Die Angehörigen können diese Hilfe gut gebrauchen: Der fürsorgliche Staat macht ihnen den Widerspruch ein bisschen weniger schwer, zugunsten der Entlastung ihres Einkommens durch die Ersparnis des teuren Pflegeheims mittels eigener Pflegetätigkeit die eigene Einkommensquelle zu strapazieren, weil ihnen wenig bis keine Zeit für die Arbeit und die nötige Erholung im Privatleben bleibt. Und so ist die Pflegeversicherung dann doch noch ein konstruktiver Beitrag zur Revenuequelle Erwerbsarbeit und nicht bloß zur palliativen Abwicklung des menschlichen Häufleins Elend, das sie am Ende hinterlässt. Sie soll aushalten können, dass ihre Inhaber sich eine Zeit lang um Pflege und Betreuung ihrer Liebsten kümmern. Die monetäre Hilfe, die der Staat dafür springen lässt, flankiert er noch mit einem Rechtsanspruch für pflegende Angehörige, die Arbeit zu diesem Zwecke ein halbes Jahr ruhen lassen zu können, in dem sie dann zwar nichts verdienen, aber auch ihren Job nicht verlieren dürfen. Sogar in den restlichen Sozialversicherungen sind sie während dieser Zeit aktiv Mitglied, auf Grundlage fingierter Beitragsleistungen, die sich aus dem Pflegebedarf des Angehörigen ableiten, sodass – wie gesagt, mit Ausnahme des fehlenden Geldes – keine nachteilige Lücke in ihrer Erwerbsbiografie entsteht. Schon ein Kunststück.
3. Die Finanzierung proletarischer Unkosten
Die finanziellen Defizite der Leistungen dieser Versicherung und die daraus erwachsenen ‚Pflegenotstände‘ sind politisch beschlossen. Immerhin ist es rechtlich bezweckt und bewerkstelligt, dass die zu verteilenden Versicherungsleistungen ihr Maß von vornherein nicht in den ermittelten notwendigen Kosten des Pflegebedarfs haben, sondern am Kassenstand ‚gedeckelt‘ sind, sich also an den finanziellen Mitteln relativieren, welche die Versicherung sich bei ihren Mitgliedern beschafft.
Der soziale Staat greift dazu auf ein bewährtes Prinzip seiner Sozialversicherungen zurück: Er installiert ein Umlageverfahren, bittet die Versicherten selbst zur Kasse, als Krüppel von morgen die Leistungen für die heutigen Krüppel zu finanzieren. Er kassiert monatlich 3,05 % ihrer versicherungspflichtigen Einkünfte [13] und lässt kinderlose noch einen viertel Prozentpunkt obendrauf zahlen, weil sie sich gegenüber der Versichertengemeinschaft verantwortungslos aufführen, wenn sie niemanden in die Welt setzen, der sich später um sie kümmern kann. In Anbetracht der Mangelhaftigkeit der Leistungen, die sich mit der so zustande kommenden Summe finanzieren lassen, kommt neben der Beschwörung ganz neuer Herausforderungen für die Generationengerechtigkeit und dem gesellschaftlichen Diskurs, wie wir leben und sterben wollen, höchstens eine Anhebung des Beitragssatzes, also eine weitere Belastung der mit dem Lebensende überforderten Einkommen in Betracht. Denn bei seiner jüngsten Sozialversicherung besteht der soziale Staat strengstens darauf, dass die Belastung anderer Finanzquellen auf keinen Fall infrage kommt. Ein Steuerzuschuss, wie er bei den übrigen Sozialversicherungen zur Anwendung kommt, wenn notwendige Leistungen und Beitragsaufkommen auseinanderfallen, ist explizit ausgeschlossen. Er steht radikal auf dem Standpunkt, dass diese Versicherung vor allem nicht zu viel kosten darf, weil ihre Kosten für alle Beteiligten nichts als eine Last repräsentieren.[14] Er gesteht ein, dass sich die Versorgung von Verbrauchten und Krüppeln, mit denen niemand mehr etwas anfangen kann, in dieser Gesellschaft nach deren politökonomischen Ermessensgrundlagen niemand so recht leisten kann.
Und so werden die Pflegebedürftigen eben selber für die Finanzierung einer Versicherung in Haftung genommen, die ihnen dann bei der Bewältigung der finanziellen Herausforderungen gewisser Unpässlichkeiten behilflich ist, die sie nicht stemmen können, wenn sie eintreten. Die Betroffenen werden als Kollektiv für die Kosten der Untauglichkeit ihrer Erwerbsquelle zur Verantwortung gezogen – und es ist zu konstatieren, dass die versicherungstechnisch erzwungene Solidarität der Klasse es in dieser Unterabteilung, die nicht mehr auf die Reproduktion von Arbeitskraft in irgendeiner Weise, sondern bloß noch auf ihre menschenwürdige Abwicklung bezogen ist, zu nicht mehr als dem allseits bekannten verarmten Siechtum bringt, das sich als zivilisatorische Errungenschaft glanzvoll von der Euthanasie abhebt.
VI. Zusatz: Die Sozialhilfe
Parallel zum Sozialversicherungswesen hat der fürsorgliche Staat noch ein soziales Netz eingezogen, in dem sich nicht wenige früher oder später wiederfinden. Hier wird sich bedürftiger Leute angenommen, die, wie es so schön heißt, ‚sich nicht selbst helfen können‘ und denen auch sonst niemand hilft, die keine brauchbaren Anwartschaften an die Sozialversicherungen haben und die auch kein Fall für Hartz IV sind, was sie bei festgestellter Erwerbsfähigkeit allemal wären.[15]
Das heißt allerdings nicht, dass bloß Taugenichtse, die ihr Leben lang nicht für sich selbst sorgen konnten und nichts geleistet haben, im Netz der Sozialhilfe zappeln – Leute quasi, die so betrachtet sowieso keine Teilhaber am System der Erwerbsarbeit sind. Solche treffen sich dort nämlich mit Figuren, die es als Arbeitsleute, voll sozialversichert, nicht zu einer Zuverlässigkeit ihres Erwerbsmittels gebracht haben, die ihnen Notsituationen der Bedürftigkeit erspart hätte. Neben der ‚Hilfe zum Lebensunterhalt‘ für Leute, die weder Geld noch Einkommen haben und auch keine Arbeitskraft, die sie verkaufen könnten, ist die Sozialhilfe sich z.B. eine ‚Grundsicherung im Alter‘ schuldig – für Rentner, die als gestandene Mitglieder der Rentenversicherung alle Bestimmungen des Kapitel I. dieses Artikels durchlaufen haben und trotzdem keine Rente kriegen, deren Höhe das Existenzminimum sicherstellen würde; außerdem eine ‚Hilfe zur Pflege‘, die fest eingeplant ist als letzte elende Alternative für die pflegeversicherten Pflegefälle, die keine Familie haben, der sie zur Last fallen können, oder deren aufopferungsvolle Hilfe und ihr zum Unterhalt heranziehbares Vermögen nicht ausreichen...
Die förmliche Trennung der Sozialhilfe, die jedem dauerhaft Aufenthaltsberechtigten, der es nachweislich wirklich nötig hat, ein menschenwürdiges Leben verspricht, vom System der sozialversicherten Erwerbsarbeit kann also nicht darüber hinwegtäuschen, dass erstere ein praktisches Eingeständnis über letztere darstellt: Hinter den ehrbaren Sozialversicherungen, mit denen der Staat auf alle vorhersehbaren ‚Wechselfälle‘ des Arbeitslebens eine Antwort gefunden hat, braucht es noch eine Antwort auf Fragen des nackten Überlebens, welche die Sozialversicherungen für einige Leute offen lassen. Sie scheitern an dem Imperativ, wonach eine Existenz aus den Mitteln der abhängigen Erwerbsarbeit zu gehen hat, wenn der Staat sich nur an ihrer klassensolidarischen Bewirtschaftung beteiligt, und der den Sozialversicherungen als materielle und rechtliche Unterstellung all ihrer Korrekturen einbeschrieben ist. Ihr Scheitern konstatiert der Staat in der Form, dass einige Figuren durch die Rechtskonstruktionen seiner Versicherungen ‚durchrutschen‘ und deswegen aus den etablierten Sicherungssystemen herausfallen. Gegenüber diesen Leuten, bei denen das – vom Standpunkt des Staates: warum auch immer – der Fall ist, stellt der Staat sich auf den Standpunkt, dass sie, schon alleine aus Gründen der Ordnung, trotzdem irgendwie versorgt werden müssen, und springt in letzter Instanz selbst dafür ein. Ein Perspektivwechsel, mit dem er von der Betreuung einer selbstständigen und nützlichen Erwerbsquelle Abstand nimmt und die Leute nur noch als Problemfälle ins Auge fasst.
Auch nach der anderen Seite hin sind diese Hilfen nicht länger auf die Arbeit in ihrer Eigenschaft als Quelle von Lebensunterhalt bezogen: Die Einkünfte der Arbeitenden werden nicht länger als Beitragsquelle in Haftung genommen, um die sozialen Hilfen zu finanzieren, sondern die erbarmungswürdigen Zumessungen der Sozialhilfe werden aus Steuergeldern bezahlt. Hier ist das praktische Eingeständnis vollendet, dass ein Leben aus der Erwerbsarbeit sich für so manche als ebenso alternativlos wie unmöglich erweist, was selbstverständlich nie und nimmer als kritisches Urteil über diese Einkommensquelle verstanden sein will. Teilhaber am Schicksal der arbeitenden Klasse sind allerdings auch diese armseligen Figuren, die nicht länger von sozial kollektivierten Bestandteilen der mit abhängiger Beschäftigung verdienten Arbeitseinkommen finanziert werden, sondern aus Unkosten der Allgemeinheit ihr Dasein fristen. Sie mögen nicht vom nationalen Preis der Arbeit leben – vom Preis, den die Klasse für ihr Lebensmittel zu entrichten hat, leben sie allemal. Wovon auch sonst: Mit ihrer Alimentierung aus Steuergeldern, die den erfolgreich erzielten Einkommen, Umsätzen und Gewinnen der deutschen Klassengesellschaft entzogen werden, leben auch die Abgehängten, Armen und Elenden, ebenso wie die Politiker, die ihnen diese Lage bescheren, in letzter Instanz von den ökonomischen Erträgen der kapitalistisch angewandten Arbeit, für die ihre Klasse mit ihrer Dienstbarkeit einzustehen hat.
VII. Das ewige Reformwerk der Sozialversicherungen
Dass verantwortungsvolle Politiker mit schöner Regelmäßigkeit Änderungsbedarf an den von ihnen verwalteten Sozialversicherungen entdecken, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Die stolzen sozialen Errungenschaften der deutschen Marktwirtschaft ‚gibt‘ es nicht einfach, nachdem sie in grauer Vorzeit einmal von weitblickenden Politikern unter dem Eindruck eines aufmüpfigen Elends in die Welt gesetzt worden sind, sondern sie existieren überhaupt in der Form, dass sie beständig korrektur- und erneuerungsbedürftig sind. Oft genug ist es für Deutschlands Sozialpolitiker mit der jährlichen Anpassung der Beitragssätze oder kleineren Korrekturen der Rentenanpassungsformel nicht getan; sie entdecken dann ‚Verkrustungen‘, die ‚Demografie‘ oder ein sonstiges ‚strukturelles Problem‘, das ihren dringenden Einsatz erfordert. Der Erfahrung, dass auch mit den stolzen ‚Fünf Säulen der Sozialversicherung‘ die Sache, die sie befestigen sollen, immer wieder brüchig wird, entnehmen die zuständigen Politiker nichts als einen Auftrag zur Wahrnehmung ihrer politischen Verantwortung, also zum Einsatz ihrer Macht zur Gestaltung weiterer Korrekturen an der Haltbarkeit der Revenuequelle ihres Volkes.
Damit haben sie sich ein für alle Mal der Pflege eines ökonomisch untauglichen Lebensmittels verschrieben. Sie sind unablässig damit befasst, eine Revenuequelle für deren Inhaber gangbar zu machen, die das für sie Lebensnotwendige nicht sicherstellt, weil das Geld, aus dem sie sich speist, nicht für ihr Leben, sondern für ihre rentable Arbeit bezahlt wird. Mit seinen Versicherungen greift der Sozialstaat korrigierend in die Revenuequelle ein, besteht darauf, dass das für Arbeit bezahlte Geld die Reproduktion der Arbeitskräfte auch irgendwie gewährleisten muss. Und weil die Einkommen seiner Schützlinge überhaupt von den Kalkulationen der Arbeitsplatzbesitzer mit dem Preis der Arbeit als lohnendem Kostenfaktor abhängen, ist ihm dabei die Freiheit des Kapitals heilig und es ihm alles andere als fremd, bei seinen Anstrengungen zur Sozialisierung des Lohnes vorauseilend Rücksicht darauf zu nehmen, dass dieser Lohn bloß nicht zu viel kosten darf.[16]
Zu Beginn des neuen Jahrtausends ist diese letzte Weisheit des Sozialstaates in der Fassung, dass ‚sozial ist, was Arbeit schafft‘, zum geflügelten Wort geworden. Unter diesem Mantra hat er sich angesichts von ein paar Millionen Arbeitslosen, die das deutsche Kapital hergestellt hat, einer radikalen Selbstkritik im Umgang mit seinem Menschenmaterial unterzogen; die Leistungen seiner Sozialversicherungen sind ihm in Form der Kosten, die sie als Lohnbestandteile repräsentieren, als Quell allen Übels, nämlich als ein einziges Beschäftigungshindernis ins Auge gesprungen. Mit den Hartz-Reformen hat er seine Arbeits- und Sozialpolitik einer Entkrustungskur unterzogen und sich selbst zum Agenten der radikalen Verbilligung des Faktors Arbeit in der Bundesrepublik gemacht.
Das Kapital seinerseits hat von dem Angebot, einen Haufen proletarischer Leistungsbereitschaft dank seiner staatlich erzwungenen Billigkeit zum eigenen rentablen Geschäftsmittel herzurichten, ausgiebig Gebrauch gemacht und ansonsten alles dafür getan, die verbleibenden Kosten sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch Einrichtung prekärer Beschäftigungsverhältnisse zu drücken, dass es quietscht. Im Ergebnis hat Deutschland ein ‚Beschäftigungswunder‘ zu verzeichnen, das davon lebt, dass an die eingerichteten Jobs der Maßstab, ob sie den Mann ernähren, zunehmend nicht mehr anzulegen gestattet ist. Auf ihre Art machen Staat und Unternehmer in ihrer sozialmarktwirtschaftlichen Musterheimat Ernst damit, dass das Kapital seinen Fortschritt bestreitet, indem es die Verarmung seines Menschenmaterials mit aller Kraft vorantreibt.
Seit einiger Zeit hat die Sozialpolitik die widersprüchlichen Konsequenzen der Erfolgsstory, die sie mit ins Leben gerufen hat, zu besichtigen. Die letzte historische Großtat der deutschen Sozialdemokratie, mit der sie der Erwerbsquelle die Zukunft gewiesen hat, hat eben um den Preis stattgefunden, dass die Erwerbsgelegenheiten, die sie ‚gesichert‘ hat, für die Arbeitsleute – damit auch für die Sozialkassen selbst – derart uneinträglich sind, dass eine voraussehende sozialstaatliche Betreuungsinstanz nicht umhin kommt, ein Kostenproblem auszumachen, das die verbilligten Proleten ihren sozialpolitischen Konstruktionen künftig bereiten werden: Die werden nämlich, so hat man herausgefunden, im Zuge des gesellschaftlichen Fortschritts zwar nicht wohlhabender, aber dafür immer älter, liegen also der Rentenkasse immer länger auf der Tasche, die schon jetzt zunehmend aus einem gigantischen Haushaltsposten querfinanziert werden muss und nach demografischen Modellrechnungen bei einem ‚Weiter so!‘ demnächst krachen geht. Mit ihrem wachsenden Pflegebedarf verursachen sie explodierende Kosten im Gesundheitssystem. Und sogar die Arbeitslosenversicherung könnten sie möglicherweise künftig heillos überfordern, weil dem Kapital auch in Zeiten von Vollbeschäftigung und Fachkräftemangel von ausgewiesener Stelle nachgesagt wird, sein nächster bahnbrechender Fortschritt werde mit der Erzeugung von Zigmillionen Arbeitslosen einhergehen... Und so drohen die rechtlich wohldefinierten Ansprüche der Versicherten an ihre Sozialversicherungen insgesamt für diese unbezahlbar zu werden, weil das Verhältnis von Rechtsansprüchen zu den Beiträgen nicht mehr ‚passt‘.
Das führt die Sozialpolitiker zu der selbstkritischen Gewissheit, dass der Status quo ihrer Schöpfungen schon wieder droht, nicht mehr ‚zeitgemäß‘ zu sein, sodass es ihres Weitblicks und Mutes bedarf, um das System der deutschen Sozialversicherungen auch über das Jahr 2025 hinaus zu sichern, was schon einmal den Streit über die weitere Absenkung des Rentenniveaus anheizt und die mitregierende Sozialdemokratie in Zuckung versetzt. Die dem Standpunkt der Sozialversicherungen innewohnende Problemlage, an der sich noch jeder ihrer Verwalter abarbeitet, verdankt sich ganz der zynischen Logik, wonach deren Leistungen um so nötiger werden, je niedriger das allgemeine Lohnniveau ist, welches zugleich die Quelle sämtlicher Versicherungsbeiträge darstellen soll. Gemessen an der – historisch herabgedrückten – Lohnsumme, nicht am stetig wachsenden gesellschaftlichen Reichtum, kann die Republik sich ihre sozialen Errungenschaften deshalb immer schlechter leisten – was für alle möglichen Planspiele spricht, nur nicht gegen den Erfolg, den das deutsche Kapital mit seiner Ausbeutung einfährt.
Ein Ausweg kommt der Politik dann doch – mal wieder – in den Sinn. Die ‚soziale Frage‘, wie Politiker aller Couleur sie als bleibende Herausforderung auf sich beziehen und derer sie sich gemäß ihrer Sorgen im Sinne des allgemeinen Wohls annehmen, enthält selbst eine Alternative, die aus der Drangsal der Umverteilung innerhalb der arbeitenden Klasse herauszuführen verspricht: Es braucht nur die kleine Akzentverschiebung vom gesellschaftlichen Zusammenhalt, den der Sozialstaat ewig unzureichend sichert, zur Volksgemeinschaft, um die es ihm zu gehen hat. Die untragbaren Kosten der sozialen Sicherung wie ihre enttäuschenden Leistungen sind dann zielsicher darauf zurückzuführen, dass volksfremde Elemente in das soziale Wesen der Nation eingeschlossen sind und daran mitzehren. Was linke Volksvertreter – angesichts von Ausländern, die ‚Druck ausüben‘ und ‚Nöte verschärfen‘ – zur Beschwörung weiterer Bemühungen um sozialen Ausgleich anstachelt, versprechen ihre rechten Widersacher an der Wurzel anzupacken:
„Unser Sozialstaat kann nur erhalten werden, wenn die geforderte finanzielle Solidarität innerhalb einer klar definierten und begrenzten Gemeinschaft erbracht wird. Eine Auflösung des Nationalstaats führt unweigerlich zur Gefährdung unserer gewohnten sozialstaatlichen Errungenschaften.“ (afd.de/sozialpolitik)
Die alternativen Patrioten machen die sozialpolitische Einsicht salonfähig, dass die weitere Verschärfung der sozialen Nöte der Einheimischen nur durch das konsequente Fernhalten womöglich anspruchsberechtigter volksfremder Elemente aufzuhalten ist. So bildet die Lebenslüge des Sozialstaates den Stachel des Nationalismus.
[1] Rechnerisch wird bei den Rentenversicherungsbeiträgen, die ein knappes Fünftel des Lohns betragen, zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteilen unterschieden und fair 50 zu 50 geteilt. Ökonomisch ist diese Unterscheidung ohne Relevanz, da beide Anteile in der Differenz zwischen den Lohnkosten, mit denen Arbeitgeber kalkulieren und die sie auslegen, und dem Betrag, den die Arbeitnehmer davon letztlich auf ihr Konto bekommen, enthalten sind.
[2] Die monatliche Rentenzahlung wird über die ‚Rentenformel‘ definiert: Bruttorente = Summe der Entgeltpunkte × Zugangsfaktor × Rentenartfaktor × aktueller Rentenwert. Die Entgeltpunkte sind bereits abgehandelt; der Zugangsfaktor regelt Rentenminderungen oder -erhöhungen in Abhängigkeit vom Renteneintrittsalter; der Rentenartfaktor beträgt 1 für die Altersrente; der aktuelle Rentenwert wird seinerseits durch die ‚Rentenanpassungsformel‘ gebildet, die im folgenden Thema ist: Lohnkomponente × Nachhaltigkeitsfaktor × Riesterfaktor.
[3] Dieser Widerspruch ist ideologisch locker zu verarbeiten, wenn man dabei nur an den Gegensatz zwischen Beitragszahler und -empfänger denkt, der in jedem Rentenversicherten schlummert:
Nach der Rentenanpassungsformel steigen die Renten,
wenn auch die Löhne und Gehälter der Erwerbstätigen
steigen. Allerdings gibt es immer mehr Rentnerinnen und
Rentner, während die Zahl der Erwerbstätigen
tendenziell abnimmt. Um den Lebensstandard auch im
Alter zu halten, wird es daher für die Menschen immer
wichtiger, zusätzlich für das Alter vorzusorgen.
Deshalb hat die Bundesregierung 2003 den Riester-Faktor
in die Rentenberechnungsformel eingeführt.
Beschäftigte, die beispielsweise zusätzlich mit der
Riester-Rente für ihre Altersvorsorge sparen
(
(bundesregierung.de)
riestern
), haben weniger netto für ihre private
Lebensführung übrig. Da dies eine Belastung für die
Erwerbstätigen bedeutet, müssen auch die Rentner und
Rentnerinnen Einschnitte hinnehmen. Jede Rentenerhöhung
wird seitdem durch den Riester-Faktor um etwa 0,6 %
gemindert.
[4] Dabei hat die Klasse Glück, dass der Staat niemanden vergessen hat. Er kennt noch Figuren, die sich jenseits oder neben der Erwerbsarbeit honorigen Aufgaben verschrieben haben, für die er eine Rente übrig hat, weswegen er die Erwerbstätigen nicht nur für die Überbrückung ihres Gap von Arbeitslohn und Leben haftbar macht, sondern ihnen die Unterstützung noch weiterer Sozialfälle zur Last legt, die als Mütter das Volk verjüngt oder es als einverleibte Zonis gleich millionenfach vergrößert haben.
[5] Allenfalls schafft er mit seinem Kündigungsrecht und -schutz, die die Bedingungen regeln, unter denen die Bestreitung ihrer Existenzgrundlage erlaubt ist, wenn schon keine Sicherheit, dann wenigstens ein Stück Planbarkeit für Leute, deren Erwerbsbiografie ihrem Plan jedenfalls nicht gehorcht.
[6] Arbeitslose sind
Personen, die wie beim Anspruch auf Arbeitslosengeld 1.
vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis
stehen, 2. eine versicherungspflichtige Beschäftigung
suchen und dabei den Vermittlungsbemühungen der Agentur
für Arbeit zur Verfügung stehen und 3. sich bei der
Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet haben.
(§ 16 Abs. 1 SGB III)
[7] Dabei achtet der soziale Staat darauf, nur insoweit auf Solidarität zu bestehen, wie die Einkommen dieser Erwerbsquelle in ihrer quantitativen Begrenztheit eine Arbeitslosenversicherung wirklich nötig haben. An den Einkommen selbst zieht er mit der Beitragsbemessungsgrenze eine quantitative Trennlinie ein; was Gutverdiener darüber hinaus monatlich nach Hause tragen, zieht die Versicherung nicht mehr als Beitragsquelle zur Finanzierung ihrer Leistungen in Betracht.
[8] Das schlägt sich auch in der Quelle der Finanzierung von Hartz IV nieder, das, wie alle Formen der Grundsicherung bzw. Sozialhilfe, nicht aus zweckgebundenen Abzügen sozialversicherungspflichtiger Arbeitseinkommen, sondern aus Steuergeldern bezahlt wird. Siehe auch Kapitel VI. dieses Artikels.
[9] Im ersten Paragrafen
des Sozialgesetzbuches zur ‚Grundsicherung für
Arbeitssuchende‘, wie Hartz IV offiziell heißt, werden
die disparaten Momente dieser Hilfe durch schlichte
Aneinanderreihung gekennzeichnet: (1) Die
Grundsicherung für Arbeitssuchende soll es
Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen,
das der Würde des Menschen entspricht. (2) Die
Grundsicherung für Arbeitssuchende soll die
Eigenverantwortung von erwerbsfähigen
Leistungsberechtigten ... stärken und dazu beitragen,
dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der
Grundsicherung und aus eigenen Kräften bestreiten
können. Sie soll erwerbsfähige Leistungsberechtigte bei
der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit
unterstützen und den Lebensunterhalt sichern, soweit
sie ihn nicht auf andere Weise bestreiten können.
(§ 1 SGB II)
[10] Kommen innerhalb von drei Jahren aufgrund des gleichen Leidens mehr als 78 Wochen Arbeitsunfähigkeit zusammen, kann der Betroffene zusehen, ob er ein Fall für eine mickrige Erwerbsminderungsrente ist – die Krankenkasse ist dann jedenfalls nicht mehr für den Lohnersatz zuständig.
[11] Diese Versicherung fasst ihre Klientel mittels der Rechtsdefinition der Pflegebedürftigkeit ins Auge, für dessen Unterstützung sie sich dann zuständig weiß. Der akribisch zusammengetragenen Nomenklatur an Merkmalen der Pflegebedürftigkeit ist zu entnehmen, auf welche offenbar typischen physiologischen, mentalen und sozialen Endstadien eines Lebens in der modernen Gesellschaft, das mithilfe des Gesundheitswesens über Gebühr geführt wurde, sich die Pflegeversicherung einstellt, um sich um deren Abwicklung zu kümmern. Lesenswert: § 14 SGB XI.
[12] Die sozialen Pflegeversicherungen sind an die gesetzlichen Krankenkassen ‚angegliedert‘. Auch die Besserverdiener in den privaten Krankenkassen sind in einer Pflegeversicherung pflichtversichert; die privaten Pflegeversicherungen haben ihren Mitgliedern einen gleichwertigen Versicherungsschutz zu bieten wie die soziale Pflegeversicherung und folgen dabei den gleichen Maßstäben, veranschlagen ihre Beiträge jedoch als altersabhängige Versicherungsprämien. Dies ist nicht zu verwechseln mit privaten Pflege-Zusatzversicherungen (Pflegetagesgeld, Pflegerente), die jeder abschließen kann, der es sich leisten will und kann.
[13] Zu diesen Einkünften zählen auch Altersrenten, die voll veranschlagt werden, und in gewisser Weise auch das Arbeitslosengeld, hier zahlt die Arbeitslosenversicherung direkt Beiträge für ihre ALG-Empfänger an die Kranken- und Pflegekasse. Für die Finanzierung der Pflegekasse werden sozialversicherungspflichtig Beschäftigte also gleich dreifach in Anspruch genommen.
[14] Vielmehr ist diese Versicherung selbst aus dem Willen zur Kostensenkung hervorgegangen, der die Unkosten der Pflege aus den Aufgaben der Krankenversicherung und der Sozialhilfe herausdefiniert und so eine ‚Versorgungslücke‘ konstruiert hat, deren Bewältigung sich weder die bestehenden Sozialversicherungen gegen die Risiken von Krankheit und Alter, und schon gleich nicht irgendeine ‚Allgemeinheit‘ in Gestalt des Fiskus oder der Wirtschaft leisten können sollten. Die Arbeitgeber der Nation hat der soziale Staat für die auch bei dieser Versicherung in Kraft gesetzte Lüge einer paritätischen Lastenteilung zwischen ihnen und den Beschäftigten dann noch mit dem Geschenk eines zusätzlichen unbezahlten Arbeitstages durch die Abschaffung des Buß- und Bettages als gesetzlichen Feiertag ‚kompensiert‘.
Zum staatlichen Grund und Zweck der Einführung der Pflegeversicherung siehe ausführlich: Die Pflegeversicherung. Der Staat stockt seine Finanzquellen auf in GegenStandpunkt 2-94.
[15] Es gilt das
‚Nachrangigkeitsprinzip‘: Sozialhilfe erhält nicht,
wer sich vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft,
seines Einkommens und seines Vermögens selbst helfen
kann oder wer die erforderliche Leistung von anderen,
insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer
Sozialleistungen, erhält.
(§
2 SGB XII)
[16] Hier ist die in die Tat umgesetzte Lüge der paritätischen Finanzierung einschlägig. Über die Umverteilung des nationalen Lohns innerhalb der arbeitenden Klasse im Dienste ihrer Reproduktion gebietet der Sozialstaat ohnehin; über die Festlegung und Neujustierung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteilen verspricht er sich, gestaltend Einfluss auf den Preis der Arbeit selbst zu nehmen, ohne ihn vorzuschreiben. Den Unternehmern will er auf diese Art durchaus zumuten, dass sie in ihrer Gesamtheit etwas zur Finanzierung der Hilfsleistungen für den Erhalt jener Menschenklasse beitragen, die sie für ihren ökonomischen Erfolg benutzen, ohne dass es ihre Rentabilitätsrechnungen gefährdet. Die Skepsis, ob mit der Festlegung dieser Anteile, insbesondere derer für die Arbeitgeber, der Lohn nicht widernatürlich verteuert wird, gehört untrennbar dazu und findet ihre Sprachrohre in Politik und Wirtschaftslobby, die stets auf die Volatilität des Aufschwungs hinweisen.